Ich lasse mich vorsichtig auf die Knie fallen und schaue mir das Stück Fell an, das vor mir an einem Zweig hängen geblieben ist.Ich ziehe einen meiner Handschuhe aus und berühre sachte den Knäuel. Er ist hellbraun und fühlt sich himmlisch weich an. Ich bin mir nicht sicher von welchem Tier das Stück stammt, aber ich tippe auf ein Reh oder ein Rentier. Ich stehe wieder auf, klopfe mir den Schnee von den Knien und blicke mich um. Ganz still stehe ich da, warte, lausche auf ein Geräusch und meine Geduld zahlt sich aus. Ein Knacken ertönt, irgendwo rechts von mir. Ich wende mich in die Richtung und kann ganz in der Nähe von mir ein Reh erkennen. Es hat mich nicht bemerkt. Gut für mich, schlecht für das Tier.Mit einer leisen Bewegung ziehe ich meinen Jagdspeer aus seiner Halterung und mache mich bereit zum Wurf. Ich warte, bis meine Augen genau das Herz des Tieres fixieren und werfe mit voller Kraft den Speer. Wie nicht anders zu erwarten, trifft die Waffe ihr Ziel. Das Tier hat nicht einmal genug Zeit zu verstehen, was passiert ist, falls Tiere überhaupt die Fähigkeit haben, zu denken. Ich laufe mit schnellen Schritten hinüber und fange an, dass Tier auszunehmen. Die Kälte ist gut. Sie sorgt dafür, dass das Tier frisch bleibt, aber ich muss darauf achten, dass es nicht einfriert, sonst wird es schwer es wieder aufzutauen.Feuer wird heute nur noch selten entfacht. Man geht sparsam damit um. Wir schreiben das Jahr 2080. Ich kenne unsere Geschichte auswendig. Jeder hier kennt sie. Trotz millionenfacher Warnungen, dass irgendwann all unsere Ressourcen aufgebraucht wären, haben unsere Vorgänger ihr Verhalten nicht geändert. Sie sollen Wälder abgeholzt und die Ozeane überfischt haben. Mein Vater sagt, es ist nicht ihre Schuld. Sie hätten nicht gedacht, dass sich die Erde, über die sie glaubten, eine so große Macht zu besitzen, irgendwann alles zurückholen würde, was die Menschen ihr genommen hatten. Ich bin nicht wie mein Vater. Ich gebe unseren Vorgängern die volle Verantwortung dafür, dass wir jetzt kurz vor dem Ende stehen. Früher redete man von der Klimaerwärmung, worüber ich immer noch lächeln muss. Die Leute konnten wahnsinnige Maschinen erfinden, hatten unerschöpfliche Ideen die zur Verbesserung des Alltags beitrugen, also wie kann es sein, dass sie sich so getäuscht haben? Unser Planet hieß Erde. Erde, in die man Dinge, die einem das Überleben sicherten, pflanzen konnte. Erde, auf der man baute und sich ein Leben erschuf. Erde, die uns Menschen die Chance gab, zu leben.Heute heißt unser Planet Snowscape. Ich weiß nicht wer sich den Namen ausgedacht hat, aber er ist passend. Schneelandschaft. Überall liegt Schnee. Die Erde, die uns einst versorgt hat, hat aufgegeben. Sie ist nur noch eine harte Schicht, begraben unter meterdickem Schnee. Wir ernähren uns von Beeren, haben auch gelernt uns aus der Rinde der Bäume Brot zu machen, zudem kann jeder hier jagen. Jedenfalls jeder, der noch nicht aufgegeben hat zu kämpfen. Würden die Bäume uns nun auch im Stich lassen, was mich nicht verwundern würde, dann hätten wir keine Chance mehr. Von Beeren allein können wir nicht leben und ohne Bäume und ihre Blätter, würden die letzten Tiere aussterben, die uns das wohl Wichtigste liefern: Fell und Fleisch. Da all das ja noch nicht schlimm genug ist, herrscht ein Mann über uns, dem es nicht darum geht, sein Volk am Leben zu erhalten, sondern nur, selbst zu Überleben. Aber in seinem Fall kann nicht von Überleben die Rede sein kann. Er