„Ich würde dich gerne dazu einladen, mit mir nach Lutetia Cordis zu fahren. Ich weiß, dass das leichter gesagt, als getan ist. Lutetia Cordis ist natürlich nicht einfach mit dem Auto, dem Zug, dem Schiff oder dem Flugzeug zu erreichen. Die Wege, die wir gehen müssen, um Lutetia Cordis zu sehen zu bekommen, sind mitunter absonderlich. Doch, wenn du den Mut hast, um mit mir auf diese Reise zu gehen, dann reiche mir deine Hand. Du wirst sehen, du bist bei mir sicher.
Bist du bereit? Wirklich?
Dann komm mit; dort vorne steht schon der dreibeinige und einflügelige Pegasus bereit. Er wird uns den ersten Weg der Reise begleiten.
Vielleicht fragst du dich, was mit dem armen Pegasus passiert ist? Nun, Pegasus ist ein sehr, sehr altes Tier. Er bereiste immerhin schon die Welt in einer Zeit, als die Götter noch lebten. Aber er hat mit der modernen Zeit nicht ganz Schritt halten können. Seinen Vorderlauf verlor er beim Grasen, als er unachtsam und keine Gefahr ahnend eine Autobahn überquerte, um von einer Koppel auf die nächste zu gelangen. Sein Flügel wurde ihm von einem Düsenflugzeug einfach abgerissen. Doch Pegasus ist ein sehr stolzes und starkes Tier und lässt sich seine Verwundungen nicht so leicht anmerken. Versuche also bitte nicht so mitleidig dreinzuschaun…
So! Nun komm. Reich mir deine Hand. Ich helfe dir herauf. Wenn wir uns nur gut an Pegasus’ Mähne festhalten, dann sollte uns eigentlich nichts passieren.“
***
Und so begann die Reise,
Auf wundersame Weise,
Die sie und ich bestritten.
Und was wir in der Ferne
Erlebten und erlitten,
Das möchte ich euch gerne
Im Folgenden berichten…
Die Reise
So schwangen wir uns also auf den guten, alten Pegasus. Dieser galoppierte wiehernd los und holte so Schwung für den Flug. Es war ein sehr holpriger Ritt. Aber schließlich gelang es Pegasus, sich in die Lüfte zu erheben.
Doch da er nur noch einen Flügel besaß, kippte er während des Fluges immer wieder zur Seite. Wir hatten alle Mühe, uns festzuhalten und nicht in die Tiefe zu fallen. Aber irgendwie war es auch ein sehr lustiger Flug; manchmal kam man sich fast wie in einer Achterbahn vor.
Im Zickzack-Kurs, denn der Flugwind ließ uns immer wieder abdriften, ging es voran. Einmal aber kam eine so starke Windböe auf, die den armen Pegasus unvorbereitet von der Seite traf, dass wir hin und her gewirbelt wurden. Wir verloren schließlich den Halt und stürzten in die Tiefe.
Doch so schnell sollte unsere Reise natürlich nicht zu Ende sein. Wir fielen nicht hart zu Boden, sondern landeten weich auf einem Wolkenschiff, das gerade den Himmelsozean befuhr. Ich winkte Pegasus zum Abschied zu und rief ihm nach: „Danke, alter Freund!“ Pegasus ließ ein freundliches Wiehern erklingen, winkte uns mit dem ihm verblieben Vorderlauf zu, während er noch immer versuchte, seinen Flug wieder zu stabilisieren. Bald war er unserem Blick entschwunden.
Hinter uns erklang ein finsteres Räuspern, das vom Wolkenschiffkapitän stammte, der uns kurzerhand, da wir ja als Blinde Passagiere an Bord gekommen waren, in die Kombüse warf und uns zum Kartoffelschälen verdonnerte. Der Smutje aber war ein lustiger und leutseliger Tausendhänder. Ich muss sagen, dass es eine ungemein praktische Sache sein muss, tausend Hände zu haben, besonders, wenn man so einen riesigen Berg an Kartoffeln zu schälen hat. In der Zeit, in der wir zwei Kartoffeln schälten, schälte der Tausendhänder fünfhundert auf einmal und spann uns währenddessen noch allerlei Seemannsgarn, so dass die Zeit wie im Nu verging. Als das Wolkenschiff im Hafen von Ach-was-weiß-ich-wo anlegte, wurden wir kurzerhand von Bord geworfen.
