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Glaubst du an Vampire?



An die todbringenden Engel der Nacht, die sich nach deinem Blut verzehren und es dir entreißen wollen?
Schauderst du vor den Schatten an deinem Fenster, wenn Wolkenfetzen über den Himmel jagen und der Sturm um dein Haus pfeift? Vergräbst du dich dann tiefer unter deiner Decke, in der Hoffnung, dass sie dich dort nicht finden?
Oder empfindest du allein die Frage danach als Beleidigung deiner Intelligenz?

Natürlich, du kennst die Geschichte von Dracula, dem Grafen aus Transsilvanien. Ein hässliches, verschrumpeltes Monster, das eine Blutspur quer durch Europa zieht und wahllos Menschen abschlachtet, bis der tapfere Van Helsing seinem Treiben Einhalt gebietet. Ja, so sollten sie aussehen, die Vampire. Seelenlose, widerliche Kreaturen, die aus den kranken Fantasien viktorianischen Spießer entstehen. Oder vielleicht doch lieber glitzernde Muttersöhnchen, die als Schrecken aller Rehe durch lichtlose Wälder rennen?

Wahrscheinlich hast du dich auch schon einmal im Karneval als Vampir verkleidet. Mit windigen Plastikzähnen, die bei jeder Bewegung aus dem Mund fallen und in denen sich der Sabber sammelt. Ja, vielleicht verfolgst du sogar die Abenteuer einer supercoolen, zur Vampirjägerin mutierten, pubertären Hupfdohle, die in endlosen Folgen über den Bildschirm flackern. Du siehst die Untoten nachts aus ihren Gräbern steigen, wo sie sofort mit Pflock und Kreuz zurück in die Hölle befördert werden. Yeah! So sollte es sein!
Aber wer glaubt schon ernsthaft an Vampire?
Dreh dich um!
Sitzt du im Bus? Im Park? Sieh dir all die Menschen um dich herum genau an. Denn ich sehe dich. Suchst du mich jetzt?
Freue dich daran nur beobachtet zu werden, denn mein Durst ist groß und du weißt nicht, wann ich ihm nachgebe.
Mein Name ist Annabelle und dies ist meine Geschichte.

***

Ich würde gerne sagen, dass an diesem Tag alles anders war. Dass der Hauch der Vorahnung meinen Geist streifte, wie die Poesie es beschreiben würde, oder dass sich an diesem Tag etwas Außergewöhnliches ankündigte. Aber dem war nicht so. Wie jeden Tag quälte ich mich um sechs Uhr morgens aus dem Bett. Wie jeden Tag hetzte ich zur Straßenbahn, schlug mein Buch auf, las und verschlang mein spärliches Frühstück. Wie jeden Tag war ich die erste im Museum, weckte Georg, den Nachtwächter, der schnarchend auf seinem Klappstuhl hockte und sich wortreich wie jeden Tag für diesen Fauxpas entschuldigte. Wie jeden Tag machte ich meinen Rundgang durch meine Abteilung und sah meine Kollegen eintrudeln. Einer müder als der Andere. Wie jeden Tag machte ich mir meine Thermoskanne Kräutertee, bezog die Stellung in Saal vierundfünfzig und wartete auf die ersten Besucher. Voller Wut starrte ich wie jeden Tag an die weiß getünchte Wand mir gegenüber. Was für ein beschissener Job. Ich hatte mich drei Semester lang durch das Studium der Kunstgeschichte gequält und nun das. Studienabbrecher, hatten sie mir gesagt, würden es schwer haben auf dem Arbeitsmarkt und immerhin wäre es ja auch nur eine Frage der Zeit, bis ich heiraten und schwanger werden würde, nicht? Als ob man mit Ende der Ausbildung sofort ein Baby in die Hand gedrückt bekäme. Sozusagen als Abschiedsgeschenk bei der Zeugnisübergabe. Chauvinistische Arschlöcher, allesamt. Aber nachdem ich solche und ähnliche Absagen erhalten hatte, nahm ich eben diesen Aufseherjob an um mein Wissen wenigstens nicht vollständig zu vergeuden. Innerhalb kürzester Zeit hatte ich diese Arbeit zu hassen gelernt. Es war schlicht und ergreifend langweilig nur dazusitzen, abzuwarten und aufzupassen. Nach einem Jahr kannte ich jede noch so unbedeutende Beschriftung, jeden gotischen Faltenwurf und jeden Riss in der Lasur der Figuren auswendig. Wenn mich die Besucher wenigstens irgendetwas gefragt hätten! Ich hätte ihnen soviel über diese und jene Plastik und deren Bildmotiv erzählen können.
Aber sie fragten nie. Sie sahen mich gar nicht. Ich war wie ein lästiges, für den Raum unpassendes und deshalb zu ignorierendes Möbelstück. Niedergeschlagen öffnete ich wiederum mein Buch und tauchte ab in eine andere Welt.
„Entschuldigen Sie bitte?“ Es geschah tatsächlich. Jemand wollte etwas von mir. Mühsam kämpfte ich mich aus meinen Tagträumen zurück in die Realität.
„Ja? Wie kann ich Ihnen helfen?“ Lächelnd erhob ich mich und legte das Buch sehr schnell auf dem Stuhl ab. Anscheinend war der fette Schmöker nicht sehr erfreut darüber, plötzlich so schamlos ignoriert zu werden, denn er dankte mir die Nachlässigkeit mit einem ohrenbetäubenden Knall auf dem gebohnerten Parkett. Ich zuckte zusammen. In der Stille der Museumsräume klang es, als hätte jemand eine Bombe gezündet. Das Blut schoss mir in die Wangen und mit einem kurzen Schulterzucken versuchte ich es betont lässig zu ignorieren. Der junge Mann vor mir lächelte. Irgendein Lächeln zwischen Belustigung und Mitleid und weder das Eine noch das Andere gefiel mir. Ich kannte ihn vom Sehen, denn er kam beinahe jeden Tag hierher. Wahrscheinlich war er das weihnachtliche Opfer einer kulturbegeisterten Tante, die ihn mit einer unserer Dauerkarten hatte beglücken wollen. Damit der Bub mal was für seine Bildung tut.
„Können Sie mir sagen, von wem die Madonna ist? Das Schild fehlt.“
Meine Güte, Kerl! So oft wie du hier bist, müsstest du das schon auswendig wissen. Trotzdem rasselte ich ihm dankbar um diese willkommene Abwechslung alles herunter, was mir dazu einfiel und musterte ihn dabei verstohlen. Bisher hatte ich ihn immer nur über den Rand meiner Lektüre hinweg gesehen, wobei mir tatsächlich entgangen war, was für einen hübschen Kerl der Frühlingswind da zu uns hereingetrieben hatte. Schwarzes Haar fiel ihm der Mode entsprechend in einem langen Pony in die Stirn. Die Haut darunter erschien so käsig weiß, als sei er eben erst aus einer Berghöhle geklettert, in der er das letzte Jahrzehnt zugebracht hatte. Strahlendweiße Zähne lächelten mich an und verstärkten das Rot seiner Lippen schon fast ins Unnatürliche. Es sah aus, als hätte er Lippenstift aufgetragen. Sein Gesicht zeigte die feinen Linien eines Mannes, der gerade erst das Jungenalter hinter sich gelassen hatte. Noch ein bisschen kindisch weich und doch erkannte man bereits erste Kanten. Das langärmelige, schwarze T-Shirt steckte in einer ebenfalls schwarzen Jeans und lag eng genug an um die gestählten Bauchmuskeln darunter zur Schau zur Stellen. Alles in allem nicht von schlechten Eltern, auch wenn er sich aus der Farbpalette von Schwarz-Weiß-Filmen bediente. Aber warum zum Teufel trug er eine Sonnenbrille? Immerhin war es noch früh am Morgen und die Säle wurden durch verhängte Fenster von ewigem Dämmerlicht beherrscht. Vielleicht sollten die dunklen Gläser ein Hilfsmittel sein um Frauen aufzureißen. Um sich noch ein Stück mysteriöser zu geben. Auf eine ebenso mysteriöse Art fühlte ich mich durch seine Aufmerksamkeit geschmeichelt und als er dankend weiterging, hatte er mir für ein paar Minuten den Tag versüßt. Eigentlich hätte ich ihm danken sollen.

Der Rest des Tages blieb derselbe alte Trott wie immer und ich sehnte das Ende meiner Schicht herbei. Meinem Buch waren die Seiten längst ausgegangen und als endlich Tina kam, um mich abzulösen, hätte ich sie küssen können. Nichts wie nach Hause! Noch schnell in der Stadt ein paar Besorgungen erledigen und dann endlich, endlich in meiner winzigen Wohnung sitzen, die Tür zumachen und die Welt draußen lassen. Vielleicht auch noch ein bisschen telefonieren.
Meine beste Freundin Theresa kam mir wie immer zuvor. Kaum dass ich die Wohnung betreten hatte, klingelte das Telefon. Am anderen Ende wie jeden Tag Theresa. Und wie jeden Tag war sie völlig aus dem Häuschen.
„Stell dir vor! Ich habe da jemanden kennen gelernt. Er ist ja sooooo sühüß!!!“ Wenn süß plötzlich zwei Silben zählte, dann konnte der Erfahrung nach ja nur der Inhaber eines Y-Chromosoms daran schuld sein. „Wir waren gestern noch in der Eisdiele, du weißt schon, die italienische; und wir haben den großen Spaghettibecher gegessen, du weißt doch, der in der großen Herzchenschale, für Pärchen. Ist das nicht supersüß? Und weißt du was, ich musste gar nichts bezahlen, ich meine, solche Gentleman findet man doch nicht mehr an jeder Straßenecke und dann sind wir noch...“
„Was ist mit Peter?“, unterbrach ich ihren rasanten Wortschwall.
„Pfff! Wenn schon jemand Peter heißt!“ Vor zwei Wochen hätte sie ihn vom Fleck weg geheiratet. „Aber stell dir vor, der Typ da, der von gestern, der heißt Adriano. Klingt doch super, nicht? Und ich sage dir, wenn der anfängt dich auf Italienisch anzuschmachten, da werden dir die Knie weich.“ Ich verkniff mir die Bemerkung, dass das Anschmachten wohl eher auf Theresas Seite praktiziert wurde.
„Jedenfalls“, quasselte sie weiter, „er hat gemeint, wir könnten uns doch heute Abend im Nightfever treffen. Du weißt doch, die neue Disco, die da aufgemacht hat, im alten Kaufhaus.“
„Stopp, Tessa! Es gibt bei uns zwei Nightfever. Woher willst du so sicher sein, dass er das neue gemeint hat?“
„Na, ein Typ wie der geht doch nicht in so einen alten, vergammelten Schuppen! Für den ist doch das Beste gerade gut genug.“ Träumerin!
„Außerdem gehen ins Neue auch alle meine Freunde.“ Ja, alle außer mir. „Na ja, jedenfalls wollte ich dich fragen, ob du mitkommst. Das heißt, eigentlich ist es keine Bitte und bevor du dir wieder irgendeine dämliche Ausrede ausdenkst: Mein Adriano wollte für dich auch jemanden mitbringen. Soll genauso schnuckelig sein, wie mein Adriano! Ach, ich muss dir noch erzählen wie er mir...“
Ich ließ sie weiterplappern. Theresa und ich kannten uns seit der Grundschule und waren eigentlich schon immer, oder zumindest meistens, die besten Freundinnen, obwohl Tessa drei Jahre jünger war als ich. Bisher hatte der sowieso geringe Altersunterschied wenig bis nichts ausgemacht, aber gerade in diesem Moment fühlte ich mich sehr, sehr alt. Hatte ich dieses Alter übersprungen? Dieses Alter der Euphorie, des Experimentierens und des galoppierenden Irrsinns, das die Medizin irgendwann einmal Pubertät getauft hatte? Oder wurde ich schon besonnen, vernünftig, sarkastisch, nachdenklich, mit einem Wort stinklangweilig geboren?
„Tessa, ich kann nicht mit“, versuchte ich mich rauszureden und täuschte ein Gähnen vor. „War furchtbar stressig heute in der Arbeit. Ich muss mich unbedingt ausruhen.“
„Wann hast du denn Stress?“ Autsch! Ein wahres Wort. „Komm schon, Anna! BIIITEEE!“ Und wieder endete es wie jedes Mal. Mir gingen die Argumente aus und ich sah mich wieder einmal genötigt, mich in ein viel zu enges Outfit zu zwängen und mit Theresa in eine völlig überfüllte und ohrenbetäubende Disco zu staksen.

***

Der Beat der Musik wummerte in meinem Ohr. Schlagartig erinnerte ich mich wieder daran, weshalb ich seit Monaten nicht mehr hier gewesen war. Der Rauch der Nebelmaschinen und der stinkende Qualm zahlloser Zigaretten kratzten in Hals und Augen. Außerdem hätte ich auf die hochnäsig belustigten Blicke der klapperdürren Freizeitschlampen, die hier herumlungerten, auch liebend gern verzichtet. Was hatte Tessa da nur mit mir angestellt? Soweit ich mich zurückerinnere, war ich kein besonders schönes Mädchen. Nicht besonders schön und nicht besonders hässlich. Irgendwas im Bereich hübsch. Auf gar keinem Fall etwas im Bereich „Karl-Lagerfelds-Klamotten-sind-mir-zu-weit“. Aber Tessa hatte für besagten Kleiderstil exakt die richtige Statur und war zudem der Meinung, dass mein Kleiderschrank nichts Partytaugliches hergab. Also stand ich in eine Jeans gequetscht neben der Tanzfläche, die ich nur noch für den Fall, dass mich irgendwann einmal der Bandwurm befallen und ich dadurch erheblich abnehmen sollte, aufgehoben hatte. Außerdem zierte mich ein Glitzertop, das – dem Himmel sei’s gedankt – vorne eine Schnürung aufwies. So konnte ich immerhin noch Luft holen. Auch wenn es mir doch sehr peinlich war, dass ich für dieses Oberteil meinen schönsten Büstenhalter anziehen hatte müssen. Trotz Tessas massiver Proteste, warf ich mir zur Sicherheit noch meine fleckige, alte Jeansjacke über. Ich glaube, mein Argument, dass uns sonst die Polizei in Gewahrsam nehmen würde oder Typen mit Geldscheinen wedeln würden, hatte sie schließlich doch überzeugen können. Tessa stürzte sich begeistert in die Menge und ich dackelte wie üblich hinter ihr her, sah sie Leute begrüßen, die ich noch nie im Leben gesehen hatte und wahrscheinlich auch nie wieder sehen würde, und wie sie Küsschen an die Barkeeper verteilte, deren Namen, Familienstand und Hobbys sie auswendig kannte. Und schließlich lief es wie immer. Wir tranken en wenig, tanzten ein wenig und dann tanzte Tessa, umringt von Verehrern, während ich am Tisch saß und die dritte Cola in mich hineinschüttete. Adriano war natürlich nicht gekommen, was Tessa aber nicht sonderlich zu stören schien. Ich sah ihr zu, wie sie lachend ihre blonden Haare zurückwarf und das wohlgeformte Dekollete zur Schau stellte. Gegen sie wirkte ich wie ein kostümiertes Nilpferd. Angestrengt versuchte ich möglichst aufrecht zu sitzen und durch meine Vorzüge die Nachteile in den Schatten treten zu lassen. Nach dem dritten obszönen Spruch und der zweiten Hand auf meinem Hintern wurde es mir endgültig zu blöd und ich spielte ernsthaft mit dem Gedanken einfach nach Hause zu gehen.
„Ist hier Platz?“ Ich nickte. Die Musik war sowieso zu laut um etwas ordentlich verstehen zu können. Drei Möchtegernmodels setzten sich betont gelangweilt an meinen Tisch. „Polizei!“, flüsterte ich. „Drei halbverhungerte Kleiderständer auf Männerjagd.“ Neben mir lachte jemand laut auf und erschrocken drehte ich mich um. Hatte ich etwa zu laut gesprochen?
Aber was ich da sah, ließ mir den Atem stocken. Tiefblaue Augen lachten mich an. Und erst der Kerl, der diese Augen im Kopf hatte!
Moment mal, das Gesicht, ein traumhafter Körper… Den Jungen kannte ich doch! Mein neuer Museumsliebling saß da neben mir und zwinkerte mir amüsiert zu. Synchron zu dieser Geste warfen sich meine Tischnachbarinnen in Pose. Die kleine Dürre, die ihre blonde Mähne vor allem den chemischen Wundermitteln ihres Friseurs verdankte, stöckelte hüftenschwingend auf ihn zu. „HI!“, brüllte sie über den Lärm hinweg. „Kannste mir mal Feuer geben?“ Theatralisch fuchtelte sie mit ihrer Zigarette vor seiner Nase herum. Er schüttelte nur den Kopf. „Ich rauche nicht.“ Wie ein Fisch an Land schnappte sie nach Luft. Wie konnte dieser Kretin ihr so offensichtlich zweideutiges Angebot nur abweisen? Ich grinste und doch war ich mir sicher, dass sie ihr Ziel erreichen würde. Dieses Mädchen akzeptierte bestimmt keinen Korb. So wie sie sich an ihn ranschmiss, konnte es nicht mehr lange dauern, bis er mit ihr in Richtung Klo verschwand. Nein, doch nicht! Hilfe! Er setzt sich zu mir. Nun, es gäbe immer noch die Möglichkeit, dass er nur höflich sein will.
„Hi!“ Mist. Ich fühlte wie ich vom Hals aufwärts knallrot wurde. Sehr schüchtern und piepsig kam ein kleines „Hi“ auch über meine Lippen.
„Meine liebste Aufseherin in diesem Schuppen, wer hätte das für möglich gehalten?“ Er grinste über das ganze Gesicht. „Was führt dich hierher? Bist du etwa auf der Jagd nach halbverhungerten Kleiderständern?“
Oh Gott, oh Gott! Ich bin doch so schlecht im Flirten. Hilfe!
„Wie konntest du das überhaupt hören?“ Ich konnte mich ja selbst kaum verstehen. „Gute Ohren.“ Als er lachte, sah er noch verführerischer aus. Bestimmt hatte er eine Freundin. Hundertprozentig! Er musste einfach eine haben. Wahrscheinlich würde sie gleich um die nächste Ecke schießen und mir eine schießen. Oder vielleicht sogar einen Freund? Nein, nein, nein. Das wollte ich mir gar nicht vorstellen. Dieses Juwel sollte der Frauenwelt erhalten bleiben.
„ Ich bin übrigens Michel.“ Er reichte mir die Hand. „Annabelle. Kommst du aus Frankreich? Wegen deinem Namen, meine ich.“ „Meine Eltern sind Franzosen, ja.“ Die drei Grazien tuschelten miteinander. Michel grinste spitzbübisch. „Sieh sie dir an.“
„Ja, wenn Blicke töten könnten, läge ich schon zehn Meter unter der Erde.“ Wir lachten und von Minute zu Minute wurde ich lockerer. Ein sympathischer Typ und die befürchtete Freundin ließ sich auch nirgends blicken. Trotzdem. So etwas konnte es nicht geben. Jeder Traummann hat einen Haken, dass wusste ich aus leidvoller Erfahrung. Oh ja, nur zur Genüge. Aber wenn ich mich noch weiter mit ihm unterhalten würde, dann konnte es sich nur noch um Minuten halten bis ich mal wieder heil- und rettungslos verliebt sein würde. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und stellte die Frage aller Fragen. „Bist du etwa ganz allein hier?“ Er nickte. Verdammt! Damit hatte er mich am Wickel. „Was ist mit dir? Eine Schönheit wie du geht doch sicher nicht allein zum Feiern.“ Süßholzraspler! Schleimer! Mach weiter so.
„Keine Angst. Mein Anstandswauwau steht da drüben.“ Ich deutete auf Tessa, die gerade schwer mit Zungengymnastik beschäftigt war und den Kopf des auserwählten Trainingsgeräts dabei fast einsaugte. „Von Anstand merkt man da aber nichts“, schmunzelte er und ergriff meine Hand. „Darf ich dir noch etwas zu trinken bringen? Dein Glas ist ja fast leer.“ Hocherfreut nickte ich und lauschte der nächsten Flirtattacke. „Lauf mir ja nicht weg, ma Belle.“ Während ich fast von meinem Stuhl kippte und meine sabbernde Zunge wieder einrollte, drängelte er sich zur Bar. War es möglich? Konnte es sein, dass dieser Discobesuch doch noch etwas Gutes bringen könnte?
Unsanft riss mich jemand aus meinem Sitz.
„Tessa! Was soll das?“ Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ich will dir jemanden vorstellen“, brüllte sie mir ins Ohr. Sie ließ mich gar nicht zu Wort kommen und wunderte sich auch nicht, dass ich mich heftig gegen ihr Gezerre wehrte. Ich konnte schreien wie ich wollte, sie reagierte kein Stück. Vor einem extrem coolen Pärchen kamen wir wieder zum Stehen. „Annabelle? Das sind Sandra und Rick. Sandra, Rick. Annabelle.“ Mit einem knappen Nicken wurde mir klar gemacht, dass die unterkühlten Hoheiten derzeit gnädig gestimmt waren und meine Anwesenheit duldeten. Tessa plapperte munter vor sich hin. „Die beiden haben ihren eigenen Club. Das ... wie war noch gleich der Name?“
„Das Bloody Reason. Nur für Eingeweihte.“ Oh, super. Die schnarrende Stimme der brünetten Hünin, der gruftige Kleidungsstil der beiden und der Name des Clubs machten so richtig Lust mal reinzuschauen.
Während Tessa mir erzählte, wie toll es in besagtem Club doch wäre, sah ich aus dem Augenwinkel zu unserem Tisch hinüber. Zwei fremde Kerle hatten auf unseren Stühlen Platz genommen und versuchten gerade den Meister im Wettreiern zu ermitteln. Von Michel war nichts zu sehen. „Mieser Schuppen hier, nicht war?“ Oh, es spricht. Der Kerl, den Tessa mir als Rick vorgestellt hatte, schlang seinen Arm um meine üppige Taille. Was mir ganz und gar nicht recht war. Die Art wie er mich anfasste und ansah hatte etwas unheimlich gieriges. Wie ein Tier, das vor Hunger fast verreckt und jetzt endlich sein Abendessen über die Wiese hoppeln sieht. Kalte Schauer liefen mir über den Rücken, während seine langen Fingernägel über meine Hüfte strichen. Was wenn Michel mich jetzt so sieht? Der würde sich bedanken. Rasch entwand ich mich seiner Umarmung. „Ja, mieser Laden. Das Publikum wird von Mal zu Mal unausstehlicher.“ Sandra lächelte hochmütig und durchbohrte mich regelrecht mit ihren Katzenaugen. „Lasst uns in unseren Club fahren. Ich lade euch ein.“
„Oh ja, supi! Ich war noch nie in nem richtigen Club. Und was du mir alles erzählt hast, ...“ Vielleicht sagte ich nichts, um Tessa nicht die Freude zu verderben, aber die beiden waren mir suspekt. Ich wollte weder in ihren Club, noch in ihren Wagen oder gar in ihrer Nähe sein. Ich wollte hier bleiben und den netten jungen Gott, Mann, was auch immer, besser kennen lernen. Wer weiß, vielleicht würde sich ja etwas ergeben. Trotzdem schafften es meine drei Gegenspieler mich zum Gehen zu überreden. Während Tessa meinen Mantel holte, suchte ich verzweifelt meinen Flirt. Doch ich konnte ihn in dem Gewühl beim besten Willen nicht entdecken. Enttäuscht ließ ich mich von Tessa mitzerren und legte meine Hoffnungen in das „Was wäre gewesen, wenn“-Regal in meinem Hirn ab. Als wir in den durchaus noblen Wagen der beiden einstiegen, ließ ich meine Hand in der Tasche meines Mantels stecken. Wenigstens hatte ich mein Pfefferspray dabei. Für den Fall der Fälle. Ich musste doch komplett bescheuert sein. Fast schon hörte ich meine Mutter wie früher rufen: „Geh nicht mit Fremden mit, Annabelle!“ Aber diesmal tat ich es wider jede Vernunft dann doch. Als der Wagen quietschend zum Stillstand kam, wurde mir noch um einiges mulmiger.
„Warum halten wir am Friedhof?“ Rick grinste. „Ohne Test kommt bei uns keiner rein, klar?“
„Was soll der Schwachsinn?“
„Hast du Angst?“ Tessa verneinte energisch für uns beide. Doch meine Gedanken kreisten um wahnsinnige Serienmörder, Psychokiller und Szenen aus scheußlich schlechten Horrorfilmen. Meine Hand schloss sich fester um das Pfefferspray, doch diese Gedanken hielten sich hartnäckig. Sandra und Rick stiegen aus. „Tessa! Das ist Wahnsinn! Wir kennen die beiden doch gar nicht und jetzt das! Wer weiß, was die vorhaben.“
„Ich kenne sie schon. Wir sind uns schon ein paar Mal begegnet.“
„Serienkiller haben die Angewohnheit ihre Opfer eine Zeit lang zu beobachten!“, zischte ich aufgebracht hervor. Plötzlich öffnete sich die Tür und Rick steckte den Kopf herein. „Na Mädels! Schiss?“
„Wir?“, piepste Theresa, „Niemals!“ Und mit dem Mut eines Löwen setzte sie ihren Fuß auf Friedhofserde. Seufzend folgte ich ihr. Ich konnte die Kleine doch nicht allein lassen, oder? Sandra hatte das Wort ergriffen. Mit dem Tinitus kämpfend, versuchte ich sie zu verstehen. „Die Sache sieht folgendermaßen aus. Theresa geht mit Rick. Annabelle du kommst mit mir. Wir stellen euch eine Aufgabe. Falls ihr sie löst, seit ihr für immer willkommen in unserem Club.“ Sie funkelte Rick verschwörerisch an. „Falls nicht, habt ihr eben Pech gehabt.“ Theresa folgte Rick zitternd und Sandra packte mich am Arm und zog mich zwischen die Grabreihen. Ich stolperte über verdörrte Blumen, stieß mir den Zeh an einer Granitplatte und riss beinahe ein Kreuz um. Was sollte das eigentlich? Verärgert riss ich mich los. „Ich gehe nach Hause. Die Sache fängt an lächerlich zu werden.“ Ein kurzer Anflug von Wut huschte über das spitze Gesicht. Doch sofort lächelte Sandra wieder. „Du hast es ja bald geschafft, Süße.“
„Ich sagte, ich gehe nach Hause. Auf eure dämliche Grufti-Party kann ich verzichten. Grüß Tessa von mir. Sie soll mich morgen anrufen.“ Und damit wandte ich mich endgültig zum Gehen. „Bist du denn gar nicht neugierig?“ Ich zögerte. Sandra deutete auf ein altes Kapellchen, unter dem die Gruft der hier einst ansässigen Mönche lag. „Ich möchte dir etwas Besonderes zeigen, Annabelle.“ Unschlüssig wog ich ab, was Schlimmer wäre. Allein quer über den nächtlichen Friedhof mit der Angst im Nacken oder mit einer gruseligen, fremden Frau in eine Gruft steigen. Kein großer Unterschied.
Ich weiß, ich hätte gehen sollen. Ich weiß, ich hätte nach Hause gehen können, mich in mein Bett legen und warm eingepackt die irrationale Angst vor Gespenstern, Zombies und ähnlichen Viechern vergessen können. Stattdessen holte ich tief Luft und folgte Sandra in das kalte, enge Grab. Lichtlose Finsternis umfing mich.
„Sandra? Wo bist du?“ Vorsichtig tastete ich mich Stufe für Stufe hinunter und folgte dem fernen Licht der Kerzen. Eine gewisse Faszination ging von den feuchten Steinwänden aus, an denen ich mich links und rechts festhielt. Mein Herz schlug lauter, als meine Finger eingeritzte Namen fühlten. Jeden Augenblick erwartete ich, dass eine Knochenhand die Mauer zerschlagen und mir die klammen Finger um den Hals legen würde. Die roten Flammen der Öllichter flackerten unheimlich. Etwas glitzerte direkt vor ihnen. Ich bückte mich und hob die dünne Goldkette auf. Das also sollte meine Aufgabe sein. Als sei in diesem Moment ein Stein von meinem Herzen gefallen atmete ich erleichtert auf und wollte schon wieder die Gruft verlassen, als die Kapellentür oben mit einem ohrenbetäubenden Knall zufiel. Wie erstarrt stand ich einen Moment still, dann hetzte ich die Stufen wieder hoch und rüttelte an der niedrigen Eichentür. Sie bewegte sich nicht einen Millimeter. Ich zog, zerrte, stemmte mich dagegen, hing an dem Eisengriff und bot alle meine Kräfte auf, aber irgendwie hatte sie sich dermaßen verkeilt, dass sie sich nicht mehr öffnen ließ. Oder jemand hatte abgeschlossen. Panisch suchte ich nach einem zweiten Ausgang.
„Sandra! Verdammt noch mal, lass mich raus!“ Meine Stimme zitterte. „He! Ich finde das nicht mehr witzig!“ Irgendetwas huschte hinter mir vorbei. Irgendetwas Großes. Ich zuckte zusammen. Meine Augen suchten die Umgebung ab. Nichts. Vielleicht eine Ratte? Wie groß konnten Ratten eigentlich werden?
Ein Schatten erschien mir plötzlich dunkler, als die anderen. „Ich muss hier raus“, murmelte ich. Ich wandte mich noch einmal zur Tür und schrie erschrocken auf. Wie aus dem Boden gewachsen stand sie da. Das nachtschwarze Kleid hüllte die Frau wie einen Schleier ein. Sandra! Aber in meinen Augen hatte sie sich völlig verändert. Dunkle Strähnen hingen ihr wirr in die Stirn und ihre Augen funkelten mörderisch. Ich wollte weglaufen, aber wohin hätte ich denn laufen sollen? Im Kreis um den Altar herum, wie in einem schlechten Trickfilm? Die Beine versagten mir ohnehin den Dienst und sie kam immer näher. Sie lächelte mit sich selbst zufrieden. „Du hast Angst.“ Sie fragte es nicht, sie wusste, dass ich vor Angst beinahe einging und schien das richtig zu genießen. Ich wollte etwas darauf erwidern, sie fragen, was sie mit mir vorhatte, um mein Leben flehen, Zeit gewinnen. Ich schwieg. Nur mein Atem ging laut und heftig. Sie grinste und entblößte dabei zwei abartige, glänzende Reißzähne.
„Oh. Mein. Gott.“ Ungläubig blieb mein Blick an diesen Zähnen hängen. Das war kein Plastikgebiss Marke Mickey-Mouse-Heft! Die Beißerchen waren echt! Meine Füße gehorchten mir plötzlich wieder. Ich drehte mich um und wollte losrennen, aber sie hielt mich fest. Ihr Griff war eisern und grausam dröhnte ihr Lachen in meinem Ohr. Sie riss mich zu sich und beugte sich über mich. „Nein!“ Ich schrie, ich strampelte, doch es schien sie nicht einmal zu stören. Tessa, was hast du da nur auf uns gehetzt? Verdammt, wenn ich dich jemals wieder in die Finger kriege, dann gnade dir Gott!
Heißer Atem strich über meinen Hals und feingliedrige Hände krallten sich in meine roten Haare. Ihre langen Fingernägel kratzten mir den Oberarm blutig. Ich wimmerte wie ein kleines Kind. Die gut geplante Falle war zugeschnappt und ich war die Maus darin. Schon berührten ihre Reißzähne meine Haut. Zu spät um noch zu schreien, zu spät um wegzurennen, zu spät für Hilfe. Doch etwas drängte sich zwischen uns. Ich stolperte nach hinten und fiel zu Boden.
„Lass sie in Ruhe, Kassandra!“
„Verschwinde! Sie gehört mir!“ Sandra alias Kassandra fauchte wie eine Kobra. Ich rappelte mich hoch und drückte mich an die Wand. Mein ganzer Körper zitterte wie Espenlaub. Im fahlen Mondlicht, das durch die Fenster sickerte, sah ich zwei dunkle Gestalten nur wenige Schritte vor mir. Kassandras Augen funkelten mich wahnsinnig an. Die zweite Gestalt stand mit dem Rücken zu mir. Sie schien mich zu beschützen. Ruhig begann er zu reden:
„Erinnere dich, Kassandra. Erinnere dich an mich und überlass sie mir.“ Diese Stimme… Sie kam mir so vertraut vor? Wieder stieß Kassandra ein Fauchen aus, um dass sie jede Katze beneiden würde. „Du hast kein Recht dazu. Ich habe sie gejagt. Ich habe sie gefangen. Sie gehört mir!“
„Ich habe das Recht und ich fordere ein, was mir zusteht“, schrie er die Vampirin an. Sie wich überrascht zurück. „Du bist stärker geworden, mein Liebling. Und du kennst die alten Regeln. Du überraschst mich.“ Sie lächelte, während sie sich immer tiefer in die Dunkelheit zurückzog. „Denke nur daran, die Gesetze zu achten. Denke immer daran, Liebling. Sonst tue ich es für dich.“ Mit einem letzten wahnsinnigen Lachen, drehte sie sich um, stieß die Tür auf und verschwand. Jetzt erst konnte ich das Gesicht meines Retters erkennen. „Michel?“ Ich traute meinen Augen nicht. Schweigend stand er vor mir in seinem schwarzen Mantel. Wieso er? Eine schreckliche Ahnung befiel mich und als er langsam näherkam, versuchte ich in die Mauer zu kriechen. „Nein. Fass mich bloß nicht an.“ Ohne, dass ich eine Bewegung erkannt hätte, kniete er plötzlich neben mir, hielt mich fest und beugte sich auf die gleiche Weise über mich, wie es eben Kassandra getan hatte. Ich schrie vor Schreck. „Hab keine Angst“, flüsterte er beruhigend und strich mit seiner Hand über meinen Rücken. „Hab keine Angst mehr, Anna. Ich bin da.“ Mit einer Hand zwang er mich, ihm in die Augen zu sehen. Meerblau, klar wie der Ozean an einem Sommertag und seltsam hypnotisch. Ich fühlte wie sich Ruhe und Wärme in mir ausbreiteten, wie sanft rollende Wellen am Strand, und dann versank die Welt um mich herum in schwarzer Nacht.
***
Ich erwachte aus dämmrigem Schlaf und sah mich um. Was für ein Alptraum. Aber… Das war nicht meine Wohnung! Die Zimmerdecke schien mir zu weit entfernt, das Poster an der Tür fehlte und das Bett unter mir quietschte bei jeder Bewegung. Nein, diesen Ort kannte ich nicht. Wo war ich? Durch die halb geöffnete Tür drang ein warmer Lichtschein, wie von einem flackernden Kaminfeuer. Die leisen Stimmen, die mich geweckt hatten und die ich für meine streitenden Nachbarn gehalten hatte, wurden lauter.
„Warum hast du sie hierher gebracht? Willst du mich leiden sehen?“
„Psst, sei leise.“ Das war Michel. Also hatte ich es wohl doch nicht geträumt, oder träumte ich noch immer? „Sei leise! Sei leise!“, stichelte der Fremde. „Sie wird schon nicht aufwachen, du Amme.“ Ich hörte wie er im Zimmer auf und ab ging. Bei jedem Schritt schien er trotzig aufzustampfen. „Seit über einem Monat habe ich nicht mehr richtig gegessen! Ich sehne mich so sehr danach, dass ich fast sterbe, Michel!“
„Was war mit diesem Mädchen? Myriam, hieß sie glaub ich.“ Michel fragte mit klarer, ruhiger Stimme, doch der andere winkte genervt ab. „Das war höchstens ein kleiner Imbiss. Du hast mich ja nicht in Ruhe essen lassen. Lass sie gehen, Janko! Es wird auffallen, Janko!“ Ein ungewöhnlicher Name, aber wenigstens war jetzt klar, dass ich nicht träumte. Ich würde mir doch niemals einen Mann namens Janko erträumen, oder? Er blieb stehen. „Ich habe Hunger, Michel! Sterbenshunger!!!“ Eine Weile herrschte klammes Schweigen. Gespannt hielt ich hinter der Tür die Luft an. Sehr leise hörte ich Michels Antwort.
„Jeder von uns hat Hunger. Es ist schwieriger geworden Opfer zu finden, die niemand vermisst. Erinnere dich was mit Sedat geschehen ist. Die Polizisten fragen sich bis heute warum anstatt ihres Mordverdächtigen nur noch ein Häufchen Asche in der Zelle lag. Besser nur hin und wieder kleine Schlucke, als so zu enden.“ Mord? Oh mein Gott! Worüber zum Teufel reden die da eigentlich? Wo war Tessa? Verdammt, wo war sie eigentlich? Rick! Oh mein Gott!
„Ich werde sowieso Hungers sterben, wenn du mich weiterhin so auf Diät hältst“, knurrte Janko missmutig. Michel lachte fröhlich. „Haben wir nicht schon Schlimmeres überstanden, alter Freund?“
„Ja. Alt“, meinte Janko nachdenklich. „Manchmal frage ich mich, wer nun wirklich der Ältere von uns beiden ist.“ Plötzlich wurde es so still, dass ich Angst hatte mich durch meinen Atem zu verraten. Jemand öffnete vorsichtig die Tür. „Annabelle? Bist du wach?“ Ängstlich drückte ich mich an die Mauer. Ach, scheiß drauf. Er würde mich sowieso gleich finden.
„Ähm, ja. Ich wollte grade aufstehen und das Bad suchen und… na ja, wo bin ich hier eigentlich?“, haspelte ich. Michel lächelte zwar, gab mir aber keine Antwort. „Was ist passiert? Warum bin ich hier? Das.. Na, das Zeug auf dem Friedhof war doch bloß ein Traum, oder?“ Oh bitte sag, dass ich nur schlecht geträumt habe, oder zuviel getrunken. Moment! Ich hatte doch nur ne Cola. Kann man davon betrunken werden? „Ich kann dir versichern, dass wir weder auf einem Friedhof waren, noch dass ich dich gegen deinen Willen hierher verschleppt habe, Annabelle. Es enttäuscht mich doch, dass du dich nicht mehr an heute Nacht erinnerst. Vielleicht waren die beiden Bloody Marys zu viel für dich.“ Zwei Cocktails von der Sorte wären viel zu viel für mich gewesen und würden so einiges erklären. Forschend sah ich ihm in die blauen Augen. Konnte es sein, dass er mich abgefüllt hatte? Dass ich hier bei ihm war? Sehr charmante Wohnung übrigens. Hatte den Charme einer stillgelegten Fabrik. Hatte ich etwa mit ihm geschlafen? Ohne mich daran zu erinnern? Schwer vorstellbar. Aber um einiges realistischer, als meine Version. Einen Moment, da gab es noch einen Haken.
„Wo ist Tessa? Meine Freundin. Du weißt schon. Der kleine blonde Anstandswauwau.“
„Sie ist mit ein paar Freunden um Mitternacht abgehauen. Sie sagte, du sollst dir keine Sorgen machen und dass sie dich morgen anrufen wird um“, er zog belustigt die Augenbrauen nach oben, „um auch das kleinste Detail aus dir herauszuquetschen.“ Das klang logisch, aber ich zweifelte noch immer. An seiner Version und an meinem Verstand. Es war alles so Furcht einflössend real gewesen. „Und mit wem hast du dich gerade unterhalten?“
„Mit meinem Mitbewohner, Annabelle. Was dachtest du denn? Wenn ich gewusst hätte, was für ne paranoide Nummer du bist, hätte ich dich niemals angesprochen.“ Empört schnappte ich nach Luft, die spontane, schlagfertige Antwort ließ allerdings auf sich warten. Deshalb schwieg ich einfach, akzeptierte seine Version des Abends als die Wahrheit und schlüpfte, kaum war er wieder draußen, geistesabwesend in meine verrauchten Klamotten.

