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Prolog



Ein Schrei gellte durch die Höhlen, brach sich an mannshohen Stalagmiten und schreckte die Fledermäuse auf. In einer Kammer, tief im Berg versteckt, krümmte sich ein Mann unter den Schlägen einer dornenbewehrten Peitsche. Blut floss über seinen schmalen Rücken. Seine schwarzen Augen erblickten, durch Schmerz und Pein stumpf geworden, nur noch die feuchte Wand aus Fels, an die man ihn gekettet hatte.

Mit einem Wink seiner schlanken Hand, befahl Durand dem Folterer innezuhalten.
„Wo versteckt sie sich, Lance?“, fragte er mit einer Stimme kalt und klar wie Gletschereis. Ein undeutliches Wimmern antwortete ihm.
„Wo, Lance?“
„Ich weiß es nicht.“ Lance duckte sich als hätte ihn erneut ein Schlag getroffen, doch Durand seufzte nur.
„Lance, ich bin es leid von dir angelogen zu werden. Ich habe kein Verlangen danach dich bis in alle Ewigkeit zu prügeln. Bringt sie herein.“

Drei junge Männer wurden hereingestoßen. Verwirrt blinzelten sie in die Dunkelheit und blieben aneinander gedrängt stehen. Erst als der Knecht mit einer Lampe in die Kammer trat, erkannten sie, weshalb man sie hierher verschleppt hatte.
„Dad!“, rief der Jüngste von ihnen und wollte zu der gequälten Gestalt an der Wand stürzen, doch ein Tritt in die Kniekehle ließ ihn zu Boden gehen. Lance versuchte sich soweit herum zu drehen, dass er seine Söhne sehen konnte.
„Durand, du Bastard“, flüsterte er heiser, als man die drei neben ihm auf die Knie drückte. Zitternd vor Angst warteten sie im blauen Schein der Neonlampe. Durand trat hinter den Jüngsten, der Lance so gleich sah wie ein Spiegelbild.
„Vielleicht können sie mir sagen, was ich wissen will.“
„Nein! Durand, bitte. Sie wissen nichts. Lass sie gehen. Sie haben keine Ahnung.“
„Du hast ihr einst in deinem Haus Unterschlupf gewährt und deine Kinder sollen nichts davon bemerkt haben?“
„Das ist siebzehn Jahre her! Sie waren noch zu klein!“ Durands Fingernägel strichen über den Hals des Jungen.
„Dann antworte du mir, Lance. Wo versteckt sie sich und wo ist ihr Kind?“
„Ich weiß es nicht. NEIN! Nein… Oliver …“ Weinend wand Lance den Kopf ab. Er hörte wie der Körper seines Sohnes auf dem Boden aufschlug, roch das warme Blut und riss rasend vor Schmerz an seinen Ketten.
„Sag es mir“, sang Durand und Lance konnte sein höhnisches Lächeln beinahe spüren.
„Bei allen Göttern und Dämonen! Ich weiß es nicht!!!“, heulte er und sein zweiter Sohn schrie auf. Er musste sich dazu zwingen hinzusehen. Thomas, sein kleiner Tommy, kniete vor ihm. Er hielt die Hände an die Kehle gepresst, aus der ein beständiger Blutstrom hervorquoll. Langsam, zu langsam, trat der Tod ein. Christopher hatte versucht aufzuspringen und seinem Bewacher zu entkommen, doch Durands eiserner Griff hielt ihn in seiner knieenden Position.
„Der Letzte, Lance.“
„Dad! Um Gottes Willen! Sag ihm doch, was er hören möchte!“ Um ein Haar hätte er erneut geschrien, dass er das nicht konnte, doch rechtzeitig biss er sich auf die Lippen. Irgendetwas musste er doch sagen können um wenigstens Chris noch retten zu können.

„Alles was ich weiß“, krächzte er, „ist, dass die Jägerin das Kind weggebracht hat.“
„Aber Lance. Das weiß ich doch längst.“ Durand hob den blutverschmierten Dolch.
„NEIN! Nein, sie ist noch auf der Insel. Ich weiß, dass Rebekka in London gesehen wurde. Sie … sie beschützt das Mädchen.“ Am liebsten hätte Lance sich selbst geschlagen, doch zurücknehmen konnte er seine Worte nicht mehr.
Er hatte geschworen, sie zu beschützen. Er hatte geschworen, nie ein Wort über sie zu verlieren. Bis zu diesem Augenblick hatte niemand gewusst, dass es sich überhaupt um ein Mädchen handelte.
„Wie schön, Lance, dass du dich doch noch entschlossen hast mit mir zu sprechen. Gibt es noch mehr, das du mir mitteilen möchtest?“ Lance hielt den Blick auf seinen Sohn gerichtet, der ihn flehend ansah. Widerwillig nickte er.
„Sie… sie weiß nicht wer sie ist. Ihre Eltern sind ihr fremd. Durand, mehr weiß ich nicht.“

Durand lächelte kalt. „Gut. Dann brauche ich dich ja nicht mehr.“ Lance wusste, was diese Worte bedeuteten. Noch einmal spannten sich seine Muskeln und so stolz wie er es vermochte hob er den Kopf. Er würde sich nicht winden, wie ein Wurm am Haken. Er wollte wenigstens mit einem Hauch Würde sterben.
„Und ihn brauche ich auch nicht mehr.“
Durands Hand bewegte sich mit der Schnelligkeit einer Schlange. Das Messer senkte sich in Christophers Fleisch und hellrot schoss sein Blut auf Lances nackte Beine.

Er schrie. Lauter und verzweifelter als je zuvor. Wie ein Tier hing er an seinen Ketten und versuchte sie allein durch sein Gewicht zu lösen. Reißzähne schnappten nach Durand, als er ihm die blutverschmierte Klinge unter die Nase hielt.
„Ich danke dir, mein Freund“, flüsterte er und unter Lances Verwünschungen verließ er die Kammer.
Der Wächter wartete bereits auf ihn. „Lasst ihn noch eine Weile am Leben“, befahl ihm Durand und er lächelte dabei. „Soll er zusehen, wie seine Söhne verfaulen.“


***



Nebelschwaden senkten sich über die schroffen Felshänge und bedeckten den See unter ihnen. Ein einsamer Pilger wanderte zwischen den Geröllhaufen hinauf, die Kapuze des regennassen Umhangs tief ins Gesicht gezogen. Seine Kleider starrten vor Schlamm und Schmutz und silberblonde Locken klebten auf seiner Stirn. Leise fluchte er vor sich hin und verdammte das wechselhafte Wetter der Alpen. Das flackernde Licht einer Laterne näherte sich ihm.
„Du bist spät dran, Alessandro.“ Er antwortete nicht darauf, ließ sich nur von dem Mann mit der Laterne zum verborgenen Eingang des Tempels führen.