Ach-was-weiß-ich-wo ist ein sehr stark bevölkerter Ort, denn dort landen alle, die sich auf ihren Reisen verirren, und das sind gar nicht so wenige, wie man vielleicht meinen möchte. Aber kaum jemand bleibt hier sehr lange. Und auch wir hatten nicht vor, uns dort lange aufzuhalten. Wir tranken nur kurz etwas in einer völlig heruntergekommenen Kneipe und machten uns dann auf die Suche nach einer Transportgelegenheit. Leider waren die angenehmen Reisemöglichkeiten alle bereits hoffnungslos überbucht. So stand uns nur noch die Flaschenpost zur Wahl.
Der Flaschenpostkutscher musste die Flasche, in der Fracht und Passagiere befördert wurden, wohl höchstpersönlich ausgetrunken haben; denn er schnarchte während der gesamten Fahrt, schlief seelenruhig seinen Rausch aus und ließ die Flasche einfach im Meer dahin treiben. Aber von der Flaschenpost ist man es ja nicht anders gewöhnt.
Nach einigen Wochen –wir waren schon alle völlig seekrank– wurden wir endlich an Land gespült. Merkwürdigerweise landeten wir genau an dem Ort, für den die Fracht an Bord der Flaschenpost bestimmt war. (Es bleibt ein ewiges Geheimnis, wie die Flaschenpost dies immer wieder zuwege bringt.) Wir torkelten von Bord. Vor uns lagen die riesigen Tore der Stadt Sandburg, beziehungsweise das, was von den Toren der Stadt Sandburg übrig geblieben war; denn Sandburg verdankte seinen Namen dem Material, aus dem es erbaut war: Nämlich Sand! Allerdings erwies sich das meiner Ansicht nach als keine sehr glückliche Wahl, denn da Sandburg direkt am Meer liegt, wurden und werden immer wieder große Teile von der Meeresbrandung einfach hinweggespült. Doch die Sandburger sind unermüdlich, wenn es darum geht, ihre Stadt wieder neu aufzubauen. Auf diese Weise verändert sich die Stadt auch ständig und man kann Sandburg jedes Mal neu für sich entdecken, wenn man dort wieder einmal zu Besuch ist.
Wir betraten die Stadt also durch die halb weggespülten Stadttore und schlenderten die Promenade entlang. Es war ein sonniger und warmer Tag. Die Sandburger saßen in den Cafes und Bars und ließen es sich gut gehen. Auch wir beschlossen, in eines der Cafes einzukehren. Wir bestellten uns jeweils ein großes Stück Sandkuchen und je eine Tasse Kaffee. Der Kellner brachte uns das Bestellte, wünschte uns einen guten Appetit und verschwand mit einer galanten Verbeugung. Die Tassen und Teller bestanden ganz aus gebranntem Sand. Auch der Kuchen sah aus, als ob er aus Sand gebacken sei. Ich spießte ein Stück auf meine Gabel, die selbstverständlich auch vollständig aus Sand gefertigt war, probierte vorsichtig und spie das Stück Sandkuchen sogleich wieder auf den Tisch. Der Sandkuchen war –ich hatte es ja bereits befürchtet– ebenfalls ganz aus Sand gebacken. Die Sandburger an den Nebentischen sahen mich empört an. Ich blickte beschämt zu Boden, versuchte so zu tun, als ob nichts geschehen sei und nippte verlegen an meinem Kaffee. Nur mit Mühe und Not gelang es mir diesmal, nicht auch noch den Kaffee gleich hinterher auf den Tisch zu spucken, denn auch dieser bestand nur aus heißem Wasser und schwarzen Sandkörnchen, die ganz fürchterlich zwischen den Zähnen knirschten.
Zähneknirschend verließen wir schnellstmöglich das Cafe und beschlossen, die Weiterreise alsbald anzutreten, denn wir hatten wenig Lust, in einem Hotel aus Sand zu übernachten, dessen Betten vermutlich auch aus Sand bestanden.
So begaben wir uns also zum Bahnhof und warteten auf den Zug, der zu unserer Überraschung nicht aus Sand bestand, sondern ganz aus Süßigkeiten gefertigt war. Die Dampflokomotive bestand fast gänzlich aus schwarzer Schokolade und stieß immerzu Wolken aus feinster Zuckerwatte in die Luft. Die Waggons waren aus Keksen und Zuckerguss angefertigt worden. Die Räder dieses Süßigkeitenzuges bestanden aus Marshmallows, so dass man in diesem Zug so weich fuhr, als würde man auf Wolken schweben.