Am Horizont war im Osten schon der erste graue Schimmer Tageslicht zu sehen, als wir beide aus der Fabrik traten. Ja, ganz richtig gehört. Es handelte sich tatsächlich um eine alte Fabrikhalle, in der es sich meine Affäre gemütlich gemacht hatte. Und der nannte mich verrückt! Statt einem schüchternen Abschied und dem üblichen Wunsch nach einem baldigen Anruf, gab mir meine Affäre Ratschläge mit auf den Weg.
„Du solltest besser keinem von diesem verrückten Traum erzählen. Friedhöfe, Vampire… Bei so was stecken sie dich noch ins Irrenhaus.“
„Ja, ja. Keine Panik.“ Doch dann blieb mir beinahe das Herz stehen. „Michel? Ich glaube, ich habe keine Vampire erwähnt.“ Er sah mich nur wie ertappt an und schien nach einer passenden Ausrede zu suchen. Schnell streifte ich meine Jeansjacke ab und sah die fünf dunkelroten Kratzer auf meinem Oberarm, die mir Kassandra zugefügt hatte. „Scheiße! Es war gar kein Traum, oder?“ Michel trat einen Schritt auf mich zu. Ich wich vor ihm zurück und suchte die Gegend nach irgendeinem Gegenstand ab, den ich zum Schlagen verwenden konnte.
„Wer bist du, verdammt noch mal?“ Meine Stimme zitterte vor Angst und Wut. „Wer und vor allem was bist du?“ Ich schrie ihn an. „Annabelle, bitte hör mir zu...“
„Nein! Ich habe dich und diesen Janko reden gehört. Er sprach von Hunger und von Mord! Und diese Frau, Kassandra. Wer ist sie? Ein Vampir?“ Wie eine Irre lachend deutete ich auf die Kratzer. Michel aber stand still, den Kopf gesenkt, den Blick zu Boden gerichtet. Ein schrecklicher Verdacht keimte in mir. Nein, so etwas war nicht möglich. So etwas gibt es nicht. So etwas kann es nicht geben. Niemals! „Ein Vampir?“, flüsterte ich fassungslos. „Ein Vampir, Michel?“ Langsam, fast unmerklich hob er den Blick und unter den schwarzen Strähnen funkelten tiefblaue Augen. „Ja, Annabelle“, hauchte er heiser. „Ja.“ Schritt um Schritt ging ich rückwärts. „Mein Gott. Dann bist du auch...? Nein. Das kann einfach nicht sein. Ich glaube das einfach nicht! Das war nur ein Traum! Es kann nur ein Traum gewesen sein. Mein Gott! Tessa! Ich muss sofort zu ihr.“
„Anna, bitte...“
„Nein! Nein! Verschwinde!“ Tränen füllten meine Augen. „Wir kennen uns nicht. Wir sind uns nie begegnet und das alles ist nie geschehen. Ja, genau so. Ich träum immer noch und du bist nur Teil meines Traumes. Genau. Ich kenne dich nicht! Ich kenne dich nicht!!!“

„Aber ich kenne dich, Kleines“ Ich wirbelte herum. Rechts hinter mir stand ein Mann lässig an die alte Fabrikwand gelehnt. Sein seltsam altersloses Gesicht strahlte weiß vor dem dunklen Hintergrund der Mauer. Nun löste er sich aus dem Schatten und umkreiste mich langsam und würdevoll, wie ein Wolf seine Beute. Janko! Das konnte nur Janko sein. „Weshalb hast du Angst? Du weißt wer wir sind; was wir sind. Du kennst unsere Namen...“ Er hielt inne und blieb dicht hinter mir stehen. Seine Lippen berührten mein Ohr. „Weshalb fragst du, wenn du die Antworten kennst, Anna?“ Ich fühlte, wie er lächelte. Ich fühlte, wie er seine Hände um meine Taille legte. Und ich fühlte, was er vorhatte. Schreiend riss ich mich los. „Was hast du denn? ANNA!“ Janko grinste. Mit einem Mal packte er mich am Hals und hielt mich hoch. „Janko, nicht!“ Michel stürzte auf uns zu. „Bitte, Janko. Nicht sie. Bitte.“ Beschwörend legte er die Hand auf die Schulter seines Freundes. Janko würgte mir fast die Luft ab. Mit beiden Händen versuchte ich seinen Griff um meinen Hals zu lockern, strampelte und trat nach ihm. Zwecklos! „Sie kennt das Geheimnis, Michel. Kein Sterblicher darf es jemals wissen! Denk an die Regeln!“ Das Blut rauschte in meinen Ohren und mein Herz schlug viel zu schnell. Wie aus weiter Ferne hörte ich Janko etwas rufen. „Denk an die Regeln, Michel!“ Ich sah wie Michel seine Hand zurückzog und sich abwandte. Endlich ließ Janko los. Ich fiel. Direkt in seine Arme. Keuchend schnappte ich nach Luft und klammerte mich an meinen Henker. Er hielt mich sanft fest, aber dennoch mit einer Kraft, der ich nicht entrinnen konnte. Aus den Augenwinkeln sah ich wie über Michels Wange eine einzelne silberne Träne floss. Wieso?
Zärtlich, ja, beinahe liebevoll strich Janko mein Haar zurück. Doch all diese Gesten und Berührungen bedeuteten für mich nichts als grausamen, höhnischen Spott. „Es ist gefährlich zu viel zu wissen, Kleines. Du hättest vorsichtig sein müssen mit deinen Gedanken.“ Er wisperte, aber in seinen Worten lag eine seltsame Gewalt. Ich fühlte mich so schrecklich schwach. „Was spielen meine Gedanken jetzt noch für eine Rolle?“ Meine Stimme war so dünn, dass man sie kaum von dem Rauschen der Blätter unterscheiden konnte. Mit flackernden Augen sah ich Michel an. Wie sehr ich mir wünschte ihn für diese Hölle hassen zu können. Aber es gelang mir einfach nicht. Noch nicht. Ich würde es lernen.
Dann biss Janko zu.
Heiße Nadeln bohrten sich in mein Fleisch. Ich schrie, halb wahnsinnig vor Schmerz. Ich versuchte ihn wegzustoßen, doch unbarmherzig hielt er mich fest. Ich hörte wie er mein Blut trank und fühlte wie meine Lebenskraft schwand. Als ich zu schwach wurde, um zu schreien, schloss ich die Augen und weinte. Tu mit mir was du willst, Vampir. Tu was du willst. Es ist egal. Das Herz in meiner Brust schlug erst schneller, bis es beinahe zersprang und dann immer langsamer und stiller. Endlich ließ er von mir ab. Meine Beine knickten ein und ich lag auf dem vom Morgentau feuchten Asphalt. Flach atmend rang ich um den letzten Lebensfunken. Janko stand über mir. Er sah mich an, wie man ein überfahrenes Tier ansieht. Angewidert, mitleidig und doch gleichgültig. Schließlich wandte er sich um und ging. Er verschwand so schnell und lautlos, als wäre er nicht mehr als ein flüchtiger Schatten. Mühsam drehte ich den Kopf zur Seite. Neben mir kniete Michel. Starr sahen mich seine Augen an, doch seine Hände zitterten. Sie strichen über meine roten Locken, über meine Wangen, hin zu meinem blutverschmierten Hals. „Anna. Verzeih mir.“ Oh, wie viel liebevoller als Jankos klang seine Stimme. Und wie gerne hätte ich ihn gehasst. Krampfhaft hielt ich meine Augen offen. Ich wollte nicht sterben. Nicht so. Zuerst wollte ich lernen ihn zu hassen! Ihn und diesen Bastard von Vampir, der sich an mir satt getrunken hatte. Ich wusste, der Tod hätte mich in dem Moment geholt, in dem meine Lider zufielen. Als er sich zu mir herunterbeugte, erschrak ich nicht. Weshalb auch? Meine Lippen versuchten Worte zu formen. „Was hast du vor?“ Vorsichtig hob er meinen Kopf an. Es war ein Kuss wie kein anderer. Ein Kuss, der mich vergessen ließ, dass ich diesen Mann bis in alle Ewigkeit hassen wollte. Es war der letzte Kuss meines Lebens. Müde schloss ich die Augen und träumte.

***

„Na, was haben wir denn hier?“
„Das Mädchen vom Friedhof. Sie haben doch davon gehört, oder?“
Doc Marker nickte betrübt. „Ja, ja. Schreckliche Sache. Arme Kleine. Gehen sie mir doch mal zur Hand, Junge.“ Doc Marker hatte es sich in seiner langen Dienstzeit angewöhnt, jeden der auch nur ein wenig jünger als er zu sein schien mit „Junge“ anzureden. Genauso wie er sich daran gewöhnt hatte, immer und überall nur „Doc“ genannt zu werden. Gemeinsam mit seinem Assistenten legte er die Leiche auf den Seziertisch. Das Mädchen war erstaunlich leicht. „Ich sag’s immer wieder: Die Frauen von heute hungern sich noch zu Tode! Zu meiner Zeit waren wir um jedes anständige Essen froh und was machen sie jetzt? DIÄTEN!“ Er sprach das Wort mit größter Abscheu aus und tätschelte zufrieden sein Bäuchlein. Tatsächlich konnte man bei dem Mädchen die Rippen zählen und ihre Hüftknochen drückten sich durch die rabenschwarzen Leggins. „Hoffentlich schneiden wir nicht durch, was, Junge?“ Ein dröhnendes, warmes Lachen ließ die Gerichtsmedizin erbeben, bevor Doc Marker mit der Autopsie begann.

Grübelnd lief der Doc durch die Straßen. „Spät ist’s wieder geworden“, murmelte er in seinen gepflegten Bart. Wahrscheinlich wäre seine Frau wieder alles andere als begeistert, wenn er zu mitternächtlicher Stunde unter die Bettdecke kroch. Das Mädchen von heute morgen ließ seine Gedanken nicht zur Ruhe kommen. Nicht ihre Jugend bewegte ihn. Nein, er hatte schon weitaus jüngere Kandidaten auf dem Tisch gehabt. Aber die Art wie sie gestorben war. Zwei kreisförmige Punkte übereinander am Hals von der Größe eines Pfennigstücks etwa. Andere Verletzungen hatte er nicht finden können. Anscheinend hatte der Mörder mit einem spitzen Gegenstand die Halsschlagader geöffnet und sein Opfer verbluten lassen. Aber wieso hatte sie sich nicht gewehrt? Das toxische Gutachten würde er sich morgen zu Gemüte führen. Den Ermittlern hatte er gesagt, sie sollten nach jemandem fahnden, der sich für einen Vampir hielt. Doc schmunzelte. Es gab genug Spinner in dieser Welt! Etwas Kaltes, Weiches stoppte seinen Stechschritt. Gedankenverloren sah er auf. Er war gegen einen gefährlich aussehenden Mann gelaufen. Die schwarze Kapuze seiner Jacke gab nur wenig von seinem Gesicht preis. Aus tiefen Augenhöhlen funkelten schwarze Augen den Doc unheimlich an und die scharfkantigen Gesichtszüge seines Gegenübers ließen Doc nichts Gutes ahnen. „Entschuldigung, ich habe sie ganz übersehen.“ Rasch wollte er weiter gehen, als ihn der Fremde zurück rief. „Sie sind Doc Marker, richtig?“
„Ja. Kennen wir uns?“
„Ich kenne sie.“ Der Fremde kam mit geschmeidigen Schritten näher. Doc beschlich ein unangenehmes Gefühl. Das gleiche Gefühl musste einen eingesperrten Kanarienvogel im Angesicht einer Katze befallen. Der unheimliche Fremde überragte Doc um fast zwei Kopflängen, sodass der Pathologe seinen Kopf in den Nacken schieben musste um ihm ins Gesicht sehen zu können. „Nun, ich kenne sie nicht.“
„Oh, mein Name ist nicht von Bedeutung, Doc. Sie haben den Fall Theresa Fils heute bearbeitet?“
„Was geht es Sie an, welche Fälle ich habe?“
„Oh, sehr viel, Doc. Wissen Sie, ich bin der Vampir den Sie suchen.“ Docs letzte Erinnerungen bestanden aus dem Anblick zweier perlmuttweiß glänzender Raubtierfänge und heißen Schmerzen.

***

Die harten Klänge von Queen weckten mich aus meinem fiebrigen Dämmerschlaf. „I want it all! I want it now!“ Ich sah Janko, wie er vor dem Plattenspieler eine Gitarre marterte und verzweifelt versuchte den Takt zu halten. Abschnittsweise sang er schräg mit.
Wie tötet man einen Vampir? Ich stellte mir die Frage in diesem Moment ganz ernsthaft und ging meinen kargen Fundus an Vampirbüchern durch. Sonnenlicht! Aber Michel war ja auch bei Sonnenlicht durch die Gegend spaziert. Knoblauch? Konnte ich mir erstens nicht ganz vorstellen und zweitens woher sollte ich den so schnell nehmen? Kreuze schienen den beiden auch nichts auszumachen. Immerhin hatte mich Kassandra in einer Kapelle voller Kreuze angegriffen. Also, wie tötet man einen Vampir?
Doch als ich aufstehen wollte, erübrigten sich alle Gedanken in dieser Richtung von selbst. Kaum, dass ich mich ein wenig aufgerichtet hatte, jagten unvorstellbare Schmerzen durch meinen Körper. Schreiend sackte ich zusammen. Es fühlte sich an, als würde glühend heiße Lava durch meine Adern gepumpt und jeden Nerv meines Körpers einzeln verbrennen. Ich hielt mir die Augen zu, aus Angst sie könnten herausfallen. Es fühlte sich an, als würden sie jeden Moment wie hohle Glasmurmeln zerspringen. Ich krümmte mich vor Schmerzen auf dem quietschenden Bett und schlug verzweifelt um mich, als könnte ich damit die Dämonen abwehren, die nun von mir Besitz ergriffen. Während der ganzen Zeit stand Janko ungerührt neben mir. Er sah mir einfach nur zu und ich hasste ihn dafür umso mehr. Bis er mir plötzlich die Hand auf die Stirn legte und die Qual damit beendete. Ich weiß nicht, wie er das gemacht hatte, aber durch diesen einfachen Handgriff, ebbten die Schmerzen langsam ab und verschwanden schließlich ganz. Als hätte er sie in sich aufgenommen. Keuchend richtete ich mich wieder auf und strich mir unsicher über meine tränennassen Wangen. Etwas hatte sich verändert. Etwas war anders. Schweigend ging Janko wieder zu seiner Gitarre und gab sich erneut seiner Musik hin, ohne mich noch weiter zu beachten. Schwankend stand ich auf und wagte mich näher an dieses Wesen heran. Der Hass wich langsam aber unausweichlich meiner verdammten Neugier. Und dann fiel mein Blick auf den Spiegel. Es war ein riesiger alter Wandspiegel mit Goldrand. Einer wie er in jedem besseren oder hoffnungslos altmodischen Haushalt zu finden ist. Doch es war nicht die schwere Herrlichkeit des Spiegels, die mich erstarren ließ, sondern das schlanke Mädchen, das mir daraus entgegenblickte. Ein alabasterweißes Gesicht schimmerte unter den perfekt springenden roten Locken wie feinstes Porzellan. Was ich sah, war schön. Wunderschön sogar. Aber das war nicht ich. „Was hast du mit mir gemacht?“ Janko horchte auf und drehte sich zu mir. Im Spiegel sah ich sein ausdrucksloses Gesicht. Ungläubig drehte ich meine Hände im Licht, strich mit der Zunge immer wieder über meine erschreckend spitzen Zähne. Als würde ich mich jetzt zum ersten Mal spüren, fühlten meine Finger meinen Körper. Weiche Konturen, perfekte, pralle Brüste und ein Gesicht, für das sich Männer in den Tod stürzen würden. Aber ich war doch ganz anders! Ich wollte wieder die überflüssigen Fettpolster fühlen und mich über meine wüste Frisur ärgern. Ich wollte Ich sein.
„Das bin ich nicht!“ Janko stand nun kopfschüttelnd hinter mir. „Weiber!“ Er seufzte vorwurfsvoll. „Und ich dachte, du würdest dich freuen. Eine angenehme Nebenwirkung, dachte ich.“ Mit Tränen in den Augen starrte ich mein Spiegelbild an. „Ich habe davon geträumt so auszusehen ...“ Janko hinter mir grinste breit. „Also habe ich dir deinen Traum erfüllt, Tochter.“
„NEIN!“ Mit einem Wutschrei rammte ich meine Faust in den Spiegel. Scherben flogen klirrend zu Boden und schnitten mir ins Fleisch. Kaltes Blut rann über meine Hand und schluchzend rannte ich aus dem Zimmer.
Draußen empfing mich die kalte Nachtluft. Ich wollte wegrennen. Egal wohin. Einfach nur laufen, nur laufen und dem ganzen Alptraum hier entkommen. Stattdessen ließ ich mich auf den Bürgersteig fallen und barg weinend mein fremdes Gesicht in meinen neuen Händen. Schluchzend umschlang ich meine Beine und dachte an Freitag. Bis dahin war doch alles so normal, so logisch, so wunderbar langweilig gewesen. Und nun? Ein Alptraum riss mich aus meinem stumpfsinnigen Leben. Aber wohin würde mich das alles führen? Plötzlich wurde mir klar, dass ich ganz in Gedanken an meiner aufgerissenen Hand leckte. Ich leckte mein eigenes Blut ab. Von mir selbst angewidert, spuckte ich es wieder aus. Doch der Geschmack in meinem Mund blieb. Und auch wenn ich es nicht gern zugab, es schmeckte verdammt gut. Schwer und süß, aber ohne Leben, eiskalt. Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Michel.
„Was ist mit Theresa?“ So es war gesagt. Mir graute vor seiner Antwort. Michel setzte sich neben mich und ergriff vorsichtig die verletzte Hand.
„Sie ist tot, Annabelle.“ Wieder schüttelte mich ein heftiger Weinkrampf. Ich hatte es geahnt, aber es zu wissen machte noch schlimmer. Sanft legte sich ein Arm um mich, doch ich schüttelte ihn ab. „Lass mich in Ruhe, du Monster.“
„Anna?“ Ich schüttelte nur den Kopf. Wortlos legte er mir eine Zeitung auf die Knie. „Teenager grausamen Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen.“ Eine zweite folgte. „Ritualmord? Junges Mädchen auf Friedhof ermordet“. Neben jeder dieser Schlagzeilen prangte groß Theresas Passfoto. Zwischen mein Weinen drängte sich eine Prise Galgenhumor. „Sie hat immer gesagt, wenn sie berühmt ist, würde sie dieses Foto verbrennen und alle umbringen lassen, die es je gesehen haben.“ Ich lachte schniefend und sank dann wieder in mich zusammen. „Sie haben sie gestern in den Morgenstunden gefunden. Kurz nachdem Rick sie ...“
„Ich weiß was du meinst!“, giftete ich ihn an.
„Laut den Zeitungen befürchten sie auch bald deine Leiche zu finden, Annabelle. Vorläufig suchen sie dich noch, aber im Grunde wirst du von allen für tot gehalten.“ Gleichgültig zuckte ich mit den Schultern. „Wir müssen fliehen, Anna. Irgendwohin, wo dich garantiert niemand kennt.“
„Was heißt hier wir?“ Verblüfft starrte er mich an. „Na du, Janko und ich. Wir drei hauen ab. Wenn die Polizei dich findet, dann wäre das dein Todesurteil.“
„Ich meinte mit meiner Frage eigentlich, warum ihr mitgehen wollt.“ Michel strich zärtlich über meine Hand. Wieso zum Teufel konnte ich ihn nur nicht hassen? „Weil wir eine Familie sind. Janko hat dich erschaffen. Er ist für dich verantwortlich wie ein Vater für sein Kind. Und ich ...“ Kurz stockte er und strich sich eine Strähne aus seinem Gesicht. Scheu lächelte er mich an. „... ich habe dich da rein gezogen. Ich komme also mit um meiner Schuldgefühle Herr zu werden.“ Wütend sprang ich auf und lief ein paar Schritte in die Nacht. „Annabelle!“
„Lass mich in Ruhe! Ihr seid Monster. Alle beide!“ Michel hatte mich eingeholt und packte mich am Arm. „Annabelle! Sieh es endlich ein. Du gehörst jetzt zu uns. Ja, wir sind Monster! DU bist ein Monster!!!“

***

Draußen herrschte tiefschwarze Nacht als das Trio Infernale, namentlich Janko, Michel und ich, aus dem Flieger stieg. Widerwillig hatte ich mich den Wünschen der beiden Herren gebeugt. Meine dämliche Vernunft ließ sich ausnahmsweise nicht ausschalten. Alleine wäre ich noch verlorener gewesen, als ich es eh schon war. Außerdem reizte mich das Ziel unserer Reise.
Durch die verschmierten Fensterscheiben eines muffigen blauen Renaults sollte ich zum ersten Mal die wahre Königin der Nacht erblicken. Paris! Mit offenem Mund bestaunte ich die alten Fassaden, das blühende Nachtleben, die schimmernd dahin fließende Seine, die völlig zerkratzten Autos und den abenteuerlichen Fahrstil unseres Taxifahrers. Selbstmordkommando voraus!
Eines machte mir allerdings noch mehr Sorgen, als unser bevorstehender Unfalltod. Janko, der auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, war außerordentlich redselig. Er bequatschte den Fahrer schon seit dem Flughafen und alberte mit ihm im reinsten Französisch herum. Ich konnte mir nicht erklären weshalb, aber ich verstand und sprach plötzlich französisch. Auf dem Flughafen hatte ich Durchsagen in allen möglichen Sprachen gehört und verstanden, als wären sie meine Muttersprache. Nun, vermutlich handelte es sich dabei auch um eine der „angenehmen Nebenwirkungen“. Janko lachte übermütig über einen eher matten Witz des nach Rauch und Pisse stinkenden Parisers. Aus irgendeinem Grund ahnte ich, dass wir diese Taxifahrt nicht bezahlen mussten. Schaudernd drehte ich mein Gesicht wieder der faszinierenden Schönheit da draußen zu.