lebt. Er führt ein Leben, was am nächsten an das Leben heranreicht, welches früher möglich war. Er besitzt ein riesiges Stück Land, auf dem mehrere hundert Leute beschäftigt sind. Die Sorgen rund um die Uhr dafür, dass er, seine Frau und seine drei Kinder vollkommen zufrieden sind. Sein Name ist Ismail, benannt nach dem Sohn eines Propheten.In unserem Dorf erzählt man sich Geschichten, dass er Ställe besitzt, in denen er mehrere tausend Zuchttiere versorgt, die, wenn sie kräftig genug sind, geschlachtet werden. Das würde bedeuten, dass er Fleisch im Überfluss hat, und wir Tag für Tag einen erbitterten Kampf gegen den Hunger führen, den wir irgendwann verlieren werden.Ich höre auf, meinen Gedanken nachzuhängen, da das Fleisch allmählich anfängt hart zu werden. Ich packe mein Messer wieder ein, säubere es vorher noch kurz im Schnee. Das Fell und das Fleisch packe ich behutsam in meine Ledertasche und beeile mich nach Hause zu kommen. Die Sonne steht schon tief am Himmel und wenn es dunkel ist, kommen die wilden Tiere raus.Es gibt Gerüchte, dass es wilde Bestien, oder Mutation in den Wäldern geben soll, die sich so weiterentwickelt haben, dass sie jede Eiszeit überleben würden. Aber ich glaube nicht daran. Würden sie existieren, wären sie mir begegnet, als ich einmal in eine Bärenfalle gefallen war. Ich musste eine Nacht draußen verbringen. Als mein Bruder mich fand, war ich schon halb erfroren, aber mein einziger Feind war die Kälte und keine Mutationen. Noch bevor ich mich selber dafür ohrfeigen kann, dass ich die ganze Zeit so unaufmerksam bin, rutsche ich aus und bleibe mit dem Bein in einem Spalt hängen. Ich schreie laut auf. Mein Bein sitzt immer noch in dem Loch fest, aber ich liege halb auf dem Boden, was ein ziemlich erschreckendes Bild liefert. Das Bein ist in einem unnatürlichen Winkel verdreht und ich kann mich nicht einmal aufrichten, um es zu befreien, weil ich mich in einer unbeweglichen Position befinde. Ruhig, Tara. Atme tief durch und bewahre bloß einen kühlen Kopf. Ich versuche mich selbst zu beruhigen. Wobei, einen kühlen Kopf werde ich haben, wenn ich hier bald nicht raus komme. „Hilfe! Ist da draußen jemand?“, ich schreie aus voller Kraft, aber es wäre ein Wunder, wenn hier draußen noch irgendein Mensch unterwegs wäre. Aber vielleicht hab ich Glück und mich findet eine Mutation, bevor ich erfriere, denke ich verbittert. Niemand, niemand in Snowscape darf es sich erlauben in den Wäldern unaufmerksam zu sein. Besonders wenn er allein ist. Das ist eine der obersten Regeln und ich kenne sie, so gut wie ich mich kenne. Wieso zum Teufel, musste das gerade jetzt passieren? Jetzt, wo ich Fleisch in meiner Tasche hab, das dringend nach Hause muss. Jetzt, wo mein Vater krank ist und mein Bruder und meine Schwester mich mehr denn je brauchen. Ungewollt steigen mir die Tränen in die Augen. Sie fühlen sich angenehm warm an, während sie über meine kalten Wangen laufen. „HILFE! IST HIER JEMAND?“ Meine Stimme hallt durch den Walt, aber diesmal höre ich kein Knacken. Kein Geräusch, was darauf hindeutet, dass ich nicht allein bin. Hier ist niemand. Ich weiß nicht wie lange ich es diesmal schaffe. Damals, in der Falle, war es pures Glück, dass ich die Nacht überlebt hab. Es war ein Zufall, dass Lucas mich gefunden hat. Hoffnungslos sinke ich den Kopf. Denn wie oft im Leben passiert ein und derselbe Zufall in so kurzer Zeit zweimal hintereinander?Die Sonne ist schon fast untergegangen und ich sitze immer noch fest. Mein