Er betrat ihn mit der gebotenen Ehrfurcht. Dreimal verneigte er sich am Eingang und ließ etwas Blut von seiner Hand auf den felsigen Boden tropfen. Vor der Statue der Göttin kniete er nieder und berührte mit der Stirn ihre Füße. Erst dann wandte er sich den Anderen zu, die sich bereits im Halbkreis um die Götzenstatue versammelt hatten. Ein sehr dünner Mann trat vor und schlug die Kapuze zurück.
„Du bist zu spät, mein Sohn.“
„Vergib mir Vater. Die Sonne verwehrte mir den Aufstieg.“

Alessandro kannte die Gedanken seines Vaters nur zu gut. Durand war alt und stark. Die Sonne konnte ihn an nichts mehr hindern und genau so hätte er, Alessandro, auch sein sollen. Er hätte stark sein sollen. Unbezwingbar. Das Kind zweier Vampire. Er wusste, dass er allein deshalb lebte, weil er den Platz des Kindes einnehmen hätte sollen, von dem die alte Prophezeiung sprach. Allein zu diesem Zweck hatten seine Eltern ihn geschaffen. Doch was seine Mutter gebar, entpuppte sich als ganz gewöhnlicher Vampir, dem man Blut einflössen musste um ihn zum Leben zu erwecken. Noch dazu einer der die Sonne scheute und vor Weihwasser die Flucht ergriff. Stumm neigte er das Haupt um den Blicken Durands nicht weiter standhalten zu müssen.

Sie sangen. Das Lied von Blut und Tod. Es erzählte von der Zeit, da die allmächtige Göttin wieder erscheinen würde. Die Zeit in der die Menschen versklavt sein werden und die Vampire über sie mit eiserner Hand regieren werden. Alessandro kannte dieses Lied von Kindesbeinen an und er sang es ohne groß über den Text nachdenken zu müssen. Einige der anderen stockten hier und da. Sie waren noch nicht lange in ihrer Gemeinschaft. Bald würden sie sicherer werden. Bald würden noch mehr Vampire sich ihnen anschließen.

Als sie geendet hatten, trat Durand in den kleinen Kreis.
„Meine Brüder! Meine Schwestern! Wir besingen die Ankunft der Göttin. Doch nicht an ihr liegt es zu erscheinen. Wir können und müssen ihr den Weg in diese Welt ebnen. Doch um die allmächtige Göttin wieder zu erwecken, bedarf es des Körpers und der Seele eines auserwählten Kindes. Jeder von euch weiß, von wem ich spreche. Das Kind der Prophezeiung.“

„Bei allem gebotenen Respekt, Durand, aber ich dachte du hättest diese Idee schon vor einiger Zeit begraben.“ Als Durand ihn nur stumm ansah, wurde der Sprecher noch etwas mutiger. „Wir brauchen dieses ominöse Kind nicht. Gebete, Opfer und Treue zu der allwissenden, allmächtigen Göttin werden sie zurück in diese Welt bringen. Nicht die Seele einer dummen Sterblichen.“
Durand kam näher und die Vampire, die links und rechts von dem vorlauten Redner standen, wichen kaum merklich von ihm ab.

„Du hältst meine Bemühungen, Annabelles Kind zu finden, also für – wie nennen es die Menschen? – Schwachsinn. Wahrscheinlich denkst du, ich würde langsam senil oder gar wahnsinnig. Denkst du das, mein teurer Freund?“
Ein einzelner, sauberer Schnitt trennte den Kopf des Mannes vom Körper. Eine Blutlache breitete sich wie ein See über den kahlen Fels aus.
„Wer von euch denkt noch wie er?“ Betretene Stille folgte. Durand nickte zufrieden. „Gut. Denn, meine Brüder, wir haben das Kind gefunden. Endlich ist es mir gelungen sie ausfindig zu machen. Ein Mädchen, heimatlos und unwissend. Und begierig darauf, eine Familie zu finden. Geben wir ihr diese Familie.“

Durands hämisches Grinsen verwandelte sein glattes Gesicht in eine Furcht erregende Fratze. „Einer von uns wird sie zu uns führen. Doch aus freiem Willen muss sie ihm folgen. Nur so kann sie die Schülerin werden, die wir in ihrer Mutter einst gefunden glaubten.“
„Einer von uns?“ Die Stimme kam aus dem hintersten, dunkelsten Eck der Höhle. „Annabelle wird ihr Kind beschützen und selbst Kassandra wurde nicht mit ihr fertig.“
„Kassandra hat versagt! Sie hat von Anfang an versagt. Weil sie sich wie eine dumme Sterbliche von ihren Gefühlen zu einem Mann leiten ließ. Sie hätte die Auserwählte zu uns holen sollen. Ja, Kassandra hätte sie in unseren Kreis einführen können und sie wäre eine gehorsame Schülerin geworden. Stattdessen überlässt sie die Auserwählte diesem Schwächling Michel und macht damit alles zunichte! Und als alles geschehen war, was geschehen musste, schafft sie es nicht einmal das Balg zu töten! Schmach und Schande über ihr Andenken! Sie hat bei ihrem wichtigsten Auftrag versagt. Aber du, mein Sohn, wirst nicht versagen. Du wirst das Kind zu uns holen, damit es seiner Bestimmung zugeführt werden kann.“
Alessandro erstarrte. Viele Aufträge hatte ihm sein Vater schon gegeben. Vieles hatte er in Kauf genommen, um ihm zu Willen zu sein. Kämpfe, Blut, Tod, selbst durch den Tag wäre er gegangen, hätte sein Vater es von ihm gefordert. Fesseln, knebeln und herschleifen – ja das wäre kein Problem für ihn. Tot statt lebendig wäre ihm sogar noch lieber. Doch wie sollte er dieses Mädchen dazu bringen ihm freiwillig zu folgen? Ungläubig starrte er noch immer seinen Vater an, als der ihn in den Arm nahm und ihm eine Warnung ins Ohr zischte.
„Wage es nicht mich zu enttäuschen.“

I



„Schlaf … Schlaf wohn auf deinem Aug, Frieden in der Brust! Oh, wär ich Fried und Schlaf und ruht in solcher Lust“, seufzte Romeo seiner Angebeteten hinterher. Romeo, das war ein pickliger Junge mit der Optik einer Trauerweide, den sie zu allem Überfluss auf der Straße auch noch Blinky nannten. Die zarte Julia mimte eine Sechzehnjährige mit mehr nervösen Zuckungen als ein Frosch, den jemand an eine Autobatterie angeschlossen hatte.