Während der letzten zwei Tage hatte mir Michel einiges über die Gattung der Vampire, der ich nun unglücklicherweise angehörte, erzählt. Anscheinend gab es mehrere Arten, die sich in Clans einteilten und einen ganzen Stoß Regeln, die peinlichst genau jede Aktivität der Clanmitglieder regelten und über deren Einhaltung der Rat der Clans eifersüchtig wachte. Es schien auch so etwas wie zwei rivalisierende Religionsgruppen zu geben. Für mich klang das alles sehr nach Ufo-Sekte. Und wofür Vampire eigene Religionen brauchten, konnte mir auch keiner der beiden Herrschaften erklären. Es war nun mal so.
Michel und ich gehörten dem ersten Clan an. Dem Clan des Lichts, die Kinder der Sonne. Deshalb hatte ich ihn bei Tage gesehen. Das Sonnenlicht konnte uns nicht schaden, solange wir die Augen davor schützten. Weshalb mich Michel regelmäßig ermahnte nie ohne Sonnenbrille aus dem Haus zu gehen. Janko dagegen gehörte zum zweiten Clan. Der Clan der Nacht, der, wie der Name sagt, nur nachts durch die Gegend schleicht. Der klassische Vampir also und der Grund weswegen wir nachts reisen mussten.
Die Nacht vor unserem Abflug, als Janko gerade dabei war neue Pässe zu verschaffen, spürte ich zum ersten Mal den Hunger. Kein normales Hungergefühl, bei dem man nur den nächsten Kühlschrank aufsuchen musste. Nein. Ein brennendes Knurren, dass sich im ganzen Körper ausbreitete und einen zum Schreien brachte. Ein Verlangen nach Nahrung, als hätte man jahrelang in der Wüste geschmort. Michel wollte mich auf die Jagd mitnehmen, aber ich konnte es nicht. Allein die Vorstellung einen Menschen töten zu müssen, machte mich halb wahnsinnig. „Du musst trinken, Anna! Gerade jetzt überlebst du keinen Tag ohne Blut.“ Doch ich schüttelte nur den Kopf. Je mehr er auf mich einredete, desto verstockter wurde ich. Seufzend hatte er schließlich aufgegeben. Was er dann aber tat, hätte ich keinesfalls erwartet. Mit einem kräftigen Biss lies er sein eigenes Blut aus dem Handgelenk rinnen. Fasziniert beobachtete ich den Fluss des roten Saftes. Ruhig rann es seinen Arm hinunter und tropfte auf den Boden, um dort eine dunkelrote Lache zu bilden. Der Strom schien nicht abreißen zu wollen. Ich fühlte wie meine Eckzähne zu Reißzähnen wurden, wie sich mein Körper langsam vorwärts schob und ich behutsam die Hand nach oben drehte. Sanft hatte er meinen Kopf näher heran gedrückt und die Wunde an meine Lippen gepresst. Eiskalt. Sein Blut war genauso kalt und leblos wie das meine. Vorsichtig wagte ich den ersten Schluck. Ich trank. Mit der Gier eines Kindes, das zum ersten Mal Kakao kostete, trank ich sein Blut. In eisigen Wellen durchströmte mich seine Kraft und der schmerzende Hunger entließ mich endlich aus seinen Klauen. Seufzend riss ich mich los und leckte meine Lippen sauber. Wie im Rausch schloss ich die Augen und horchte auf das Toben in mir. Und dann wurde mir bewusst, was ich gerade getan hatte. Erschrocken starrte ich Michel an. Er fuhr mit einer ruhigen Handbewegung über die verletzte Stelle und sie verschwand. Nicht einmal eine Narbe blieb zurück. Nur das eintrocknende Blut auf seinem Arm zeugte noch von meiner Tat. „Ich musste es auch erst lernen.“

„Wir sind bald da.“ Michel riss mich aus meinen Gedanken. Wohin fuhren wir eigentlich? Im Park blühten Krokusse und Schneeglöckchen. Ein Sterblicher hätte sie in der Dunkelheit übersehen, doch ich bewunderte ihre kleine Pracht. Mit atemberaubender Geschwindigkeit legte sich der Renault in die Kurve und verschaffte sich hupend und rammend seinen Platz. Hatten die Bewohner dieser Stadt denn gar keinen Respekt vor den sündhaft teuren Automobilen? Anscheinend nicht. Unser Taxifahrer bewies es zum wiederholten Male, als er so schwungvoll wie möglich einparkte. Vorn ein bisschen schieben, hinten ein bisschen rammen und schon passt ein Kombi Marke Großfamilie durchs Nadelöhr beziehungsweise in die winzige Parklücke. Am liebsten hätte ich es dem Papst gleich getan und beim Aussteigen den Boden geküsst. Anscheinend ging es Michel ähnlich. Er sah noch ein Stückchen blasser um die Nase aus, als sonst. Janko dagegen blieb gut gelaunt neben dem Fahrer sitzen und warf uns einen leider viel zu viel sagenden Blick zu. Michel führte mich schweigend vom Auto weg und in den dunklen Park. Nicht allzu weit entfernt hörte ich vielstimmiges Geplapper, Autos, die reifenquietschend um die Ecke drifteten und das sanfte Atmen schlafender Kinder hinter dicken Mauern. Im Dämmerlicht der orangeroten Straßenlampen schien alles an diesem Ort verzaubert. Ich nahm Paris mit all meinen vampirischen Sinnen in mich auf. Ich sah Dinge, denen ich als Mensch keine Beachtung geschenkt hätte, hörte geflüsterte Gespräche von der Parkbank weit vor uns, ich roch tausend Düfte gleichzeitig. Keineswegs alle angenehm, aber ganz und gar Paris. Ich fühlte wie die Stadt vor Leben bebte und sich vor mir ausbreitete wie ein Teppich, gewebt aus vielfältigsten Freuden und Leiden. Jedes Haus hier schien seine eigene Seele zu haben und jede Seele teilte ihre Gefühle mit allen, die sich auf dieses Abenteuer einlassen wollten. „Überwältigend, nicht wahr?“, hörte ich Michel flüstern. „Jedes Mal wenn ich hierher komme fühle ich es wieder.“ Ich konnte nicht anders, als ihn anzulächeln. Ja, es war überwältigend. Ich frage mich, ob ich als Mensch genauso berauscht gewesen wäre. Doch ich war nun einmal kein Mensch mehr. Sinnlos nach dem „was wäre wenn“ zu fragen. Außerdem knurrte mein Magen.
„Michel?“
„Mmm?“
„Ich habe Hunger.“
„Dann solltest du etwas essen.“
„Ha, ha, ha. Was haben wir gelacht.“ Mein Sarkasmus ließ sich einfach nicht unterdrücken. Aber das Knurren verschlimmerte sich mit jedem Schritt. „Michel? Bitte!“ Seufzend blieb er stehen und starrte mich eine Zeit nur nutzlos an. „Warte bis wir daheim sind, ok?“ Daheim? Hä? Das letzte daheim in meinem Leben hatte ich unabgeschlossen zurücklassen müssen. Meine beiden Herrschaften ließen mich nicht ein Stück aus meiner Wohnung mitnehmen. Könnte laut ihnen verdächtig werden. Schwachsinn! Als ob irgendjemandem ein paar fehlende Pullis oder ein fehlender Teddy auffallen würden.
Doch dieses „Daheim“ in das sie mich führten, sobald Janko sich von dem Taxifahrer losgerissen hatte, war atemberaubend. Eine riesige Wohnung mit noch größeren Fenstern und einer beeindruckenden Staubschicht auf den abgedeckten Möbeln. „Wie lang steht die Wohnung schon leer?“ Ich konnte einfach nicht umhin das zu fragen. Prüfend strich Janko über das hölzerne Fensterbrett und zog eine Spur, in der man Rosenstöcke hätte pflanzen können, so dick lag auch dort der Dreck. „Weiß nicht genau. Michel? Wie lange waren wir schon nicht mehr hier?“
„Dürfte so um die dreißig oder vierzig Jahre her sein.“ Mir blieb der Mund offen stehen und mit aller verfügbaren Kraft riss ich ein klemmendes Fenster auf um den Muff der Jahrzehnte zu vertreiben. „Glaubt ja nicht, dass ich das alles hier putze!“ Janko grinste spöttisch. „Ein bisschen wirst du schon mithelfen müssen, denk ich. Oder willst du in dem Dreck schlafen?“ Ich würdigte ihn hoheitsvoll keines Blickes und inspizierte die Wohnung. Eigentlich sehr schön. Wenn man sich die gigantischen Staubwolken wegdachte, die bei jedem Atemzug durch den Raum wirbelten. Ja, hier ließe sich einiges machen. Vier Zimmer. Ein altmodisches, aber funktionstüchtiges Bad. Gut, die Rohre müssten mal wieder in Schuss gebracht werden. Rostbraun erschien mir nicht die richtige Farbe für Badewasser. Zwei kleinere Zimmer. Eines davon mit einem mottenzerfressenen Himmelbett, das andere hatten seine Besitzer wohl als Abstellkammer benutzt. Es hatte nur ein winziges Fenster und in einer Ecke stand ein sehr alter, wurmstichiger Sarg, den Janko dort zurück gelassen hatte. Das erste Zimmer glich eher einem Tanzsaal. Hier gingen die Fenster vom Boden bis zur Decke und wurden durch schwere Gobelins verhängt. Ein gigantischer Kristallkronleuchter, gigantisch verstaubt, baumelte von der Decke, der Fußboden, soweit man das erkennen konnte, bestand aus hellem Parkett. An der linken Seite stand auf einem erhöhten, gefliesten Podest eindeutig ein mit Tüchern bedeckter Flügel. Ursprünglich war hier anscheinend die Küche, wie der alte Bollerofen bewies. Alles in allem würde man mit den richtigen finanziellen Mitteln ein Wohnparadies schaffen können und Janko und Michel hatten jede Menge Geld. Janko nahm es seinen Opfern ab. Egal ob er sie am Leben ließ oder nicht, die Brieftasche war sein. Woher Michel seine finanziellen Mittel her hatte, wusste ich nicht, nahm aber an, dass er dieselbe Methode anwendete. „Wenn wir heute Nacht noch anfangen, könnte in einer Woche alles fertig sein.“ Ah, wenn man vom Teufel spricht...Janko machte ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter und ich schloss mich ihm spontan an. „In einer Woche? Michel! Eine Putzkolonne von zwanzig Mann könnte das verdammt noch mal nicht in einer Woche schaffen. Die meisten Möbel hier könnt ihr wegwerfen. Allein die richtige Ausstattung zu finden, wird mindestens einen Monat dauern.“
„Jetzt übertreibst du, Töchterchen.“
„Nenn mich nicht Töchterchen“, zischte ich wütend. Mein Selbstbewusstsein hatte sich erstaunlicherweise als erstes vom Schock des Sterbens erholt. Vorsichtig zog Janko die Decken von den Möbeln ab. „Die sind doch noch ganz gut.“ Oh, ja. Das Louis-Seize-Canapee machte sich hervorragend neben dem quietschbunten Couchtisch aus Plastik. Ganz abgesehen von der klassischen Komposition Bollerofen und Mozartflügel. Das jedes einzelne Möbelstück von diversem Getier angenagt worden war, ließ ich mal völlig außer Acht.
„Ich mache dir einen Vorschlag, Prinzessin.“
„Ich höre?“
„Du übernimmst die Neugestaltung unserer vier Wände, ohne dass wir dir dazwischenfunken und du gehst dafür endlich mit uns zur Jagd.“ Also ging ich.

Der Club war zum Bersten mit Menschen gefüllt. Kaum ein Quadratzentimeter auf dem sich die Leute nicht auf die Zehen stiegen. Angewidert hielt ich die Luft an. Wieso zum Teufel musste mein Geruchssinn plötzlich so verdammt gut sein? Der Qualm der Zigaretten und die Ausdünstungen der Menschen nahmen mir den Atem. „Hier findest du am leichtesten ein Opfer“, hatte mir Janko erklärt und dabei wieder dieses ihm eigene fiese Grinsen aufgesetzt. Ja, klar. Welchen Grund könnte es sonst für einen Vampir geben sich derartigem Mief auszusetzen? Wütend dachte ich an Michel und unser schicksalhaftes Treffen. In der Disco findet man also die leichtesten Opfer. Alles klar. Grollend beobachtete ich meine beiden Herrschaften. Michel saß ruhig an der Bar und hoffte ganz auf seine mysteriöse Ausstrahlung. Janko dagegen machte sich gleich wortreich an eine ganze Gruppe von jungen Frauen heran. Ts, was sollte ich von diesen Helden halten? Sonst gurrten sie immer um mich herum und sprachen von Gemeinschaft – na ja zumindest tat das Michel – und jetzt ließen sie mich allein hier stehen. Ich hatte Hunger. Hunger kurz vor der Besinnungslosigkeit. Und sie wussten das. Sie ließen mich hier stehen, weil ich töten sollte. Heute Nacht sollte ich ganz allein jagen und töten. Bei dem Gedanken daran wurde mir schlecht. Jemand schob sich von hinten an mich heran und griff mir an die Hüften. Noch bevor ich dem Kerl für seine Dreistigkeit eine feuern wollte, fiel mir etwas anderes ein. Wieso nicht? Ein Arschgrabscher weniger auf der Welt. „So was hast du in deinem ganzen Leben nicht gefühlt, Süße!“ Angewidert spürte ich wie er sich an meinem Hintern rieb. Nein, um den wäre es bestimmt nicht schade!
„Du gehst aber ganz schön ran.“ Angestrengt lächelnd drehte ich mich zu ihm um. Groß, gar nicht mal hässlich, betrunken und spitz wie Nachbars Lumpi. Er hopste vor mir herum, als hätte er eine Ameisenkolonie in seiner viel zu engen Hose. Laut eigener Aussage imitierte er Michael Jackson. Michael Jackson? Ja, besoffen, mit zwei Kilo Koks in der Nase und einer Lachgasvergiftung. Ich ließ mich von „Jackson“ einladen und trank ein Bier nach dem anderen. Früher wäre ich bei diesem Besäufnis aus den Latschen gekippt und irgendjemand hätte mich unter dem Tisch wiederbeleben müssen, doch jetzt zeigte der Alkohol nicht die leiseste Wirkung an mir. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Jackson immer noch an seiner ersten Flasche nippte und ich spürte seine schweißige Hand auf meinem Oberschenkel. Ich spielte mit. Ich ließ mich abfüllen und torkelte schließlich mit oscarreifer Schauspielkunst an ihn geklammert die Treppe hinunter. Er führte mich direkt zu seinem verrosteten Golf, in den ich kichernd und hicksend einstieg. Und der Oscar geht an ...
Er lenkte seinen Wagen auf einen von Bäumen umringten Parkplatz, blieb stehen und schaltete den Motor aus. Kaum einen Augenblick später fiel er über mich her. Offensichtlich war ich ihm nicht mal eine Entschuldigung a la „Der Motor ist kaputt“ wert. Ungestüm fordernd zwang er mir seine Küsse auf. Oder besser gesagt, er sabberte mir das Gesicht voll. Igitt! Seine Hand rutschte unter meinen Rock, die andere hielt mich an den Sitz gepresst.
Grob packte ich sein Handgelenk und drückte zu. Knackend gaben die Knochen nach und er ließ laut fluchend von mir ab. „Spinnst du? Du Miststück!“ Ruhig ließ ich seine Beschimpfungen über mich ergehen. Mein Blick haftete auf seiner Halsschlagader. Einer Katze gleich zog ich mich über ihn und verriegelte die Tür. Mein Gesicht berührte seine Stirn. Ich spürte wie er zusammenzuckte und ganz still wurde. Triumphierend lächelte ich. „Was hast du vor?“ Er wisperte. Mit einem Mal schien er sehr nüchtern und hatte die Augen weit aufgerissen, als wüsste er was ihm nun blühte. „Weißt du was? Keiner wird dich vermissen!“ Und mit der Schnelligkeit einer zuschlagenden Schlange vergrub ich meine Zähne in seinem Hals. Warmes, süßes Blut floss aus seinem Körper und ließ mich wohlig erschauern. Er schlug um sich und stemmte sich mit verzweifelt gegen meinen Griff. Ich schlug seinen Kopf gegen die Seitenscheibe und seufzend wurde er ohnmächtig. Mit geschlossenen Augen ließ ich Zug um Zug neue Schauer durch meine Adern rauschen. Erst als sein Herz aufhörte zu schlagen, ließ ich widerwillig von ihm ab. Tief atmend saß ich auf dem Beifahrersitz, vor mir die Leiche des Jungen. Ich sah ihn genauer an. Ein zarter Bartflaum war zu erkennen. Er war noch gar nicht so alt. Kaum zwanzig. Entsetzt sah ich auf das blutleere Gesicht und die nur halb geschlossenen Augen. Er sah mich an! Durch seine dünnen Wimpern hindurch sah er mich an! „Mein Gott.“ Langsam begriff ich meine Tat. „Was habe ich getan?“ Ungläubig strich ich mir über die Augen. Nein, er ging nicht weg. Er saß, den Kopf an die Fensterscheibe gelehnt, zusammengesackt auf seinem Sitz und sah mich vorwurfsvoll an. Meine Lippen troffen noch von seinem Blut. Mit dem Handrücken wischte ich sie ab und starrte auf das seltsame Rot. „Was hab ich getan?“ Hastig schloss ich das Auto wieder auf und stolperte hinaus auf den Parkplatz. Auf dem rauen Asphalt riss ich mir die Knie auf, als ich auf allen Vieren davon kroch. „Mein Gott.“
„Was hast du getan! Annabelle, was hast du getan!“ Die Stimmen der Nacht schrien mich an, anklagend starrten die schwarzen Schatten auf mich herunter. Die Nacht, die gesegnete, schöne Nacht, verwandelte sich in die Hölle auf Erden. „Was hast du getan!“ Die Stimmen kreischten, dass mir die Ohren klingelten. Schluchzend kauerte ich mich unter dem nächsten Baum zusammen. „Was hast du getan!!!“ Ich hielt mir die Ohren zu und wiegte mich hin und her, während die Stimmen weiter kreischten. Eine Hand legte sich auf meine Schulter und schreiend fuhr ich herum. Doch kein Racheengel mit erhobenem Flammenschwert stand dort hinter mir, sondern eine wohlbekannte Gestalt kauerte sich neben mich und nahm mich sanft in seine Arme. Die Stimmen verklangen und als ich endlich nicht mehr weinen konnte, ging Michel schweigend zu dem Toten und schloss ihm die Augen. Zitternd wandte ich meinen Blick ab. „Es ist immer schwer zu töten – das erste Mal“, hörte ich von weit oben. Abwartend stand er vor mir. An seiner angebotenen Hand zog ich mich hoch. „Du bist jetzt eine von uns, Anna.“ Sacht lenkte er mich zur Straße, wo ein Taxi auf uns wartete. „Du bist ein richtiger Vampir, Anna. Eine Vampirella.“ Er lächelte, doch in seinen Augen spiegelte sich nicht Freude sondern Trauer. Ich blieb stumm. Meine Tränen versiegten. Zum ersten Mal hatte ich gespürt, was es hieß ein Vampir zu sein. Ja, ich hatte diesen Jungen getötet. Ich hatte seine letzten Atemzüge gespürt. Ich hatte gefühlt wie das Leben wich und der Tod ihn holte. Und bei Gott, ich wollte es nie wieder fühlen!

***

Es dauerte tatsächlich einen Monat trotz der Unterstützung einer engagierten Putzkolonne, bis unser Zuhause bewohnbar war. Währenddessen lebten Michel und ich in einem angrenzenden Hotel und Janko schlief tagsüber in seinem neuen Sarg im Keller unseres Hauses. Der alte war das erste Teil, das ich in hohem Bogen aus dem Fenster geworfen hatte. Doch endlich stand ich in den restaurierten Räumen und bewunderte mein Meisterwerk. Die Wände strahlten in einem sanften Gelb, das Parkett glänzte und die schweren Gobelins waren durch leichtere Vorhänge ersetzt worden. Das Schwarz des Flügels schimmerte wieder im Licht des Kristallleuchters. Wenn ich mich auf das rote Sofa fallen ließ, drohte mir nun nicht mehr die Gefahr einer Staublunge. Janko und Michel zeigten sich beeindruckt, auch wenn sie nicht verstehen konnten, warum ich eine Küche einbauen ließ. Völlig nutzlos, aber ich wollte sie unbedingt haben. So genau verstand ich es selbst nicht.
Während dieses Monats ging Michel mit mir auf die Jagd. Er zeigte mir, wie ich trinken musste, um meine Opfer nicht zu töten. Ich trank, während sie schliefen und in ihrer Erinnerung war ich nichts weiter als eine Randnotiz in wirren Träumen. Ich lernte mit meiner Blutgier zu leben, sie zu drosseln, doch trotz allem blieb ich ein Kind. Eine Neugeborene unter den Vampiren.
Der Mensch in mir weinte bei jedem Biss und jeder Augenblick, den ich durch meine geschärften Sinne wahrnahm, wurde mir zur Qual. Wenn ich die Menschen durch die Straßen hetzen sah und durch die getönten Gläser meiner Sonnenbrille beobachtete, lächelte ich. Ich lächelte, damit sie mich anlächelten. Und es war ein unglaubliches Gefühl wenn sie meine Freundlichkeit erwiderten. Als würde ich noch zu ihnen gehören und wäre kein widerliches Subjekt, das einem Horrorstreifen entflohen war.

Die Tage vergingen. Aus den Tagen wurden Wochen und aus den Wochen Monate. Und in diesen Monaten badete ich voller Wonne im Selbstmitleid. Janko und Michel ließen mich in meiner Melancholie, bis es mir eines Tages selbst zuviel wurde.
Als ich gegen Mittag die Augen aufschlug und auf das zart weiße Dach meines Himmelbetts starrte, wurde mir plötzlich klar, wie viel ich schon von meinem Leben verpasst hatte. „Finde dich mit deinem Leben ab“, hatte mir Janko geraten. „Es wird noch sehr lange dauern.“ Wenn also mein Leben, oder wie auch immer man meinen derzeitigen Zustand bezeichnen konnte, noch viele Jahre oder sogar Jahrhunderte dauern würde, war es dann nicht an der Zeit endlich damit zu beginnen? Mit neuem Schwung riss ich die Schranktüren auf und wunderte mich über die gähnende Leere darin. Draußen schien die Sommersonne in ihrer vollen Pracht, aber in den Regalen lagen nur abgetragene Hosen und lange Pullover. Lächelnd schlüpfte ich in mein einziges Kleid, schnappte mir meine zerfledderte Handtasche und setzte die Sonnenbrille auf, die Janko mir geschenkt hatte. Michel blickte verwundert von seiner Tageszeitung auf, als ich summend ins Wohnzimmer stolzierte.
„Heute so fröhlich?“
Alles was ich tat war ihn anzulächeln und in meine Sandalen zu schlüpfen.
„Wo willst du denn hin?“ Zwinkernd griff ich in seinen Geldbeutel und holte mir ein paar schöne, große Scheine heraus. „Einkaufen!“

Drei Metrostationen und vier Querstraßen weiter stürzte ich mich ins Getümmel. Fast schon am Fuße des Mont Matre betrat ich das beeindruckendste Kaufhaus, das ich je gesehen hatte. La Fayette! Die bunte Glaskuppel tauchte die Galerien des Hauses in ein magisches Licht und überall lockten in den riesigen Hallen die sündhaft teuren Versuchungen. „Tres chic Mademoiselle! Tres chic!“, die Verkäuferin jauchzte vor Vergnügen, während ich mich mit dem kritischen Blick aller Frauen vor dem Garderobenspiegel drehte und wendete. Das Kleid war wirklich nicht übel. Kurz und klassisch geschnitten, ein hübscher Rückenausschnitt, herrlich anschmiegsamer dunkelblauer Stoff und vor allem – keine Übergröße! Ja, diese kleine Nebenwirkung, wie Janko es genannt hatte, hatte durchaus seine Vorteile. Ich genoss es mir ein Kleid nach dem anderen vom Ständer zu holen, ohne Angst haben zu müssen, ich könnte darin aussehen wie Miss Piggy im Neoprenanzug.
Ich wühlte mich durch alle Stockwerke, probierte hier, kaufte da und wälzte mich im Konsum. Und plötzlich, als ich mit Taschen beladen durch die Spielzeugabteilung schlenderte, fühlte ich es. Es war kaum mehr als eine unbestimmte Ahnung. Ein Kitzeln im Nacken oder ein Schauer, bei dem sich einem die feinen Härchen am Arm aufstellten. Unsicher blickte ich mich um. Ich war von Menschen, insbesondere von noch recht kleinen Menschen umgeben, die mich kaum eines Blickes würdigten. Nur ein kleines Mädchen im Kinderwagen beobachtete mich neugierig. Einen Finger im Mund wippte sie fröhlich hin und her. Sie konnte nicht der Grund für meine Nervosität sein.

Doch das Gefühl verfolgte mich weiter mit jedem Schritt und mit jedem Schritt wurde mir unbehaglicher zumute. Irgendetwas stimmte hier nicht. Wieder drehte ich mich um und suchte die Gegend ab, ohne überhaupt zu wissen, wonach ich Ausschau hielt. Und dieses Mal sah ich sie. Sie stand an ein Regal gelehnt im hintersten Eck des Raumes und fixierte mich mit einem seltsam starren Blick. Ein dunkler Zopf fiel über ihre Schulter und keine Regung zeigte sich in ihrem schmalen Gesicht. Fast glaubte ich schon auf eine Schaufensterpuppe hereingefallen zu sein, doch dann zog die Puppe ihren Mund zu einem überheblichen Lächeln und kam mit federnden Schritten auf mich zu. Einem Instinkt folgend drehte ich mich um und lief davon. Hinter mir hörte ich die überraschten Schreie der Menschen, die ich zur Seite gedrängt hatte und ein kehliges Lachen.

Das hastige Klappern meiner Schuhe auf dem harten Asphalt der Gehsteige endete nicht bevor ich mich völlig fertig und verwirrt auf die Stufen der alten Oper niederließ. Was sollte das? Was war da mit mir durchgegangen? Müde massierte ich mir die Schläfen. Bisher war ich davon ausgegangen, dass mir diese Angewohnheit beim Nachdenken helfen würde, aber dieses Mal brachte diese Taktik gar nichts. Oder nur sehr wenig. Irgendeine Bedrohung ging von dieser Frau aus, aber welche? Ich wusste nicht, warum ich davongelaufen war, aber ich wusste, dass ich richtig gehandelt hatte. Es war als hätte mich etwas tief in mir dazu veranlasst. Ein Instinkt, den ich mir mit menschlicher Vernunft nicht erklären konnte.

Nachdenklich und reichlich angespannt spazierte ich nach Hause, wo mir Michel mit großem Hoho die Tür aufhielt und mir ein wenig von meiner Last abnahm. Mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtete er die wundersame Verwandlung seiner Finanzen in Kleidungsstücke und Accessoires für meinen Kleiderschrank.
„Was ist denn das?“ Mit spitzen Fingern hob er ein winziges, durchsichtiges Stück Stoff in die Höhe, das ich ihm rasch wieder aus der Hand riss und zurück in die Tüte stopfte. Wieder schnellte eine schwarze Augenbraue nach oben. „Aha.“ Themawechsel! Themawechsel!
„Michel, was hat es zu bedeuten, wenn ich vor einer fremden Frau davonlaufe?“ Meiner Frage folgte nur ein erstaunter Blick.
„Du bist vor einer Frau davongelaufen? Vor einer Frau?“
„Ja, vor einer Frau. Gibt es einen Grund, warum du das ständig wiederholst?“ Michel knabberte an seiner Unterlippe. Inzwischen lebte ich lange genug mit ihm zusammen um zu erkennen, dass das seine Art des Nachdenkens war.
„Warum bist du weggelaufen? Ging eine Bedrohung von ihr aus?“
„Es war komisch. Ich habe ihre Gegenwart gespürt, bevor ich sie sehen konnte. Und als sie auf mich zukam, hab ich mich umgedreht und bin gerannt. Ohne überhaupt nachzudenken.“
„Und sie war menschlich?“ Wieder nickte ich, wenn auch sehr zögerlich. Seufzend lehnte sich Michel zurück.
„Eigentlich hätte ich’s mir denken können. Du bist einer Halben begegnet, Anna. Ich habe dir doch von ihnen erzählt. Der dritte Clan besteht nur aus ihnen. Eigentlich gibt es nicht viele von denen, aber die Wenigen die ihr Unwesen treiben, sind Jäger.“
„Und was jagen sie?“
„Uns, Anna. Sie jagen Vampire.“
„Warum?“
Michel zuckte mit den Schultern und stöberte wieder in meinen Einkäufen. „Wie kann eine einzige Frau soviel Zeug auf einmal kaufen?“
„Es ist eine Kunstform, die Männer, egal ob menschlich oder vampirisch, niemals verstehen werden.“ Kokett lächelnd schnappte ich mir meine tausend Tüten und trippelte barfuss in mein Zimmer. Ich ahnte, was mir heute Nacht noch blühen würde. Ein langer, ermüdender Vortrag von Michel über die Clans der Vampire und schallendes Gelächter von Janko.

„Es gibt fünf Clans in die sich die Vampire gliedern. Zwei von ihnen kennst du bereits, mit einem weiteren Clan hast du heute Bekanntschaft gemacht. Der Clan des Lichts, der Clan der Nacht und den Clan der Mitte, dem die Halbvampire angehören. Halbvampire sind selten. Es setzt voraus, dass sich ein Vampir und eine menschliche Frau fortpflanzen. Passiert ungefähr einmal in zehn Jahren. Wenn überhaupt. Die einzigen, die noch seltener sind, sind die Vampire des vierten und fünften Clans. Erstere ernähren sich hauptsächlich von der Furcht kleiner Kinder. Sie sind kaum als materiell zu bezeichnen und verschwinden bei direkter Konfrontation in einer Nebelwolke.“

„Wir nennen sie Kinderschreck.“ Janko kicherte amüsiert. „Ich kann mir bis jetzt noch nicht erklären, warum die sich überhaupt Vampire nennen dürfen.“
„Dürfte ich bitte weiterreden, Janko? Ich versuche ihr etwas beizubringen.“ Janko schmunzelte, hielt aber den Mund. Michel fuhr fort.
„Die Glückskinder, also der fünfte Clan, ist einer der kompliziertesten. Sie erfüllen den Menschen ihre innigsten Wünsche“
„Das klingt doch gut.“
„Ja, zuerst. Aber sie verlangen immer den höchsten Preis. Stell dir vor, jemand bittet um das Leben seines Kindes. Die Glückskinder werden alles daran setzen um dieses Kind am Leben zu erhalten. Selbst wenn es heißt, dass es dafür unvorstellbar leiden muss, oder ein anderer Mensch dafür geopfert werden muss. Zuerst scheint es, als würden sie Glück bringen und dann entreißen sie es den Menschen unter grausamen Bedingungen wieder. Je brutaler sie dabei vorgehen, desto mehr Spaß macht es ihnen. Je mehr Reue der Beschenkte über seinen unüberlegten Wunsch empfindet umso fetter und kräftiger werden sie. Sie sind der Grund warum die Menschen sagen, dass man sich vor seinen Wünschen hüten soll, denn sie könnten in Erfüllung gehen. Die Mitglieder dieser beiden Clans leben extrem lange und vermehren sich so gut wie nie.“

„Und beide glänzen durch außergewöhnliche Blödheit“, gab Janko seinen unqualifizierten Zwischenruf ab.
„Die Mitglieder dieser beiden Clans“, zischte Michel, „haben ein erstaunlich geringes Erinnerungsvermögen. Oft erinnern sie sich nur an ein Jahrhundert, auch wenn sie schon tausende von Jahren existieren. Hörst du mir überhaupt zu?“ Mühsam unterdrückte ich ein Gähnen und nickte schwerfällig.
„Wie lange brauchst du noch? Ich würde nämlich gern noch was essen gehen, bevor die Nacht um ist und ich meine durchschnittlich fünf Stunden Schlaf brauche, Herr Lehrer.“ Michel biss wieder eine Weile auf seinen Lippen herum und ging dann zur Tür.
„Na endlich!“ Janko sprang von seinem Sessel auf und war schon aus der Wohnung, während ich noch nach meinen Schuhen angelte.

***

Die kleine Wohnung war nicht besonders gepflegt, um es vorsichtig auszudrücken. In den diversen Ecken stapelten sich die Abfalltüten und bei jedem Schritt wurde ich aus schlitzförmigen, leuchtenden Augen beobachtet. An die fünfzehn Katzen tummelten sich miauend und fauchend im Schlafzimmer. Michel verscheuchte sie mit einem einzigen, scharfen Blick. Ich hatte schon früher bemerkt, dass er offenbar ein sehr seltsames Verhältnis zu Tieren hatte.

Ein alterndes Pärchen lag schlafend in dem erstaunlich prachtvollen Himmelbett, an dessen Seite mich Michel zu sich winkte. Vorsichtig strich er die grauen Haare der Frau zur Seite. Seine Augen schimmerten unheimlich und stumm bat er mich zu trinken. Leise kniete ich mich an ihre Bettseite und senkte den Kopf. Unter meinen Lippen spannte sich ihre Haut wie brüchiges Pergament und als sich meine Zähne in ihren Hals bohrten, hörte es sich an wie eine Klinge, die durch Papier fährt. Eine dicke schwarze Katze beobachtete mich neugierig, während ich mich wieder dem ersehnten Rausch hingab.

„Anna. Es ist genug.“ Michels Stimme riss mich aus der Trance. Sanft aber bestimmt zog er mich an den Schultern zurück. Er strich ihr vorsichtig über die blutenden kreisförmigen Löcher. Staunend wie jedes Mal beobachtete ich wie sich die Wunden langsam schlossen.
„Zeigst du mir, wie das geht?“ Michel nickte nur, nahm meine Hand und führte sie über die kleinen Einstiche. „Konzentriere dich. Du musst dem Fleisch helfen, sich an seine ursprüngliche Form zu erinnern.“ Versuchsweise konzentrierte ich mich und stellte mir den Hals der Frau unversehrt vor. Wärme strömte durch meinen Arm und in die Fingerspitzen. Die runden Punkte zogen sich zusammen, bis sie auf die Größe von einfachen Sommersprossen schrumpften. Stolz betrachtete ich mein Werk. Das ging ja ganz leicht. Michel streichelte ein monströses, schwarzes Vieh von Kater, das mit Baritonstimme unter seiner Zärtlichkeit schnurrte. Der Perser streckte sich und gähnte herzhaft, so dass man seine spitzen Zähnchen sehen konnte.
„Hey Michel, dein Zwillingsbruder.“ Er reagierte nur mit irritierten Blicken und legte zum Schweigen mahnend einen Finger auf den Mund. Lautlos beugte er sich nun zu dem Mann herunter und nahm ihm sein Blut so geschickt und schnell, dass nicht ein verräterischer Tropfen auf der Haut kleben blieb. Es hatte etwas Gespenstisches an sich, als er sich nach kaum einer Minute wieder aufrichtete und sich einige Blutstropfen aus den Mundwinkeln wischte. Die alte Frau wälzte sich im Schlaf herum und ächzte leise. Stumm bedeutete er mir, dass es Zeit war zu gehen.