Bein schmerzt höllisch, so stark, dass ich kurz davor bin ohnmächtig zu werden. Aber das darf nicht passieren. Ich muss stark bleiben. Wenn ich jetzt Schwäche zeige, wird es mein Ende sein. Ich kann kaum noch klar denken, die Kälte sitzt schon überall in meinen Knochen. Was mich wundert ist, dass die Schmerzen in meinem Bein noch spürbar sind. Soweit ich weiß, wirkt Kälte betäubend, also warum zum Teufel nicht auf mein blödes Bein? Das Schreien hab ich schon vor längerer Zeit aufgeben, es hat ja doch keinen Sinn. Mit der Zeit fallen meine Augen zu und ich lasse den Kopf in den Schnee sinken. Es scheint, so ist es für mich vorgesehen. Ich sterbe, weil ich zu viel nachgedacht habe. Über die Zeit vor der Eiszeit, über den Untergang der Welt, über unseren Herrscher. Ironisch, dass ich die ganze Zeit gedacht habe, dass wir in naher Zukunft sterben werden. Mit einem so schnellen Tod hab ich allerdings nicht gerechnet. Aber auch diese Gedanken fangen an zu verblassen und ich hoffe nur noch, einzuschlafen. Ob ich aufwache oder nicht spielt jetzt keine Rolle mehr, die Hauptsache ist, ich spüre nicht mehr diese Schmerzen.„Tara! Tara, du musst mir jetzt helfen.“ „Nein, lass mich schlafen.“ Irgendetwas rüttelt an meinem Körper, aber ich kann kaum noch etwas spüren. „Tara, bitte. Öffne die Augen.“ Ich will die Augen nicht öffnen. Hinterher kommen die Schmerzen noch zurück. Aber wer auch immer da spricht, er lässt nicht locker. Wiederwillig öffne ich langsam die Augen und blicke in das Gesicht meines Bruders. „Lucas? Was machst du denn hier?“ Meine Stimme klingt seltsam rau und kratzig, so als hätte ich sie seit längerer Zeit nicht mehr benutzt. „Was glaubst du wohl? Seit dem Unfall letzten Monat mach ich mich jedes Mal auf den Weg, dich zu suchen, wenn du nicht nach Hause kommst. Du hast Glück, du warst fast am See, ich musste nicht lange laufen, um dich zu finden. Aber du musst mir jetzt wirklich helfen. Ich hab dein Bein aus dem Spalt gezogen, als du noch ohnmächtig warst. Schau lieber nicht hin, es sieht übel aus. Ich schaff es nur dich zu tragen, wenn du dich an mir festhältst. Bist du bereit?“„Oh Gott!“ Ich schreie laut auf, als Lucas mich hochhebt, klammer mich trotzdem mit voller Kraft an seinem Hals fest. „Ich warne dich, wenn du mich jetzt loslässt und ich auf den Boden fall, nimm ich meine letzten Kräfte zusammen, steh auf und tritt dir in den Arsch.“, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Lucas fängt an zu lachen. „Pass du mal lieber auf, dass du mir nicht den Hals raus reißt.“ Der Weg nach Hause ist gar nicht so schwer, wie ich es mir vorgestellt habe. Jedenfalls für mich nicht. Lucas würde es niemals zugeben, aber er hat schon vor einer Weile angefangen schwerer zu atmen und sein Gang wird ebenfalls langsamer.
„Lucas, wenn du nicht mehr kannst, setz mich ab. Wir können auch kurz Pause machen.“ Ich weiß, dass er mich nicht absetzen wird. Dafür kenne ich ihn und seinen Stolz viel zu gut. „Tara, lass gut sein. Willst du wirklich Pause machen und warten, dass die Sonne untergegangen ist? Dann wird es noch schwieriger den Weg zurück zu finden. Außerdem hab ich noch genug Kraft, mach dir keinen Kopf.“ Er verlagert mein Gewicht noch einmal und läuft dann geradeaus weiter. Neben uns ist schon der See zu erkennen. Der ist zwar zugefroren, aber dennoch das beste Orientierungsmittel, falls man sich im Wald verirrt haben sollte.Zudem schenkt er uns Hoffnung. Hoffnung, dass wir bald zu Hause sind. Meine Augen werden wieder schwer, aber ich will es Lucas nicht auch noch antun auf seinen Armen einzuschlafen, denn dann würde ich mich nicht mehr aus eigener Kraft festhalten können. Also bleibe ich tapfer und versuch mit aller Mühe die Augen offen zu halten.