Der Zug fuhr los. Wir überquerten auf unserer Fahrt einen kilometerlangen Viadukt und hatten von dort aus einen herrlichen Blick in das Tal. Alles grünte und blühte dort so unbeschreiblich schön, dass es wahrscheinlich wirklich wenig Sinn machen würde, wenn ich diese Schönheit beschreiben wollte. Nachdem wir den Viadukt überquert hatten, führte uns die Fahrt in eng geschlungenen S-Kurven einen steilen Berghang hinauf. Die Steigung war derart stark, dass es immer wieder den Anschein hatte, als ob die Lokomotive diese Strecke nicht schaffen würde. Aber, wie das allzu oft im Leben ist, trog auch hier nur der Schein und schlussendlich kamen wird wohlbehalten in Gipflingen an. Diese Stadt ist auf dem höchsten Punkt des Berggipfels errichtet worden und ist von außen besehen einem Falkenhorst nicht unähnlich aufgebaut.
Am Steilhang der Stadt Gipflingen befindet sich die Riesenhafte Rutschbahn der Wundersamen Wege. Die Bahnen dieser gigantischen Rutschbahn führen in alle Teile der Welt. Einige dieser Bahnen führen sogar direkt durch das Innere der Erde, sagt man. Der Anblick dieser Anlage war atemberaubend und, ich will es nicht verhehlen, auch ein wenig furchteinflößend.
Ich erstand zwei Bahnkarten. Wir wurden in eine Wattegondel für zwei Personen gesetzt und sicher angeschnallt. Dann erschien ein gewaltiger Gepartiloper. Das sind Mischwesen aus Geparden und Antilopen und man sagt ihnen nach, dass sie selbst den Wind mühelos überflügeln können; so schnell sind diese Wesen.
Der Gepartiloper packte die Gondel mit seinen gewaltigen Pranken an den Haltegriffen und dann schob er uns an. Wir wurden mit einem solchen Ruck in unsere Sitze gepresst, dass uns beinahe das Bewusstsein geschwunden wäre. Am Anfang des Tunnels der Riesenhaften Rutschbahn der Wundersamen Wege ließ der Gepartiloper dann die Gondel los und wir sausten mit einer irrsinnigen Geschwindigkeit davon. Erst ging es nur ganz steil und geradeaus bergab, dann wurde die Bahn allmählich etwas flacher und kurvenreicher. Hin und wieder vollführte die Strecke auch einen Looping. Ich bin mir sicher, dass das nicht vonnöten gewesen wäre, sondern allein der Unterhaltung der Reisenden dienen sollte. Ich hätte leicht darauf verzichten können, denn mir wird schnell schwindelig bei so etwas. Sie aber hatte sichtlich ihren Spaß.
Unsere Fahrt führte uns sogar bis auf den Grund des Meeres und ich konnte mich kaum satt sehen, an der schnell an uns vorüber ziehenden bizarren Unterwasserwelt.
Mit einem Male wurde es dunkel um uns herum. Der Tunnel durchschnitt massives Gestein und führte uns allmählich bergan. Unsere Fahrt verlor an Geschwindigkeit; dennoch war sie noch schnell genug, um uns hoch in die Luft zu schleudern, als der Tunnel der Riesenhaften Rutschbahn der Wundersamen Wege ganz plötzlich endete. Die Gurte der Wattegondel lösten sich automatisch als wir uns hoch in den Lüften über Lutetia Cordis befanden.
Im freien Fall fielen wir auf die Stadt zu. Sie schaute mich mit einem panischen Blick an. Ich hob mit einer ahnungslosen Geste die Hände und konnte nur mit den Schultern zucken. So hatte ich mir das Ende dieser Rutschpartie natürlich auch nicht vorgestellt. Lutetia Cordis kam immer näher, schneller und schneller, je mehr wir durch die Erdanziehung beschleunigt wurden.
Schon ließen sich die einzelnen Straßenzüge mit dem bloßen Auge gut erkennen, da kam auf einmal etwas buntschillerndes angerauscht. Es war unser Seifenblasen-Taxi, das die Agentur für Wundersame Wegreisen mit der Riesenhaften Rutschbahn für uns bestellt hatte. Das Taxi hatte sich verspätet, denn für gewöhnlich nimmt es seine Gäste bereits dann in Empfang, wenn sich die Gurte der Wattegondeln öffnen, wie uns der Taxifahrer, ein blassbläulich schimmernder Aquate, immer wieder entschuldigend versicherte. Um den Schrecken, den uns seine Verspätung eingejagt hatte, wieder halbwegs gut zu machen, erließ er uns die Hälfte des Fahrpreises.
Lutetia Cordis
So waren wir also endlich in Lutetia Cordis angekommen. Wir waren nach der Reise so müde, dass wir uns im Hotel zur Wolke 7 einquartierten und bis zum nächsten Mittag schliefen. Ich stand auf; bestellte beim Zimmerservice Kaffee und Frühstück, was ich glücklicherweise trotz der späten Stunde noch bekam, und klopfte an ihre Tür. Sie bat mich herein und wir frühstückten erst einmal in aller Ruhe gemeinsam.