„Warum jagt Janko nicht mit uns?“ Michel schwieg sich noch immer aus und legte es anscheinend darauf an, dass mir der Kragen platzte. „Michel, zum Teufel, rede endlich!“
„Hast du nicht irgendwann mal geschworen, Janko und mich bis in alle Ewigkeit zu hassen?“ War das jetzt ein Schuss ins Blaue oder wusste er tatsächlich von meinem gebrochenen Schwur?
„Ja und? Was hat das mit meiner Frage zu tun?“
„Ich antworte nun mal gerne mit Gegenfragen, chérie.“ Tief Luft holen, Annabelle. Ganz ruhig bleiben.
„Jaaaa, ich habe es mir fest vorgenommen und irgendwann werde ich es auch lernen. So du hast deine Antwort. Wo bleibt meine?“

Michel starrte in die Dunkelheit und beschleunigte seine Schritte. Fast konnte ich seine Gehirnwindungen rattern hören, als er zum xten Male auf seinen Lippen kaute.
„Es ist nicht so einfach darauf zu antworten. Als ich noch jung war, neugeboren wie du, brachte mir Janko das Jagen bei. Er war mein Lehrer, so wie ich nun deiner bin. Aber seine Art der Jagd gefiel mir nicht. Er hatte die Angewohnheit niemandem einen Vorteil zu bieten und so pflasterte er seinen Weg Nacht für Nacht mit blutleeren Leichen. Mann, Frau, Kind, alt oder jung, reich oder arm, ihm war das gleichgültig. Er war erbarmungslos wie der Tod selbst, der alle Menschen ohne Unterschied holt. Ich glaube, manchmal hielt er sich tatsächlich für den Tod. Aber ich konnte das nicht. Janko hielt mich für verweichlicht und beschimpfte mich oft genug als Schwächling, bis ich allein auf die Jagd ging und dabei ist es bis heute geblieben. Ich bin mir sicher, dass auch du eines Tages deinen eigenen Weg gehen willst, Anna. Aber bis dahin bringe ich dir bei, was ich weiß.“ Interessiert hatte ich zugehört und dabei versucht mit ihm Schritt zu halten, was gar nicht so einfach war. Manchmal kannte man ihm seine Jahrhunderte durchaus an. Zum Beispiel in diesem Augenblick, als er plötzlich von einer Sekunde auf die andere gut fünfzig Meter von mir entfernt im Lichtkegel einer Straßenlaterne stand. Ich hasste es wenn er durch irgendwelche vampirischen Tricks seine Überlegenheit demonstrierte. Rasch holte ich ihn wieder ein.

„Du wirst stärker, Anna.“
„Hm.“ Mühsam versuchte ich das aufsteigende Keuchen zu unterdrücken. Meine Kräfte mochten vielleicht zunehmen, aber die Reaktionen meines Körpers in punkto Anstrengung waren noch verdammt menschlich. Michel bemerkte es nicht, oder er wollte es nicht bemerken. Er starrte hoch in den schwarzen Nachthimmel.
„Es gab mal eine Zeit ohne Straßenlaternen und Neonlicht. Damals konnte ich die Sterne über Paris noch erkennen. Jetzt ist es zu hell dafür.“
„Und? Gehen wir heute noch weiter, Monsieur Philosoph?!“ Plötzlich zog er mich in seine Arme und küsste mich. Die Augen vor Überraschung weit aufgerissen, stieß ich ihn wieder von mir. Was zum Henker sollte denn das darstellen?
„Gute Nacht, Anna. Gute Nacht.“ Und weg war er.

Irgendwo zwischen Wut, Verwirrung und lautstarken Flüchen schwankend, fand ich dann auch den Weg nach Hause. Wieso hatte er das getan? Er war ein Vampir, verdammt noch mal! Vampire mögen mit den Sterblichen spielen, ihnen Leidenschaft und vielleicht sogar Liebe vorgaukeln, aber einander selbst? Es gehört sich einfach nicht, ebenso mit einem seiner Art zu spielen. Es war eine Frage der Moral, meiner Ansicht nach. Dieser Dreckskerl!
Oder hatte er mir gar nichts vorgespielt? War es wirklich ein Anflug von Romantik, die in meinem sonst so schweigsamen Lehrer ein williges Opfer gefunden hatte? Vielleicht war er ja wirklich in mich verliebt und er hatte mich deshalb geküsst? Schwachsinn! Ein Vampir und Liebe! Hat man so was schon gehört? Dieser verdammte Blutsauger! Wahrscheinlich hat er das alles absichtlich gemacht um mich zu testen oder sich am Chaos meiner Gefühle zu erfreuen.

„Soll dich doch der Teufel holen, Michel“, zischte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Wieso hatte er mich eigentlich nicht sterben lassen? Als ich mit dem Gesicht voran im Straßendreck lag und mich schon darauf eingestellt hatte, gleich meine verstorbenen Anverwandten begrüßen zu können. Wieso eigentlich? Immer noch grübelnd schlich ich die Treppe zum Keller hinunter. Vielleicht….

„Gib dir keine Mühe. Ich habe dich schon längst bemerkt, Kleines.“ Sehr menschlich zuckte ich zusammen. Was musste sich Janko auch immer in den düstersten Winkeln verstecken. Aber ich hatte im Moment absolut keine Lust mich über ihn zu ärgern.
„Darf ich dir eine Frage stellen?“ Betont gelangweilt schloss er die Tür zu unserem Kellerraum auf. „Wenn’s sein muss.“ Ich folgte ihm und während Janko die Fensterschächte lichtdicht verriegelte und seinen Sarg öffnete, machte ich es mir auf seiner alten Kleidertruhe gemütlich.
„Janko?“ Ein tiefes Brummen antwortete mir.
„Warum hast du’s getan?“ Er richtete sich leicht auf. Anscheinend war er nun doch interessiert. Seine kalten Augen blitzten gefährlich in der Dunkelheit. Doch auf einmal überzog ein warmer Schimmer seine schwarzen Pupillen.
„Warum habe ich was getan?“, fragte er mich so sanft, wie ich es von ihm noch nie gehört hatte.
„Warum hast du mich nicht einfach sterben lassen? Ich wäre doch nur ein dummes totes Mädchen gewesen, eine Schlagzeile, die man schnell wieder vergisst. Warum hast du mich zu… zu so was gemacht?“ Ich deutete an mir herunter. Langsam und nachdenklich, als müsste er erst jedes Wort zweimal überdenken, antwortete er mir endlich.

„Du wusstest bescheid. Über mich und Michel. Hätte ich dich am Leben gelassen, wärst du entweder in die Klapsmühle gewandert, oder wärst, was wahrscheinlicher ist, da du nicht vollkommen blöd bist, unser Feind geworden. Du bist hartnäckig, Kleines. Du hättest uns niemals einfach vergessen können und eines Tages wären wir uns zwangsläufig wieder über den Weg gelaufen und du hättest alles daran gesetzt uns zu töten. Verstehst du, Annabelle? Wenn man den Feind nicht besiegen kann, muss man sich mit ihm verbrüdern.“
„Aber warum hast du mich nicht sterben lassen? Das war doch meine Frage, Janko.“
„Weil ich Michel damit verloren hätte. So einfach ist die Geschichte. Hätte ich dich getötet, meine Kleine, hätte ich einen sehr wertvollen Gefährten und meinen besten Freund verloren. Michel ist in seinem Herzen noch immer der gleiche Mensch wie vor dreihundert Jahren. Seine Seele ist noch nicht gestorben, wie bei den vielen anderen von uns. Deshalb sehnt er sich auch so nach menschlicher Freundschaft. Michel wollte dich niemals als sein Opfer, Annabelle. Auch wenn du es nicht glaubst, es ist die Wahrheit.“
„Aber wofür wollte er mich dann?“
„Ist das nicht offensichtlich, Töchterchen?“ Ich trommelte mit den Fingerspitzen auf dem Deckel der Truhe herum. Irgendwie konnte ich nicht glauben, dass Michel mich als Freundin wollte.
„Kleines? Ich muss jetzt schlafen.“
„Oh, Entschuldige.“ Aus den Augenwinkeln sah ich wie Janko den Deckel seines Sarges verschloss, als ich aus der Tür und hinauf in die Wohnung eilte.

Auch ich war müde. Sehr müde sogar. Die Ereignisse der vergangenen Stunden ließen meine Gedanken und Gefühle sprichwörtlich Karussell fahren. Die Beine angezogen saß ich auf einem der niedrigen Fensterbretter im Wohnzimmer. Unter mir rumpelte es und das Singen der jungen Wirtin vom Cafe unter uns drang unnatürlich laut an mein Ohr. Die ersten Autos ratterten über das Kopfsteinpflaster der engen Straßen und die Farbe des Himmels wechselte langsam von schwarz nach grau, um mich schließlich mit einem zarten rötlichen Schimmer daran zu erinnern, dass ich eigentlich ein Kind der Nacht war. Der Gesang wurde dumpfer, die lärmenden Autos hörte ich nur noch wie durch Watte.
„Die Sonne geht auf.“ Ich murmelte nur noch und schlief schließlich, den Kopf an das Fenster gelehnt, ein


Ein energisches Klopfen an unserer Wohnungstür riss mich aus meinem Schlaf. Rasch kniff ich die Augen fest zusammen und suchte blind nach meiner Sonnenbrille.
„Nimm die hier.“ Michel drückte mir meinen überdimensionalen Verdunkler in die Hand. Diese verdammte Sonnenbrille war viel zu groß. Wahrscheinlich hatte er sie noch aus den Sechzigern hinübergerettet. Michel öffnete schon die Tür, vor der eine sehr aufgeregte und sehr nervöse junge Frau stand.
„Pardon, aber ich wollte mich erkundigen, ob sie – na ja, ihre Wohnung … also ob Sie jetzt nun ebenfalls einen Schaden haben? Ich meine einen Wasserschaden! Mein Sohn hat die Badewanne zu lange laufen lassen. Wir wohnen direkt über Ihnen.“

Dieses absolut bezaubernde Geschöpf lächelte entschuldigend und fuhr sich durch das, zu unzähligen Zöpfen geflochtene, schwarze Haar. Ihre Zähne blitzten strahlend in dem kaffeebraunen Gesicht, als Michel ihr versicherte, dass er sofort nachschauen wolle. Ich bat sie höflich herein und dankte allen Göttern, ob meiner genialen Idee in einem Vampir-Haushalt eine Küche einzubauen, während ich unserer Besucherin ein Glas Orangensaft anbot.
„Oh, danke sehr. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, oder? Nein? Ich bin Marie Bassé. Ich wohne ein Stockwerk drüber, aber in einer viel kleineren Wohnung. Ihre Wohnung ist so groß und wunderschön! Sie müssen bestimmt sehr reich sein, Madame … Oh, Verzeihung. Ich wollte nicht indiskret sein.“
„Ich heiße Anna und ich bin dafür, dass wir die Madame weglassen. Da komm ich mir so alt vor“, zwinkerte ich hinter meiner Sonnenbrille. „Und nein, wir sind nicht reich. Diese Wohnung ist ein Erbstück, sozusagen. Ich und Michel wohnen hier zusammen, weil’s billiger kommt, wenn zwei die Rechnung bezahlen.“ Habe ich erwähnt, dass ich es hasse zu lügen? Marie hatte mir eh nur mit halbem Ohr zugehört. Ihr Blick schweifte durch den Raum und blieb an dem Kristallleuchter hängen. Ihre Finger, denen man jahrelange schwere Arbeit ansah, befühlten den Stoff des Sofas.
„Ihre Wohnung ist wirklich wunderschön!“ Ich bedankte mich zum wiederholten Male für das Kompliment und freute mich, dass meine tägliche Putzarbeit wenigstens von ihr bemerkt wurde. Meine beiden Herren nahmen die allgemeine Ordnung inzwischen als völlig selbstverständlich hin, wofür ich sie am liebsten erwürgt hätte.

„Kommen sie aus Italien? Wegen ihrem hübschen Vornamen. Aber nein, ich habe noch nie eine Italienerin mit roten Haaren gesehen. Und sie wären auch viel zu blass für Südeuropa. Verzeihung, ich bin wohl wieder viel zu neugierig, oder?“ Ich lächelte nur. Es tat gut, sie sprechen zu hören. Jedes ihrer schnell dahin gesprochenen Worte erschien mir wie eine Offenbarung und erst jetzt fühlte ich, wie sehr mir die ganze Zeit ein normales Gespräch mit einem normalen Menschen gefehlt hatte.
„Wie alt ist denn Ihr Sohn, wenn ich fragen darf?“
„Ach, René ist noch recht klein. Gerade vier, aber schon fast fünf.“ Stolz klang in jeder Silbe mit. Erwartungsvoll blickte sie Michel entgegen, der seine Zimmerinspektion anscheinend beendet hatte. Er schüttelte beruhigend den Kopf.
„Bei uns ist alles in Ordnung. Kein Grund zur Panik.“
„Gut, wenn alles in Ordnung ist, werde ich mich wieder verabschieden. Ich muss wieder nach oben, bevor mein Junge noch auf die Idee kommt, ein Lagerfeuer in der Küche zu entzünden. Wenn ich in der Arbeit bin, hat er anscheinend nichts Besseres zu tun, als Unfug zu machen. Aber na ja, Kinder! Sie wissen ja. Danke für den Orangensaft, Anna. Es war nett Sie kennen zu lernen. Auf wieder sehen, Monsieur. Entschuldigen sie die Störung.“ Kaum war die Tür ins Schloss gefallen und Maries polternde Schritte auf der Treppe zu hören, fasste mich Michel am Arm.

„Denkst du dasselbe wie ich?“
„Woher soll ich wissen, was DU denkst, bitteschön? Bin ich Hellseher?“
„Gut, dann vergiss es.“ Eigentlich hätte ich mir kräftig auf die Zunge beißen sollen, aber die Frage war viel zu schnell über meine Lippen gehuscht, als dass ich sie hätte einfangen können. „Soll ich deine Show von heute Nacht auch vergessen?“ Seine blauen Augen funkelten mich an. Es stimmte tatsächlich. Ich konnte wirklich nicht Gedanken lesen, geschweige denn, Michels Blick in diesem Moment deuten.
„Nein“, antwortete er gedehnt. „Es sei denn, du möchtest es vergessen.“
„Das muss ich mir noch überlegen“, giftete ich schnippischer an, als beabsichtigt. „Also, was wolltest du vorher sagen?“
„Vergiss es.“ Oh, dieses hämische Grinsen brachte mich zur Weißglut! Ganz ruhig schlenderte er in sein Zimmer und pfiff vergnügt ein Lied vor sich hin, während ich überlegte, welche mir unbekannten Flüche es in der Welt wohl noch geben könnte.

***

In den Tagen nach Maries kurzem Zwischenspiel suchte ich wieder vermehrt die Nähe der Menschen. Wenn ich auf einer Parkbank saß, belauschte ich die Gespräche der Sterblichen. Wie sie über Dinge und Personen witzelten, sich unterhielten, stritten oder miteinander flirteten. Es tat gut all das zu hören, auch wenn ich nur als der sprichwörtliche Lauscher an der Wand daneben stand. Marie besuchte uns ab und zu und brachte ihren kleinen Sohn mit, der Michels Herz im Sturm eroberte.

Irgendwann dann, inzwischen regnet es nur noch und der Herbst hatte seinen verfrühten Einzug gehalten, nahm ich einen Job als Kellnerin im Café an der Ecke an. Michel schüttelte den Kopf und Janko lachte auf seine kalte, dröhnende Art. Er lachte gern – vor allem gern über mich. Mir war es ziemlich egal. Es machte mir Spaß nachts dort zu arbeiten, wenn sich das gutsituierte Café in eine verrauchte Jazzkneipe verwandelte, und interessante bis merkwürdige Gestalten ein und aus gingen. Auch wenn ich oft genug in den Morgenstunden wie erschlagen ins Bett fiel.

In der Nacht, in der ich zum ersten Mal seit langem wieder ohne Regenschirm aus dem Haus gehen konnte, machte ich Bekanntschaft mit einem ganz besonderen Menschen. Wieder war es dieses seltsame Kribbeln im Nacken, das mich auf sie aufmerksam machte. Sie ging nur wenige Meter hinter mir. Ich machte einen Schritt nach links und sie tat es mir nach. Egal wohin ich mich wandte, sie folgte mir. Und aus irgendeinem Grund konnte ich sie einfach nicht abhängen. Entnervt drehte ich mich um, obwohl alles in mir „Gefahr! Gefahr!“ schrie. Sie war es! Die Frau, die mich vor ein paar Monaten im Kaufhaus LaFayette in solche Panik versetzt hatte. Augenblicklich blieb sie stehen und fixierte mich mit grünen Katzenaugen. Kurz funkelte ein Schimmer von Zweifel darin, dann drehte sie sich auf dem Absatz um und ließ mich stehen. Eigentlich hätte ich mich damit zufrieden geben sollen, aber jetzt wollte ich wissen, weshalb sie mich verfolgte.

„Warte!“ Die Jägerin entfernte sich immer weiter von mir, also lief ich ihr hinterher. Mein Herz raste vor Angst und ich fühlte wie meine Hände feucht wurden. Am liebsten hätte sich mein Körper auf der Stelle aus dem Staub gemacht, doch er wurde von meiner Neugier, vielleicht auch von meinem Selbstzerstörungstrieb, unaufhaltsam vorangepeitscht. Schließlich holte ich sie ein. Sie war schnell. Unnatürlich schnell. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr, ich konnte es nur noch nicht einordnen. Jede ihrer Bewegungen strahlte gefährliche Stärke und absolute Kontrolle aus. Ihr harter Blick streifte mich nur, während sie ihre Schritte beschleunigte. „Wer bist du?“, fragte ich viel zu leise, zwischen Zögern und Erstaunen. Sie antwortete nicht, rannte nur weiter und ich ihr hinterher.
„Verdammt noch mal, was willst du von mir?“ Die Katzenaugen funkelten mich zornig an. Ich musste all meinen Mut zusammenkratzen um überhaupt etwas sagen zu können. „Eine Antwort.“ Widerwillig blieb sie stehen und musterte mich forschend.
„Du hast keine Ahnung, was, Kleines?“
„Wovon sollte ich denn Ahnung haben?“ Oh verdammt, das Herz schlug mir bis zum Hals. Was tat ich denn hier? Jedes einzelne mikroskopisch-kleine Härchen stellte sich mir auf und dennoch stand ich hier und stellte eine irrsinnige Frage nach der anderen. Sie lachte rau und auf eine eigenartige Art und Weise warm, beruhigend und beängstigend zugleich. Mit einem gezielten Fußtritt stieß sie mich zu Boden. Keuchend schnappte ich nach Luft, als sich ihr Knie in meine Kehle bohrte. In ihrer schlanken Hand drehte sich ein kunstvoll geschmiedeter Dolch, den sie mir unter die Nase hielt.
„Ich könnte dich hier und jetzt töten, Kleines. Also lass mich besser in Ruhe und such dein Heil in der Flucht.“ Langsam erhob sie sich wieder. Ächzend griff ich mir an den Hals und massierte die schmerzende Stelle. „Wenn du mich nicht in Ruhe lässt, dann töte ich dich.“
„Warum tust du es nicht?“ Immer noch zitternd lehnte ich an der stinkenden Hauswand, hartnäckig neugierig und mich deshalb selbst verfluchend.

„Wenn du sterben willst, kann ich es für dich einrichten, Quälgeist!“ Diesmal wurde ich gegen die Hauswand gedrückt. Der Dolch bohrte sich in meinen Hals und augenblicklich umhüllte mich brennender Schmerz und ließ mich kreischend aufschreien. Meine Peinigerin wurde auf das Straßenpflaster geschleudert und hektisch wischte ich mit meinem Ärmel meinen Hals ab. Der Schmerz ebbte nur langsam ab und konnte unmöglich nur von dem scharfen Metall stammen.
„Was zur Hölle ist das?!“
„Mit Weihwasser präpariert, Kleines.“ Ungläubig starrte ich sie an. Weihwasser? Nein. Kreuz, Knoblauch, Silber – nichts konnte mir etwas anhaben, wieso sollte also ausgerechnet Weihwasser eine so verheerende Wirkung haben?
„Dann bist du wirklich eine Jägerin?“
„Wenn du weiterhin so blöde Fragen stellst, jage ich dir das Baby gerne in deine verschrumpelten Arterien!“ Perfekt geblufft zuckte ich mit den Achseln. „Das glaube ich nicht. Wenn du mich töten wolltest, hättest du es schon längst getan, oder etwa nicht?“ Langsam schob die Fremde ihren Zopf in den Nacken. Erstaunte Blicke ruhten auf dem elenden, zitternden Wesen, das vor ihr auf dem Boden kauerte.
„Wie heißt du, Kleines?“
„Annabelle.“
„Du bist noch nicht lange bei diesem Verein.“ Stumm nickte sie, wie zur Bestätigung ihrer eigenen Worte. Vorsichtig schüttelte ich den Kopf. Die linke Halsseite schmerzte bei jeder noch so winzigen Dehnung. Zwei kräftige Hände zogen mich hoch.
„Ja, ich bin eine Jägerin. Ich werde mir jetzt einen Café au lait gönnen und du kommst mit. Wenn du irgendwelche Spielchen mit mir vorhast, vergiss es. Ich kenne alle eure Tricks. Verstanden?“

„Zuerst einmal“, begann die Jägerin, die sich mir schließlich als Rebekka vorgestellt hatte, „Ich weiß, dass du zum ersten Clan gehörst, immerhin rennst du tagsüber rum und tust menschlich.“ Genussvoll schnupperte ich an meinem Kaffee. Ich wusste, dass ich sein Aroma kaum schmecken würde. Ich würde nur die Wärme spüren, wenn ich ihn trank und so genoss ich allein schon den belebenden Duft der meiner Tasse entstieg. „Du und deine Brüder, ihr bereitet mir die meisten Schwierigkeiten.“
„Wie darf ich das verstehen?“
„Bist du dämlich oder tust du nur so? Allein die Mühe, die es mir macht euch aufzuspüren. Ich kann ja nicht jedem der ne Sonnenbrille trägt hinterher hetzen, oder? Außerdem seid ihr die Stärksten unter den Vampiren.“
„Würde ich jetzt nicht behaupten.“ Der Kellner linste neugierig zu uns herüber. Er hatte anscheinend ein äußerst helles Gehör. Auf dem Weg zum Tresen gab er seinem Kollegen ein eindeutiges Zeichen, dass wohl „Die spinnen komplett!“ bedeuten sollte. Rebekka bemerkte nichts davon, doch ich beobachtete die Menschen um uns herum genau. Es war mir eine Angewohnheit geworden, die ich kaum mehr bewusst wahrnahm.

„Ihr seid die Stärksten, Kleines. Keiner weiß das besser als ich. Streng doch mal kurz dein benebeltes Hirn an. Du bist noch jung, höchstens ein Jahr alt, wenn ich mich nicht völlig täusche, und dennoch hast du mich mühelos zu Boden geschleudert. Einen Alten zu erwischen, käme dem achten Weltwunder gleich und wäre mit Sicherheit der Höhepunkt meiner Karriere. Oder mein Tod.“ Sie lachte wieder rau, kehlig, doch diesmal leiser, so als wolle sie auf keinen Fall Aufmerksamkeit erregen. Etwas an ihr stimmte nicht.
„Was bist du?“
„Hä?“ Rebekka sah erstaunt auf.
„Ich weiß, du bist eine Jägerin. Aber du gehörst nicht zu den Vampiren. Auch nicht zu den Halben, obwohl meine Gefährten das behaupten. Aber ein Mensch bist du auch nicht, oder zumindest nicht ganz. Also, was bist du?“ Eine Zeit lang starrte sie in ihre Kaffeetasse, bevor sie unendlich langsam den Blick hob.
„Du hast eine interessante Gabe, Kleines. Du siehst, was anderen verborgen bleibt.“ Wieder lachte sie, doch ihr Blick bohrte sich wie ein Messer in mein Herz.
„Ich bin eine Jägerin“, zischte sie bedrohlich. „Alles andere ist für dich nicht von Belang. Außerdem wird es Zeit zu gehen. Ich sehe dich wieder, Annabelle. Also achte auf deine Schritte und auf deine Worte. Vielleicht hast du das nächste Mal nicht so viel Glück, Kleines.“
„Man wird sehen. Ich danke jedenfalls für die Einladung, Rebekka.“ Für einen kurzen Augenblick verwirrt sah sie mich an.
„Dachtest du ernsthaft, ich würde meinen Kaffee selbst bezahlen?“ Lachend und schneller als ein menschliches Auge es erfassen konnte, verschwand ich von derben Flüchen begleitet in der Dunkelheit

***

Ich erzählte niemandem von Rebekka. Weder Michel noch Janko sollten je davon erfahren. Es war mein Geheimnis, über das ich eifersüchtig wachte. Außerdem gab es bald etwas sehr viel interessanteres in unserem Leben, als meine Ausflüge. Diese interessante Kleinigkeit trat in Form eines wahren Wirbelwindes von einem knappen Meter in unsere Gemeinschaft ein und hatte es sich sofort zur Aufgabe gemacht, uns auf Trab zu halten. Der Wirbelwind hörte im Übrigen auf den Namen René und war Maries kleiner, Badezimmer verwüstender Sohn. Michel hatte bald die grandiose Idee auf ihn aufzupassen, während Marie ihrer Arbeit nachging. Also im groben zwölf Stunden täglich. Und so fand ich mich plötzlich an diversen Spielplätzen und in, bereits im September, weihnachtlich dekorierten Spielwarenabteilungen wieder, durch die mich ein aufgeregter Zwerg zog.

„Annabelle! Annabelle! Schau doch, dass da.“ Müde lächelnd nickte ich, bestaunte gehorsam das präsentierte Actionfigürchen und stellte es wieder zurück, nicht ohne Renés enttäuschte Schmollschnute zu registrieren. Ebenso wurden Michel und ich durch den Jungen in die kulinarische Gourmetwelt von Paris eingeführt, die uns hauptsächlich in ein amerikanisches Fastfood-Restaurant mit fettigen Fritten und Pappmascheeartigen Burgern führte.

Eines Tages beschloss Michel wohl dem Jungen etwas Kultur nahe zu bringen und ich fand mich unversehens mit den beiden im Louvre wieder. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass René sich furchtbar langweilen würde, doch mit der Begeisterung eines Kindes stürzte er sich auf alles Unbekannte, Schöne und Gruselige. Es dauerte eine ganze Weile, bis wir ihn von den Mumien in der altägyptischen Sammlung fortzerren konnten. Irgendwann packte er Michel am Arm und glucksend verschwanden die beiden. Wahrscheinlich wieder in Richtung Mumien. Ich wanderte derweil weiter durch die Säle, an antiken Skulpturen, Malereien und zahllosen Touristengruppen vorbei, bis ich irgendwann vor einem gotischen Gemälde stehen blieb.

Eine rotblonde Maria kniete in ihrem mittelalterlichen Burggemach mit blutrotem Himmelbett und starrte mit verklärtem Blick den Boden an. Ein Engel mit reich verziertem Gewand stand links neben ihr und goldene Strahlen senkten sich auf die Jungfrau. Ihre Gesichter erschienen mir unrealistisch, fast schon hässlich in ihrer stilisierten Schönheit. Eine seltsam gemaserte Holzvertäfelung an der linken Wand und das offene Fenster im Hintergrund dagegen offenbarten mir magische Farben und Formen, fast zu klein für menschliche Augen. Aber ich war nicht menschlich. Nicht mehr.

„Ein wahres Meisterwerk, nicht wahr?“ Erschrocken drehte ich mich um. Ein alter Mann stand dicht hinter mir und lächelte mich freundlich an. Mit raschen Blicken suchte ich den Saal nach Michel ab. „Suchen Sie jemanden?“
„Ich stelle Ihnen jetzt einfach mal dieselbe Frage, Monsieur.“ Er lächelte mich nur weiter an und fuhr sich mit den Fingern durch sein schlohweißes Haar. Etwas an seinen Bewegungen verriet ihn als einen der Halben.
„Ich suche nach Ihnen, Mademoiselle.“
„Ja. Aber hier an diesem Ort zu jagen, wäre äußerst dumm, finden sie nicht?“ Er nickte wie eine Marionette, bei der ein Faden gerissen war.
„Ja, es wären zu viele Zeugen, die man ausschalten müsste. Ganz zu schweigen von den Kameras. Nein, ich bin nicht hierher gekommen, um zu jagen. Sie sind mir nur zufällig über den Weg gelaufen. Und eine so zauberhafte junge Frau lohnt es sich immer anzusprechen.“
„Ich danke für das Kompliment. Mit Vorbehalt. Also, was wollen Sie von mir?“
„Wenn ich Ihnen sagen würde, dass das Buch der Vampire wirklich existiert, würden Sie mir glauben?“ Häh? Wovon quasselte der alte Herr eigentlich? Plötzlich packte er mich grob am Arm und seine Augen funkelten mich irre an.
„Es muss endlich beginnen! Es muss beginnen, Mademoiselle. Und Sie sind es. Sie sind die Tochter, die uns die Göttin schenkt. Ich habe die Prophezeiung gesehen und ich habe sie verstanden, Mademoiselle. Sie sind es.“

Wütend stieß ich ihn von mir. Alles an ihm zeigte eine Mischung zwischen Besessenheit und akutem Wahnsinn. Und damit machte er mir Angst. Aber sofort fasste er sich wieder und hoffnungsvoll lächelnd drückte er mir die Hand, humpelte zur Tür und verschwand. In meiner Hand hielt ich ein knitteriges Stück Papier auf dem mit den fahrigen Zügen eines alten Mannes eine Adresse notiert war. Was sollte das bedeuten? Was sollte beginnen? Welche Prophezeiung? Verdammt noch mal was sollte der ganze Zirkus? Unschlüssig drehte ich den Zettel zwischen meinen Fingern. Zeit für einen Ausflug.


m nächsten Tag stand ich vor einem uralten, mächtigen Gebäude, dessen Fassade von Schnörkeln, kleinen Engelchen und dämonischen Wasserspeiern übersät war. Als ich die düstere Halle des Hauses betrat, empfing mich die kahle Schönheit weißen Marmors. Zahlreiche Galerien wanden sich um das Rund der Eingangshalle und es herrschte dieselbe beeindruckende Atmosphäre, die einen beim Betreten einer alten Kathedrale erfüllt. Von Zeit zu Zeit huschten Menschen über die leeren Gänge, doch sonst blieb es still. Gespenstisch still. Jeder meiner leisen Schritte hallte unnatürlich laut wider. Ein verhutzeltes Männlein kam rasch auf mich zu. Über die Glatze waren fein säuberlich drei Haarsträhnen gelegt und mit spitzen Fingern schob er seine Brille zurecht.
„Kann ich helfen, Mademoiselle?“ Mmm, ja, was suchte ich eigentlich? Wo war ich hier eigentlich?
„Man hat mir Ihre Adresse gegeben und gemeint, dass Sie mir vielleicht weiterhelfen könnten. Haben Sie hier eine Bibliothek? Eine öffentlich zugängliche?“
Kurz, aber eindringlich wurde ich von ihm in Augenschein genommen. Zögerlich nickte er.
„Ja, es gibt hier eine Bibliothek. Allerdings, kann ich mir nicht vorstellen, dass Sie sich mit der kleinen, öffentlichen Sammlung zufrieden geben wollen, Mademoiselle. Normalerweise kündigt sich derartiger Besuch vorher an, damit ich ihm optimal dienen könnte, doch ich denke, da Sie ja so kurzfristig zu uns gekommen sind, können wir schon mal eine Ausnahme machen. Ich werde mich kurz mit Monsieur Durand beraten. Wenn Sie so freundlich wären…“ Damit deutete er auf eine kleine Sitzecke und schlich zum Telefon. Offensichtlich wollte er nicht, dass ich mithörte.

Monsieur Durand. Wahrscheinlich der Direktor dieses Instituts. Was auch immer das hier für eine Einrichtung war. Das Buch der Vampire. Bisher hatte ich noch nie davon gehört. Noch nicht mal ansatzweise. Aber ich wollte wissen, was es damit auf sich hatte. Vielleicht eine Art Lexikon, oder so etwas wie die Bibel eben auf Vampire gemünzt. Auf jeden Fall wäre es interessant darin zu schmökern. Aufgeregt wippte ich mit den Füßen und knetete meine Fingern. Irgendwie war es dasselbe Gefühl, wie vor einem Bewerbungsgespräch. Nur war ich ein bisschen lockerer. Der seltsame Mann legte den Hörer geräuschvoll wieder auf die Gabel und kam auf mich zu.
„Bitte folgen Sie mir, Mademoiselle.“

Durch viele lange, gewundene Gänge führte er mich schweigend zu riesigen Sälen in denen sich vom Boden bis zur Decke unzählige Bücher stapelten. Uralte Folianten, mit Samt bezogen oder edlen Metallen beschlagen, auf das Kostbarste verziert, lagerten unter dem Staub von Jahrhunderten. Der Bibliothekar reichte mir einen weißen Kittel und weiße Handschuhe und instruierte mich im Umgang mit derlei literarischen Antiquitäten. Danach schlug er die Tür hinter sich zu und ich hörte wie sich der Schlüssel in der schweren Eichentür drehte. Ich war eingeschlossen.