„Tara, ich schaff es nicht mehr.“ Unter mir fängt es an zu zittern und ich sinke auf den Boden. „ Verdammt! Ich bin eingeschlafen, oder? Lucas! Wieso hast du mich nicht geweckt? Wo sind wir? Wir waren doch vorhin noch am See. Wie lange habe ich geschlafen?“ Ich kann mich nicht beherrschen ruhig zu sprechen. Die Angst hat die Vernunft besiegt, womit ich eigentlich schon viel früher gerechnet hätte. Wenn Lucas aufgibt, dann wird es Zeit, dass ich mir Sorgen mache. „Du hast nicht lange geschlafen. Höchstens eine halbe Stunde. Ich dachte auch, wir wären auf dem richtigen Weg, aber… Ich weiß auch nicht wie das passieren konnte.“ Er sieht mich nicht an, als er das sagt. Er schaut zu Boden und lässt immer wieder Schnee in seinen Händen zu Wasser werden. „Guck mich an.“, ich stupse spielerisch gegen sein Kinn, wodurch er langsam den Kopf hebt und mir in die Augen blickt. „Es ist auf keinen Fall deine Schuld, okay? Du hast mich schon zum zweiten Mal gerettet und egal was jetzt passiert, es ist nicht deine Schuld. Erklär mir einfach wieso wir nicht zu Hause sind, oder sag mir, wo in etwa du lang gelaufen bist, nachdem wir am See vorbei gegangen sind.“ Er war wieder dabei Schnee in seine Hände zu schaufeln, deshalb nahm ich seine Hand, schüttelte den Schnee heraus und umfasste sie mit beiden Händen. „Ich weiß nicht wie das passiert ist.“, wiederholt er seine Erklärung von eben. „Wir waren am See. Ich war mir so sicher, dass wir es wieder einmal geschafft haben. Dann bin ich links abgebogen, wie immer. Normalerweise hätte ich dann irgendwann unser Haus erkennen müssen, aber es war nirgends zu sehen. Ich wollte dich auf keinen Fall wecken, um dir zu sagen, dass ich mich verlaufen hab, aber… ich kann einfach nicht mehr. Meine Arme sind wohl doch nicht so stark wie ich dachte.“„Du hast alles getan, was du konntest. Es kann jedem passieren, sich hier zu verlaufen. Halb so wild. Wir können auch morgen früh weiter, aber ohne Unterschlupf werden wir erfrieren. Wir müssen jetzt überlegen, was wir tun können.“ Der Schrecken zu sehen, wie mein Bruder sich an allem die Schuld gibt und wie er mit verzweifeltem Gesichtsausdruck immer wieder zu Boden schaut, hilft mir dabei, wieder rational und logisch zu denken. Selbst wenn ich jetzt am liebsten losheulen würde. Ich richte mich vorsichtig auf und blicke mich um. Was auch immer ich erwartet habe zu sehen, nichts als Bäume, Büsche und Schnee. „Du sagst, du bist links abgebogen. Und dann?“ Ich schaue wieder Lucas an. „Tara, ich weiß es nicht. Ich bin geradeaus gelaufen. Vielleicht einen Kilometer, allerhöchstens zwei. Nicht sehr weit.“ Er kann es nicht ertragen, dass wir uns wegen ihm verlaufen haben. Dabei erkennt er nicht, dass ich ohne ihn tot wäre.„Gut.“, ich versuche mir vorzustellen, wo wir sein könnten. Und tatsächlich, es scheint, als hätten wir wieder einmal unverschämtes Glück, aber ich will nicht zu vorschnell träumen. „Ist hier nicht irgendwo in der Nähe diese komische Hütte, in der früher diese Allison Greyman gewohnt hat?