„Wunderbar! Sehr schön, Verne!“ Mrs Rose heuchelte Begeisterung. Dabei wackelten vor Freude ihre drei Kinne gleichzeitig und ihr geradezu monströser Busen wurde für alle Umstehenden zur unmittelbaren Lebensgefahr. Danach zupfte sie unter akkuratem Gekicher ihr geblümtes Halstuch zurrecht und wedelte mit spitzen Fingern alle wieder auf ihre Plätze.

Meiner Meinung nach mussten alle Sozialarbeiterinnen der Welt vor ihrer Ausbildung einen Kurs absolvieren, der sich „Tücher drapieren leicht gemacht“ nannte. Rosie war wahrscheinlich die Beste ihres Jahrgangs gewesen. Jeden Tag überraschte sie uns mit neuen handwerklich ausgefeilten Knoten. Was noch schlimmer war, Mrs Rose war eine dieser Sozialarbeiterinnen aus Überzeugung. Sie opferte ihre gesamte Freizeit und einen beträchtlichen Teil des Vermögens ihres Mannes für uns – die gefallenen Kinder der Straße. Alles nur um uns „Kinder“ vor der bösen, bösen Welt zu erretten, in die wir hineingeschubst worden waren.

Ihr neuestes Projekt hieß „Mit Shakespeare zum Leben“. Ich kannte wahrscheinlich jedes verdammte Projekt von jeder verdammten Hilfsorganisation Londons. Ein Projekt in dem wir einen kirchlichen Kindergarten renovieren mussten, eines in dem ich Hallenbadfliesen zu schrubben hatte oder Erstklässlern von meinem Leben erzählen sollte. Vermutlich um sie von Anfang an möglichst wirkungsvoll an die Schulbank zu ketten. Ich höre die Stimme der Lehrerin noch heute, wie sie uns ankündigte. „Und jetzt kommen drei Schulabbrecher und werden euch erzählen, was mit denjenigen passiert, die nicht lernen wollen.“.

Eine eigene Streetkids-Zeitung und dann gab es noch ein Projekt, während dessen Dauer wir Fremdenführer spielen sollten. Dieses Projekt wurde schnell wieder aufgegeben, nachdem einige Touristen etwas zu berauscht von den Londoner Sehenswürdigkeiten zurückkamen. Selbst Schuld, wenn sie einen Haufen unerfahrener Touris Drug-Dave überlassen. Das dämlichste Projekt war zweifellos das in dem wir ein anderes Projekt für eine andere Gruppe entwerfen sollten. Eigentlich hatte ich also die Nase gestrichen voll von dem Blödsinn. Außerdem kam ich gar nicht von der Straße. Ich hatte nur nicht immer eine feste Adresse. Und das war schließlich etwas völlig anderes!

Andererseits hatte mich Carol, die Leiterin des Heimes in dem ich zu der Zeit wohnte, vor die Wahl gestellt. Mrs Rose Shakespeare-Gruppe oder Knast. Bei einer Kontrolle hatte sie leider das was sie „illegale Substanzen“ nannte, in meinem Zimmer entdeckt. Und da ich nun wirklich keine Lust darauf hatte, ins Gefängnis zu wandern, saß ich nun mal hier. In einer nach nassen Socken, Schweiß und Demütigungen riechenden Turnhalle, in der man eine windschiefe Bühne aufgestellt hatte.

„Mercutio? Wo bleibt unser Mercutio?“ Mrs Rose sah mich tadelnd an. „Jasmine! Du hast deinen Einsatz verpasst.“ Tief durchatmend ging ich auf die Bühne und ließ Mercutio sterben.
„Nicht so tief wie ein Brunnen noch so weit wie eine Kirchentür, aber es reicht. Fragt morgen nach mir und ihr werdet mich ganz verändert finden. Ganz friedhöflich! Warum, Teufel, musstest du auch dazwischen gehen? Unter deinem Arm hat er mich erwischt!“
Romeos Blabla.
„Die Pest auf Eure Häuser! Die Pest auf Euer beider Häuser!!!“

Tadah! Und jetzt noch glanzvoll sterben und meine Pflicht war getan. Höfliches Geklatsche begleitete mich wieder von der Bühne und ich konnte mich für den Rest der Probe in mein stilles Eck zurückziehen. Ich kannte das Stück schon längst auswendig. Genauso wie einige andere Stücke Shakespeares. Die Heftchen waren billig und ich las gerne die alte Sprache. In meinen Ohren klangen die Worte des Dichters wie eine Erinnerung, eine Erinnerung an etwas Besseres, Schöneres, an so etwas wie Geborgenheit. Trotzdem versprach ich mich absichtlich und tat so als müsste ich jede Zeile mühsam lernen. Sollte irgendeiner in diesem Raum etwas von meiner Begeisterung für alte Literatur mitkriegen, wäre ich auf immer und ewig Freiwild sobald ich den Gehsteig betreten würde.

Solange ich denken konnte, waren die dreckigen Straßen Londons mein Zuhause. Ich mochte eine offizielle Familie haben. Eine, die mich gnädigerweise bei sich aufgenommen hatte, doch ein richtiges Zuhause wie andere Kinder, mit Haus, Vorgarten, Hund und Geburtstagspartys, hatte ich nie. Vor gut siebzehn Jahren fand ein Penner auf der Suche nach einem warmen Schlafplatz am Bahnhof Kings Cross eine schreiende Reisetasche und in dieser Tasche fand er mich. Ein kleines Mädchen mit etwas zu spitzen Eckzähnen und in stockfleckigen Stoff gewickelt. Er hatte mich damals zur Polizei getragen, weil er auf eine Belohnung gehofft hatte. Ich weiß nicht, ob er sie je bekommen hat.

Seit diesem Tag wanderte ich von einer Familie zur nächsten. Wo ich Liebe suchte fand ich Zorn, wo ich Lob suchte, fand ich Verachtung und wo ich Hilfe suchte, fand ich Gleichgültigkeit. Und so hörte ich eines Tages auf zu suchen und fand meinen eigenen Weg. Ich packte meine wenigen Habseligkeiten in meine Tasche – die im Übrigen ein grausam kitschiges Blumenmuster aufwies – und lief davon.