Mit offenem Mund streifte ich durch die schmalen Gassen und betastete hier und dort die eingefetteten Lederbände. Einige Gänge waren nur mit Bibeln gefüllt. Von handschriftlichen, wunderschön bemalten Evangelien bis zur modernen Kinderbibel war hier alles vorhanden. Tausende und abertausende religiöse Schriften füllten einen ganzen Saal aus. Bei fast allen bemerkte ich rote Stoffbänder, die irgendeine Textstelle einmerken sollten. Ohne überhaupt zu wissen, wonach ich suchte, betrat ich mit klopfendem Herzen den nächsten Saal. Diesmal waren die Bücher weit weniger prächtig, doch manche sogar weitaus älter, als die vorherigen Bibeln. In einem klimatisierten Glaskasten lagen einzeln und mit viel Abstand von einander alte Schriftrollen. Ich drückte mir die Nase am Glas platt. Rollen aus Papyri, beschriftet mit wunderschönen, teilweise aber verwischten Bildzeichen. Altägyptische Schriftrollen!
„Unglaublich!“

Vorsichtig zog ich aus dem ersten Regal einen kleinen Lederband hervor. „Von der Umtrieberey satanscher Creathuren“. Ich stellte es wieder zurück, ging zum nächsten Regal und holte einen dicken Folianten hervor. Der Hexenhammer! Jedes Museum der Welt würde sich wahrscheinlich um ein solches Exemplar reißen. Weiter hinten entdeckte ich den Klassiker der Gruselliteratur schlechthin: „Dracula“ von Bram Stoker. Daneben modernere Sachbücher, Romane, Kindergeschichten, doch alle handelten von einem Thema. Vampire!
Jedes einzelne Buch in diesem Raum handelte von Hexen, Monstern, Geistern und Vampiren! Das Buch der Vampire. Sehr witzig, welches von den tausenden hier, haben Sie denn gemeint, Gerard?

Ein energisches Räuspern ließ mich aufblicken. Auf einer steinernen Galerie über mir stand die passende Zugabe zu der mich umgebenden Literatur. Dieser Mann, der mich von dort oben so eingehend beobachtete, war eindeutig ein Vampir. Ich fühlte die Kälte, die von ihm ausging, sah das marmorne alterslose Gesicht, das zu keiner Gefühlsregung mehr fähig war und spürte, wie er versuchte in meinen Gedanken zu wühlen. Michel hatte mich vor den Gedankenlesern gewarnt. Aber es war verdammt schwierig sich gegen einen wie ihn zu wehren. Ich erkannte, dass er zu den Alten gehörte. Zu den sehr, sehr Alten.

„Gefällt Ihnen meine kleine Sammlung, Annabelle?“ Mist! Und ich dachte, ich hätte meine Gedanken gut genug abgeschirmt. Er lächelte, doch er lächelte nur mit seinem Mund, seine Augen blieben regungslos kalt.
„Sie müssen sich keine Vorwürfe machen, Annabelle. Sie sind noch jung. Sie werden schon noch besser. Und stärker.“ Plötzlich stand er vor mir und noch bevor ich erschrocken zurückweichen konnte, umfassten eisige Finger mein Gesicht.
„Kein Zweifel. Eine strahlende, rote Schönheit. Kaum zu glauben, dass der alte Ungar Sie erschaffen hat.“
„Janko?“ Er nickte hoheitsvoll und küsste mich auf die Stirn. Ich zitterte vor Kälte, doch Furcht fühlte ich überraschenderweise nicht.
„Mein Name ist Durand. Lumiere Durand. Ich bin der Eigentümer dieser umfassenden Bibliothek und ja, ich habe jedes einzelne Exemplar hier selbst gesammelt.“
„Aber… Die Papyri… die sind doch mindestens 2000 Jahre alt!“
Wieder lächelte er nur sein steinernes Lächeln und bedeutete mir mit einem Wink ihm zu folgen.

„Erlauben Sie mir eine Frage, Monsieur Durand?“ Er nickte sacht. „Wie alt sind Sie?“
In ihm flackerte ein Funken seines alten Lebens wieder auf, als hätte ein Luftzug die Glut erneut angefacht. Doch kaum einen Augenblick später, war das Glimmen in seinen Augen wieder verschwunden.
„Weshalb fragen Sie mich das?“ Sorgfältig legte ich mir die Antwort zurecht.
„Weil meine Frage eine gewisse Erfahrung benötigt um beantwortet zu werden, Monsieur. Und … ich bin von Natur aus neugierig.“
Schweigend schien er sich die Antwort zurecht zu legen.
„Ich bin zu alt, als dass ich mich noch an den Tag meiner Schöpfung erinnere. Zu alt um noch die Lust zu verspüren, die Jahre zu zählen und zu alt, als dass ich mir noch Fragen stellen würde. Also sprechen Sie, Mademoiselle. Bitte!“
„Einer der Halben hat mich gestern angesprochen und etwas von einem Buch der Vampire erzählt. Und er gab mir Ihre Adresse.“
„Und Sie sind von Natur aus neugierig.“
Ich schmunzelte. „Exakt!“
Wortlos bedeutete er mir ihm in ein kleines Nebenzimmer zu folgen. Kein Licht drang in diesen Raum und nur einige Bände lagen auf einem alten Holztisch in der Mitte. Das erste, das mir hier auffiel, war der fehlende Staub. Nur ein leicht modriger Geruch hing wie überall in der Bibliothek in der Luft.
„Können Sie genug sehen, Mademoiselle?“
„Es ist etwas dunkel. Gibt es hier keine Lampen?“ Durand kramte aus einer Kiste einige Kerzen heraus und stellte sie auf den Tisch. Kurz überzog der warme Schein des Feuers sein versteinertes Gesicht. Seine dünne Hand strich zärtlich über einen riesigen, abgegriffenen Folianten, streichelte den Kantenschnitt, um ihn schließlich mit einem Knall, der die Kerzen erzittern ließ, aufzuschlagen.

„Ich denke Sie sind deshalb gekommen, Annabelle. Bitte.“ Mit einer ausladenden Handbewegung wies er auf die Seiten. Nicht sicher was mich erwarten würde ließ ich mich auf dem bereitgestellten Stuhl nieder und begann zu lesen. Steckbriefe füllten die Seiten, zuerst noch durcheinander, dann, einige Seiten später, chronologisch geordnet. Steckbriefe der verschiedensten Vampire. Das Buch der Vampire. Ich hätte mir nicht gedacht, dass ich diesen Titel so wörtlich nehmen konnte. Überrascht sah ich zu Durand auf. Tausende Namen bekamen vor mir durch Fotografien, Miniaturporträts oder individuelle Buchstabenmalereien ein Gesicht. Doch bei vielen war unter ihrem oft eindrucksvollen Lebenslauf mit roter Schrift das Ende ihrer Vampirkarriere notiert. Von aufgeregter Erwartung gepackt blätterte ich weiter nach vorne und zuckte bei einem alten Foto zurück.

„1847: Camilla, die Engländerin. Schuldig gesprochen im Mordfall an ihrer Familie. Mann, drei Kinder. Schöpfer: Richard Lawson.“
Noch einige andere Daten standen darunter, doch mich ließ das Bildnis dieser Frau nicht mehr los. Camilla. Ich kannte sie unter einem anderen Namen. Sie hatte sich mir als Kassandra vorgestellt.

Sehr schnell blätterte ich weiter. Die letzten beiden Seiten lagen direkt nebeneinander. Ungläubig strich meine Hand über das alte Pergament. Zwei verschiedene Namen – fast 300 Jahre Zeitunterschied.
„Michel de Couhier, Frankreich“, las ich mit zitternder Stimme vor, „und daneben steht mein Name! Meine Geschichte, meine Herkunft, der Tag an dem ich zu diesem Ding wurde!“ Die Luft im Zimmer wurde mit einem Mal zu dünn zum atmen.
„Nun hast du gefunden, was du gesucht hast, Annabelle.“
„Woher wissen Sie soviel über mich? Wer hat Ihnen das alles erzählt?“
Mit der Geschmeidigkeit einer Katze schlich er um den Tisch herum und seine eisige Hand legte sich auf meine Schulter.
„Vom Tage deiner Schöpfung an, gibt es kaum mehr ein Geheimnis … Bella“, setzte er noch hinzu und lächelte in einer seltsamen Mischung aus väterlicher Milde und hämischem Triumph.
„Nicht EIN Geheimnis?“, flüsterte ich erschrocken.
„Keine Angst, mein Kind. Alles kann auch der Rat nicht wissen. Aber genug…“
Fragen brannten mir auf der Zunge.
„Weshalb gibt es zwischen mir und Michel keine Eintragungen?“
Er zuckte gleichgültig die Schultern. Aber er konnte mir nichts mehr vormachen, denn in seinen Augen funkelte wieder derselbe Glanz wie zuvor. Ein Schimmer von Jugend stahl sich in sein Gesicht und mir war klar, dass er mir etwas verheimlichte. Energisch packte ich ihn am Arm. „Weshalb?!“
Die schmalen, farblosen Lippen wurden noch schmaler. „Lies weiter, Annabelle.“
Mit klopfendem Herzen blätterte ich weiter. Das Papier knisterte verheißungsvoll, als ich versuchte die roten Buchstaben zu entziffern.
„Ich kann es nicht lesen. Es ist viel zu verschmiert.“
Durands Stimme verlor nun auch noch den letzten Rest an Wärme.

„Prophetenkindes Kind, Tochter des Feuers, Engel der Nacht
Dein hassend Herz in Liebe dargebracht
Und deiner Liebe Erben
Bringen Tod und Verderben.
Es folgt noch einiges mehr und diese Fassung ist nur sehr grob übersetzt. Aber so viel ist gewiss: es ist eine Prophezeiung und ihre Entstehung liegt im Anfang unserer Geschichte.“
„Ah ja. Und was hat das mit mir zu tun?“
„Sehr viel, Annabelle.“ Seine Finger spielten mit meinen Locken „Flammend rot. Wie Feuer in einer finsteren Nacht“, hauchte er mit einer Stimme, die mir kalte Schauer über den Rücken jagte.
„Unsinn!“ Ich trat einen Schritt von ihm zurück und meine Haare glitten ihm durch die dünnen Finger. „Ich glaube nicht an Prophezeiungen! Ich weigere mich an so etwas zu glauben!“ Durand lächelte ohne jegliche Freundlichkeit im Blick.
„Bald, Annabelle. Bald wirst du daran glauben.“

Hätte ich Michel dieses Mal darüber berichten sollen? Rückblickend wäre es vielleicht besser gewesen, doch das Vergangene lässt sich nun mal nicht mehr ändern. Wieder schloss ich ein neues Geheimnis in meinem Herzen ein und das Leben ging weiter. Zudem war Michel völlig in seinen Vatergefühlen zu René gefangen. Der kleine Wirbelwind hatte ihn ganz und gar um den Finger gewickelt. Marie und ich machten uns darüber jeden Abend lustig, wenn sie ihren Sohn abholte. Sie wurde mir eine Freundin, eine Freundin, der ich gern alles erzählt hätte. So gerne hätte ich mit ihr über mein Leben geredet und oft genug biss ich mir im letzten Moment auf die Zunge, bevor die Worte aus mir heraussprudeln konnten. Das einzige, das mir etwas Angst machte, war ihre offensichtliche Verliebtheit. Sie hatte sich über beide Ohren in Michel verguckt und ich fürchtete mich vor dem Tag an dem er es herausfand. Würde er sie abweisen oder mit ihr spielen? Sie verführen und von ihr trinken?

Irgendwie konnte ich mir das nicht vorstellen, aber die Angst davor blieb. Eine überflüssige Angst, denn wie alle Männer war Michel nicht gerade mit dem sechsten Sinn gesegnet. Er übersah auch die offensichtlichsten Anzeichen. Sie machte ihm ein eindeutiges Kompliment und er bedankte sich als hätte sie ihm eine Tasse Tee angeboten.
„Ich kann mir gut vorstellen wie dir die Frauen hinterherlaufen. Manche Männer würden für einen Hintern wie den deinen töten.“ „Ich danke für das Kompliment.“
Sprach’s und suchte weiter nach dem Hüpfgummi, den René unters Sofa geschossen hatte. Manches Mal war ich ernsthaft versucht, ihm das Offensichtliche ins Ohr zu schreien. Stattdessen haute ich mir mit der flachen Hand meine Stirn platt und konnte nichts weiter tun, als die Augen zum hundertsten Mal zu verdrehen. Wieso sind Männer so beschränkt? Michel jedenfalls brauchte keinen Wink mit dem Zaunpfahl sondern eine kräftige Tracht Prügel mit selbigem Zaunpfahl um überhaupt irgendwas zu checken.

Am Freitagabend der folgenden Woche packte ich mir Marie und Janko und ging mit ihnen aus. Michel hütete das Kind. Pardon, aber ich konnte mir ein Grinsen darüber nicht verkneifen. In der Gegenwart von Menschen brillierte Janko als der geborene Entertainer. Eine Traube von jungen Leuten sammelte sich im Club um ihn und lachte über seine Witze. Er blühte förmlich auf und ließ sich von seinen begeisterten Zuhörern ein ums andere Mal einladen. Ein junger Mann dagegen klebte nicht an Jankos Lippen sondern an mir. Mit charmanten Worten und Gesten versuchte er mich zu umgarnen und ich ließ mir das nur zu gern gefallen. Um Mitternacht schließlich ging ich tatsächlich mit ihm hinaus um „Luft zu schnappen“. Tatsache war, dass ich unglaublichen Hunger hatte und ich mal Lust auf was Anständiges hatte. Keine Penner oder schlafende Hausfrauen. Ich wollte stilvoll speisen.

„Du zitterst ja.“ Ganz Gentleman bot er mir seine Jacke an.
„Ich wüsste noch eine ganz andere Art um mich warm zu halten“, wisperte ich ihm ins Ohr und drückte meinen Körper noch näher an ihn. Sanft küsste ich seine warmen Lippen und sog den Duft seines Aftershaves ein. Hmmm… Er roch gut. Sein Herz schlug schneller. Atemlos erwiderte er meine Küsse, leidenschaftlich und doch vorsichtig, so als würde er jeden Moment meinen Einspruch erwarten. Sanft glitten meine Lippen von seinem Mund hinunter zu seinem Hals. Ich hörte wie er leise seufzte und als meine Zähne langsam in sein Fleisch glitten, fühlte ich den eindeutigen Beweis seiner Erregung. Er zog mich noch fester in seine Arme, als sein Blut schon in meinen Adern pulsierte.

Hör auf! Eine leise Stimme warnte mich. Hör auf! Und ich hörte auf. Behutsam löste ich meine Reißzähne aus seinem Hals und leckte mir die Lippen sauber. Wie aus einer Trance erwachend griff er an die Wunde. Seine schönen Augen weiteten sich vor Entsetzen und hektisch versuchte er die Blutung mit seinem T-Shirt zu stoppen. Ich hielt ihn fest und zog seine Hand weg. „Keine Angst.“ Sanft küsste ich die blutige Stelle, bevor ich mit der flachen Hand darüber strich und sich die Einstiche in punktförmige Narben verwandelten.

„Was… was hast du mit mir gemacht?“ Lächelnd zeigte ich ihm die Zähne. Bald würden sie sich wieder zurückbilden und ich hätte wieder das normale Lächeln eines Menschen. Ich hatte das Gebiss einer Viper gleich, die ihre Giftzähne zurückklappen konnte, wenn sie sie nicht brauchte. Zitternd suchte er Halt an der Mauer hinter sich. Panisch suchte er nach einem Fluchtweg, doch als er fortlaufen wollte, knickten seine Beine ein. Ich fing ihn auf und setzte ihn auf den Bürgersteig.
„Du musst vorsichtig sein. Dir wird noch ein paar Minuten schwindlig sein, aber das vergeht. Alles wieder ok?“
Zitternd nickte er und schüttelte gleich darauf den Kopf.

„Ich bin verrückt geworden, oder? Ich meine, so etwas wie dich gibt’s doch gar nicht. Ich habe Halluzinationen.“
Beruhigend streichelte ich seine Hand.
„Wenn du es für besser hältst, dann bin ich eine Halluzination. Jedenfalls dankt dir deine Halluzination für ein hervorragendes Abendessen.“
Versöhnlich lächelnd erhob ich mich und wollte nach Hause gehen. Doch er hielt mich fest.
„Sehen wir uns wieder?“ Überrascht starrte ich ihn an. Meinte er das ernst?
„Ich möchte dich wiedersehen.“
„Warum?“

„Ich … es … ich meine, so was wie dich trifft man doch nicht an jeder Straßenecke. Oder doch? Erzähl mir von dir. Von euch. Bitte!“
Vor Furcht zitternd lehnte er dennoch seinen Kopf an meine Beine. Eine flehende Geste des Vertrauens, die mich zur Salzsäule erstarren ließ. Mein Gott, was hatte ich nur wieder angestellt?
„Wie stellst du dir das vor? Das ist kein Film, Mann! Ich gebe keine Interviews!“
„Bitte, zeig mir mehr. Lass mich mehr wissen. Du kannst von mir trinken so oft du willst, wenn du mir nur mehr erzählst. Bitte … Herrin.“
„Nein. Nein. Hör mit dem Schwachsinn auf! Glaubst du ernsthaft ich bräuchte deine Zustimmung? Wenn ich dein Blut will, nehme ich es mir! Verdammt noch mal, vielleicht hätte ich dich doch töten sollen!“
Erschrocken wich er zurück. Energisch packte ich ihn und stellte ihn wieder auf die Füße.
„Ich kenne dich nicht, chérie, und du kennst mich nicht. Ich bin nichts weiter als ein Alptraum. Verstanden!“
„Ein Traum“, murmelte er, „ich hab’s verstanden.“ Noch etwas benommen torkelte er zurück in den Club.

***

Lautlos tauchte ich in die Schatten ein und lief durch die Gassen der Stadt. Meine Füße flogen über das schiefe Kopfsteinpflaster. Ich spürte die Kraft des jungen Mannes in mir, seine Energie, den Pulsschlag seines Herzens. Jauchzend sauste ich an lärmenden Kneipengästen und leichten Mädchen vorbei und erfreute mich an dem Gefühl der Freiheit. Ich war niemandem eine Erklärung oder Entschuldigung schuldig. Ich konnte tun und lassen was ich wollte und niemand konnte mich daran hindern. Das Gefühl völliger Freiheit. Welcher Mensch kann von sich behaupten, es je gefühlt zu haben? Ich tanzte durch die Nacht und flog mit den Wolken durch das schlafende Paris. An den Ufern der Seine blieb ich stehen. Musik tönte von den kleinen Hausbooten am Kai. Lange stand ich dort und lauschte dem Rauschen des Flusses. Die sanft schlagenden Wellen der Seine führten mich auf die Ile de la cité. Die alte Kathedrale zog mich in ihren Bann, lockte mich wie durch Zauberkraft. Mit aller mir verfügbaren Kraft öffnete ich eines der Seitentore und betrat den finsteren Innenraum der Kirche. Einige Kerzen vor der Marienstatue brannten noch und ein gelegentliches Knarren der Kirchenbänke störte die Totenstille. Wie ein Einbrecher schlich ich durch den Innenraum, während mich die Heiligen vorwurfsvoll anstarrten. Ich verdrängte die aufkeimende Furcht und baute mich herausfordernd vor der Heiligen Johanna auf.

„Brauchst nicht so zu gucken, klar? Ich wollt nur mal vorbeischauen.“ Wenn dir etwas unangenehm ist, versuch darüber zu lachen. Normalerweise funktionierte diese Taktik ganz gut. Schatten krochen über die Kirchenwände und versuchten mir Angst einzujagen. Ein heller weißer Nebel huschte an mir vorbei. Seltsamerweise erschreckte mich das kein bisschen. He, wenn es so etwas wie mich gibt, wieso sollte es dann nicht auch Geister oder so ähnlich geben? Plötzlich schauderte mir doch. Nervös blickte ich um mich und ging wieder Richtung Ausgang.

„Was machst du hier?“ Ich fuhr herum. Wer hatte das gesagt? Außer mir war doch niemand hier.
„Was suchst du hier?“ Die Fragen kamen aus der Dunkelheit und alles was ich sah, war die Leere einer nächtlichen Kirche.
„Was tust du hier?“ Die seltsame Stimme schien die ganze Kathedrale auszufüllen. Mir war als würde das Gotteshaus selbst mich nach dem Grund meines Hier seins fragen.

„Wer ist da?“ fragte ich ängstlich zurück und ging alle möglichen und unmöglichen Optionen durch, doch der unsichtbare Redner blieb stumm. Noch einmal versuchte ich mein Glück.
„Bitte, wer fragt mich das?“ Da, schon wieder.
„Was hast du hier zu suchen, Annabelle, Tochter der Bluttrinker?“
Keuchend schreckte ich zurück. Woher kannte er meinen Namen? Klar, natürlich.
„Janko? Lass das! Das ist nicht mehr witzig.“
Ich erwartet, dass er jetzt verschmitzt grinsend hinter einem der Pfeiler auftauchen würde, doch kein Janko erschien auf der Bildfläche.
„Komm schon, lass die Spielchen!“
Plötzlich ging ein Ruck durch die steinernen Antlitze Notre Dames. Ihre Köpfe wandten sich zu mir um. Gemeißelte Gesichter starrten mich an. Schreiend vor Entsetzen rannte ich hinaus und hielt nicht eher an, bis Notre Dame nicht mehr zu erkennen war.
Noch vor wenigen Minuten hatte ich geglaubt, niemandem Rechenschaft schuldig zu sein.
Einen hatte ich vergessen.

***

„Hallo Kleines.“ Fauchend wie eine Katze antwortete ich auf den Gruß der Jägerin.
„War wohl ne harte Nacht, was?“ Lächelnd kam sie auf mich zu und fasste meinen Arm.
„Luft holen, Kleines! Luft holen. Ein bisschen Sauerstoff hat noch keinem Blutsauger geschadet, alles klar?“ Ruckartig befreite ich meinen Arm aus ihrem Griff und ging auf Distanz.
„Wenn ich mich recht erinnere, hast du mich vor einem Wiedersehen mit dir gewarnt, oder? Also warum bist du hier? Und behaupte verdammt noch mal nicht, du wärst zufällig in der Gegend gewesen!“
Ihre Augen blitzten wie smaragdene Dolche, als sie den Kopf in den Nacken warf und die leeren Gassen mit ihrem lauten Lachen erfüllte.
„Du siehst was anderen verborgen bleibt. Du kennst mich gut, Kleines. Ich bin nicht hier um zu jagen, sondern um dir eine Frage zu stellen.“
„Tatsächlich?“, meinte ich immer noch skeptisch. „Na, dann frag und lass mich in Ruhe.“
„Du redest wie ich vor ein paar Wochen“, schmunzelte sie bevor sie endlich zum Punkt kam. „Warum hast du den Jungen nicht getötet?“
Sie beobachtete mich!? Der Hammer! Woher zum Teufel hätte sie das mit dem Jungen sonst wissen sollen?
„Wieso sollte ich? Wo doch eine Jägerin, die mir hinterher spioniert ein viel lohnenderes Opfer wäre? Ich wäre bestimmt mit einem Schlag berühmt unter den Bluttrinkern und sonstigen Nachtgestalten, nicht wahr? Aber der eigentliche Punkt ist: Warum zur Hölle spionierst du mir nach, Rebekka?“
Oh, ich war sauer! Und wie. Wer weiß, was die sonst noch alles mit angesehen und gehört hat. Meine Privatsachen sind nun mal meine Sachen. Oh, war ich sauer!

„Weil du anders bist, Prinzesschen. Genau deshalb. Du bist der erste Vampir, der eine Begegnung mit mir überlebt hat. Mal abgesehen von so nem alten Knacker, der mir entkommen ist, aber der zählt nicht.“
Irgendwie wollte ich gar nicht nachforschen, warum jener alte Knacker nicht zählte.
„Ich hab dich nicht getötet, weil ich dich nicht einschätzen kann, Kleines. Du benimmst dich völlig jenseits aller Richtlinien. Du trinkst von den Schlafenden, so wie es viele eurer Rasse tun, aber du traust dich auch an völlig wache Menschen. Ich habe gesehen, wie du gewartet hast, bis sie betrunken waren und ich habe dich heute gesehen. Du hast ihm sogar gezeigt, was du bist! Und trotzdem hast du ihn leben lassen. Eines muss man dir lassen. Der Mut fehlt dir bestimmt nicht, Kleines.“

„Was hat das mit Mut zu tun, Rebekka? Ich habe ihn Leben lassen, weil ich in seinem Tod keinen Sinn gesehen hätte. Weiter nichts.“
Sie sah mich völlig entgeistert an. Es war der Gesichtsausdruck eines Psychologen im Anblick eines komplett geistig umnachteten Individuums.
„Der Rat, Annabelle! Schon mal was davon gehört?“
Ich hatte davon gehört. In Michels Lehrstunden, in Jankos Geflüster und in der Stunde meines Todes. Aber was genau dieser Rat bezwecken sollte, wusste ich nicht. Es interessierte mich auch nicht.

„Kein Sterblicher darf jemals von dem Geheimnis erfahren. Fehler diesbezüglich sind unverzüglich durch Tod oder Verbrüderung des Sterblichen zu korrigieren!“ Das steht in den ersten Statuten! Meine Güte, hast du überhaupt einen Lehrer?“
„Woher weißt du es?“
„He, kenne deinen Feind. Mit dem Motto komm ich ganz gut zurecht“, antwortete sie achselzuckend. „Wer diese Statuten nicht beachtet hat mit den schlimmsten Strafen zu rechnen.“
In genau diesem Moment kochten meine Gefühle über.

„Glaubst du wirklich, es gäbe etwas schlimmeres als das hier?“, schrie ich sie an und deutete an mir herunter. „Glaubst du ernsthaft, ich fände es toll dieses … dieses DING zu sein? Ich war jung, ich hatte Familie, Freunde, eine Zukunft! Ich wollte so viele Dinge tun, die jetzt für immer fort sind. Fortgeschwemmt in einem Meer von Blut! Ich wollte leben. Alt werden. Sterben. Das ist alles weg! Und weißt du was das schlimmste ist? Meine Zukunft besteht nur aus Gegenwart!!!“

Schluchzend brach ich auf dem Gehsteig zusammen. Ich registrierte kaum, wie sich Rebekka kurz zu mir setzte und mir zögernd, als wäre diese Geste ihr fremd, über den Rücken strich.

„Meine Zukunft ist nur noch Gegenwart. Es wird in alle Ewigkeit so sein wie jetzt, nicht wahr? Ich werde immer so aussehen, niemals Kinder kriegen oder diesen ekelhaften Durst loswerden. Es wird immer so sein wie jetzt. Verstoßen von Gott und der Welt. Ein Kind der Nacht. Für immer!“

Rotz und Wasser heulend verbarg ich das Gesicht in meinen Händen und wartete darauf, dass es vorbeiging. Etwas fiel neben mir hell klirrend auf den dreckigen Asphalt. Schniefend sah ich auf und entdeckte Rebekkas Dolch vor mir. Im Licht der Straßenlaterne funkelte er als hätte der Waffenschmied nicht die kostbaren Edelsteine sondern die Sterne selbst in den Griff eingesetzt. In der Mitte des Heftes prangte ein erhabener grüner Smaragd. Rebekka stand ein Stück weit weg von mir.
„Du kannst vielleicht nicht mehr altern, Annabelle Feuerkind, aber Sterben kannst du. Achte darauf, dass du nicht zu viel Blut verlierst.“
„Ich soll …“
„Du wirst wissen, wann du soweit bist. Bis dahin, leb wohl. Ich freue mich auf unser nächstes Treffen“, fügte sie noch verschmitzt lächelnd hinzu.


Die Stufen ächzten laut unter meinen schweren Schritten. Zum ersten Mal fiel mir das kleine Kruzifix im Treppenhaus auf und ich rannte umso schneller in die schützende Geborgenheit unserer Wohnung. Die Tür fiel krachend ins Schloss und das gewohnte Kreischen des Fernsehers schenkte mir das wärmende Gefühl von Sicherheit.
„Michel? Bist du da?“
„Anna?“ Als ich in sein Gesicht sah, wusste ich dass etwas nicht in Ordnung war. Er wirkte erschöpft, ausgezehrt und seine Lippen bildeten nicht mehr als einen schmalen Schlitz.
„Wo ist René? Du siehst furchtbar aus.“
„Danke, du siehst auch toll aus“, schoss er müde zurück. „Marie hat ihn abgeholt. Schon vor Stunden.“
„Wem verdankst du dann diesen erfrischenden Gesichtsausdruck?“
Müde ließ er sich auf das Sofa fallen. „Sie war hier“, flüsterte er tonlos.
„Wer?“
„Kassandra.“ Was hatte die denn hier zu suchen? Fast hätte ich das Miststück vergessen und jetzt sollte sie hier gewesen sein?
„Sie wollte sich den Kleinen holen. Ich bin gerade noch rechtzeitig aufgetaucht.“
„René?! Warum will sie ausgerechnet René?“ Michel sah mich forschend an.
„Sie sagte, du hättest gegen die Regeln verstoßen. Ist das wahr?“ Ich machte es mir auf der Couch so bequem wie möglich und fasste kurz die Ereignisse der Nacht für ihn zusammen. Rechtfertigen wollte ich mich nicht und doch tat ich es, als würde ich vor meinem alten Schuldirektor stehen. Mit zitternden Händen beschrieb ich ihm die steinernen Heiligen, die sich wie ein Regiment Soldaten gegen mich gestellt hatten, aber er schien gar nicht zuzuhören. Michel hatte den Kopf auf meine Schenkel gelegt und schien mit geschlossenen Augen vor sich hinzudösen.

„Ich habe die ganze Nacht über René gewacht“, murmelte er schläfrig. Überrascht stellte ich fest, dass hinter den zugezogenen Vorhängen dämmriges Sonnenlicht funkelte.
„Michel, hast du getrunken?“ Er schüttelte leicht den Kopf. Einen Moment zögerte ich.
„Trink von mir. Ich denke, es reicht für zwei.“ Wortlos richtete er sich auf und zog mich sofort in seine Arme. Mit einem festen, zielsicheren Griff schob er meine Locken zur Seite und drehte meinen Kopf von sich weg, so dass mein Hals nackt und schutzlos vor ihm lag. Ich fühlte seine Lippen vor Verlangen beben, bevor zwei spitze Zähne mein Fleisch zerteilten und er Zug um Zug das Blut aus meinem Körper holte. Ich fühlte keine Schmerzen, nur angenehme Wärme, die sich in kreisenden Wellen in meinem Körper ausbreitete. Es war ein überraschend schönes Gefühl ihn in meinen Armen zu halten und so musste ich mich beinahe dazu zwingen, ihn von mir weg zu drücken.
„Lass mir auch noch etwas, Michel.“
„Ich will mehr, chérie!“
„Junkie“, schmunzelte ich und brachte meinen Hals außer Reichweite.

Sein Rausch legte sich langsam und der tadelnde Blick kehrte zurück.
„Du hast gegen die Regeln verstoßen, Anna.“
„Ja und? Gegen Regeln, die mir nichts sagen und wahrscheinlich noch gegen zehn andere, die ich noch gar nicht kenne. Aber was zum Teufel geht Kassandra das an?“
„Sie ist eine Wächterin, Anna. Sie ahndet jeden Verstoß gegen die Regeln auf eigene Faust und nach eigenem Ermessen. Der Rat schickt sie gerne, um Probleme aus der Welt zu schaffen. Du weißt von allem am besten, wie gefährlich sie sein kann.“ Zähneknirschend erinnerte ich mich an jene Nacht im Grab.
„Du hast sie verjagt.“ Er schnaubte nur verächtlich. „Ja, mit viel Glück. Ich bin älter als Kassandra, aber ich bezweifle, dass ich stärker als sie bin.“
„Aber vor dir kuscht sie.“
„Im Moment noch. So lange sie glaubt, dass sie…“ Schnell schüttelte er den Kopf, wie um sich selbst vom Sprechen abzuhalten. „Tatsache ist, dass ich dich nicht ständig beschützen kann. Halte dich an die Regeln, Anna. Sonst bringst du dich selbst und alle die dir etwas bedeuten in Gefahr.“

Betreten sah ich an ihm vorbei auf das flackernde Fernsehbild. Ein überfröhlicher Guten-Morgen-Moderator hüpfte gerade durchs Bild. „Hast du mich verstanden, Anna?“ „Ja.“ Michel seufzte laut, rappelte sich auf und schlurfte in sein Zimmer. Die Tür ließ er angelehnt, wie immer und bald wurde es still in der Wohnung. Schlaf kroch mir in die Augen. Viel zu viel war heute Nacht geschehen. Ich kuschelte mich unter die Sofadecke und versuchte zu schlafen.

***

Es ist ein schöner Tag am Ende des Winters. Das spärliche Gras, nun vom Schnee befreit, wiegt sich braungelb im Wind, als die Sonne hinter dem Horizont verschwindet. Mein Blick ruht auf einer weißen Vase, in der drei blütenlose Äste stecken. Ihr einziger Schmuck ist das Sonnenlicht, das hinter Ihnen zum letzten Mal glüht. Es ist ruhig und friedlich. Es ist gut.

