Das Dorf ist verlassen, nur Erinnerungen wohnen dort noch. Von den Hütten und Häusern, die einst das Dorf bildeten, zeugen nur noch niedergebrannte Reste. Niemand hat sich die Mühe gemacht, das Dorf wiederaufzubauen. Vielleicht ist es einmal zu oft einer Feuersbrunst zum Opfer gefallen, so dass sich die ehemaligen Einwohner lieber einen neuen und sicherer erscheinenden Ort gesucht haben, um ein neues Dorf zu gründen, als das alte noch mal aufzubauen.
In der Mitte des Dorfes steht ein Brunnen; auch an ihm ist das Feuer nicht spurlos vorübergegangen. Die Steine, mit denen er errichtet wurde, sind von Ruß und Asche schwarz gefärbt und einige sind durch die Hitze zersprungen; und dennoch ist der Brunnen das einzige Bauwerk, das dem Feuer hat trotzen können.
Ich gehe auf den Brunnen zu, beuge mich hinab und blicke in die dunkle Tiefe. Das Wasser ist noch nicht versiegt. Am Grunde des Brunnens schimmert mir der Glanz von unzähligen Geldmünzen entgegen.
Ein Wunschbrunnen! Ich muss unwillkürlich lächeln. Ich weiß nicht wieso. Vielleicht erscheint es mir absurd, dass ein Wunschbrunnen an so einem verheerten Ort steht.
Fragen kommen mir in den Sinn:
Wer waren die Wünschenden? Waren es vielleicht die Dorfbewohner selbst, die kurz nach dem verheerenden Unglück, das über sie hereinbrach, in einer Art Abschiedsritual, ihren Wünschen Ausdruck verliehen, ehe sie ihr altes Dorf verlassen mussten und einer neuen Zukunft entgegengingen?
Oder waren es Wanderer, wie ich, die hier zufällig vorbeikamen und erschöpft eine Weile Rast machten? Was mögen sich die, die ihre Münzen in den Brunnen warfen, wohl gewünscht haben? Was wünscht man sich an einem solch verödeten Ort?
Wiederum muss ich lächeln und diesmal weiß ich auch wieso. Denn diesmal wird mir klar: Wo sollte man einen Wunschbrunnen wohl dringender benötigen, als an diesem einsamen, verlassenen, diesem trostlosen Ort? Dies ist ein Ort an dem Wünsche geboren werden aus den Hoffnungen, die dort begraben liegen.
Ich weiß nicht, wie lange ich in diesen Brunnen starre und meinen Gedanken nachhänge. Die Zeit scheint an diesem Ort still zu stehen, während sie an den umliegenden Orten viel zu schnell vergeht.
*
Der Schrei eines Vogels zerreißt die Stille und ich werde aus meinen Gedanken gerissen.
Ich krame in meiner Tasche, finde darin einen Cent und werfe das Geldstück in den Brunnen.
Stumm äußere ich meinen Wunsch.
Haben sich die Wünsche all derer, die ihre Münzen in diesen Brunnen warfen, erfüllt? Wird sich mein Wunsch erfüllen?
Aber vielleicht ist das gar nicht wichtig. Vielleicht ist es nur wichtig, überhaupt einen Wunsch zu haben.
Ich erhebe mich und klopfe die Asche aus meinen Kleidern. Erneut ertönt der Schrei des Vogels, wie ein Signalhorn, das zum Aufbruch bläst. Es wird Zeit, meine Wanderung fortzusetzen. Dies ist kein Ort für eine längere Rast.
Texte: Text: Boris Wommer
Titelillustration: Schiele, Egon: Sitzender männlicher Akt (Selbstbildnis)
Tag der Veröffentlichung: 19.07.2009
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