London war riesig und in jeder Ecke gab es Neues zu entdecken. Auf jeden Fall besser als in der zehnten Pflegefamilie zu versauern und auf ein Wunder zu hoffen.
Eine Zeit lang hatte ich verzweifelt versucht süchtig zu werden, doch irgendwie zeigte das Zeug bei mir absolut keine Wirkung. Außer vielleicht Kopfschmerzen. Meine Freunde dagegen erzählten mir vom seligen Vergessen, von seltsamen, meist sehr farbenprächtigen Welten und den Zeiten in denen sie sich für Kugelschreiber oder Cocktailschirmchen hielten. Sie erzählten mir auch davon, dass man dann keinen Hunger mehr hätte und gerade das erschien mir besonders verlockend. Der Hunger nagte ständig an mir. Sobald sich die Gelegenheit bot, fraß ich wie ein Scheunendrescher und wurde doch nie satt. Eigentlich hätte ich kugelrund sein sollen, stattdessen sah ich aus wie ein perfekt durchtrainierter Mann. Ein hübscher Mann, aber was nutzt einem das als Frau?

„Hey, Jazz. Na, wie läuft’s?“
„Genauso wie heut morgen.“
Mae klopfte mir auf die Schulter. Sie lebte schon so lange in Carols Heim, dass sie praktisch zur Angestellten geworden war. Mae hatte dafür zu sorgen, dass ich pünktlich bei Mrs Rose war und sie brachte mich auch wieder zurück. Eigentlich hätte mich das nerven sollen, doch ich genoss die Gespräche mit Mae. Immerhin war sie die einzige, die mich nicht wie ein dummes Kind behandelte. Und sie nannte mich Jazz und nicht Jasmine.
Jasmine, das klang so nach rosa Pony, Blümchenwiese und flauschigen weißen Karnickeln. So zuckersüß. Und ich mochte alles andere sein, nur nicht süß.

„Bist du schon fertig?“
„Jep. Ich bin standesgemäß verstorben. Oder zumindest habe ich Mercutio angemessen theatralisch verrecken lassen.“ Mae lachte. Etwas zu laut, wie Rosies tadelnder Blick zeigte.
„Du als Mercutio. An die Vorstellung muss ich mich erst gewöhnen.“

***

Endlich entließ uns Rosie. Natürlich nicht ohne noch jedem von uns weise Ratschläge mit auf den Weg zu geben. Für mich hatte sie dieses Mal einen Button mit der herzerfrischenden Aufschrift „Sag einfach Nein“ darauf. Na, herzlichen Dank. Offenbar hatte ihr Carol gesteckt, weshalb ich bei ihr in der Gruppe schauspielern musste.

Mae und ich gingen über Rosie und Carol lästernd zur U-Bahn. Als wir uns in den Zug drängten, wichen die Menschen links und rechts von uns ängstlich zur Seite. Noch ein Vorteil, mit Mae unterwegs zu sein. Sie hatte ein ausgesprochenes Faible für Schwarz. Das fing an diesem Tag bei schwarzen Stiefeln an, die ihr bis weit übers Knie gingen, fand seine Fortsetzung einem schwarzen Tüllmini und einer verrucht durchsichtigen Spitzenbluse und wurde noch von ihren nachtschwarzen Lippen betont. Nicht zu vergessen, die kunstvoll hochgesteckte Haarpracht, die von einer Spange in Fledermausform zusammengehalten wurde.

Wenn dann neben ihr noch ein ziemlich großes Mädchen emporragte, das bei jedem Lächeln zwei perfekt blitzende Reißzähne präsentierte, fühlten sich die Bürohengste und –stuten der Vorstadt wie in einem schlechten Horrorfilm. Wieso ich mit solchen Zähnen gesegnet wurde, weiß der Teufel. Der Zahnarzt weiß es nicht und freut sich über einen sehr interessanten Beitrag zu seinem neuen Fachzeitschriftenartikel. Anomalien des menschlichen Maules, oder so.

„Hey, sag mal, hast du eigentlich noch Verwandte?“
„Kann sein. Stand nicht auf der Tasche, in der sie mich abgegeben haben.“ Ich versuchte über meinen eigenen Witz zu lachen. „Wieso?“
„Weil mich vor Carols Haus jemand angequatscht hat, ob ich dich kenne. Der Kerl war irgendwie seltsam.“
„Und? Was hast du gesagt?“
„Nichts. Er war, wie gesagt, etwas seltsam. Er war… Na ja, seltsam halt.“
„Wie sah er denn aus?“
„Wie ein Landstreicher.“
„Mae, solche Worte benutzt doch niemand mehr.“
„Aber auf ihn passt es. Seine Kleidung war ziemlich abgerissen und er trug eine ziemlich abgetragene Melone. Außerdem hatte er eine heftige Hakennase und seltsame Augen.“
„Ach, auch noch seltsame Augen …“
„Mach dich ruhig lustig über mich, aber die sahen wirklich seltsam aus. Schmal und hell und irgendwie … gierig.“
„Gierig?“ Ich lachte. „Mae, du liest zu viele Nackenbeißer.“ Damit erschien mir die Sache erledigt. Ich wusste ja nicht, wie falsch ich damit liegen würde.


II




Augen voller Gier. Kalt und schwarz.
Ich starrte in diese Augen und wagte es nicht mich zu rühren. Rücken an Rücken standen wir da und bildeten ein zitterndes Dreieck. Mae, Dave und ich. Große, breitschultrige Kerle bauten sich vor uns auf. Ebenso wie zarte, schlanke Frauen und knabenhaft schöne Männer. Schönheit zeigte sich in ihren Gesichtern. Kraft in ihren Körpern. Und doch war es dieselbe Kraft, dieselbe Schönheit die einem zustoßenden Messer innewohnte. Schwarze Augen in denen der Tod lauerte.


Dabei hatte der Tag so entspannt begonnen. Den Vormittag hatte ich sowieso verschlafen und nachmittags, auf dem Weg zur Generalprobe, hatten Mae und ich noch einen kleinen Abstecher in die Portobello Road gemacht.
Zwischen überteuerten Trödelständen, knipsenden Touristen und stinkenden Bratwurstständen hatten wir uns bis zu Drug-Dave durchgeschlagen.