Im fast schon verblassten Licht sehe ich Schatten über die Hügel kommen. Erst einen, dann drei, immer mehr, bis sie sich zu einer zahllosen Armee vereinen. Aufgebracht zerren Hunde an ihren Ketten. Ich höre ihr wütendes Bellen. Und ich höre die Schreie der Menschen. Sie laufen fort und ich laufe mit ihnen. Der Strom ihrer Leiber reißt mich mit sich. Barfuss, nachlässig übergeworfene Kleider. Gesichter. Panisch aufgerissene Augen, hastige Schulterblicke, Schreie. Und immer der Ruf: Lauft! Lauft! Lauft!
Und ich laufe. Das Gras unter meinen Füßen, satt und grün, fliegt dahin. Ich springe über gestolperte Menschen. Kinderarme recken sich mir entgegen. Wimmern um Hilfe. Ich laufe weiter. Über die Hügel der Graslandschaft. Nichts da. Kein Baum, keine Höhle, kein Versteck weit und breit. Der Strom der Flüchtenden wird dünner. Lauf! Lauf! Hinter mir Todesschreie. Lauf!
Schwitzend lade ich tote Leiber auf einen Karren. Die ganze Nacht über arbeite ich schon so. Die Toten werden mir gebracht. Einer nach dem anderen, oder ganze Wagenladungen. Ich werfe sie auf den Schienenkarren. Bewacht von zwei grausamen Wesen. Wenn sie lachen und ihr langes Haar schütteln, dann zeigen sie ihre Fangzähne und die Augen blitzen unwirklich. Sie schlagen mich, wenn ich nicht schnell genug arbeite. Mit aller Kraft versuche ich den vollen Wagen zu den Brennöfen zu schieben. Ich kann es nicht. Sie schlagen mich. Als ich nach oben blicke, sehe ich ein kleines Mädchen auf der Galerie der Furcht erregenden Fabrik stehen. Ein kleines Mädchen mit dem Gesicht einer jungen Frau. Sie lächelt mich an. Ich kenne sie. Ich kenne sie. Sie gibt mir Kraft. Sie wird uns befreien. Die armen Seelen, die ich trotz des Lärms der Öfen in ihren Verliesen weinen und klagen höre, dort steht ihre Hoffnung.
Ich spüre die Hitze des Brennofens und bin unter den erstarrten Leibern der Toten begraben.

***

Schreiend wachte ich auf und versuchte wieder zurück in die Realität zu gelangen. Mein Atem raste, Schweißtropfen perlten mir von der Stirn. Was für ein Traum! Diese Gesichter. Das Lachen der Aufseherinnen. Diese seltsame Fabrik. Alles war so deutlich vor mir, als wäre es wirklich passiert. Als wäre alles eine Erinnerung und kein Traum. Ängstlich stürzte ich ans Fenster und riss die Vorhänge auf. Blendend weißes Licht fiel herein und versetzte mir schmerzende Stiche. Nein, keine Hügellandschaft, keine dunklen Schatten. So viel hatte ich erkennen können. Ich befand mich noch immer in Paris. Häuserfassaden versperrten die Aussicht und ich hörte das abendliche Hupkonzert. Es war nur ein Traum, Annabelle. Alles nur ein Traum. Beruhige dich, Mädchen. Mädchen? Wer war dieses Kind an der Brüstung? Im Traum glaubte ich sicher sie zu kennen, aber nun konnte ich sie keinem Namen zuordnen.

Erst jetzt hörte ich wie Michel beruhigend auf mich einredete. Die Vorhangringe rasselten und das blendende Licht verschwand wieder hinter den dicken Vorhängen. Ich zitterte am ganzen Leib, als Michel mich zur Couch zurückführte. Irgendetwas sagte er zu mir, aber ich verstand es nicht. Energisch packte mich jemand an der Schulter und schüttelte mich, dass mir die Hirnhälften aneinander schlugen.

„Komm wieder zu dir, Mädchen!“ Janko klang wütend. „Sie ist schon eine ganze Weile so weggetreten.“ „Das ist doch nicht normal. Sieh mich an, Mädchen.“
Ziellos wanderten meine Blicke im Raum umher und blieben schließlich am Schatten einer wohlbekannten Hakennase hängen unter der sich ein zufriedenes Grinsen breit machte.
„Na also! Wie geht’s dir, Annabelle?“
Benommen nickte ich nur und ließ mir von Janko aufhelfen. Doch kaum saß ich auf der Sofakante, drohte ich wieder zurückzufallen. Mir war, als hätte alle Kraft mich von einem Augenblick zum nächsten verlassen. Sofort wurde ich von vier Händen aufgefangen, die mich mühsam in eine aufrechte Position schoben. Vorsichtig, so als hielte er eine Porzellanpuppe in seinen großen Händen, hob Janko mich hoch. Ich wollte mich an ihm festhalten, doch die Arme hingen schlaff zu beiden Seiten herunter und weigerten sich beharrlich meinen Befehlen zu gehorchen. Unversehens fand ich mich auf meinem Bett liegend wieder.

„Du hättest nicht von ihr trinken dürfen, Michel“, hörte ich Janko vorwurfsvoll flüstern. „Sie ist zu jung. Und was auch immer sie geträumt hat, es hat sie viel zu sehr aufgeregt. Sie braucht Blut.“
„Ich weiß.“ Es blieb still, doch ich hörte wie die Wohnungstür klackend aufsprang und sanft wieder geschlossen wurde. War ich allein? Nein. Ich spürte die Gegenwart eines Vampirs. Aber welcher meiner beiden Gefährten war geblieben? Ich sah nichts anderes als einen schwarzen Schleier, durch den hin und wieder ein hellerer Schatten schlich. Doch der Augen beraubt, fühlte ich etwas, dass mich weit mehr überraschte, als mein plötzlicher Schwächeanfall. Der Vampir, der bei mir geblieben war, strahlte dieselbe Macht aus, die auch Durand umgab. Dieselbe Aura und Kraft die jahrhunderte, vielleicht sogar jahrtausende, altes Leben umspielte. Nur hatte ich bei ihm das Gefühl, als müsste ich meine Gedanken nicht hinter Mauern verbergen. Er machte sich gar nicht die Mühe in den Tiefen meines Gehirns zu wühlen. Er wartete. Er wartete geduldig und schweigend. Nur worauf?

Der ruhige Atem eines Menschen, beendete meine Überlegungen. Langsam kehrte mein Augenlicht zurück und ich sah, wie sich ein junges Mädchen an mein Kopfende setzte. Sie wirkte wie eine Puppe, deren Bewegungen ein anderer kontrollierte und vorsichtig presste sie ihr Handgelenk an meinen Mund. Janko nickte nur und meine Gier nach Blut beendete ihr junges Leben.


„Nun rede schon.“ Marie klapperte mit ihrem Kaffeelöffel in dem buntbemalten Becher und sah mich mit neugierig aufgerissenen Augen an. René saß vor dem Fernseher und lachte über irgendwelche Zeichentrickfilmchen, deshalb hielten wir es für besser über dieses pikante Thema nur zu flüstern. „Da war wirklich nichts.“
„Ja klar. Ich habe doch gesehen, wie du mit ihm raus gegangen bist und heute Morgen warst du immer noch nicht da.“ Sie nahm einen tiefen Zug Kaffee und verbrannte sich dabei fast die Lippen.
„Komm schon, ich muss dir doch nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen.“ Fieberhaft suchte ich nach einer passenden Geschichte.
„Na ja, was soll ich dir denn schon erzählen? Er ist süß und… er war eine Sünde wert.“ Ich zwinkerte ihr verschwörerisch zu und versuchte mir gleichzeitig einzureden, dass ich damit nicht einmal gelogen hatte.

„Wusst ich’s doch! Du bist mit zu ihm gegangen.“ Sie lachte und schien sich aufrichtig für mich zu freuen. „Und? Soll es was Ernsthaftes werden?“ Ich schüttelte nur den Kopf. „Nein danke. Ich meine, ja, er ist süß und lieb und nett und er weiß, was ich will“ – zumindest wusste er es jetzt – „Aber ich will einfach zur Zeit keine ernsthafte Beziehung.“ Marie wirkte grenzenlos überrascht. „Wieso nicht? Du brauchst doch nur mit den Fingern zu schnippen und könntest aus fünfzig verschiedenen Männern wählen.“
„Vielleicht gerade deshalb. Die meisten Männer sehen nur den schönen Schein und nicht mich selbst.“ Sie nickte bedächtig. „Außerdem endeten alle meine früheren Beziehungen in mittleren Katastrophen. Nein, im Moment bin ich echt bedient.“ Also erzählte ich ihr wahre und erfundene Schreckensgeschichten über meine tatsächlichen und imaginären Exfreunde, um sie von den Geschehnissen der letzten Nacht abzulenken und sie fügte zu meiner Riege an Beziehungskatastrophen noch Renés Erzeuger hinzu.
„Er hat sich nur noch einmal gemeldet und gefragt ob ich das Balg denn jetzt schon gekriegt hätte. Dieser Sack hat René nicht verdient.“ Wütend knallte sie ihren Becher auf den Tisch.

„Hey.“ Michel stand in seiner Schlafzimmertür. Sein schulterlanges Haar stand ihm völlig zerzaust vom Kopf weg, so dass er aussah wie ein Rabe, der zu nahe Bekanntschaft mit einem Deckenventilator gemacht hatte. Ich bemerkte, wie Marie sich in ihrem Sitz aufrichtete und ihr schönstes Lächeln aufsetzte. „Könnt ihr auch ein bisschen leiser sein?“ Murrend schlurfte er zurück und schloss die Tür hinter sich. Ich lachte leise in mich hinein und fühlte gleichzeitig aufkeimende Gewissensbisse. Wegen mir war er die ganze Nacht wach gewesen und wegen meines verrückten Traumes hatte er auch am Morgen keinen Schlaf gefunden. Marie drehte die Tasse in ihren Händen.
„Sag mal“, begann sie zögerlich, „Zwischen euch beiden – ist da was?“
„Äh, nein.“
„Ganz sicher?“ Gute Frage. Ich hatte Michel nicht hassen, sondern lieben gelernt. Aber auf die gleiche Weise, wie ich Marie liebte. Als Freund, als Vertrauter, als Lehrer liebte ich ihn. Aber als Mann? Nein, auch wenn er mir immer wieder zu verstehen gab, dass er mehr von mir wollte, als nur Freundschaft.

„Marie, das mit uns ist kompliziert.“
„Du hast noch eine halbe Stunde Zeit, bevor du zur Arbeit musst, oder?“
„In einer halben Stunde ist das bestimmt nicht erklärt. Aber gut. Ich habe dir doch gesagt, dass ich im Moment einfach keinen Mann gebrauchen kann, aber ab und zu möchte sich doch jede Frau begehrt fühlen, oder?“ Sie nickte seufzend. „Genau das gibt mir Michel. Er gibt mir das Gefühl, dass ihm etwas an mir liegt, dass er mich begehrt. Nicht mehr und nicht weniger.“ Skeptisch zog sie die Augenbrauen hoch.
„Also seit ihr so etwas wie Bettfreunde?“ Ich lachte laut, bremste mich aber, als ich Renés neugierige Blicke bemerkte.
„Nein, wir haben nichts miteinander. Es ist eher so ne platonische Sache.“
„Mal sehn, wie lange noch.“ Was meinte sie denn damit? Mit gespielter Lässigkeit fragte ich sie danach.
„Es liegt an der Art wie du ihn ansiehst, Annabelle. Ich weiß auch nicht, aber irgendwie so – ach ich weiß auch nicht.“ Wunderbar, wenn man so klare Antworten erhält. „Auf jeden Fall sieht er mich kaum an, wenn du im Raum bist. Bei Michel habe ich keine Chance. Leider“, fügte sie bedauernd hinzu. Ich war froh darum. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn Michel sich für sie interessiert hätte. Immerhin wusste ich, was er mit mir gemacht hatte.

„Musst du nicht langsam zur Arbeit?“ Maries tadelnde Stimme holte mich unsanft aus meinen Gedanken. Fluchend bemerkte ich, dass die Zeiger auf der Uhr schneller als erwartet voran gekrochen waren und begann hektisch nach meiner Servierschürze zu suchen. Marie zauberte sie schließlich unter dem Flügel hervor und schickte mich grinsend hinaus auf die Straße.

***

Nachdem mir so etwas ein paar Mal passiert war, sah ich mich schließlich als fristlos gefeuert und hängte meine Servierschürze zwangsweise an den Nagel. Mein Chef war es leid, sich ständig meine Ausreden anhören zu müssen. Noch dazu, wenn das Weihnachtsgeschäft nur so brummte. Ich hatte mich seit November auf ein verschneites Paris gefreut, doch bis auf einige wenige, zögerlich zur Erde segelnde Schneeflocken, hatte sich nichts getan. Besagte Schneeflocken schienen es nämlich zu bevorzugen als eiskalte und scheinbar endlose Regenschauer nieder zu gehen. Wenn ich meinen Blick hob, den Regenschirm leicht zur Seite drehte und an der Pont Neuf in die Seine hinabblickte, hatte ich das Gefühl auf einem treibenden Floß und nicht auf einer Brücke zu stehen. Der Fluss schwoll ohne Unterlass an und es grenzte fast schon an ein Wunder, dass er noch nicht ganz Paris überschwemmt hatte.

Ich verbrachte die Tage damit mit René durch die Straßen zu ziehen. Maries Wohnung war zu winzig um etwas Vernünftiges unternehmen zu können und unsere Wohnung war bis auf weiteres tagsüber tabu. Michel, der jede Nacht auf dem Dach hockte und durch das Oberlicht in Renés Zimmer hinunterstarrte, hatte tatsächlich ein großes Schlafdefizit auszugleichen. Also machte ich mit dem Kleinen Paris unsicher. Lustlos stapfte der Junge neben mir durch die Gegend, während ich mit aller Kraft versuchte, ihm ein Lächeln abzuringen. Meist gelang dies in den großen, weihnachtlich aufgerüschten Kaufhäusern. Vorzugsweise in den Spielwarenabteilungen der selbigen, wo sich Renés Wunschliste an „Papa Noel“ jedes Mal beträchtlich verlängerte.

„Wo willst du denn das alles aufschreiben?“
„Ich kann doch noch gar nicht schreiben!“, prustete er vergnügt und erklärte mir, dass ich für ihn schreiben sollte. Ich erwog ernsthaft den Kauf von mehreren Rollen Klopapier um diese enorme Aufgabe überhaupt bewältigen zu können. Nach einigen neuen Punkten auf der Liste sehnte ich seine baldige Einschulung herbei.
„Frohe Weihnachten“, trällerte die Kassiererin mir hinterher, als ich mit der höchst wirksamen Bestechungsmethode mit dem klangvollen Namen Schokoriegel in der Tasche das Kaufhaus verließ. Gut der erste Advent war ja schon am letzten Sonntag gefeiert worden, doch dieses furchtbar fröhliche Vor-Weihnachts-Getue ging mir entsetzlich auf den Wecker.

„Was hältst du davon, wenn wir wohin gehen, wo’s warm ist, hmm?“, fragte ich betont beiläufig. Ein leichtes Klappern, das von Renés Zähnen stammen konnte, antwortete. „Ich hab ne Idee! Wir könnten doch ins Museum gehen.“ Hauptsache irgendwohin wo kein Weihnachtsjahrmarkt aufgezogen wird, fügte ich in Gedanken noch hinzu. Wenn ich noch einmal Jingle Bells höre, raste ich aus. Doch meine gekünstelt freudig quietschende Stimme verfehlte seine beabsichtigte Wirkung. Der Schokoriegel allerdings nicht.

Wieder befanden wir uns im Louvre und René zog mich zielstrebig durch die Säle. Meine Versuche ihn auf die Schönheit italienischer Renaissancemalerei hinzuweisen, schlugen gänzlich fehl. Stattdessen trabte er schnurstracks zum nächsten Aufseher und fragte mit bittender Kinderstimme, wo denn die „die eingemachten Menschen“ seien. Wie zum Teufel hatte ihm Michel denn das Prinzip der Mumienherstellung bitteschön erklärt? Mit Einmachgemüse und Konfitürenproduktion? Entschuldigend lächelnd half ich dem doch sehr verwirrten Aufseher auf die Sprünge.
„Er meint die Mumien in der ägyptischen Sammlung.“ Groß und klirrend fiel der Groschen und mit großen Gesten wurde uns der Weg erklärt. Die Leute rundherum, allesamt Touristen, lächelten uns freudig an und ich hörte wie eine junge Frau mit starkem amerikanischem Akzent etwas von „Kunst… Franzosen… Wiege gelegt“ flüsterte. Wir verbrachten den halben Tag im Louvre und René wurde es nicht müde immer wieder nach grausigen Details zur Herstellung von Mumien zu fragen.

„Und die haben wirklich das Gehirn durchgeschlagen, bis es zur Nase heraus rinnt? So wie wenn man Schlagsahne macht?“, fragte er leider sehr laut, als wir abends im Café saßen und Kuchen aßen, den Marie eigentlich um diese Zeit verboten hatte. Kaum zu glauben, aber die Stimme eines Fünfjährigen ist lauter, als die Stimmen von hundert plaudernden Café-Besuchern.
„Ja“, zischte ich peinlich berührt und stocherte in meinem Apfelkuchen herum. Inzwischen erinnerte er mich an genau jene Gehirnmasse die René derart faszinierte. Angewidert schob ich den Teller von mir, während der Knirps mir gegenüber mit Genuss weiterkaute und sich schließlich auch noch mein Stück einverleibte. Eine Zeit lang herrschte Stille und durch die Fensterscheiben des Cafés beobachtete ich den Verkehr. Die Gehwege waren fast leer. Kaum jemand wollte bei dem strömenden Regen aus dem Haus gehen.

Im Schatten eines Kioskhäuschen bemerkte ich eine schwache Bewegung. Als ich genauer hinsah erkannte ich eine Frau mit kurzen violett gefärbten Haaren, die mir den Rücken zuwandte. Am Hinterkopf, direkt unter dem Haaransatz zog sich eine dünne Farbspur zum Rücken hin. Anscheinend nicht der beste Friseur. Sie drehte sich um und lächelte mich direkt an. Einen Augenblick stutzte ich, doch dann wusste ich, weshalb sie meine Aufmerksamkeit derart gefesselt hatte. Kassandra hatte mich entdeckt. Ohne den Blick von ihr abzuwenden, stand ich auf. René drückte ich auf seinen Stuhl zurück.

„Bleib sitzen. Ich komme gleich wieder.“ Eine Kellnerin bat ich im Vorbeigehen kurz auf ihn aufzupassen und schon stand ich draußen im strömenden Regen und stellte die Wächterin zur Rede.
„Was hast du hier zu suchen, Kassandra?“ Selbstbewusst lächelnd legte sie den Kopf zur Seite und funkelte mich an.
„Ich fordere mein Opfer, Annabelle.“
„Oh, du willst dein Opfer? Tja, tut mir leid, aber ich bin nicht mehr zu haben. Dein Vorhaben hat leider ein Anderer zu Ende gebracht.“ Einen Augenblick lang war ich von mir selbst überrascht. Hier stand ich und blaffte eine Vampirin an, die alt genug war um mich mit einem einzigen Schlag töten zu können. Sie lachte, heiser wie eine Hyäne und durchdringend wie das Geräusch von Fingernägeln, die über eine Schultafel kratzen.
„Du weißt genau, dass ich den Kleinen da will. Gib ihn mir und ich werde dein Verbrechen vergessen.“
„Du hast nicht das Recht sein Leben einzufordern, nur weil ich Scheiße gebaut habe.“
„Die Regeln geben mir das Recht.“
„Ich pfeife auf deine bescheuerten Regeln!!! Du wirst René nicht kriegen! Nicht von mir noch von sonst jemandem. Also such dir was anderes zum Spielen und verpiss dich!“ Könnten Blicke töten, hätte ich sie auf der Stelle und ohne Mühe umgebracht.

„Ihr könnt ihn nicht ewig beschützen“, schnarrte sie. „Eines Nachts werdet ihr unvorsichtig und dann hole ich ihn mir sowieso. Also gib ihn mir gleich und erspare dir sehr viel mehr Ärger, Annabelle. Ich meine es dir nur gut.“
„Pah!“ Doch etwas begann in meinem Kopf zu rattern. Sie hatte Recht. Eines Nachts würden wir nicht mehr aufpassen können und so lange würde sie warten. Irgendwann, ob früher oder später, würde sie ihn an sich reißen. Und so wie ich sie kannte, würde es ein langer qualvoller Tod für ihn werden. Kassandra wandte sich ab und ging einige Schritte den Gehweg hinunter, wohl wissend, dass ich sie noch einmal zurückrufen würde.

„Ich mache dir einen Vorschlag. Ich töte den Jungen aus dem Club und du lässt dafür René in Ruhe weiter leben. Du kommst nicht einmal mehr in seine Nähe! Ist das klar?!“
Ihr Körper schüttelte sich vor Lachen und amüsiert zeigte sie dabei ihre spitzen Zähne. Das Traumbild der schrecklichen Aufseherinnen schwebte plötzlich klar vor meinem geistigen Auge.
„Du tauschst ein Leben, gegen das andere? Du überraschst mich, Annabelle. Wer hätte das von dir gedacht?“ Sie streckte mir ihre Krallen hin.
„Ich nehme dein Angebot an.“ Und ich schlug ein.

***

Suchend schweifte mein Blick durch den Raum. Auf der Tanzfläche befanden sich gerade einmal zwei Verrenkungskünstler und die Tische rundherum leerten sich langsam. Ich durchstreifte die angrenzenden Räume in denen sich verschiedene Pärchen auf den Sofas lümmelten. An der Bar entdeckte ich ihn schließlich. Einsam saß er auf einem der Hocker und nippte an seinem Drink, wie eine Insel der Ruhe in einem Meer voller Bewegung. Noch einmal holte ich tief Luft, bevor ich mich betont elegant neben ihn setzte. Er beachtete mich nicht, starrte nur weiter in das Glas.

„Wartest du auf jemanden?“ Überrascht sah er auf. Seine Augen flackerten vor Freude und Furcht zugleich, als er mich schließlich erkannte. Er nickte.
„Ich warte auf einen Traum.“ Seine Lippen zitterten. „Jeden Abend war ich hier und habe auf dich gewartet! Ich wollte dich nur noch einmal sehen.“ Seine Unschuld rührte und erschreckte mich zugleich. „Willst du denn gar nicht wissen, wie ich heiße?“
„Nein.“ Sag mir keinen Namen, Junge. Ich kann niemanden töten, dessen Namen ich kenne. Sein Blick wanderte von meinen Augen hin zu meinem Hals und blieb in meinem viel zu tiefen Ausschnitt hängen. Als er sich dessen bewusst wurde, starrte er verlegen an mir vorbei. Und mir wurde klar, dass ich es jetzt beenden musste.

„Kommst du mit? Frische Luft schnappen.“ Sein Adamsapfel hüpfte nervös auf und ab, als er schluckte und zögernd mit mir ging. Wie ein Schaf zur Schlachtbank, dachte ich bei mir und lächelte traurig. Sein Leben gegen Renés. Kein fairer Tausch. Sanft strich ich über seinen Drei-Tage-Bart und vermied den Blick in seine Augen.
„Du wirst mich jetzt töten, richtig?“ Mein Herz schien für einen Moment stehen zu bleiben. Er hatte es so ruhig und leise geflüstert, als würde er über die Farbe von Gras reden. Er wusste, weshalb ich gekommen war. Ich drückte ihn an mich und zog seinen Kopf zu mir herunter. „Ja“, flüsterte ich ihm ins Ohr und biss zu.

Keine warmen Schauer erfüllten mich, kein rasendes Herz nahm mir den Atem, keine Kraft, die sich von ihm auf mich übertrug. Stattdessen fühlte ich Stiche wie von tausend winzigen Nadeln, die mit Hochgeschwindigkeit durch meine Adern schossen. Tränen sammelten sich in meinen Augen und tropften auf seine Schulter. Sein Körper war fast blutleer als er sich aufbäumte und in meinen Armen verschied. Immer noch weinend ließ ich ihn auf den Boden sinken, zog Rebekkas Dolch aus der Tasche und verwischte mit einem Stich in seinen Hals meine Spuren. Weiße und schwarze Nebel schlichen um mich herum. Rasch trocknete ich meine Tränen und ließ die Nebel mit dem Leichnam des Jungen allein.

Kassandra hatte alles aus sicherer Entfernung beobachtet. Mit schleichenden Schritten trat sie aus dem Schatten und begutachtete mein Werk.
„Gut gemacht, Annabelle. Du hast ihn getötet.“
„Ich habe meinen Teil der Abmachung eingehalten. Halte du dich an deinen Teil.“ Verdächtig lächelnd fuhr sie sich durch die violetten Strähnen, den Blick immer noch auf das bleiche Gesicht des Jungen gerichtet.
„Wirklich gute Arbeit. Ein perfekter Mord. Meinst du nicht auch, Marie?“

Erschrocken wirbelte ich herum. Dort, im Schein der Straßenlaternen stand meine Freundin. Die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen, die Hand auf den Mund gelegt, als wolle sie einen verräterischen Schrei unterdrücken. Sie zitterte und aus der Ferne hörte ich gepresste Schluchzer und ungläubiges Gemurmel. Brüllend vor Zorn stürzte ich mich auf Kassandra.

„Du Miststück! Miese Schlange! Verreck doch! Erstick an deinem dämlichen Grinsen!“ Heiser lachend ließ Kassandra sich von mir schlagen. Sie wehrte sich nicht mal dagegen. Ich zog meinen Dolch, doch im selben Augenblick schleuderte sie mich mit einer einzigen Armbewegung an die gegenüberliegende Hauswand. Ich schrie vor Schmerz, als die Knochen meines Körpers krachend barsten. Stöhnend und bewegungsunfähig lag ich im Schatten der Häuser. Kassandra beugte sich zu mir herunter.

„Spar dir deine Kraft, Annabelle. Du wirst mich niemals besiegen.“
„Du brichst dein Versprechen, Schlange!“
„Nein. ICH werde deinen kostbaren René nicht anrühren und nie mehr in seine Nähe kommen. Aber unsere Abmachung galt nur für ihn.“ Hämisch grinsend zog sie mich am Kragen hoch. Mühsam unterdrückte ich einen neuen Schmerzensschrei. Ich suchte nach Marie, doch der Platz unter der Laterne war leer und nur eine alte Zeitung flatterte im Nachtwind. Wie einen Sack Kartoffeln ließ sie mich zurück auf den Boden fallen. Ein letzter verächtlicher Blick streifte mich, bevor sie in der Dunkelheit verschwand. Grässlich knackend sprangen meine Knochen wieder zurück in ihre alte Form, während ich in den dunklen Himmel starrte. Dieses verdammte Miststück! Kein Sterblicher darf je davon erfahren. Tod oder Verbrüderung. Rebekkas Worte schwirrten in meinem Kopf. Kassandra hatte Marie zum Tode verurteilt.

***

Weinend hockte ich in Maries winziger Küche. Meine Kleider, mein Gesicht, meine Hände, alles an mir war blutverschmiert. Marie lag tot, mit weit aufgerissenen Augen vor dem Herd. René hatte sich unter dem Tisch verkrochen, als ich ankam. Kassandras Gefährte hatte ihn nicht getötet, sondern zwischen Leben und Tod schwebend einfach fallen gelassen. Sanft wiegte ich den Kleinen in meinen Armen.
„Alles wird wieder gut. Es wird alles wieder gut.“

Seine Augen sahen mich ausdruckslos an und ich wusste, dass er genauso wenig an meine Worte glaubte, wie ich selbst. Blut rann beständig aus der Wunde an seinem Hals und alle meine Versuche den Fluss zu stoppen, waren gescheitert. Renés Lippen zitterten vor Angst und Schmerz.
„Du könntest ihn retten.“ Jeder Muskel in mir spannte sich an, bereit zum Kampf. Doch Rick stand nur lässig an den Türrahmen gelehnt, die Arme verschränkt und sah erwartungsvoll auf mich herab.
„Sag mir wie!“ Rick lächelte höhnisch und zeigte seine blutbesudelten Fangzähne.
„Mach ihn zu einem von uns. Gib ihm dein Blut.“

Ohne lange nachzudenken, biss ich mir die Schlagader auf. Renés kleine Hand drückte sich gegen meinen Oberschenkel und bevor ich ihm mein Blut zu trinken geben konnte, erkannte ich die nackte Panik in seinem Blick. Sein Gesicht verzog sich zu einer schmerzverzerrten Fratze. Er versuchte zu schreien und brachte doch nur ein Röcheln zustande. Schwarze Augen sahen mich flehend an und ich begriff. Schluchzend drückte ich ihn an mich. René durchlitt in meinen Armen die Hölle und ich würde ihm nicht helfen, wenn ich ihn zu einem der Unsrigen machte. Sein Herz schlug viel zu schnell und auf seiner Stirn stand kalter Schweiß.

Vielleicht konnte ich ihm anders helfen. „Vergib mir“, flüsterte ich in sein Ohr und brach ihm mit einem einzigen Ruck das Genick. Sein Körper wurde schwer und sackte in sich zusammen. Alle Anspannung fiel von seinen Muskeln ab, in dem Moment, da seine Seele den kleinen Leib verließ. Mit einem Mal sah es aus, als würde er ruhig und friedlich schlafen. Durch den Schleier meiner Tränen sah ich Rick, wie er noch immer in der Tür stand und lachend den Kopf schüttelte.
„Du bist schwach, Annabelle.“ Damit drehte er sich um und ging hinaus.

All mein Hass, meine Verzweiflung und mein Zorn wurden von der Kette gelassen wie eine Horde tollwütiger Hunde und blind vor Wut stürzte ich ihm nach.
„Bleib stehen, du verdammter Bastard! Ich bringe dich um! Ich bring dich um!“ Meine Schreie hallten in den leeren Gassen unnatürlich laut wider und verfolgten den Mörder wie das Grollen eines näher kommenden Gewitters. Nicht weit von mir entfernt verschwand seine schattenhafte Gestalt in einem Hochhaus und ich folgte ihm. Im Treppenhaus hastete ich seinen Schritten nach bis zum Flachdach, hoch über der Stadt. Ruhig sah er mich an, als ich ihn einholte.

„Hör mich an, Anna.“ Seine Stimme klang durch die spitzen Zähne hindurch fauchend und bedrohlich. „Hör mir zu.“ Wutschnaubend stürzte ich mich auf ihn und bemerkte zu spät, wie er mir auswich. Im Lauf packte er meine Arme und kugelte mir fast die Gelenke aus, als er sie mir hinter dem Rücken verdrehte. „Hör mir zu!“ Ich schrie und trat nach ihm und schaffte es schließlich mich von ihm los zu reißen. Doch sofort schlossen sich seine Pranken um mein Gesicht.

„Hör mir zu. Du bist vielleicht schwach, doch diese Schwäche ist zugleich deine Stärke, du Dummerchen. Du bist in Gefahr, Feuerkind. Noch mehr als du jetzt glaubst. Du kannst deinen Freunden nicht trauen, Annabelle. Janko benutzt dich nur…“
„Lass mich sofort los, du verdammter Mörder! Du hast sie getötet“, jaulte ich wie ein zorniger Terrier.
„Damit du leben kannst. Der Rat weiß von deinen Freundschaften mit den Sterblichen, Annabelle. Ich musste sie für dich töten.“
„Lass mich!“
„Du kannst ihnen nicht trauen, Annabelle. Sterbliche reden zuviel. Mit deiner Unachtsamkeit gibst du Kassandra nur immer neue Gründe dich unbehelligt töten zu können. Ich kenne sie. Sie wird niemals Ruhe geben, bis sie ihr Ziel erreicht hat. Und Janko kannst du erst recht nicht trauen. Er treibt mit dir nur seine Spielchen.“
„Aber dir soll ich trauen? Du bist wahnsinnig!!!“ Verzweifelt zerrte ich an seinen Händen, doch er presste sie schraubstockgleich noch fester zusammen.

„Du bist die Mutter der Göttin, Annabelle. Du wirst es sein. Die Jünger glauben fest daran. Sie werden alles tun um dich zu bekommen und Kassandra wird alles für sie tun, wenn sie dafür Michel bekommt. Bitte komm mit mir. Ich kann dich vor ihnen beschützen, Annabelle. Vor den Jüngern, vor Kassandra, vor Janko, vor dem Rat. Komm mit mir, wenn dir dein Leben lieb ist.“

„Lass meine Tochter los, Richard.“ Ricks Kopf zuckte zur Seite und wütend fletschte er die Zähne. Widerwillig entließ er mich aus seinem Klammergriff. „Erzählst du meinem Kind etwa wieder deine Märchen?“ Rick fauchte wie eine wütende Katze.
„Damit kommst du nicht durch, Ungar.“ Verwirrt sah ich in Jankos starre Gesichtszüge. Was zur Hölle ging hier vor? „Deine Spielchen werden dir den Thron nicht wieder bringen, Janko. Deine Zeit ist längst vorbei. Du kannst nicht gewinnen. Diesen Krieg kannst du niemals gewinnen. Du opferst ihre Seele umsonst.“ Sein irrer Blick traf mich. „Aber das lasse ich nicht zu!“ Ich fühlte seine Hände um meinen Hals und einen Augenblick später hing ich röchelnd über dem Abgrund.