Danach verließen wir das Hotel. Die Sonne sandte ihre goldgelben Strahlen auf uns herab. Kleine, bunte Wolken huschten über den Himmel, der immer genau die Farbe hat, die man am liebsten mag. Es können also zwei Menschen in denselben Himmel blicken und doch zwei völlig unterschiedliche Himmel sehen. Ich nahm sie vorsichtig an der Hand, sie lächelte mich an, und wir schlenderten gemeinsam durch Lutetia Cordis. Wir liefen am Ufer des Zwiespältigen Flusses entlang, der die Stadt in zwei Hälften teilt. Der Fluss besteht auf der Seite, auf der wir uns befanden, aus süßem Honigmet. Auf der anderen Seite besteht er aus bitterstem Wermut. Der Teil der Stadt, der sich auf der anderen Seite des Flussufers befindet, lag hinter einer hohen Mauer aus Stacheldraht verborgen.
Sie deutete mit ihrer Hand auf das gegenüberliegende Flussufer und fragte mich, was sich denn dort befände? Mich schauderte und ich sagte ihr, dass dort ein sehr dunkler Teil der Stadt verborgen läge, den man besser nie betreten sollte. Als ich merkte, dass ihr Blick immer wieder neugierig zu jenem dunklen Teil der Stadt zurückkehrte, da zog ich sie schleunigst mit mir mit.
Wir verließen das Flussufer, schlenderten durch Lutetia Cordis und näherten uns irgendwann dem Montmartre. Als wir dort angekommen waren, da sahen wir dort viele menschengroße Pinsel, Stifte und Kreiden stehen, die immerzu emsig malten und zeichneten oder sich bei einem Glas Absinth über Gott und die Welt unterhielten. An einer Ecke stand jemand, der einer Papyrusrolle sehr ähnelte. Es war ein Dichter, der für die Vorbeigehenden spontan Gedichte verfasste. Als wir an ihm vorbeikamen, da rief er mir hinterher:
„Ich sehe einen Turm!
Es zieht herauf ein Sturm.
Der Sturm treibt dich hinfort
An deinen dunklen Ort.
Vertraue auf die Stimme.
Die Stimme kennt den Weg.
Du musst ihr einfach folgen.
Sie ist dein sich’rer Steg!
Du musst nur auf sie hören.
Der Turm hat viele Türen!
Doch du kannst sie nur sehen,
Wenn du wirst mit ihr gehen!
Vertraue auf die Stimme.
Die Stimme kennt den Weg.
Du musst ihr einfach folgen.
Sie ist dein sich’rer Steg!“
Ich blieb stehen und starrte die Papyrusrolle aus schreckgeweiteten Augen an. Ein banges Gefühl bemächtigte sich meiner. Ich weiß nicht, wie lange ich dort vielleicht noch gestanden hätte, wenn sie mich nicht sanft um meine Hüfte gepackt und fort geschoben hätte?
Auf unserem Streifzug durch Lutetia Cordis kamen wir auch am Place de la Concorde vorbei. Doch er war mal wieder nur von lauter Streithähnen bevölkert, die sich in irgendwelche banalen Streitigkeiten verstrickt hatten.
Eines dieser Streithahnpärchen kam mir besonders kurios vor. Sie stritten darüber, dass sie ständig miteinander stritten. Der männliche Streithahn behauptete, dass sie sich ständig wegen Nichtigkeiten ins Gehege kämen; während die weibliche Streithenne dies vehement abstritt. Dadurch wurden beide so erbost, dass sie anfingen, sich gegenseitig mit ihren Schnäbeln zu picken, bis schließlich die Streithenne mit Tränen in den Augen davonrannte. Der Streithahn lief ihr dann mit gesenktem Kopf hinterher und rief immer wieder verzweifelt, dass er es doch gar nicht so gemeint hätte.
Wir verließen den Place de la Concorde, denn es war uns nicht danach, uns den Tag von solch unsinnigen Streitereien verderben zu lassen.
So schlenderten wir den ganzen Tag durch Lutetia Cordis bis schließlich die Sonne ihr Antlitz hinter dem Horizont verbarg.
