Irgendwo auf einer großen Schutthalde befindet sich unter Tonnen von Müll begraben ein alter, ausgedienter Fußball, beziehungsweise das, was noch von ihm übriggeblieben ist. Denn wie ein Ball sieht er schon längst nicht mehr aus. Alle Luft, die einst in ihm war, ist mittlerweile entwichen. Er ist nur noch ein schlaffes, in Falten liegendes Stück Kunststoff. Niemand gedenkt mehr seiner. Er liegt begraben unter den Tonnen von Müll der Schutthalde und verrottet vor sich hin. Wie lange es dauern wird, bis nichts mehr von ihm übrig ist, wer weiß das schon zu sagen?
Sehr lange ist es noch gar nicht her - vielleicht vier Jahre - da war er noch wer gewesen. Prall und kugelrund glänzte er auf grünem Rasen. Alle Augen und Kameras der Welt waren auf ihn gerichtet, wenn er wie der Wind über den Rasen schnellte, wenn er sich hoch in die Lüfte erhob und sich dabei elegant um sich selbst drehte. Wenn er in diesem Moment die Augen öffnete und die Welt durch seine Augen betrachtete, dann war ihm beinahe so, als ob sich die ganze Welt tatsächlich um ihn drehte! Erreichte er das Tor, ohne dass ihn jemand aufhalten konnte, dann brandete ein unvorstellbarer Jubel auf und durchlief das ganze Stadion. Wie stolz war er doch in solchen Momenten auf sich selbst; denn es war schließlich ein sehr harter Job, den er zu vollbringen hatte. Zwar wurde er manchmal auf Händen getragen, dann aber trat man immer wieder mit Füßen nach ihm. Doch wenn er das Tor erreicht hatte, ohne dass ihn jemand hatte aufhalten können, dann wurde er umarmt und manchmal sogar auch geküsst! Solch eine Aufmerksamkeit und Anerkennung taten gut.
Doch aller Ruhm ist vergänglich. Eben noch umarmte, küsste und umjubelte man den Ball, weil es ihm gelungen war, eine Lücke in der Abwehr zu entdecken und so durch diese hindurch zu gelangen. Auch der Torwart konnte ihn nicht aufhalten. Als er ihn mit den Händen ergreifen wollte, da zog er, ohne dass es jemand gesehen hätte, einfach seinen dicken Kugelbauch ein wenig ein und schon war er im Tor angelangt.
Eben noch feierte man ihn; im nächsten Moment traf ihn ein Stollen eines Fußballschuhs derart unglücklich an einer Schweißnaht, so dass diese aufriss. Durch die Wucht des Tritts wurde er, wie so oft, hoch in die Luft katapultiert, doch er drehte sich dort nicht mehr wie sonst, grazil um die eigene Achse, sondern er eierte ungeschickt durch die Luft und kam nicht dort an, wo er ankommen sollte und wollte. Luft entwich unmerklich seinem lädierten Körper. Tapfer rief er, dass er noch durchhalten würde, dass man sich keine Sorgen um ihn machen solle und dass er weiterhin sein Bestes geben werde...
Doch niemand schien ihn zu hören. Er wurde trotz seiner schweren Verletzung unsanft ins Seitenaus getreten und konnte dann gerade noch sehen, wie ein anderer Ball seinen Platz auf dem Rasen einnahm. Er wurde von jemandem ergriffen und davon getragen. Er dachte, man brächte ihn in die Notaufnahme und in der Annahme, dass man gut für ihn sorgen würde, gab er sich der Ohnmacht hin, gegen die er bis zu diesem Zeitpunkt mit aller Kraft angekämpft hatte.
Als er aus seiner Ohnmacht wieder erwachte, da fand er sich nicht auf einem Krankenbett liegend. Nein, als er sich mit noch kraftlosen Augen umsah, da wurde er sich bewusst, dass man ihn achtlos auf eine Schutthalde geworfen hatte. Das Spiel ging weiter auch ohne ihn. Ein altes Kofferradio, das dicht neben ihm seine letzte Ruhestätte gefunden hatte, lag in den letzten Zügen. Doch ab und an reichte die Energie der in ihm noch vorhandenen Batterien aus, damit das Radio ein paar Töne von sich geben konnte. So bekam der neben ihm kauernde Fußball immer wieder ein paar kurze Berichte über das Fußballturnier mit. Wenn ein Tor fiel, dann wurde nicht der Ball bejubelt, sondern der Spieler, der den Ball ins Tor getreten hatte. Eigentlich, so stellte er fest, wurde dem Ball selbst, erstaunlich wenig Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl das Spiel doch FußBALL hieß! Meist fand der Ball nur dann kurz Erwähnung, wenn etwas nicht mehr mit ihm stimmte; wenn er der Belastung, die er auszuhalten hatte, nicht mehr standhalten konnte und etwas an ihm kaputt ging – ganz so, wie es ihm selbst ergangen war. Dann hieß es einfach, dass man einen neuen Ball bräuchte. Was aus dem alten Ball wurde, darüber sprach niemand. Was aus einem Ball wurde, der seine Aufgabe nicht mehr verrichten konnte, das wusste er jetzt selbst am Besten.
Er hatte sich eingebildet, etwas Besonderes zu sein; doch er war nur ein Ball unter vielen. Das Turnier war zu Ende gegangen. Den Batterien des alten Kofferradios entwich das letzte bisschen an Kraft. Das Radio gab keinen Ton mehr von sich. Es wurde mucksmäuschenstill um ihn herum. Je mehr Zeit verging, desto drückender wurde der Berg an Müll, der über den Fußball aufgehäuft wurde. Manchmal fragte sich der Ball, wie viele andere Bälle über und vielleicht auch schon unter ihm ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten...
Tag der Veröffentlichung: 11.06.2010
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