Ich wünschte mir nichts mehr, als dass er seinen Griff lockerte und gleichzeitig fürchtete ich nichts mehr als das. Blut stieg meine Kehle hoch und tropfte über meine Lippen. Mit beiden Händen hielt ich mich an seinem Arm fest und versuchte meinen Hals frei zu kriegen, doch er war zu stark. Zweihundert Jahre Leben hatten ihn hart wie Eisen werden lassen. Mich, die Neugeborene, würde er lächelnd wie eine Fliege zwischen seinen Fingern zerquetschen. Rick lachte laut, dunkel und wahnsinnig. Langsam, unaufhaltsam schwanden mir die Sinne. Sein Druck wurde stärker und wie ein Wurm an der Angel wand ich mich vor Schmerzen. Bis in den winzigsten Nervenstrang war mein Körper angefüllt von höllischen Qualen, ein einziges Hämmern und Dröhnen. Als Mensch hätte ich längst meinen letzten Atemzug getan. Durch meinen trübe gewordenen Blick sah ich Ricks lachende Grimasse. Doch ich sah noch etwas anderes. Jankos roter Schatten huschte unbemerkt hinter Rick und ehe ich begriff was hier vor sich ging, fiel ich.

Wie ein dünnes Blatt im Wind flog ich dem Erdboden entgegen. Die erleuchteten Fenster des Hochhauses sausten an mir vorbei. Ich gab mir gar keine Mühe mich irgendwie abfangen zu wollen. Ich hätte es auch nicht mehr geschafft. Ich war nicht mal überrascht, als ich nicht hart aufschlug, sondern wie von einem weichen Kissen aufgefangen wurde. Schlaff, zu keiner Muskelregung fähig lag ich in irgendjemandes Armen und wurde sanft auf den Boden gebettet. War ich tot? Mein Blick fing nichts mehr ein, schweifte nur ziellos über den kalten Nachthimmel und suchte nach dem Licht, von dem immer alle erzählten, die dem Tod nahe genug gekommen waren. War es mir etwa nicht vergönnt in den warmen Schein zu gehen? Einfach dorthin gehen, wo jeder Mensch hingeht und nicht mehr wiederkehrt. Dorthin wo sie mich begrüßen werden, all die kleinen hilflosen Menschen, denen ich das Leben geraubt hatte. Wo Marie und René auf mich warteten. Doch das Licht kam nicht.

Es blieb dunkel und das Blut rauscht in meinen Ohren. Der Schmerz kehrte zurück, doch gleichzeitig spürte ich auch die Kraft wieder in meinen Gliedern. Vorsichtig versuchte ich mich aufzurichten. Jemand reichte mir seine Hand. Sanft und schweigend. Seine Hände halfen mir auf die Beine, sein Arm stützte mich, als ich auf wackligen Beinen stand und meine Augen noch immer nicht mehr als den Belag der Straße sahen. Langsam, sehr langsam hob ich den Kopf und suchte das Dach des Hochhauses. Aber von hier unten aus konnte ich nichts sehen. Hoch über mir hörte ich einen markerschütternden Schrei und kaum eine Sekunde später schlug ein Mann hart auf dem Asphalt auf. Schaudernd hörte ich die Knochen splittern, sah wie der aufgeplatzte Körper seine Kleidung rot färbte und alle Farbe und Kraft mit dem Blut aus ihm wich. Tiefe Falten gruben sich in das vorher makellose Gesicht, die Haut wurde grau und ledrig. Es war als würde eine Leiche in Lichtgeschwindigkeit verwesen, Doch diese Leiche bewegte sich noch.

Er ruderte mit den Armen und versuchte aufzustehen. Vergeblich. Plötzlich erstarrt blieb er liegen. Ich taumelte zurück. Was ich da sah, war zuviel für mich. Würgend suchte ich nach Halt und fand ihn wieder bei ihm. Er zog mich in seine Arme und ich vergrub mein Gesicht in seinem Hemd. Ein Windstoß ließ seinen Mantel gegen meine Beine schlagen und ich presste meinen Körper noch näher an ihn. Jankos Mantel flatterte wie ein rotes Signaltuch hoch über unseren Köpfen.

***

Durch die offen stehende Tür des kleinen Appartements waren eine Menge verschiedene Stimmen zu hören, die nur kurzfristig verstummten als ein Hüne von Mann den Raum betrat.
„Und? Was haben wir?“, waren seine ersten Worte an die versammelte Gesellschaft von Polizisten. „Was wohl?“, kam die sarkastische Antwort zurück.
„Schön dass du’s noch geschafft hast, Charles. Die Nachbarin von gegenüber hat sie durchs Schlüsselloch hindurch entdeckt. Die Alte ist zwar neugierig, aber in dem Fall war’s ganz nützlich.“
„Ah ja. Sonst irgendwas Wichtiges?“
„Ja. Die Nachbarn, denen die Protzwohnung eine Etage tiefer gehört, sind spurlos verschwunden. Sie haben sich tagsüber um den kleinen Burschen hier gekümmert.“
„Dann hätten wir ja schon die ersten Verdächtigen.“
Charles sah sich um und sein geschulter Blick entdeckte halb verborgene Seltsamkeiten.
„Irgendwas stimmt hier doch nicht. Jean, wurden sie bewegt?“
„Nicht von uns, soviel ist klar. Aber etwas stimmt tatsächlich nicht. Dem Jungen wurde das Genick gebrochen, was wahrscheinlich auch die Todesursache war. Das Seltsame an der Sache ist aber, dass sie nach Meinung der Pathologin beide völlig blutleer sind.“
„Kein Wunder. Was für eine Sauerei.“
„Es ist trotzdem zu wenig Blut, Charles.“
„Innere Verletzungen?“ Jean schüttelte den Kopf. „Sieht ganz offensichtlich nicht danach aus, oder Charles?“
„Wie zum Henker dann?“ Jean hockte sich neben die Leiche von Marie Bassé. Mit seinen behandschuhten Fingern hob er vorsichtig eine Strähne über ihrem Ohr hoch, so dass Charles die kleinen, kreisförmigen Einstichlöcher am Hals sehen konnte. Ungläubig starrte er auf die Punkte und fuhr sich ratlos durch die ergrauten Locken.

„Das ist ein Scherz!? Und sie sind sicher verblutet? Keine Injektion oder so was? Ganz sicher verblutet?“ Jean nickte, hoch erfreut, dass er seinen Boss ins Stottern gebracht hatte.
„Vielleicht… mit einem entsprechend präpariertem Gegenstand, könnte der Mörder…“
„Ich hätte noch eine ganz andere Theorie, Charles“, schmunzelte Jean und zwinkerte herausfordernd. „Und die wäre?“
„Ganz einfach: Vampire!“

***

Wie viel kann ein Mensch ertragen bevor er zerbricht? Manche antworten wohl, dass der Mensch an sich ein windiges Gebilde ist. Selbst die Bibel vergleicht den Menschen mit einer Feldblume. „Fährt der Wind darüber ist sie dahin.“ Andererseits gibt es Menschen, die alles auszuhalten scheinen, denen nichts auf der Welt zu schaffen macht und die alles mit eisernem Willen durchstehen.

Ich gehöre nicht zu ihnen. Mein Wille war gebrochen, mein Herz wie tot. In den Tagen und Nächten in denen wir uns versteckten, dämmerte ich wie eine Komapatientin vor mich hin. Ich nahm wohl wahr in welche Keller, Kirchen und Grüfte mich Janko führte; ich verstand ihn wenn er mit mir sprach und ich gehorchte, wenn er mir befahl während des Tages über seinen Schlaf zu wachen. In düsteren Gewölben verbrachte ich meine Tage. Leise Renés Lieblingslied vor mich hinsummend, saß ich auf harten Kirchenbänken und erntete die mitleidigen Blicke der Gläubigen, die nicht wussten, dass dort hinten unter der steinernen Grabplatte eines Königs neben dessen staubigen Überresten der Grund meines Hier seins schlief. Nachts klopfte ich dann an Jankos Sarg, der auch schon mal eine Kartoffelkiste oder Kleidertruhe in irgendjemandes Keller sein konnte und wieder nahm er mich am Arm und führte mich hinaus ins nächtliche Paris. Er brachte mich in die Schlafzimmer der Menschen und wenn ich ihn dann nur ratlos anstarrte und wieder leise sang, biss er ihnen ins Handgelenk und fütterte mich wie ein Kind.

Michel bekam ich kaum zu Gesicht. Er trieb sich den ganzen Tag und die halbe Nacht irgendwo herum und wenn er mich ansah, hielt ich den Schmerz in seinem Blick kaum aus. Nicht Rick hatte sie getötet. Ich hatte es getan. Alles war einzig und allein meine Schuld. Ich sah auf meine Hände und glaubte Unmengen von Blut daran kleben zu sehen. Manchmal hörte ich Michels Stimme in meinen Träumen. Aber diese Träume waren so wirr, so voller Fragen und immer wieder quälten mich die blutüberströmten Fratzen von Marie und René, die mich klagend anstarrten. Ich fürchtete mich vor dem Einschlafen und dennoch zwang mich mein Körper dazu. Wäre Jankos Fürsorge nicht gewesen, dann hätte ich mich in jenen Tagen schutzlos in die Mittagssonne gestellt und mein Leben damit beendet.

Summend saß ich mal wieder in irgendeiner Kirche. Sie war sehr groß und schöne bunte Rosettenfenster ließen ein wenig Licht herein. Der Duft der Kerzen vermischte sich mit dem Geruch von Schnee, der von draußen durch zahllose Besucher herein getragen wurde. Grüne Tannenzweige schmückten die Kathedrale und ein Knabenchor probte ein wunderschönes Lied. Es kam mir bekannt vor, aber in meinem wirren Geist ließ es sich nicht einordnen. Für einen Augenblick unterbrach ich mein Gesumme und lauschte.
„Wunderschön, nicht wahr?“ Neben mir saß ein Mönch in brauner Kutte und lächelte mir zu. Zögernd nickte ich und begann wieder mit meiner Melodie.
„Ein herrlicher Chor, ein perfekter Weihnachtsbaum und jede Menge frisch gefallenen Schnee. Wie könnte Weihnachten noch schöner sein?“ Er schien auf irgendeine Reaktion zu warten. Ohne Erfolg.
„Sie sind mir heute Morgen schon aufgefallen. Wollen Sie den ganzen Tag hier bleiben? Hier in der Kälte?“
„Bis die Nacht kommt.“
„So lange?“ Ich nickte heftig.
„Wollen Sie nicht lieber mitkommen? Ich weiß, wo Sie was Anständiges zu essen kriegen und Weihnachten feiern können. Außerdem ist es da wärmer.“ Mit fest aufeinander gepressten Lippen schüttelte ich den Kopf.
„Muss aufpassen.“
„Worauf denn?“
„Muss aufpassen!“

Seufzend gab der Mönch auf und erhob sich ächzend von der Kirchenbank. „Falls sie es sich anders überlegen, fragen sie einfach einen Priester oder einen der Chorjungen nach Pater Maurice. An unserem Tisch ist auf jeden Fall noch ein Platz für sie frei, Mademoiselle.“ Langsam schlurfte er in Richtung Seitentür. Plötzlich erinnerte ich mich an etwas.
„Warum hasst er mich?“, rief ich ihm laut hinterher und einige Umstehende wandten mir erschrocken die Köpfe zu. Pater Maurice kam zurück.
„Wer soll sie hassen?“
„Na, der da.“ Wie ein kleines Kind deutete ich auf die Jesusstatue.
„Aber, Mademoiselle! Gott hasst Sie doch nicht. Gott liebt jedes seiner Kinder.“
„Ich bin aber nicht sein Kind.“

Und plötzlich brach alles in wirren Worten aus mir heraus. Die Erinnerungen, die meine Verwirrung von mir ferngehalten hatte, drangen wieder in mein Bewusstsein und meine ganze Geschichte legte ich diesem einen alten Mann zu Füßen. Mit jedem Satz wurde er blasser, mit jedem geflüstert gebeichteten Mord wich er ein Stück von mir zurück und dennoch blieb er bis ich dort angekommen war, wo wir jetzt saßen. Mehrmals hatte er während meiner Erzählung das Kreuz geschlagen, mehrmals sah ich den Zweifel in seinen Augen. Hatte er hier wirklich eine arme Irre vor sich sitzen, oder erzählte sie ihm die Wahrheit? Und an noch etwas erinnerte ich mich. Damals, als ich noch ein Kind war, hatte ich es gelernt. Es war schon lange her, doch wie ferngesteuert kamen diese Worte über meine Lippen. „Vater vergib mir, denn ich habe gesündigt.“

Pater Maurice holte ein paar Mal tief Luft und sah sich verstohlen um. Wahrscheinlich hoffte er immer noch es hier mit einem üblen Scherz zu tun zu haben. Doch mein flehender Blick belehrte ihn eines besseren.
„Du willst mir sagen, dass es so etwas wie Vampire gibt? Schlimmer noch, dass du selbst einer bist? Und nun? Was willst du jetzt von mir?“
„Ich bitte um Verzeihung. Bitte gewähren Sie mir das.“
„Aber du wirst wieder … Du wirst es wieder tun. Wenn du ein Vampir bist, kannst du gar nicht anders, richtig?“ Ich nickte stumm, mit Tränen in den Augen. Ja, ich würde es wieder tun. Nacht für Nacht. Noch so mancher Mensch würde durch mich sein Leben verlieren. Wieder setzte Maurice zum Sprechen an, Schweißtropfen perlten ihm von der Stirn.
„Du hast mir all das gebeichtet und als Diener Gottes werde ich schweigen. Aber was wird mit mir geschehen, wenn ich dich lossage von deiner Schuld?“
„Solange Sie schweigen und keiner der Anderen von diesem Gespräch erfährt, wird Ihnen nichts geschehen.“ Pater Maurice schloss die Augen und erteilte mir mit zitternder Hand die Absolution. Es war ein seltsames Gefühl. Plötzlich fühlte ich mich leicht wie eine Feder und gleichzeitig zog ein Stein mich wieder hinunter. Wieder hatte ich gegen die Gesetze des Rates verstoßen. Wieder wusste ein Sterblicher was ich war und dennoch …

„Ihr habt mich noch nicht“, triumphierte ich in Gedanken und sah Pater Maurice hinterher, der eilig Richtung Sakristei watschelte. Draußen versank die Sonne mit einem letzten purpurnen Glühen und die ersten Glocken läuteten zum Heilig Abend. Aufgeregt trommelte ich mit den Fingerspitzen auf der Kirchenbank herum, bis der letzte Besucher hinausgegangen war und ich endlich an Jankos Sarg klopfen konnte.

„Steh endlich auf! Ich muss dir was sagen.“ Knirschend schob sich der Deckel ein breites Stück zur Seite und ein etwas verschlafen wirkender Janko stieg heraus.
„Es ist noch zu früh, Annabelle.“
„Nein, die Sonne ist gerade untergegangen.“
Eindringlich musterte er mich. „Wie geht es dir heute, Annabelle?“
„Mir geht’s wunderbar.“ Skeptisch zog er die linke Augenbraue hoch und rieb sich mit dem Zeigefinger über den Nasenrücken. In diesem Moment sah er aus, wie ein zerstreuter Professor. Ich lächelte und hakte mich bei ihm unter.
„Es geht mir wirklich gut, Janko.“
„Das freut mich, aber es überrascht mich, dass du so plötzlich wieder genesen bist.“
„Sagen wir einfach mir ist ein Engel erschienen, der mich zurück in die Welt der Lebenden gebracht hat und belassen es dabei. Einverstanden?“
Einigermaßen verwirrt nickte Janko, als ich ihn hinaus in den Schnee führte. Der Vorplatz der Kirche bot ein perfekt weißes Weihnachtsbild und mit neuer Freude im Herzen bewarf ich Janko mit Schneebällen.

***

In der Nacht darauf schickte mich Janko los um nach Michel zu suchen. Unsere Angelegenheiten waren geregelt, ich hatte wieder meinen vorherigen Geisteszustand erreicht und Janko drängte es stark danach weiter zu ziehen. Nachdem die Polizei nun schon Plakate aushängte mit dem Titel „Die Polizei bittet die Bevölkerung um Hinweise …“ wurden die Straßen von Paris langsam aber sicher zu heiß für uns. Irgendwo bei Mont Matre trieb sich mein geschätzter Lehrer herum, hatte Janko gesagt und so klapperte ich jede Kneipe rund um die weiße Zuckerbäcker-Kirche auf ihrem Hügel ab. Doch keine Spur von Michel. Ich stromerte durch die Gassen und freute mich an den lauten Pfiffen, die mir junge und nicht mehr ganz so junge Männer hinterher sandten. Doch von Michel war nichts zu sehen. Vielleicht …

Im Licht einer flackernden Straßenlaterne erkannte ich den schmiedeeisernen Zaun, der sich rund um den Friedhof zog. Die Uhr am Ende der Straße zeigte an, dass es inzwischen weit nach Mitternacht war, doch in einigen Fenstern schimmerte immer noch das sanfte Licht der Christbaumkerzen. Der Friedhof aber lag still und schwarz vor mir. Schnell und geschmeidig wie eine Katze kletterte ich über das Gitter und schlich zwischen den Grabsteinen hindurch. Hier und da konnte ich einen Obdachlosen im Schlaf murmeln hören, oder eine streunende Katze sprang mir fauchend in den Weg, doch sonst störte niemand die würdevolle Stille. Etwas Feierliches hatte mich erfasst und ich gab mir Mühe so leise wie nur irgend möglich aufzutreten um keinen der hier Ruhenden zu stören.

Plötzlich kam eiskalter Wind auf, zerrte an meinem Mantel und zerzauste meine Locken. Erstarrt blieb ich stehen und blickte auf ein winziges Mausoleum. Dort lagen sie eingemauert. Starr lagen sie in ihren verrottenden Särgen, die Hände klein, verschrumpelt vor der Brust gekreuzt. Gesichter, nur noch verwesende Hautfetzen auf blank durchscheinenden Knochen; klappernde Skelette, die von Ratten und Würmern zerfetzte Kleidungsstücke trugen. Irgendwo hinter mir barst ein Sarg laut krachend und gab den Blick auf seinen Besitzer frei. Rundherum sah ich die Toten in ihren Gräbern liegen, manche noch so schön, als würden sie schlafen, andere grausig anzusehen. Die Leichen, der kürzlich Begrabenen blubberten leise. Angewidert schüttelte ich mich und kniff die Augen fest zusammen. Als ich sie wieder öffnete war der Spuk vorbei. Wieder wurde es still und vom Himmel her tanzten weiße Flocken gen Erde. Weiße Weihnacht! Ein seltenes Glück.

Langsam schlenderte ich weiter und suchte in jeder Grabreihe nach Michel. Zuerst dachte ich nur der Schneefall wäre dichter geworden, doch dann erkannte ich die hellen weißen Schemen vor vereinzelten schwarzen Steinen und Familienmausoleen als das, was sie waren. Für die Sterblichen unsichtbar schwebten die Geister über dem letzten Zuhause ihres Körpers. Sie waren gefangen in ihrer Zeit. Gefangen in einem Leben, dass sie nicht loslassen wollten. Keiner von ihnen bemerkte mich, auch nicht die kleine Nebelgestalt, die emsig vor mir auf und ab hüpfte und schließlich davon schwebte.

Je näher ich dem Zentrum des Friedhofs kam, desto älter und gewaltiger wurden die Gräber. Steinerne Monumente zeugten vom Reichtum ihrer Erbauer, die jetzt genau wie alle anderen vor sich hin verwesten. Staunend betrachte ich die kuriosen Formen und den glänzenden Marmor, der so viele verschiedene Schattierungen aufwies, dass ich nach einer Weile die Augen abwenden musste, um den drohenden Schwindel abzuwehren.
Manche Mausoleen hatten die Größe von Einfamilienhäusern längst überschritten und in manchen verrosteten Gittertüren steckten vergilbte Stoffblumen und in einigen wenigen sogar frisch geschnittene Weihnachtssterne, die mit ihren dunkelroten Blättern die trübe Stimmung zu vertreiben schienen.

Ein leises, eindeutig menschliches Geräusch ließ mich aufhorchen. Vorsichtig schlich ich um die Ecke und lugte in die nächste Reihe von protzigen Grabmälern. Vor einem einsamen und im Vergleich zu den ihn umgebenden Säulen, erschreckend kleinen Marmorengel kauerte eine dunkle Gestalt. Seine Hände lagen auf der Efeubewachsenen Grabplatte und das schwarze Haar lag wie ein zerzauster Schleier vor seinem Gesicht.
„Michel?“ Er antwortete nicht, drehte nur den Kopf weg und gab sich alle Mühe mich nicht zu sehen. Zögernd kam ich näher.
„Ich hab dich gesucht.“ Keine Antwort.
„Janko meint, es wäre alles klar. Wir können morgen Abend verreisen.“
„Lass mich allein.“
Ich verstand ihn kaum. Seine sonst so weiche, melodische Stimme, hatte sich in ein raues Kratzen verwandelt. Ich setzte mich auf die Grabplatte daneben und wartete.
„Ich hab gesagt, du sollst verschwinden!“, schnauzte er mich an.
„Und ich hab Janko gesagt, dass ich dich finde und mitbringe“, entgegnete ich sachlich kühl. Ich sah, wie er die Fäuste ballte und auf seinen Lippen herum biss, als müsste er sich mit aller Kraft zurückhalten, mich gewaltsam zum Gehen zu zwingen. Doch dann erschlafften seine Hände und sacht schüttelte er den Kopf. Langsam zog er seine Hände von der Grabplatte zurück und richtete sich ein wenig auf.

„Hast du René besucht?“ Er nickte nur schwach, schüttelte aber gleich darauf wieder den Kopf.
„Ich war da. Aber ich konnte nicht dort bleiben. Ich bin weggegangen … und dann habe ich das hier gefunden.“ Mit einem Finger deutete er auf das Grab vor ihm. „Willst du wissen, wessen Grab das ist?“, fragte er flüsternd und starrte dabei noch immer das Gesicht des marmornen Engels an. Wortlos kam ich zu ihm und blickte über seine Schulter. Ich suchte nach einem Namen auf dem Sockel der Skulptur auf der Grabplatte und sogar auf dem Engel selbst, aber ich fand nichts. Michel winkte mich zu sich herab und folgsam kauerte ich mich neben ihm hin. Seine Augen schimmerten rot und über seine Wangen hatten sich silbern glitzernde Tränen verteilt. Überrascht schnellten meine Augenbrauen nach oben. Ich hatte ihn noch nie so verheult gesehen. Ich konnte mich nicht mal erinnern, ob er überhaupt je geweint hatte. Bis auf dieses eine Mal…

Mit zitternden Fingern schob er ein Stück Efeu beiseite und fuhr die verblassten Einkerbungen darunter nach.
„Dein Grab! Michel, das ist dein Name!“ Michel nickte und fuhr immer wieder die einzelnen Buchstaben nach, als wollte er sie vom Schmutz der Jahre befreien, in denen der Efeu sie bedeckt hatte..
„Meine Eltern haben es errichtet. Ein leeres Grab für ein verlorenes Kind.“ Seine Schultern zuckten leicht. Ich schwieg. Wenn er wollte, so sollte er mir seine Geschichte erzählen. Ich hörte zu.
„Ich wusste, dass sie ein Grab für mich machen ließen, aber nicht wo. Heute Abend habe ich es gefunden. Sieh es dir an Annabelle. Nur mein Name. Kein Datum, keine Geschichte, nur mein Name und hier drüben“, wieder zerrte er ein Stück Efeu beiseite. „Hier steht „In Hoffnung“. Mehr nicht. Und der Engel… Der Engel sieht aus wie Caterine.“
„Wie wer?“
„Caterine. Meine Schwester. Sie starb, bevor ich …“ Er stockte kurz und sah zu Boden. Ich wusste, was er meinte.
„Wie war sie so?“ Irritiert sah er mich an. Immer noch rollten einzelne Tränen die Wangen hinunter, doch es schien ihn nicht zu stören.
„Caterine? Sie war …“ Seine Stirn zog sich in Falten und stockend kamen seine Erinnerungen über seine Lippen. „Sie war ein Engel, Annabelle. Wann immer ich Ärger hatte, sie zog mich wieder raus. Sie war immer da, wenn ich nicht weiter wusste. Ich hab sie nie richtig zornig erlebt. Oh, doch! Einmal. Ich war wegen irgendetwas wütend und habe ihrer Lieblingspuppe den Kopf abgerissen und in den Ofen geworfen. Sie wollte mich glatt hinterher werfen.“ Michel kicherte leise und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.
„Mein Vater hat mich gerade noch vor dem Verbrennungstod gerettet und meine Mutter ist glatt in Ohnmacht gefallen, als er es ihr erzählte.“ Seine Miene verdüsterte sich wieder merklich. „Ein halbes Jahr nach ihrer Heirat war sie plötzlich tot. Sie ging gut gelaunt zu Bett und wachte nicht mehr auf. Damals war ich fest davon überzeugt, dass ihr Mann sie vergiftet hatte. Vor der Hochzeit war er arm. Arm aber adlig. Und mein Vater wollte unbedingt zum Adligen aufsteigen. Er hat Caterine verkauft. Der Mann bekam ihre Mitgift und unsere Familie hatte mit Caterine plötzlich eine Baronesse in der Verwandtschaft. Wir wurden auf protzige Bälle eingeladen und von den anderen Gästen mit ihren funkelnden Kleidern und gepuderten Perücken hemmungslos ausgelacht. Meine Eltern gaben ihr möglichstes um sich ihnen anzupassen, aber sie würden uns doch nie als gleichrangig betrachten. Ich wusste es und ich hasste die allabendlichen Gesellschaften auf denen ich mich so geziert wie möglich zu verhalten hatte. Meine Mutter dagegen plusterte sich jedes Mal auf wie ein eitler Pfau und schwebte von einer Gräfin zur nächsten. Keine dieser eitlen Gänse wusste, dass sie tagsüber wieder selbst das Haus schrubbte und dünne Suppen kochte, damit wir uns den zur Schau getragenen Luxus überhaupt leisten konnten.“ Schnaufend machte er seiner wieder aufgekeimten Entrüstung Luft.

„Am Tag von Caterines Beerdigung tat ich alles um möglichst viele der erschienen Trauergäste vor den Kopf zu stoßen, so lange, bis mich mein Vater nach draußen schickte, wo ich mein „Mütchen kühlen“ sollte. Ich zog durch die Stadt, in die Kneipen und torkelte schließlich durch die Nacht. Ich weiß nicht genau was an diesem Abend passiert ist, aber am nächsten Morgen erwachte ich in einem dunklen Keller und wurde von drei jungen Vampiren wie wertvolles Vieh bewacht. Sie sahen übel aus, Anna. Und ich war ihre lebende Blutquelle. Kurz bevor sie mir auch den letzten Tropfen nehmen konnten, tauchte Janko auf. Er verjagte sie allein durch seine Anwesenheit. Ich weiß bis heute nicht, wie er das angestellt hatte, aber ich erinnere mich an die Pistole, die er mir auf die Brust setzte. Wahrscheinlich wollte er mir den Gandenschuss geben und mich sterben lassen. Doch aus irgendeinem Grund, hat er es sich anders überlegt, wie du siehst.“ Die Kiesel unter seinen Knien knirschten, als er sich langsam erhob und mir wieder ins Gesicht sah. Ich war längst aufgestanden und hatte von dort seiner Geschichte gelauscht.

„Du hast mich nie gefragt, wie ein Vampir geschaffen wird, Annabelle, aber du hättest es nicht von Rick erfahren sollen. Er hätte dich nie vor diese Wahl stellen dürfen. Ich weiß, dass es diese Entscheidung war, die dich um den Verstand gebracht hat, Anna. Lass dir sagen, dass du richtig gehandelt hast und lass es mich dir erklären. Die drei jungen Vampire nahmen mir damals so viel Blut, dass es zum Leben nicht mehr reichte. Aber ich starb auch nicht sofort. Ein wenig meines Blutes war noch in mir und als Janko mir von seinem gab, vermischte sich beides und erschuf den Vampir Michel.“
„Ich kann mich gar nicht erinnern, dass…“
„Nein, du warst dem Tod schon viel zu nahe. Janko wollte dich ganz töten, hat dann aber die Entscheidung mir überlassen. Verstehst du? Ich hatte die Wahl, ob ich dich sterben ließ oder dir mein Schicksal aufdrängte. Janko hat immer gesagt, er wäre dein Schöpfer um mich vor deinem Hass zu schützen, Annabelle. Er nahm dir das Leben eines Menschen und ich gab dir das Leben eines Vampirs. Mit meinem Blut hab ich dich zu einer der Unsrigen gemacht!“ Ehrlich gesagt, diese Neuigkeit verwirrte mich doch einigermaßen. Plötzlich sollte Michel mein Lehrer und mein Schöpfer sein? Wo Janko mich doch immer öfter sein „Töchterchen“ nannte.

„Du warst stärker als ich, Anna. Ich konnte dich nicht gehen lassen.“ Sprachlos starrte ich ihn an und stellte ihm die gleiche Frage, wie ich sie schon Janko gestellt hatte.
„Warum?“ Kurz schloss er die Augen und nahm meine Hand in die seine.
„Kannst du dir das nicht denken?“ Wahrheitsgemäß schüttelte ich den Kopf und im selben Moment ließ er meine Hand wieder los.

„Warum bin ich wochenlang jeden Tag in dieses dämliche Museum gestiefelt? Warum hab ich jeden Tag die gleichen langweiligen Vitrinenkärtchen gelesen? Warum war ich am gleichen Abend in dieser ekelhaften Diskothek, an dem du auch da warst? Warum bin ich dir gefolgt, als Kassandra euch fortschleifte? Warum habe ich dich vor Kassandra gerettet und nicht deine Freundin? Warum war ich so egoistisch dich zu einer von uns zu machen? Verdammt noch mal, Annabelle! Muss ich es dir in die Netzhaut ritzen, damit du es endlich siehst?“ Er packte mich und zwang mir seinen Kuss auf. Härter und fordernder als das letzte Mal drückte er seine Lippen auf meine, seine Hände hielten mich fest damit ich ihm nicht entwischen konnte. Ich war dankbar für seinen festen Griff, denn meine Knie hatten bald nur noch die Konsistenz von Wackelpudding. Er zog mich zu sich, drückte mich an sich bis ich das leise Pochen in seiner Brust spürte. Ein Seufzen wand sich aus meiner Kehle, als seine Lippen meinen Hals hinunter wanderten. In mir loderte ein längst vergessenes seltsam heißes Gefühl. Ich vergrub mein Gesicht in seiner schwarzen Mähne und genoss die plötzliche Leidenschaft im gleichen Maße, wie ich mich vor ihr fürchtete.


Mit geschlossenen Augen lauschte ich dem stetigen Rauschen des Wassers. Kochend heiß prasselte jeder einzelne Tropfen auf mich hernieder, perlte ab und rollte seinem Ende im Ausguss entgegen. In meiner Phantasie schloss sich ein kristallklarer Mantel um meinen kalten Körper und gab mir die lang vermisste Wärme zurück. Ich wollte noch heißeres Wasser spüren, doch der Knopf war schon bis zum Anschlag aufgedreht. Meine Finger tasteten über die von Dampf beschlagenen Fliesen. Jemand drückte die quietschende Klinke herunter und ich drehte mich rasch von der Badezimmertür weg.
„RAUS!“
Michel lachte nur leise und machte sich am Badschrank zu schaffen.
„Hier fühlt man sich ja wie in der Waschküche. Meinst du nicht, dass du langsam gar bist?“
„Ha, ha, ha“, gab ich trocken zurück und atmete noch einmal tief den heißen Dampf ein, bevor ich widerwillig das Wasser abstellte. In den letzten Tagen hatte ich versucht Michel auf Abstand zu halten. Bevor ich das Gefühlswirrwarr in mir einigermaßen in Ordnung gebracht hatte, wollte ich ihn so wenig wie möglich sehen.
„Falls es dir noch nicht aufgefallen ist: Ich dusche!“
„Oh doch, es ist mir aufgefallen.“ Seine Stimme hatte einen weit anstößigeren Tonfall als mir lieb war.
„RAUS!!!“ Michel lachte nur umso herzhafter und legte mir ein aquamarinblaues Badetuch um die Schultern. Sanft fasste er meine Schultern und drehte mich zu sich herum.
„Du bist wunderschön, weißt du das?“
„Ha! Kunststück. Jankos „kleine Nebenwirkung“ ist wirklich erstaunlich.“
„Nein, Anna. Du warst schon immer wunderschön.“
„Vorsicht, sonst rutscht du noch auf deiner Schleimspur aus.“
Michel schüttelte nur den Kopf, rutschte hinaus und schloss die Tür hinter sich.