Wir machten uns wieder auf den Weg in Richtung unseres Hotels. Unterwegs begegneten wir einem Philosophen der Zeit. Er sah uns aus altersgrauen Augen an, um die sich eine Menge kleiner Lachfältchen gebildet hatten, und gab uns im Vorbeigehen eine seiner Weisheiten mit auf den Weg. Er sagte: „Die Zeit, meine Kinder, ist wie ein Häufchen Sand, der euch unablässig durch eure Finger rieselt. Ihr könnt das Rieseln des Sandes nicht aufhalten. Aber ihr könnt versuchen, jedes einzelne Sandkorn so intensiv wie möglich zu spüren, während es euch durch eure Finger gleitet…“
Nachdenklich begaben wir uns in das Hotel zur Wolke 7. Es war schon sehr spät geworden und wir waren müde. Ich brachte sie an ihre Zimmertüre und verabschiedete mich dort von ihr. „Es war ein sehr schöner Tag heute mit dir!“, sagte ich schüchtern lächelnd. Sie nickte und lächelte mich ebenfalls an. Ich stand da; trat verlegen von einem Fuß auf den anderen, brachte aber kein Wort mehr hervor. Sie hauchte mir schließlich einen Kuss auf die Wange, dann drehte sie sich um und schloss ihre Türe auf. Als sie gerade dabei war, mir noch einmal zum Abschied winkend, die Türe hinter sich zu schließen, da hub ich noch einmal an: „Ich…“ Sie ließ ein fragendes „Ja?“ erklingen. Ich vollendete den Satz nicht ganz so, wie ich ihn eigentlich vollenden wollte und sagte stattdessen: „Ich… wünsche dir eine gute Nacht. Träum schön!“ Sie lächelte mich wieder an und entgegnete mir: „Das wünsche ich dir auch. Bis morgen!“
Ich begab mich zu Bett, konnte aber eine lange Zeit nicht einschlafen. Ich machte mir Vorwürfe, weil ich ihr nicht das hatte sagen können, was ich ihr schon seit einer langen Zeit hatte sagen wollen. Eigentlich schon, bevor wir überhaupt auf diese Reise gingen.
Irgendwann fielen mir über meine Grübeleien dann aber doch die Augen zu. Doch ich schlief sehr unruhig und wurde von Alpträumen gequält.
Als ich am anderen Morgen erwachte, da waren meine Gedanken noch ganz von den Alpträumen der letzten Nacht gefangen. Ich versuchte, das beklemmende Gefühl von mir abzuschütteln; doch es wurde nur immer stärker. Mein Alptraum war nicht zu Ende. Er hatte gerade erst begonnen!
Das Düstere Viertel der Endlosen Einsamkeit
Ich befand mich nicht mehr in meinem Hotelbett. Ich befand mich auch nicht mehr auf der bunten Seite von Lutetia Cordis. Ich hatte während des Schlafes die Brücke der Alpträume überquert und war so im Düsteren Viertel der Endlosen Einsamkeit gelandet. Dort herrschen Dunkelheit und Kälte. Jede Bewegung, die man dort macht, vermittelt einem das Gefühl, als müsse man gegen eine starke Gegenströmung anlaufen und je stärker man dagegen ankämpft, desto stärker scheint die Strömung zu werden. Dennoch sammelte ich alle Kraft in mir und ging los, in dem kraftlosen Bemühen, dem Düsteren Viertel der Endlosen Einsamkeit zu entfliehen.
Schwarze Schneemänner huschten an mir vorbei und zerschnitten mit ihrem höhnenden Gelächter und ihrem eiskalten Blick die Fäden meiner Seele. Sie trieben mich immer weiter vom Rückweg ab und in die Mitte des Düsteren Viertels der Endlosen Einsamkeit hinein. So wurde ich auf die Via Solitudinis getrieben.
Ist man erst einmal auf dieser Straße gelandet, so gibt es kein Entrinnen mehr; denn diese Straße erstreckt sich nach allen Seiten bis ins Unendliche. Wohin man auch blickt: Die Via Solitudinis kennt kein Ende. Wohin man auch geht: Man nähert sich unausweichlich dem Zweifelturm. Ich blieb stehen. „Alles, nur nicht der Zweifelturm, nur bitte nicht der Zweifelturm!“, schrie es in meinen Gedanken.
Ich blieb stehen und schwor mir, keinen Schritt weiter zu gehen. Doch da zog ganz plötzlich ein gewaltiges Sturmtief auf. Regen peitschte über mich hinweg und ätzte Wunden in mein Fleisch. Der Wind wurde so stürmisch, dass er mich einfach von meinen Beinen riss und mich über die Via Solitudinis schleifte. Der Zweifelturm ragte schwarz und bedrohlich vor mir auf. Ich versuchte mich verzweifelt am Boden festzukrallen. Doch die Via Solitudinis ist so plan geschliffen, dass nicht einmal ein Gecko auf ihr Halt finden würde. Unaufhaltsam wurde ich in den Zweifelturm hinein getrieben, der mich gierig, mit weit offen stehendem Maul verschlang.