“ Allison Greyman war eine alte Frau, über die man sich früher allerlei Geschichten erzählt hat. Viele erzählten, dass sie sogar die Zeit vor Snowscape noch miterlebt haben soll, was nicht wegen ihres Alters so unvorstellbar wäre, da sie schon über neunzig war, sondern weil niemand die großen Naturkatastrophen überlebt hat. Erdbeben, Tsunamis, Vulkanausbrüche, Lawinen, Orkane, Taifune, Dürren, Eisregen und schließlich die Kältewelle. Unsere Eltern haben uns vor dem Schlafengehen immer erzählt, dass sie in ihrem Haus Kinder gefangen hält, die vom Weg abgekommen sind, aber ich glaub das haben sie nur gesagt, damit wir immer auf den Wegen bleiben. Allison hatte sowieso jeden gemieden, weshalb es sie nicht groß störte, dass sie der Inhalt so mancher Horrorgeschichten war, die andere abschrecken sollten. Sie lebte abseits in ihrer kleinen Hütte, ohne jegliche Gesellschaft und dann war sie irgendwann weg. Einfach verschwunden. Man fand keinen Zettel, keine Leiche, nichts. Aber ich kenne ihre Hütte. Und ich weiß ungefähr wo sie steht. Wenn Lucas den Weg richtig beschrieben hat, kann sie nur ein paar hundert Meter entfernt sein.„Allison Greyman? Diese verrückte Hexe?“, ja, man muss sagen, wir alle hatten kein wirklich positives Bild von dieser Frau. „Bist du sicher, dass ihr Haus hier in der Nähe ist? Ich jedenfalls nicht. Und ich weiß nicht, ob ich dem Orientierungssinn einer Person vertrauen kann, die erstens, längere Zeit ohnmächtig im kalten Schnee lag, zweitens gerade eben erst aufgewacht ist und drittens, ich mich nicht erinnere, ob ich dir gerade eben den richtigen Weg genannt hab. Nimms mir nicht übel, aber ich vertraue weder deiner Ortskenntnis, noch meiner Erinnerung.“, er sieht mich entschuldigend an.Ich drücke seine Hand und lächle ihn an. „Tja, deine Argumente sind sehr überzeugend, aber welche Wahl haben wir?“ Er erwidert meinen Händedruck, steht auf und läuft unsere Umgebung ab.Eine Stunde später sitzen wir auf dem Teppich in der Hütte. Es grenzt an ein Wunder, dass wir sie gefunden haben, das wissen wir beide. Aber wir wollen über diese Zufälle jetzt nicht nachdenken, sondern sie einfach dankend annehmen. Das Fell des Rehs liegt um unsere Schultern, wir sitzen nebeneinander und genießen die Wärme nach der langen Zeit draußen in der Kälte. Lucas hat sich mein Bein noch einmal genauer angesehen, aber er kann nichts für mich tun. Er hat eine Schmerzpaste auf mein Bein geschmiert, die er immer in seinem Rucksack bei sich trägt. Sie hat die Schmerzen etwas gelindert, aber bewegen kann ich mich immer noch nicht. Unsere Bäuche sind vollkommen leer und liefern sich ein Duell, wer am lautesten knurren kann. Ich finde in meiner Tasche noch eine Scheibe hartes Brot, die wir uns beide teilen. „Lucas, du glaubst gar nicht, wie dankbar ich dir bin. Wirklich, ich könnte dich abknutschen.“ Ich grinse ihn an. Das Gefühl, dem Tod so knapp entkommen zu sein, setzt anscheinend wahnsinnig viele Endorphine frei, wir sind die ganze Zeit am Lachen und Herumalbern und das tut gut. Ich hatte in letzter Zeit nichts mit meinem Bruder zu tun. Wir sind uns aus dem Weg gegangen, ich weiß nicht einmal mehr warum. Aber eins weiß ich: Ich habe ihn schmerzlich vermisst.„Was ist eigentlich passiert, dass wir uns so auseinander gelebt haben? Du hast mir echt gefehlt.“ Er spricht meine Gedanken aus und legt einen Arm um mich. „Du mir auch. Lass uns aufpassen, dass das nicht mehr geschieht.