An einer dunklen Straßenecke lehnte er an einer Hauswand und begrüßte gerade einen rastalockigen Blonden mit betont unauffälligem Handschlag. Menschen wie Dave schafften es selbst im strahlendsten Sonnenschein eine dunkle Ecke zu finden. Er trug seine dunkle Ecke praktisch immer mit sich herum. Sein Hosenbund schlabberte ihm um die Kniegelenke und die Unterhose wurde notdürftig von einem zeltgroßen Kapuzenshirt verdeckt. Dave verschwand in seinen Klamotten wie ein kleiner Junge, der sich den Anzug des Vaters übergestreift hatte.
„Hi Dave!“ Er grinste uns breit an und klimperte mit der überdimensionalen Dollarnote, die ihm um den Hals baumelte. Die Kette glitzerte in der Sonne wie das Kostüm einer sehr geschmacklosen Stripperin.
„Wie laufen die Geschäfte?“ Er setzte die Miene eines gescheiterten Händlers auf.
„Mies, absolut scheiße. Die alten Kunden laufen mir langsam weg und neue sind nicht so leicht zu finden, wie man denkt. Wie sieht’s bei dir aus? Brauchst du wieder was?“
„Jazz! Du bekommst riesigen Ärger, wenn …“
„Was war das eigentlich für ein Zeug, das du mir das letzte Mal verkauft hast?“
„Oh ja! Das dröhnt …“
„Hatte in etwa die gleiche Wirkung wie Backpulver, Davie.“

Überrascht riss er die Augen auf.
„Das Zeug hat es nicht gebracht. Außer Bauchschmerzen. Absolut nichts.“
„Wie viel hast du denn…?
„Alles.“ Fassungslos schlug er sich mit der Hand an die Stirn.
„Jazz! Bei der Menge solltest du jetzt eigentlich sechs Fuß unter der Erde liegen!“
„Tja, ich tus aber nicht.“
„Und sie legt auch keinen Wert darauf! Komm schon Jazz. Lass uns gehen“, drängte Mae. „Du kommst zu spät zur Probe.“

Ich wünschte sie hätte das nicht gesagt. Denn bei diesen Worten wurde Dave hellhörig.
„Zu welcher Probe?“ Mae, die dumme Nuss, gab ihm natürlich gleich bereitwillig Auskunft.
„Jazz spielt Theater. Romeo und Julia.“ Dave prustete los.
„Du? Theater? Und was hast du für ne Rolle? Julia?“, lachte er, dass man es die Portobello Road rauf und runter hören konnte.
„Mercutio“, zischte ich ihn an.
„Ich dachte das wär ein Kerl.“
„Ach, was du nicht sagst.“ Als ob es mich nicht schon genug gekotzt hätte, dass Rosie mich kurzerhand zum Mann gemacht hatte.
„Das muss ich sehen!“
„Nein! Das… Das ist nichts für dich. Ehrlich. Stinklangweilig.“ Aber egal wie ich mich auch herauswinden wollte, Dave war nicht mehr davon abzubringen. Also begleitete er uns in den Park, stand den Bühnenaufbauern im Weg herum, lachte viel zu laut und versuchte nebenbei „Julia“ ein paar Beruhigungspillen zu verkaufen. Rosie hätte ihn am liebsten eigenhändig mit ihrem rosa geblümten Halstuch erwürgt.

Nach der Probe zerstreuten sich Rosies Projektkinder wieder in alle Winde. Nur Dave, Mae und ich blieben noch eine Weile auf den windigen Klappstühlen sitzen, die man schon für die Zuschauer aufgebaut hatte.
„Du warst gar nicht so übel“, versuchte sich Dave an einem Kompliment.
„Ach.“
„Ja. Verdammt viel Text und so.“
„Du hast kein Wort verstanden, richtig?“ Er grinste und kratzte sich unter seiner Mütze.
„Wer soll das Gelaber denn auch kapieren. Was sollte das denn mit der eitlen Phantasie?“
„So hat Shakespeare eben geschrieben“, murmelte ich, darauf bedacht meinen Ärger nicht allzu deutlich zu zeigen. Wie konnte dieser Idiot es wagen, Shakespeares Verse als Gelaber zu bezeichnen?


Es wurde bereits dunkel, als wir den Heimweg antraten. In der Dunkelheit verwandelte sich der Park in einen Ort voller Geheimnisse. Blätter raschelten im Wind, Büsche warfen unheimliche Schatten und um das Licht der Laternen sammelten sich Mückenschwärme. In der Nacht wurde alles ruhiger und friedlicher. Gleichzeitig schärften sich die Sinne. Der beständige Lärm der Großstadt wurde zum brummenden Hintergrundgeräusch und anstatt darauf zu achten, konzentrierten sich Augen und Ohren auf die unmittelbare Umgebung. Ich hörte und sah Dinge, die mir bei Tage nicht auffielen. Das Knirschen der Kiesel unter meinen Schuhen, funkelnde Kronkorken, Eichhörnchen, die auf den Bäumen herum wuselten und spürte die Luft um mich herum.

Und plötzlich schien sich die Textur ebendieser Luft zu verändern. Ich sah auf und entdeckte ihn. Wie gerade aus dem Boden gewachsen stand dort, mitten auf dem breiten Weg, ein Mann und grinste mich an. Es war ein Grinsen, das alle inneren Alarmglocken gleichzeitig schrillen ließ. Mae hatte ihn ebenfalls bemerkt, denn sie sah nervös zu mir hinüber. In stummem Einverständnis lotsten wir den munter weiterplappernden Dave auf einen schmalen Seitenpfad um dem seltsamen Kerl aus dem Weg zu gehen. Nach ein paar Schritten kam uns ein anderer Mann mit nicht weniger bedrohlicher Ausstrahlung entgegen. Wir gingen querfeldein über den Rasen. Aus den Schatten einiger kunstvoll verkrüppelter Bäume lösten sich zwei weitere Gestalten. Entweder zeigte ich plötzlich erstaunlich paranoide Züge, oder wir saßen verdammt tief in der Scheiße.

„He! Warum rennt ihr eigentlich im Zickzack durch die Prärie?“, beschwerte sich Dave, der noch immer ahnungslos zwischen uns tappte. Jemand lachte.
Es gibt bekanntlich verschiedene Formen des Lachens. Dieses Lachen klang wie das eines Mannes, der Horrofilme nicht guckte sondern studierte, und in seinem Keller zum Spaß Leichen zerlegte um aus ihren Gliedmaßen Skulpturen zu basteln. Es kroch vom Ohr direkt zu den Nerven, überzog sie mit einem schmerzhaften Kribbeln und löste nur einen einzigen, drängenden Gedanken aus. Lauf! Lauf weg so schnell du kannst!