Es wurde still um mich her. Ich war alleine; eingeschlossen im Zweifelturm. Ich tastete die Mauern entlang und suchte nach dem Ausgang. Doch es war kein Ausgang mehr da. Ich fing panisch an, hin und her zu irren. Was sollte ich nur tun? Mein Kopf begann zu schmerzen. Meine Gedanken fingen an, sich zu drehen und zu kreisen. Ich fiel auf die Knie und schrie!
***
Sie erwachte. Sie fühlte, dass etwas anders war. Sie wusch sich schnell, zog sich hastig an. Dann verließ sie das Hotelzimmer und klopfte an meine Türe. Es öffnete niemand und niemand bat sie herein. Sie wollte ein Zimmermädchen bitten, meine Türe aufzuschließen; doch es war keines zu finden. Sie fuhr mit dem Lift ins Parterre, um mit dem Portier zu sprechen, aber auch dort war niemand. Ratlos verließ sie das Hotel und ging auf die Straße. Die Stadt war vollständig entvölkert; wohin sie auch ging, nirgends war irgendeines der kunterbunten Lebewesen zu sehen, die noch gestern die ganze Stadt belebt hatten. Der Himmel, der immer die Farbe hat, die man am liebsten mag, zeigte nur noch ein mattes Grau. Die Sonne war nur noch eine fahle, gelbe Scheibe, die alle Leuchtkraft verloren hatte.
Sie rannte einer Ahnung folgend an das Ufer des Zwiespältigen Flusses und blickte auf den hinter der Mauer aus Stacheldraht gelegenen Stadtteil. Dort tobte ein fürchterliches Gewitter und ein riesiger, schwarzer Turm ragte unheilvoll in der Mitte des Unwetters empor. Ihr fiel das Gedicht der dichtenden Papyrusrolle ein und da wusste sie, dass mir etwas Schreckliches zugestoßen sein musste. Sie lief das Flussufer auf und ab. Nirgends gab es eine Brücke, eine Fähre oder ein Ruderboot, mit dem sie den Fluss hätte überqueren können. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Doch da ihr wohl nichts anderes übrig blieb, musste sie versuchen, den Fluss zu durchschwimmen, auch wenn sie dabei möglicherweise von der Strömung verschlungen wurde. Ohne weiter zu zögern, schritt sie voran, um sich in den reißenden Fluss zu stürzen.
Doch ihr Fuß berührte das Wasser nicht. Sie tat einen weiteren Schritt. Auch ihr anderer Fuß blieb trocken! Er schwebte dicht über dem Gewässer. Sie hatte, ohne es zu wissen, die unsichtbare Brücke der Sorge betreten, über die man den Zwiespältigen Fluss gefahrlos überqueren kann. So schritt sie denn rasch an das andere Flussufer und kam an die Mauer aus Stacheldraht. Sie zögerte jedoch nicht lange, riss sich die Ärmel ihrer Bluse ab, umwickelte damit ihre Hände und kletterte dann beherzt über die Stacheldrahtmauer und gelangte so in das Düstere Viertel der Endlosen Einsamkeit.
Als die Schwarzen Schneemänner des Eindringlings gewahr wurden, da kamen sie bedrohlich auf sie zu. Sie lachten ihr höhnisches Lachen und versuchten mit ihren eiskalten Blicken, ihre Seele zum Erstarren zu bringen. Doch ihr höhnisches Gelächter blieb ihnen im Halse stecken, als sie dem Strahlen ihrer himmelblauen Augen begegneten. Der eiskalte Blick der Schwarzen Schneemänner konnte ihr nichts anhaben. Aber das helle und warme Leuchten ihrer Augen brachte die Schwarzen Schneemänner zum Schmelzen. Als diese die Gefahr bemerkten, da rannten sie erschrocken davon.
Sie ging weiter und kam dem schwarzen Turm immer näher. Doch je näher sie kam, desto stärker wurde die unheilvolle Macht des Turmes. Sie begann zu zweifeln...
Sie zweifelte, ob es das Richtige war, was sie tat. Sollte sie nicht doch lieber umkehren? Was wollte sie überhaupt an diesem trostlosen Ort?
Halb hatte sie sich schon umgedreht, da ertönte plötzlich aus den Tiefen des Zweifelturms ein lauter, verzweifelter Schrei. Ein Schrei, der durch Mark und Bein ging.