“ Ich gucke ihn an und bin gerührt, von der Offenheit, die wir uns entgegenbringen. Nicht viele Geschwister haben eine so gute Bindung wie wir und auch bei uns habe ich manchmal Angst, dass wir uns voneinander abkapseln. Wenn man uns nebeneinander sieht, erkennt man sofort, dass wir Geschwister sind. Wir haben beide hellblondes Haar, blattgrüne Augen und hohe Wangenknochen. Sein Gesicht hat zwar markantere Züge als meins, dennoch könnte man meinen, dass wir Zwillinge sind, obwohl er fast zwei Jahre älter ist als ich. Vorgestern war sein neunzehnter Geburtstag, aber wie jeder Geburtstag hier außerhalb, wurde nicht groß gefeiert. Geschenke und Freunde in unserem Alter gibt es hier nicht. Deswegen haben wir unsere letzten Fleischreserven aufgebraucht, damit wenigstens das Essen den Tag zu etwas Besonderem macht.„ Du solltest schlafen.“ Lucas zieht das Fell enger um meine Schultern. „Morgen wird ein anstrengender Tag. Selbst bei Tageslicht ist es schwierig, den Weg zurück zu finden und laufen wirst du, denke ich noch nicht können. Also wäre es gut, wenn du morgen fit genug bist, um dich an mir fest zu halten.“ „ Meinst du nicht, du brauchst mehr Schlaf? Schließlich musst du mich tragen.“„Einer muss Wache halten. Diese dünnen Holzwände schützen uns zwar vor der Kälte, aber bestimmt nicht vor den Mutationen.“ Ich hasse es, das Lucas an diese Viecher glaubt. Er ist so klug, wie kann er so etwas dann für wahr halten? „Ich schlafe erst, wenn du schläfst. Wir brauchen keine Wache. Wir werden schon von selbst wach, wenn hier irgendwas reinstürmen sollte, und es macht keinen Unterschied, ob du schläfst oder nicht, sie würden dich so oder so fressen.“ Es macht keinen Sinn mit ihm darüber zu diskutieren, ob Mutationen existieren oder nicht, das haben wir schon viel zu oft getan, deshalb versuch ich es mit logischen Begründungen. Entweder sind sie es, die ihn überzeugen, oder seine immer wieder zufallenden Augen, aber schließlich gibt er nach und legt sich zu mir unter die Decke. Es dauert nicht lange, bis ich Lucas leise und gleichmäßig atmen höre und kurz darauf fallen auch mir endlich die Augen zu.
Ich werde von ein paar Sonnenstrahlen geweckt, dich sich durch die Löcher in der Hütte gestohlen haben und es sich anscheinend in den Kopf gesetzt haben, mich zu wecken. Ich lasse die Augen noch kurze Zeit geschlossen, genieße die wenige Wärme die sich auf meinem Gesicht ausbreitet. Schließlich setzte ich mich doch auf und schaue mich um. Lucas ist nicht zu sehen. „Lucas? Wo bist du?“, meine Stimme klingt panisch, obwohl ich eigentlich ruhig und gelassen klingen will. Aber ich kann nicht verhindern, dass mir unser Gespräch von gestern wieder in den Sinn kommt. Was, wenn es doch ein wildes Tier hier herein geschafft hat? Wenn es sich Lucas geschnappt hat, der näher an der Tür lag? Wenn ich daran Schuld bin, weil ich auf die Wache verzichten wollte? Wenn Lucas jetzt tot…Ich muss den Gedanken nicht zu Ende bringen, denn Lucas kommt mit geröteten Wangen durch den Eingang der Hütte.„Du glaubst gar nicht, was ich mir für Sorgen gemacht hab. Warum antwortest du nicht? Findest du das lustig?“, ich wische mir unauffällig die Tränen aus dem Augenwinkel. Ich habe keine Ahnung, wie ich so schnell ausrasten konnte. Ich kenne Lucas und ich weiß, dass er auf sich selbst aufpassen kann. Wahrscheinlich saß mir einfach der Stress und die Angst der letzten Stunden noch zu tief in den Knochen.„Ich wollte dir eigentlich Frühstück ans Bett bringen, aber das einzige, was ich finden konnte, waren diese komischen blauen Beeren. Hier.“, er hält mir eine ganze Hand voll Beeren entgegen. „Meinst du, die kann man essen?“ Er schaut mich fragend an.
Tag der Veröffentlichung: 08.06.2013
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