Erschrocken drehten wir uns um und sahen uns von düsteren Gestalten umzingelt. Lächelnd kamen sie auf uns zu. Mein Mund wurde trocken und wie das Kaninchen vor der Schlange starrte ich den Mann mit den schwarzen Augen an. Keiner von uns sagte ein Wort. Wir drängten uns nah aneinander und warteten. Dave fand als erster die Sprache wieder.
„Was… Was wollt ihr von uns?“, piepste er. „Wir haben nichts.“
„Oh doch“, schnurrte eine der Frauen und kam mit schwingenden Hüften auf ihn zu. Ihr Haar ringelte sich zu engelsgleichen, blonden Schillerlöckchen. Sie streckte die Hand aus und ihre langen Fingernägel näherten sich Daves Wange.
„Fass ihn nicht an“, fauchte der Schwarzäugige und augenblicklich zog sie die Krallen wieder ein. „Wir sind nicht hier um uns mit Sterblichen zu vergnügen.“
Sterbliche? Hä? Egal welche Meise dieser Kerl hatte, sie musste gigantisch groß sein. Mit abschätzendem Blick musterte er zuerst mich, dann Mae. Er schien eine Entscheidung zu treffen.

Mae zuckte zurück, als er nach ihrer Hand griff.
„Komm mit uns, Prinzessin“, säuselte er. Ich hörte Mae weinen.
„Lass sie los!“ Meine Angst verwandelte sich in Wut. Niemand, nicht einmal der Sensenmann persönlich, durfte meine Freunde derart grob anfassen. Sie lachten mich aus, was mich nur noch wütender machte.
„Lass. Sie. Los! Sofort!“
„Oder was?“ Amüsiert funkelte er mich an. „Was kann ein Kind wie du schon ausrichten? Ein unnützer, kleiner Mensch.“ Ich achtete nicht auf seine Worte. Mich nahm der Anblick seiner Zähne gefangen. Ein Paar spitzer Reißzähne ragte vampirartig über seine Lippen. Ein kurzer Blick in die Runde seiner Freunde und alle lachten. Der Boss hatte gesprochen, also tat man, was er verlangte. Ich sah in die blassen Gesichter und verachtete sie. Sie alle zählten zu den Leuten, die immer nur in Rudeln auftraten – weil sie die gebündelte Gehirnkraft brauchten um die Füße in der richtigen Reihenfolge zu bewegen. Doch jeder von ihnen lachte mit betont weit geöffnetem Mund und jeder von ihnen präsentierte seine Zähne, als handele es sich um abschreckende Waffen. Dave schrie, Mae kreischte vor Entsetzen.
Vampire.
Oder zumindest Leute, die sich für Vampire hielten.
So oder so. Für uns würde es böse ausgehen.

Hätte ich nachgedacht, dann hätte ich meine Chancen besser erkannt. Ich hatte keine. Aber ich dachte nicht nach. Ich sah nur Mae, die weinend und keuchend versuchte sich aus seinem Klammergriff zu winden und Dave, der mit schreckgeweiteten Augen jede Bewegung der seltsamen Angreifer verfolgte. Ich spürte die Panik meiner Freunde, spürte die flammende Wut in mir und griff zu. Mit aller Kraft packte ich das Handgelenk des Mannes, drückte und versuchte ihn von Mae fortzuzerren. Er lachte, umfasste mit seiner anderen Hand mein Gesicht und wollte meinen Kopf zur Seite drücken. Er war stark und in seinen Fingern schien mein Kopf nicht widerstandsfähiger als eine überreife Tomate zu sein. Als ich schon glaubte, gleich würde entweder meine Nase oder gleich meine Schädeldecke brechen, ließ er mit einem Mal los. Fluchend stieß er mich weg und rannte davon. Die schreiende Mae schleifte er hinter sich her. Ich sah den Hund, der über mich hinweg sprang. Es musste ein Hund sein, denn Wölfe gab es in London nicht. Dave schrie. Er hielt die Arme schützend vor dem Gesicht gekreuzt, als die blonde Frau sich mit gebleckten Zähnen auf ihn stürzte. Ich wollte aufstehen, doch jemand drückte mich nach unten. Ich spürte den Atem meines Gegners im Nacken und dann einen heftigen Ruck. Das Gewicht auf meinem Rücken verschwand. Jemand griff nach meiner Schulter und zog mich hoch.

Das erste, was mir an ihr auffiel, waren die Haare. Die Farbe war so hellrot, dass sie beinahe unecht wirkte. Das zweite war das blutbesudelte schmale Schwert in ihrer rechten und der abgetrennte Schädel in ihrer linken Hand, den sie mit Schwung auf den Kopf einer Vampirin donnern ließ, ohne auch nur zu ihr hinzusehen. Mein Puls raste und ich spürte, dass nur noch eine Winzigkeit fehlte, damit ich endgültig den Verstand verlor.
„Lauf“, sagte sie so ruhig, dass ich sie durch das Geschrei hindurch kaum verstand. „Lauf.“
Mein Verstand erfasste nichts mehr, aber wenigstens wussten meine Beine noch was zu tun war.
Ich zog Dave vom Boden hoch und stolperte mit ihm an dem Schwarzäugigen vorbei. Der Hund hatte seine Kehle nach allen Regeln der Kunst zerfetzt. Ich duckte mich, als das Vieh auf mich zusprang, doch er segelte über mich hinweg und traf ein anderes Ziel. Ein weiterer Pseudovampir landete kreischend im Gras. Ich drehte mich nicht um. Mae hatte sich wohl losreißen können, denn sie rannte weit vor uns und war in der Dunkelheit kaum noch zu erkennen.

Wir rannten durch den Park zurück auf die Straße. Es war, als würden wir plötzlich, aus einer fremden Welt kommend, wieder in die Realität eintauchen. Rücklichter, Hupen, durch die Luft sirrende Gesprächsfetzen, Menschen, die uns auf die Zehen traten, Tauben. Nie hatte ich die Geschäftigkeit Londons so sehr begrüßt, wie in diesem Augenblick. Ich sah wie Mae in eine dreckige Seitengasse abbog und wollte ihr folgen.
„Jazz.“ Dave taumelte und hielt sich an mir fest. Er blinzelte ein paar Mal und schüttelte den Kopf.
„Dave, wir müssen weiter!“
„Mir ist schwindlig“, murmelte er und hob dabei den linken Arm zum Kopf. Dunkelrot quoll das Blut über seine Haut, floss über den Ellbogen und tropfte auf die Pflastersteine.