Da drehte sie sich wieder um. Aller Zweifel fiel von ihr ab, denn die neuerliche Sorge in ihr, die ihr schon eine sichere Brücke über den Zwiespältigen Fluss war, war ihr nun auch Schutz gegen das Zaudern und Zögern, das die unheilvolle Macht des Zweifelturms bewirkte.
Sie schritt mutig voran und gelangte so schließlich in das Innere des Zweifelturms.
Der Zweifelturm
Der bohrende Schmerz in meinem Kopf ließ mich blindlings hin und her laufen. Ich fühlte mich einsam und alleine und die Verzweiflung darüber presste mir mein Herz zusammen. Wohin ich auch lief, ich konnte diesen Gefühlen und Gedanken nicht entkommen; sie wurden immer nur stärker, je verzweifelter ich versuchte, vor ihnen davon zu laufen. Auf diese Weise steuerte ich zielsicher auf die Spiralförmige Treppe des Verderbens zu, die sich in der Mitte des Zweifelturmes befindet. Diese Treppe führt über viele Windungen bis in die höchste und letzte Kammer des Zweifelturmes. Es ist die Kammer der Ausweglosen Ausflucht. Das Zimmer ist sehr karg eingerichtet. Eigentlich findet sich dort nur eine Reihe von nicht sehr bequemen Stühlen, wie in einem Wartesaal. An der Westseite des Zimmers befindet sich eine hölzerne Tür; die einzige Tür im ganzen Turm. Ein flammender Schriftzug befindet sich an der Tür mit der Aufschrift: „Betreten auf eigene Gefahr!“ Doch wenn man eine Zeit, die einem endlos lange vorkommt, in der Kammer der Ausweglosen Ausflucht herumsitzt, und darauf wartet, dass… Ja, worauf wartet man hier eigentlich? Hier ist doch nichts, außer einer Menge von leeren Stühlen, die immer schon leer waren und immer leer bleiben werden. Man ist hier ganz alleine, sich selbst und seinen Gedanken und Gefühlen überlassen, die den Geist durchbohren und das Herz erdrücken. Ich blickte auf die Türe! Sie schien der einzige Ausweg aus diesem Turm zu sein. Warum sollte ich nicht durch diese Türe gehen? Was war so falsch an dieser Türe? Ich erhob mich, ging auf die Türe zu und zog am Schloss. Sie schwang mit einem leisen Ächzen nach innen auf. Mein Blick glitt in eine schwindelerregende Tiefe hinab. Mich schauderte. Doch es war der einzige Ausgang aus diesem dunklen Turm. Gerade als ich einen Schritt nach vorne tun wollte, da hörte ich eine Stimme aus der Ferne meinen Namen rufen. Ich hielt inne, drehte mich um; doch da war niemand. Da waren nur diese Stühle, auf denen niemand saß. Ich nahm an, dass mir meine Gedanken einen Streich spielen wollten. Gerade als ich mich wieder umdrehen und die Türschwelle endgültig überqueren wollte, da erklang wieder diese Stimme; diesmal etwas lauter. Wollte mir die Hoffnung etwa einen letzten Streich spielen? Wie oft hatte sie mich schon getrogen? Wie oft hatte ich schon vergeblich gehofft? Ich beschloss, mich nicht länger narren zu lassen; nicht mehr zu zaudern und trat mit dem Fuß über die Schwelle.
Diesmal glich die Stimme, die meinen Namen rief, einem gellenden Aufschrei. Ich wurde unsanft am Arm gepackt, von den Beinen gerissen, und fiel der Länge nach hin. Als es mir wieder gelang, mich aufzuraffen und mich umzudrehen; da fiel mein Blick auf zwei himmelblau leuchtende Augen, in denen diesmal Tränen standen. „Bist du das? Bist du das wirklich?“, fragte ich schwach. Als Antwort erhielt ich eine klatschende Ohrfeige, und der brennende Schmerz auf meiner Wange ließ mich wissen, dass sie es wirklich war. Dann umarmte sie mich ganz fest und sprach: „Wir müssen ganz schnell raus aus diesem Turm!“ Ich deutete kraftlos mit meiner Hand auf die offen stehende Holztür und sagte: „Aber das ist, wie es aussieht, der einzige Ausweg aus diesem Turm!“ Sie herrschte mich zornig an: „Das ist die falsche Tür, du Idiot! Es muss noch andere Türen geben. Wir sind doch auch sicher in den Turm hineingekommen, also muss es auch Türen geben, die uns sicher wieder hinausführen!“
Sie musste Recht haben, denn das, was sie sagte, klang völlig überzeugend…
Sie zog mich hoch und fasste mich fest bei meiner Hand. Gemeinsam eilten wir die Spiralförmige Treppe des Verderbens herab. Der Turm begann zu beben. Sand rieselte auf unsere Köpfe herab. Steine lösten sich aus dem Gemäuer und fielen laut polternd zu Boden. Der Turm fing an, in sich zusammenzustürzen. Wenn wir nicht schnell einen Ausgang fänden, dann würde der Turm uns unter einem Haufen aus Schutt und Stein begraben.