III



Die Klinge der Jägerin schimmerte im Licht der Laterne wie trübe gewordenes Messing. Jede ihrer Bewegungen verriet äußerste Konzentration und dem Blick aus ihren Augen entging kein verdächtiger Schatten. Ein Jäger auf der Pirsch. Alessandro beobachtete sie. Reglos verbarg er sich im Schatten eines Häuschens, das vermutlich von den Gärtnern zur Aufbewahrung ihrer Geräte verwendet wurde.
Das also war sie. Die Tochter der Flammen Des Prophetenkindes Kind. Die Mutter der Göttin.
Sie war durch und durch enttäuschend.

Er hatte eben erlebt, zu welchen Taten sie fähig war. Er hatte ihr blutiges Treiben mit angesehen. Und dennoch fühlte er sich wie ein Mann, der den Teufel zum Tee geladen, aber dann doch nur einen verschüchterten Dämon vor der Tür stehen hatte. Alessandro wusste nicht genau, was er eigentlich erwartet hatte, aber das gewiss nicht.
Er erinnerte sich an die Worte seines Vaters, an den Klang seiner Stimme, wenn er von Annabelle sprach. Als er sie zum ersten Mal in Paris traf, glaubte Durand sich seinem Ziel so nahe, dass er kaum mehr wieder zu erkennen war. Aufgeregt wie ein kleiner Schuljunge kam er ihm damals vor. Doch selbst als Durand seinen ursprünglichen Plan als gescheitert ansehen musste und er sich in Hasstiraden gegen Annabelle und den Rat erging – immerzu hatte er Alessandro das Gefühl gegeben, dass diese Frau jemand besonderes sei. Ein mächtiger Vampir. Unerschrocken, rätselhaft, beeindruckend und fehlerlos.

Doch diese Frau war nicht mächtig, nicht unerschrocken und ganz gewiss nicht beeindruckend. Sie war schlank, geradezu grazil, und klein, sodass sie mehr wie eine Porzellanpuppe als ein lebendes Wesen wirkte. Ihre weichen Züge ähnelten denen eines Kindes. Weich, schön, süß, zielgerichtet und traurig zugleich.
Und ihre Art zu kämpfen, verstörte Alessandro.
Sie hatte sich nicht voller Wut in den Kampf geworfen, sondern hatte ruhig und gezielt getötet. Sie ging dabei so systematisch vor, wie ein Bibliothekar, der Bücher stempelte. Unaufgeregt, ohne Kampfeslust, aber ganz und gar darauf fixiert, ihre Tochter zu beschützen. Sie strahlte eine unerbittliche Ernsthaftigkeit aus, die fast schon an Wahnsinn grenzte.

Alessandro beobachtete, wie der Wolf an Annabelles Seite trottete.
„Sie sind fort?“ Der Wolf neigte nur leicht den Kopf und Annabelle entspannte sich merklich. Sie duckte sich hinter einen der Rhododendronsträucher und tauchte mit einem grünen Mantel in der Hand wieder auf. Das schmale Schwert verschwand im Innenfutter, bevor sie ihn überzog. Aus einer Tasche holte sie ein Hundehalsband und eine Leine hervor. Der Wolf knurrte.
„Stell dich nicht so an. Du weißt genau, dass es sein muss.“ Das Tier ließ zu, dass sie ihm Halsband und Leine anlegte, aber sein Knurren klang wie eine Drohung. Als hätte es beschlossen, die Verhackstückung der Person am anderen Ende der Leine nur aufzuschieben – keinesfalls aufzuheben.

Annabelle zupfte ihre Locken aus dem Kragen, knöpfte den Mantel zu und mit den Händen tief in den Taschen spazierte sie den Weg entlang. Aus der Ferne wirkte sie nicht anders als eine junge Frau, die noch rasch eine kurze Runde mit ihrem Hund drehte.

Alessandro sah ihr hinterher. Als er sicher sein konnte, dass die beiden nicht mehr zurückkehren würden, trat er auf die Wiese, auf der sich die Überreste der anderen Vampire langsam aufzulösen begannen. Graue Köpfe lagen drei Schritte von den dazu gehörigen Körpern entfernt auf dem Boden und bröselten schon wie alte Sandtörtchen. Alessandro kniete nieder und zog dem getöteten Anführer der Gang die Pistole aus dem Hosenbund. An den Stellen, an denen Alessandros Hand ihn streifte, zerfielen Haut und Knochen augenblicklich zu Asche.

Eine Pistole.
Dieser Idiot.
Er hatte eine geladene Pistole bei sich getragen.

Zwei Schüsse hätten genügt um die Sterblichen auszuschalten. Zwei Schüsse aus der Dunkelheit, die die Jägerinnen nicht hätten verhindern können. Stattdessen mussten er und seine Gang sich mit diesen erbärmlichen Spielchen aufhalten. Alessandro schüttelte verständnislos den Kopf. Manchmal benahmen sich die Neugeborenen der ersten beiden Clans wie die Schreckgespenster des vierten Clans. Als würden sie sich von der Angst der Sterblichen ernähren, anstatt von ihrem Blut. Wie Schauspieler, denen kein Auftritt dramatisch genug sein konnte. Die Gestalten, die nun im Gras verteilt vor ihm lagen, waren an Dramatik gestorben.

Alessandro hatte kein Mitleid für sie. Ebenso wenig verspürte er Gefühle der Wut oder Enttäuschung. Sein Plan war nicht aufgegangen, aber dennoch stellte dieser Vorfall keinen Rückschlag da. Er wusste nun, wer das Mädchen beschützte und wie sie kämpften.
Und im Gegensatz zu seinem Handlanger – dessen Intelligenz in etwa mit der von Sumpfwasser vergleichbar gewesen war – wusste er auch wen er suchte.
Der Wind frischte auf. Eine Böe fegte über die Wiese für einen Moment verschwand Alessandro in einer Wolke aus grauer Asche.