Wir eilten die finsteren Korridore hin und her; überquerten porös gewordene Brücken, kletterten Leitern und Treppen herab. Schließlich gelangten wir in einen großen Saal, der die Eingangshalle sein musste. Doch so sehr wir dort auch suchten und gegen die Mauern klopften; die Mauern der Halle waren aus massiven Stein; keine Tür fand sich dort.
Ich sank in mich zusammen. Der kleine Funken Hoffnung, der so jäh in mir aufgeflammt war, erlosch wieder. Sie kam zu mir, kniete sich ebenfalls nieder und nahm mein Gesicht zwischen ihre Hände. Ich senkte meinen Bkick verlegen zu Boden, doch die drehte meinen Kopf so, dass ich ihr in ihre strahlenden Augen sehen musste. Ich war überrascht, denn in ihrem Blick lagen weder Verzweiflung noch Hoffnungslosigkeit. Sie lächelte mich an, so wie sie mich schon so oft angelächelt hatte und sprach mit ihrer sanften Stimme zu mir: „Du zweifelst noch immer, nicht wahr? Glaubst du, ich wüsste nicht ganz genau, was du mir gestern an meiner Hotelzimmertür wirklich hast sagen wollen? Zweifle nicht mehr!“ Und bei diesen Worten näherte sich ihr Gesicht dem meinen und ihre sanften Lippen drückten sich zart auf meine Lippen. Ich schloss meine Augen. Es war der süßeste Kuss, den ich je empfangen hatte.
In diesem Augenblick wich der Zweifel aus meinem Herzen.
Die Mauern der Eingangshalle brachen auf. Riesige Torflügel wurden mit einem Mal sichtbar und schwangen mit leisem, aber fröhlichem Quietschen nach außen auf. Die Eingangshalle des Zweifelturms war voller Türen. Ich hatte sie nur nicht sehen können, denn der Zweifel in mir hatte sie fest verschlossen und unpassierbar gemacht.
Wir standen auf und rannten los. Als wir gut einige hundert Meter vom Zweifelturm entfernt waren, da stürzte er laut krachend in sich zusammen. Wir gingen weiter, bis wir an der großen Mauer aus Stacheldraht ankamen. Doch auch sie war vollständig eingestürzt. Am Flussufer angekommen, zog ich sie hastig zurück, als ich merkte, dass sie sich Hals über Kopf in die Fluten des Zwiespältigen Flusses stürzen wollte. Sie sagte jedoch nur: „Hab Vertrauen!“ Sie nahm meine Hand und ich tat einen vorsichtigen Schritt in den Fluss; aber meine Füße berührten das Wasser nicht und die ihren auch nicht. Wir überquerten den Zwiespältigen Fluss, Hand in Hand, sicher auf der Brücke der Liebe.
Als wir auf diese Weise endlich wieder im bunten Stadtteil von Lutetia Cordis angelangt waren, da war dort alles noch viel bunter und lebhafter als zuvor. Die Sonne strahlte wieder und lächelte uns freundlich zu. Der Himmel, der immer genau die Farbe hat, die man am liebsten mag, hatte sich diesmal entschlossen, ihre und meine Lieblingsfarbe zu mischen, damit wir beide in einen gemeinsamen Himmel blicken konnten.
***
Das war unser Abenteuer in Lutetia Cordis. Seit unserem Besuch dort hat sich viel verändert. Das Viertel der Endlosen Einsamkeit hat für mich einiges an Schrecken eingebüßt. Seitdem sie die Schwarzen Schneemänner von dort vertrieben hat, ist es dort auch nicht mehr so finster und kalt. Ich habe sogar gesehen, dass sich dort mittlerweile einige subarktische Pflanzen und Tiere eingefunden haben. Vielleicht wird es eines Tages ein wundervoller Naturpark sein, voll von den wundersamsten Tieren und Pflanzen.
Der Zweifelturm ist heute nur noch eine Ruine, von der keine Gefahr mehr ausgeht. Doch er wird auf alle Zeiten ein Mahnmal bleiben.
Texte: Boris Wommer
Bildmaterialien: Boris Wommer
Tag der Veröffentlichung: 19.03.2010
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