***

Der Polizist sah fassungslos von Mae zu mir und schließlich zu Dave, der kreidebleich auf seinem Stuhl saß und sich den Arm hielt.
„Wollt ihr mich verarschen?“

Triumphierend klatschte ich in die Hände und grinste Mae an.
„Siehst du? Ich hab’s dir gesagt. Das glaubt uns kein Schwein.“
„Aber es WAR so! Ich … wir alle haben sie gesehen! Unser Freund hier“, sie deutete auf Dave, „er ist sogar von ihnen angegriffen und verletzt worden. Oder denken Sie etwa, er hat sich selbst so zugerichtet?“
Daves Arm hatte mit mehreren Stichen genäht werden müssen. Dem Arzt in der Notaufnahme hatten wir etwas von einem Hundebiss vorgelogen. Eigentlich wäre die Sache damit erledigt gewesen, hätte Mae sich nicht bei einer Schwester ausgeheult, die schließlich auf Maes Bitten hin die Polizei verständigt hatte. Wir wurden allesamt in einen kleinen, steril weißen Raum geführt, in dem wir an einem runden schwarzen Konferenztisch Platz nehmen und auf die Polizisten warten sollten.

Jetzt saßen sie und eine weißbekittelte Frau, die ich verdächtigte eine Psychiaterin zu sein, uns gegenüber. Die Frau kritzelte etwas in ihr Notizbuch.
„Mädchen, ist dir klar, was du da behauptest?“ Der ältere der beiden Beamten stützte das spitze Kinn auf seine Hand und sah Mae mit einer Mischung aus Faszination und Belustigung an. „Vampire? In London? Richtige, blutsaugende Vampire?“
„Ja! Das sagte ich doch schon. Wir wurden von Vampiren angegriffen.“
„Oder wenigstens waren es Leute, die sich für Vampire halten“, warf ich hastig ein. Dave sagte gar nichts. In Gegenwart von Polizisten verhielt er sich lieber ruhig. Der Mann lehnte sich in seinem wippenden Ledersessel zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Das ist der größte Schwachsinn, den ich mir je anhören musste.“
„Ich weiß nicht, Steve“, schmunzelte sein Kollege. „Diese Frau mit ihren angeblichen Geistererscheinungen war auch ziemlich abgedreht.“

Mae war den Tränen nahe.
„Hören Sie. Ich weiß nur, dass ich das erlebt habe. Wenn Sie jemanden dorthin schicken würden, dann könnten die es Ihnen bestätigen. An der Stelle müssen mindestens vier Leichen liegen.“
„Ach, du meinst die, die von der mysteriösen Fremden geköpft wurden?“ Der junge Polizist verdrehte die Augen.
„JA!“
„Unsere Kollegen waren schon vor Ort. Da ist nichts. Alles was sie gefunden haben war ein altes, völlig verstaubtes Hemd.“
„Aber…“
„Hand aufs Herz. Was habt ihr geschluckt?“

Auch diese Frage hätte ich vorhersagen können. Langsam wurde ich es leid, immer Recht zu behalten. Natürlich musste er davon ausgehen, dass wir uns irgendetwas eingeworfen hatten. Dass wir so breit waren, dass wir Realität und Traum nicht mehr voneinander unterscheiden konnten.
Mae starrte den Polizisten namens Steve völlig verdattert an. Dave rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her. Ich ahnte, dass er spätestens jetzt Mae zurück zu den Vampiren wünschte.

„Nichts!“, zischte sie. „Wir sind völlig nüchtern.“
„Ihr wisst, dass ich einen Bluttest verlangen kann?“
Herausfordernd legte Mae ihren Arm ausgestreckt auf den Tisch. „Nur zu.“
Jetzt wurde mir doch etwas mulmig. Mae brauchte solche Tests nicht zu fürchten. Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch keine Drogen angerührt und Alkohol stieg ihr dermaßen schnell zu Kopf, dass eine Schnapspraline ausreichte um sie in Tiefschlaf zu versetzen. Meine Weste war nicht ganz so rein und Dave …
Nun, seine Weste hätte vermutlich ein Bad in hochkonzentrierter Bleiche benötigt, um darauf wenigstens wieder einen Schimmer weiß erkennbar werden zu lassen.
Nicht-Steve hatte unser Zögern bemerkt und sein Blick sprach Bände.
„Sollen wir wirklich einen Bluttest machen? Oder gebt ihr gleich zu, dass ihr euch mit Drogen vollgepumpt habt?“

„Entschuldigen Sie bitte.“ Fünf Augenpaare blickten verblüfft zu der Ärztin. Sie hatte die ganze Zeit keinen Ton gesagt, sondern nur beständig in ihr Notizheft gekritzelt. Irgendwann während dieser hitzigen Debatte hatten wir wohl vergessen, dass sie sich auch noch im Raum aufhielt. Sie räusperte sich und schob mit spitzen Fingern ihre randlose Brille zurecht.
„Vielleicht sollte man erst die Eltern der Kinder informieren, bevor man vom Schlimmsten ausgeht.“ Mit einem honigsüßen Lächeln im Gesicht drehte sie sich zu uns hin und legte ein weiches Timbre in ihre Stimme. Vermutlich hatte sie diesen Tonfall schon bei anderen geistig beschränkten Personen erfolgreich getestet.
„Also“, säuselte sie, „wie kann ich eure Eltern erreichen?“ Wir schwiegen.
„Ich würde wirklich gerne mit ihnen sprechen.“
„Ich auch“, murmelte Dave und seine Mundwinkel zuckten. Mae malte mit ihren Fingern Kreise auf die Tischplatte.
„Ich fürchte das wird nicht möglich sein“, antwortete ich ihr also.
„Warum nicht?“
„Sie sind augenblicklich nicht erreichbar.“
„Warum? Wo sind sie denn?“
„Keine Ahnung“, grinste ich fröhlich.
„Holloway“, murmelte Mae verlegen.
„Highgate“, grinste Dave.

Steve, der eben aus seinem Glas Wasser trinken wollte, verschluckte sich beinahe.
„Damit ich das richtig verstanden habe“, begann er und sein Vergnügen an unseren Aussagen war deutlich herauszuhören. „Die eine weiß nicht einmal wo ihre Eltern sind. Bei der zweiten sitzt die Mutter im Knast. Und die Eltern des Jungen sind tot?“
Kollektives Nicken. Bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger enthusiastisch.

„Aber es muss doch einen Vormund für die Kinder geben“, ereiferte sich die Ärztin. Wie auf Stichwort klopfte es so leise an die Tür, als wolle der Klopfer gar nicht auf sich aufmerksam machen. Die Schwester von vorhin öffnete und hielt sich an der Klinke fest. Hinter ihr wartete eine junge Frau in einem dunkelgrünen Mantel. Ihr Lächeln wirkte freundlich, warmherzig und gab jedem das Gefühl, dass er dieser Person alles bedenkenlos anvertrauen konnte.
Und ihre Haare waren so rot wie loderndes Feuer.

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Tag der Veröffentlichung: 25.03.2010

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