Ich befand mich in einem engen Badezimmer in einer neuen Wohnung in einer neuen Stadt. Janko hatte uns hierher gebracht und dank seiner dubiosen Kontakte durften wir bald eine schicke kleine Wohnung unser Heim nennen. Drei Zimmer und ein Badezimmer von der Größe einer Abstellkammer. Auf nackten Füßen tappte ich, fest in das Badetuch gewickelt und die Haare unter einem Handtuchturban verborgen, ins Wohnzimmer. Michel saß auf dem Sofa und las in einem bemerkenswert dicken Schmöker. Die Beine hatte er weit von sich gestreckt und auf den Couchtisch gelegt. Unter der riesigen Tischdecke klopfte und rumorte es laut.

„Lass ihn raus, Michel. Sonst murrt er wieder die ganze Nacht.“ Grinsend zog er seine Füße zurück und augenblicklich verschob sich die Decke und ein knurrender Janko kam zum Vorschein.
„Kannst du mir erklären, was das soll?! Nach dem hundertsten Mal ist es echt nicht mehr komisch!“ Michel lachte ihn aus, schob den Sargdeckel wieder zurrecht und ließ seine Füße mit Karacho darauf nieder sausen. Ich zuckte zusammen.
„Muss das sein?“
„Ja.“

Mit den Augen rollend trippelte ich in mein Zimmer. Im Wohnzimmer war Janko noch immer damit beschäftigt Michel nieder zu brüllen, der es sich offenbar zum Ziel gesetzt hatte, Janko endgültig zur Weißglut zu treiben und mit keinem Mucks reagierte. Obwohl wir überhastet abgereist waren und nicht einen einzigen Koffer mitnehmen konnten, war mein Kleiderschrank gut und nobel gefüllt. Die prall gefüllte Geldbörse meines ersten Opfers hier hatte mir zu diesem Luxus verholfen. Wohin es uns verschlagen hatte? In die leuchtende Stadt. In das bessere Italien. Oder wie die meisten es kennen: München.

Wehmütig hatte ich von der Königin der Nacht, meinem geliebten Paris, Abschied genommen und mit offenen Armen hatte mich die bayerische Metropole empfangen und getröstet. Der Winterwind pfiff durch die breiten Prachtstraßen, die Boutiquen machten die unmöglichsten Wünsche möglich und Menschen zahlloser Nationen und Sprachen stromerten durch die Straßen. Im winterlichen Glanz erstrahlte der Englische Garten und das blühende Nachtleben bot mir täglich genügend Blut, das mir bereitwillig geschenkt wurde. Ein scheuer Blick, eine zarte Berührung und der Mann gehörte mir. Zielsicher pickte ich mir wohlhabende Männer aus der Menge und für eine Nacht wurde ich zur Königin, bevor im Morgengrauen mein Durst die Herrschaft übernahm und der Traum vom Leben wieder endete. Ich tötete sie nicht. Sie sollten leben. Auch wenn mich einige in der ersten Nacht wegen meiner schmerzhaften Leidenschaft zurechtwiesen. Mit der Zeit wurde ich geschickter, so dass sie gar nicht merkten, wie ich ihr Fleisch mit meinen Zähnen zerteilte. Michel wusste nichts von meinen nächtlichen Partys. Das glaubte ich zumindest.

Schnell zog ich mich wieder an. Die Wärme war viel zu rasch verflogen und die Jeans, die ich überstreifte, brachte sie nicht wirklich zurück. Als ich den dunkelblauen Norwegerpulli aus dem Schrank zog, fiel mein Blick auf das kleine Päckchen, das ich aus Paris mitgenommen hatte. Eingepackt in goldenes Geschenkpapier und mit einer prächtigen roten Schleife versehen, wartete eine hässliche Actionfigur auf ein vergangenes Weihnachten. Renés Weihnachtsgeschenk. Heimlich hatte ich mich in der Nacht unserer Abreise in unsere Wohnung zurück geschlichen und hatte das Geschenk aus seinem Versteck geholt. Idiotisch, wo der Junge, der sich darüber hätte freuen sollen, doch tot war. Ja, absolut idiotisch. Aber trotzdem …

Vielleicht wollte ich auch nur etwas, dass mich an die glücklichen Monate mit meinen Freunden erinnerte. Von Theresa und meiner Familie hatte ich gar nichts, außer einigen blasser werdenden Erinnerungen. Dieses Stück sollte mich an René und Marie erinnern. An Renés Begeisterung und an Maries Lachen. An alles, was wir miteinander erlebt hatten, sollte mich dieses Geschenk erinnern. An alles. Mühsam schluckte ich den Kloß, der in meinem Hals feststeckte, hinunter. Ich wollte nicht mehr weinen, nicht mehr verzweifeln. Ich wollte und musste weiterleben, auch wenn mich das ungute Gefühl beschlich, dass Theresa, Marie und René nicht die letzten Verluste darstellten, die ich in meinem bizarren Leben zu verkraften haben würde. Seufzend schloss ich die Schranktüren, löste den Turban und zog den Pulli über meinen Kopf. Kaum eine Minute später sprangen meine Locken wieder in eine absolut perfekte Form. Skeptisch betrachtete ich die fremde Frau im Spiegel.

Fast ein Jahr steckte ich nun schon in diesem Körper, nicht tot, nicht lebend, doch daran gewöhnt hatte ich mich noch lange nicht. Immer noch gab es Momente in denen ich überrascht feststellte, dass mir Kleider in meiner gewohnten Konfektionsgröße um die Hüften schlackerten und gen Erdboden rasen wollten. Von den aufdringlich staunenden Blicken, die mich auf meinen Wegen verfolgten, ganz zu schweigen. Die Frau im Spiegel starrte kritisch zurück, nickte schließlich zufrieden, schlang einen Haargummi lose um ihren Pferdeschwanz und wandte sich ab.

Der Sturm im Wohnzimmer hatte sich gelegt. Michel las immer noch seelenruhig und Janko ging schmollend wie ein Tiger im Käfig auf und ab. Kaum hatte ich den Raum betreten, wandten sich mir zwei erwartungsvolle Gesichter zu.
„Und? Bist du soweit?“
„Wofür?“ Michel klappte sein Buch geräuschvoll zusammen.
„Wir gehen heute aus, chérie.“
„Soeben beschlossen“, setzte Janko noch hinzu.
„Na toll! Dann muss ich mich noch Mal umziehen, oder wie?“ Janko lachte und seine Augen funkelten mich spitzbübisch an.
„Nein, dein Aufzug ist perfekt, Töchterchen.“

***

Als ich in völliger Dunkelheit über das Absperrgitter kletterte, hörte ich das sympathische Brüllen einer ziemlich großen Raubkatze und leise schuhunde Eulen.

„Ihr seid absolut wahnsinnig“, murmelte ich nun schon zum wiederholten Male ohne bei irgendjemandem Gehör zu finden. Michel und Janko warteten bereits auf der anderen Seite des Zauns auf mich. Ungeduldig wippte Janko vor und zurück, während Michel sich ständig imaginäre Strähnen aus dem Gesicht wischte. Mit einem federnden Satz landete ich auf dem breiten Kiesweg, wischte mir den Staub vom Ärmel und rannte so schnell wie möglich an Michels Seite. Diese Nacht war mir unheimlich. Kein Stern ließ sich blicken, jedes Geräusch wurde durch die dicke Schneeschicht gedämpft und mir war als würde die Finsternis jedes Licht sofort verschlucken. Der Schein der vereinzelt herumstehenden Parklampen kam nicht weit, bevor er wieder vom pechschwarzen Mantel der Nacht verhüllt wurde.

„Und? Nachdem wir jetzt erfolgreich eingebrochen sind: Was machen wir hier eigentlich?“
„Schh!“ Eine Weile zog ich es vor beleidigt zu schweigen. Zumindest solange, bis wir beim Ausgangspunkt des zuvor erwähnten Gebrülls angekommen waren. Ein riesiger Sibirischer Tiger lag in seiner Höhle. Umgeben von schneebedeckten Büschen saß er dort wie ein märchenhafter König und funkelte uns mit bernsteinfarbenen Augen an.
„Was hältst du von ihm, Anna?“
„Wunderschön.“ Mehr hatte ich wirklich nicht zu sagen. Dieses majestätische Tier faszinierte mich, schlug mich in seinen Bann und doch kribbelte alles in mir, schrie Gefahr und meine Beine zuckten, zur Flucht bereit. Und dann traf mich fast der Schlag.

Ohne mit der Wimper zu zucken und schneller als man es mit menschlichem Auge erfassen hätte können, kletterte Michel über den meterhohen Zaun und landete elegant wie eine Katze auf der anderen, eigentlich für die Tiere bestimmten, Seite des Geheges. Ich schrie spitz auf und presste im gleichen Augenblick die Hand auf meinen Mund. Janko schmunzelte.
„Spinnst du? Komm sofort wieder da raus, Michel!“ Ich traute mich nicht ihn anzubrüllen, aus Angst den Tiger, der mittlerweile behäbig zu seinem unerwarteten Mitternachtsimbiss schritt, dadurch erst recht aggressiv zu machen. So wurden aus meinen flehenden Worten kaum mehr als ein heiseres Keuchen. Michel drehte sich kurz zu mir um und lächelte beruhigend. Irgendwie verfehlte diese Geste ihre Wirkung bei mir, denn im selben Moment stieß sich der Tiger vom Boden ab und flog mit ausgefahrenen Krallen auf ihn zu. Michel sprintete zur nächsten Ecke des Geheges und ein verdutzter Tiger grub seine Zähne in den Schnee statt in frisches Fleisch.

Ich war derweil drauf und dran selbst in den Käfig zu klettern und Michel notfalls mit Gewalt da raus zu holen. Doch Janko hielt mich am Arm fest.
„Sieh genau hin und lerne, Kind.“
Michel näherte sich langsam dem wütenden Räuber, ging in die Hocke und starrte ihm fest in die medaillengroßen Augen. Leise stimmte er einen sanften Singsang an, gerade so als wolle er den Tiger nur durch seine Worte beruhigen. Und tatsächlich. Leicht schwankend, als wäre er in eine plötzliche Trance gefallen, torkelte der Tiger an Michels Seite und ließ sich widerstandslos von ihm streicheln. Ich traute meinen Augen nicht.
„Was…?“
„Das hier stellt deine heutige Lektion dar, Annabelle“, flüsterte Janko, während ich gebannt zusah, wie Michel abermals über den Zaun kletterte und mit einem Fingerzeig den majestätischen Tiger zurück in seine Höhle befahl.

„Jeder Vampir erhält am Tag seiner Geburt eine besondere Gabe, die mit der Zeit immer stärker wird. Michels Gabe besteht darin Tiere zu bannen und sie sich gefügig zu machen. Durands Gabe – ich weiß, du hast ihn kennen gelernt – besteht darin, einige deiner Gedanken zu sehen. Kassandra wird immer wissen, wer dir am wertvollsten ist. Sie erkennt deine Gefühle, nur deshalb tötet sie auch so gezielt. Aber worin liegt deine Gabe, Annabelle Feuerkind?“
Feuerkind? Warum kam mir dieser Ausdruck so bekannt vor?
„Woher soll ich das wissen?“
„Genau deshalb sind wir hier. Vielleicht beherrschst du ja die gleiche Kraft wie Michel.“
„Und deshalb mussten wir unbedingt in den Zoo einbrechen? Hätte es nicht ein süßer kleiner Dackel getan?“ Janko lachte laut und empörtes Quietschen aus einer nahen Voliere antwortete ihm. Michel grinste und legte seinen Arm um meine Taille. Ein angenehmes Kribbeln machte sich in mir breit, direkt neben dem Kribbeln, dass mir nun zum hundertsten Mal meldete: Gefahr im Verzug! Hau endlich ab! Mit sanftem Druck führte Michel mich an den Zaun.
„Versuch es erst von hier aus. Sieh ihm fest in die Augen, konzentriere alle deine Gedanken auf ihn und befehle ihn zu dir.“
„Ganz ehrlich, Michel: Von mir aus darf er ruhig da bleiben wo er ist.“
„Konzentriere dich, Annabelle! Du sollst lernen und nicht rumalbern!“
Ein klein wenig eingeschnappt, begann ich mich auf den Tiger zu konzentrieren, doch statt brav zu mir zu kommen, wippte er nur ein, zwei Mal mit der weißen Schwanzspitze, rollte sich zur Seite und stellte sich schlafend. Es sollten in dieser Nacht noch mehrere Versuche mit den verschiedensten Tierarten missglücken. Offenbar war ich nicht einmal dazu in der Lage, einem Faultier ein Gähnen zu entlocken und Janko schüttelte jedes Mal wieder den Kopf. Offensichtlich besaß ich diese Gabe nicht.

Gegen Morgengrauen spazierten wir wieder in Richtung Ausgang. Schon erstaunlich, wie lange einen das seltsame Gefühl von Gefahr verfolgen konnte. Noch immer spürte ich den kalten Hauch, der mich erfasst hatte, als wir vor dem Tigerkäfig standen. Aber nun waren schon Stunden vergangen und noch immer verlangte jede Zelle meines Körpers nach Flucht. Oder sollte der Tiger gar nichts damit zu tun haben? Plötzlich glaubte ich einen vierten Schatten in die Büsche huschen zu sehen. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich die raschelnden Sträucher neben uns. Wir waren nicht allein. Doch Michel und Janko schienen nichts zu bemerken. Ich ließ mich zurückfallen und tat, als würde ich mich für die Aktivitäten eines gerade erwachten Braunbären interessieren. Janko und Michel schritten unbekümmert aus, ins Gespräch vertieft und nahmen von mir überhaupt keine Notiz mehr. Der Schatten näherte sich. Unauffällig griff ich in meine Jacke, zog Rebekkas Dolch heraus und wartete. Das leise Knirschen von Schuhen auf Kieselsteinen hallte viel zu laut in meinen Ohren wieder. Meine Hand schloss sich fester um den Griff der Waffe. Die Schritte wurden langsamer, zögerlicher. Als sie knapp hinter mir zum Stehen kamen, drehte ich mich auf dem Absatz um, meinen Dolch erhoben, bereit zum Kampf.

„Guten Morgen, Kleines.“
Mit leicht erhobenen Händen, die Handflächen zu mir gedreht, stand Rebekka vor mir und grinste verlegen. Im gleichen Augenblick ertönte ein wütender Schrei und Janko stürzte sich auf die Jägerin. Ein wildes Knäuel bestehend aus Janko und Rebekka, rotem und schwarzem Stoff wälzte sich auf dem Boden. Fassungslos stand ich daneben. Jemand packte mich unsanft und stieß mich weg.
„Hau ab, Anna! Los! Lauf!“ Michel wollte sich eben auch in den Kampf stürzen, als ich aus meiner Trance erwachte. Rasch griff ich nach Michels Arm und zog ihn zurück.
„Was?“, keifte er mich ungehalten an. Wortlos deutete ich zum östlichen Himmel. Die Sonne schob sich unerbittlich über den Horizont.

Gleichzeitig packten wir uns je einen der Streithähne und zerrten sie von einander weg. Rebekka fest zu halten gestaltete sich als ein hartes Stück Arbeit. Mit geradezu unmenschlicher Kraft stemmte sie sich gegen meinen Griff und wollte den ebenfalls kampfhungrigen Janko erneut anfallen. Bedrohlich knurrend wand sie sich in meinem Griff und ich fühlte mich unangenehm an den Tiger von vorher erinnert.
„Rebekka! Beruhig dich wieder. Keiner wird dir was tun.“
Meine Stimme hatte denselben Tonfall angenommen, den Mütter anwenden, wenn sie ihr verängstigtes Kind beruhigen wollten. Doch dieses um sich tretende Kind war weniger verängstigt denn stinkwütend. Janko dagegen kam im Anblick der aufgehenden Sonne wieder zur Vernunft.
„Scheiße!“ Damit stürmte er ins Dunkel. Michel kniff die Augen zusammen und half mir mit Rebekka. Gemeinsam rannten wir zu dem Häuschen in das sich Janko bereits geflüchtet hatte. Die Tür schlug hinter uns zu und sperrte das feindliche Sonnenlicht aus. Ich roch würzig duftendes Heu und stolperte über einen Ballen Stroh. Wir hatten uns in ein Futterhäuschen geflüchtet. Obwohl es stockfinster war, glaubte ich trotzdem zwei blitzende Augenpaare zu sehen, die sich hasserfüllt anfunkelten.

„Du lebst also immer noch.“ Die Worte krochen über Jankos Lippen wie zischende Schlangen aus den Tiefen der Hölle.
„Das gleiche gilt für dich, Blutsauger!“ Rebekkas butterweiche, freundliche Stimme ließ meine Alarmglocken noch schriller klingeln. Die Luft britzelte vor Spannung als sich beider Blicke trafen. Janko schien als erster zu kapitulieren, denn er richtete ziemlich gereizt das Wort an mich.
„Was zum Henker ist hier eigentlich los? Warum hast du dieses Ding hier reingeschleift?“ Gute Frage. Nächste Frage.
„Halt den Mund, Janko! Die Kleine und ich kennen uns.“ In Erwartung des nächsten Donnerwetters kniff ich die Augen zusammen und wartete auf den kommenden Schlag. Ob verbal oder physisch, aber ein heftiger Schlag musste jetzt kommen. Er kam aber nicht. Stattdessen sprang mir eisiges Schweigen mitten ins Gesicht. Michels Mund klappte hörbar wieder zu.

„Ihr KENNT euch?“ Ich nickte betreten.
„Ja. Wir haben uns in Paris getroffen, ein, zwei Mal. Und wir waren mal miteinander Kaffee trinken.“ Meine Stimme wurde immer leiser und meine letzten Worte konnten selbst Vampire nur noch sehr schlecht verstehen. Janko verstand mich trotzdem.
„Kaffee trinken?“ Ich spürte wie sich sein Blick in meine Seele bohrte und ich hörte ein fassungsloses Schnauben. Und dann kam der Schlag. Eine schallende Ohrfeige schickte mich zu Boden.
„Lass sie in Ruhe! Die Kleine kann nichts dafür.“

Meine Haut brannte wie Feuer, als ich versuchsweise meine Kiefer hin und her bewegte. Tränen schossen mir in die Augen. Jankos Handfläche konnte sich durchaus mit der Stärke von Granitblöcken messen. Ich lag auf den knarrenden, mit Strohhalmen bedeckten Bodenbrettern und massierte meine schmerzende Wange. Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit. Rebekka und Janko gifteten sich schon wieder gegenseitig mit einer geradezu gespenstischen Leidenschaft an.

„Sie hat sich von dir fern zu halten! Verdammt noch mal!“
„Trotzdem ist es nicht ihre Schuld! Ich hab sie aufgestöbert und nicht umgekehrt.“
„Sie ist ein dummes Kind! Sie hätte es uns sagen müssen!“
„Damit du dich sofort auf die Suche nach mir machst, Janko? Ernsthaft. Seit wie vielen Jahren gehen wir uns schon erfolgreich aus dem Weg? Du hättest gar nichts gemacht! Höchstens die Kleine unter Bewachung gestellt. Als ob mich das abhalten könnte, du Volltrottel!“
„Hexe!“
„Blutegel!“
„Miststück!“
„Geh doch in die Sonne!“
„Jag dir doch ne Kugel ins Herz, Wölfchen.“

„ZUM DONNERWETTER NOCHMAL, WAS IST HIER LOS?“
Anscheinend hatte Michel seine Stimme wieder gefunden. Sehr lautstark. Erstaunt hielten Rebekka und Janko in ihrem Streit inne. Noch erstaunlicher allerdings war, dass beide, sowohl Janko als auch Rebekka, sofort mit Erklärungen herausrückten. Allerdings beide gleichzeitig.

„Ruhe!“ Michel erinnerte mich plötzlich an meinen Mathelehrer aus der dritten Klasse.
„Hinsetzen. Weit genug auseinander, dass ihr euch nicht gegenseitig an die Gurgel geht.“ Ohne Widerworte ließen sich die beiden auf herumliegenden Strohballen nieder.
„Und jetzt der Reihe nach.“ Er wandte sich an Rebekka.
„Wer bist du?“
„Rebekka.“
„Und was bist du genau?“ Rebekka zögerte kaum merklich.
„Jägerin.“ Janko ließ ein leises „Ha!“ erklingen, schloss aber sofort wieder den Mund, als ihn Michels strengster Blick traf.
„Was noch, Rebekka?“
„Sie ist ein verdammter Werwolf!“ Janko ließ die Höllenschlangen in seiner Stimme wieder gefährlich zischen.

Gespannt saß ich immer noch auf dem kälter werdenden Boden und harrte der kommenden Dinge. Ein Werwolf? Na gut, ja, ok. Ich meine: Vampire, Geister, Heiligenstatuen mit interessantem Eigenleben, Leichen, die sich mir auf dem wurmigen Silbertablett präsentierten – wieso nicht auch ein waschechter Werwolf? Mich schockiert nichts mehr, dachte ich mir im Stillen und freute mich auf das kommende Theater. Da wusste ich allerdings noch nicht, dass ich eine Rolle darin spielen würde.

„Annabelle! Du kennst diese … Jägerin?“
„Ja, sag ich doch. Ich wusste aber nicht, dass sie hier in München ist. Seit wann bist du denn hier, Bekka?“ So ungeschickt wie möglich lenkte ich das Gespräch wieder auf Rebekka.
„Ja, sehr gute Frage. Also?“
„Seit zwei Wochen ungefähr.“
„Und was machst du hier? Wenn du vielleicht etwas flüssiger erzählen könntest? Das würde mir die Sache erheblich erleichtern.“ Michels Stimme triefte vor Sarkasmus. Rebekkas Schultern strafften sich. „Ihr wollt wissen, weshalb ich hier bin?“ Janko verdrehte die Augen und seufzte genervt, doch die Jägerin würdigte ihn keines Blickes. Sie deutete mit dem Finger auf mich.
„Wegen ihr.“

Die Zeit fror ein. Nicht lange, nur einen erschrockenen, winzigkleinen Augenblick lang.
„Wegen mir?“ Rebekka nickte. Inzwischen hatten sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt und ich sah sie deutlich vor mir auf ihrem Strohballen sitzen. Sie knetete nervös ihre schlanken Finger.
„Warum?“ Michel ließ sich im Schneidersitz neben mir nieder und drückte kurz meine Hand. Janko hatte das Kinn auf seine Faust gestützt. Wie Kinder vor der Märchenerzählerin saßen und auf eine spannende Geschichte warteten, so warteten wir auf Rebekkas Antwort. Sie sah über uns hinweg, ihre Stirn legte sich in Falten und mehrmals öffnete und schloss sich ihr Mund wieder. Ganz so, als ob sie nicht den richtigen Anfang finden würde. Schließlich sah sie mich.

„Du warst bei Monsieur Durand, oder?“ Ich nickte und Rebekka starrte wieder die Wand über unseren Köpfen an.
„Dann weißt du von der Prophezeiung?“
„Ja. Aber das Gebrabbel ergibt keinen Sinn.“
„Durand glaubt sie entschlüsselt zu haben. Und er hat seine Erkenntnisse dem Rat mitgeteilt.“ Janko sog scharf die Luft ein und murmelte einige unschöne Flüche. Verwirrt sah ich von einem zum anderen.
„Na und?“ Janko stand plötzlich neben Rebekka und legte ihr Ruhe gebietend die Hand auf die Schulter.
„Sie haben keine Ahnung, Rebekka“, wisperte er nicht leise genug.

Michel und ich wechselten überraschte Blicke. Egal was jetzt kommen würde, meine ungeteilte Aufmerksamkeit war ihm sicher. Janko wanderte unruhig in dem kleinen Raum auf und ab während er erzählte.

„Also gut. Michel, wir wandern jetzt schon ein paar Jahre gemeinsam. Ich habe dich geschaffen, dich jede Kunst des Überlebens gelehrt und trotzdem gibt es Dinge, von denen ich dir noch nichts gesagt habe. Von der Prophezeiung hast du gehört und Annabelle hat sie sogar mit eigenen Augen gesehen, aber ihre Bedeutung war bis vor kurzem nur für zwei Unsterbliche kein Rätsel.“
„Durand und der notwendige Prophet“, mutmaßte ich, doch Janko schüttelte schmunzelnd den Kopf.
„Rebekka und ich.“ Meine Augenbrauen schnellten in die Höhe. Ausgerechnet diese beiden Streithähne sollten ein gemeinsames Geheimnis haben? Unvorstellbar. Nach der beeindruckenden Vorstellung von vorher, war ich mir nicht einmal sicher ob sie beide diesen Tag überleben würden oder ob sie sich nicht doch gegenseitig umbrachten. Michel schien ähnlicher Ansicht zu sein.

„Ich kenne die Prophezeiung, weil ich es war, der sie niederschrieb. Ich bin der notwendige Prophet. Rebekka hier war bei mir. Wenn auch nicht ganz freiwillig.“
„Ha! Du wolltest mich für irgendein bescheuertes Ritual opfern.“
„Und trotzdem lebst du noch, also reg dich nicht auf.“
„Aber was hat das mit mir zu tun?“, fragte ich dazwischen, bevor sie sich wieder gegenseitig die Köpfe einschlagen konnten. Er lächelte.
„Nur die Ruhe, Töchterchen. Du musst alles sehen um das einzelne zu begreifen.“

Diesen Janko kannte ich noch gar nicht. Er klang wie ein weiser, alter Zauberer. Eine Eigenschaft die völlig im Gegensatz zu seinem normalen Wesen stand und von der ich noch nicht wusste ob sie mich beeindruckte oder nervte. Mit seltsam entrückter Stimme fuhr er fort.
„Du kennst den Teil den sie entschlüsselt haben, Annabelle.
„Prophetenkindes Kind, Tochter des Feuers, Engel der Nacht
Dein hassend Herz voll Liebe dargebracht
Und deiner Liebe Erben
Bringen Tod und Verderben.
Durand liebt diese Reimform, auch wenn ich niemals so einen Schwachsinn geschrieben habe. Das schwöre ich bei allen Göttern und Dämonen! Es sind nur einzelne Wörter, die er entziffern konnte und nicht die ganze Prophezeiung.“
„Und worin besteht jetzt diese verdammte Prophezeiung?“ Michel klang etwas genervt. Rebekka antwortete.

„Die Tochter des einzigen Kindes des Propheten, ein Kind des Feuers, wird in ihrem Hass Liebe zu finden. Sie wird einem Kind das Leben schenken. Der Sechste Clan findet darin seinen Anfang und bringt von da an Tod und Verderben.“ Eine Weile herrschte Schweigen, dann wagte ich den tapferen Versuch einer Entschlüsselung.

„Wenn du der Prophet bist, Janko, dann ist Michel dein „Kind“ und ich wiederum seine Tochter. Richtig?“ Allgemeines Nicken. Die Zahnrädchen in meinem gemarterten Hirn arbeiteten auf Hochtouren.
„Können Vampire überhaupt Kinder bekommen?“ Wiederum kannte Rebekka die Antwort.
„Ja, aber diese Kinder werden tot geboren. Und wenn man ihnen nicht sofort nach der Geburt Blut eintrichtert, zerfallen sie innerhalb von ein paar Stunden zu Staub. Und die Erschaffung von kindlichen Vampiren ist sowieso verboten. Zu riskant.“
„Und wem soll dieses Kind Tod und Verderben bringen?“ Janko zuckte mit den Schultern.
„Rein aus Interesse: Welchen Sinn soll dann diese sogenannte Prophezeiung überhaupt machen? Selbst wenn die äußeren Voraussetzungen – Tochter, feuerrote Haare und so weiter – stimmen mögen. Ich kann einem Kind gar nicht das Leben schenken. Es wäre tot. Ehrlich Janko. Eine dümmere Weissagung hättest du nicht treffen können.“
„Schön, dass du das jetzt weißt. Jetzt musst du es nur noch den restlichen zwei bis dreitausend Vampiren erklären, die seit Jahrhunderten auf diese Worte bauen.“

„Hä?“ Janko seufzte.
„Bei den Menschen gibt es Religionen. Hast du geglaubt, dass es bei uns anders wäre? Im Groben gibt es zwei Grundrichtungen: Die christlichen Vampire und die Jünger der Blutgöttin.“ Rick hatte von Jüngern gesprochen, vor denen er mich beschützen wollte. Die Mutter der Göttin, hatte er mich genannt. Angst breitete sich in mir aus, als Janko weiter sprach.
„Beide gründen ihre Lehren auf diese paar Worte. Die christlich angehauchten glauben, dass im Sechsten Clan der Messias geboren wird, der Tod und Verderben über die Vampire bringt um die Welt von uns zu säubern. Sie predigen Buße und einige Fanatiker töten sich sogar selbst. Total bekloppte Irre, wenn du mich fragst.“
„Aber wenigstens harmlos“, murmelte Rebekka.
„Ja klar. Sie erleichtern dir ja die Arbeit, Jägerin.“

Für einen Moment dachte ich, die Streiterei von vorher würde jetzt ihre Fortsetzung finden. Doch Janko ließ Rebekka gar nicht zu Wort kommen, sondern erzählte munter weiter.
„Die Jünger der Blutgöttin sind tatsächlich gefährlicher. Bei ihren rauschenden Festen opfern sie sowohl Menschen als auch junge Vampire um mit ihrem Blut die durstige Göttin zu besänftigen. Sie glauben, dass sie im Sechsten Clan wiedergeboren wird und die Menschen vernichtet. Ebenfalls Schwachsinn, denn wie zum Teufel sollte ein normaler Blutsauger ohne menschliches Blut überleben?“ Jankos Stimme wurde leiser und monotoner.
„Egal wie du es drehst und wendest. Spätestens seit heute wird die gesamte Welt der Vampire hinter dir her sein, Annabelle.“

Ich schluckte. Keine angenehme Vorstellung. Einige tausend Vampire, die davon überzeugt waren, dass ich so etwas wie die Jungfrau Maria darstellte. Ich konnte mir ihren Zorn lebhaft vorstellen, sollte ich dieser verdammten Prophezeiung nicht gerecht werden. Und sollte ich tatsächlich ein Kind zur Welt bringen – eine Vorstellung, die ich schnell wieder abschüttelte - war ich nicht mehr von Nutzen. Und gerade bei den Typen mit der Blutgöttin würde mich ein unschönes Ende erwarten.

„Es gibt noch eine Gruppe, die dich von jetzt an verfolgen wird, Kind“, sagte Janko und kauerte sich zu mir hinunter. „Der Rat wird jeden deiner Handgriffe von jetzt an genau beobachten.“
„Aber wieso verdammt noch mal?“
„Der Rat muss das Gleichgewicht zwischen den beiden Religionen wahren. Solltest du tatsächlich ein Kind gebären, würde ein offener Krieg zwischen beiden Lagern entbrennen. Jede Gruppe würde dein Kind für sich beanspruchen und jede würde sich im Recht fühlen. Sie würden einander bis zum letzten Mann bekämpfen und unsere Entdeckung durch die Menschen wäre unausweichlich. Der Rat muss das verhindern. Mit allen ihm möglichen Mitteln.“ Ich schrak zurück. Wäre da nicht das einfachste Mittel…

„Sie werden dich nicht umbringen, Annabelle.“ Rebekka hatte meine Gedanken erraten.
„Würden sie dich töten, geschähe für den Rat etwas noch schlimmeres als Krieg. Revolution. Der Rat stützt seine Macht auf die Zwistigkeiten der beiden Religionen. Wenn sie sich gegen ihn verbünden würden, wäre er absolut macht- und wehrlos.“ Erleichtert nickte ich. Ich hatte alles verstanden. Zumindest glaubte ich das in diesem Moment. Und plötzlich bemerkte ich, dass Michels Arm um meine Schultern gelegt war, dass ich seine Hand ergriffen hatte und bei ihm Halt gesucht hatte. Und ich begriff was ich zu tun hatte.


Rebekka verschwand leise und unauffindbar in der Nacht. Ich wusste, dass ich sie gar nicht erst zu suchen brauchte. Eines Tages, wenn sie es für richtig hielt, würde sie mich wieder finden. Mit noch mehr Vampirblut an den Händen, wie sie mir bei ihrem Abschied versicherte.
Tage vergingen und aus den Tagen wurden Wochen. Wochen in denen ich angestrengt versuchte nicht an die Anderen zu denken. Meine Gedanken kreisten um unsichere „Was wäre wenn“-Fragen und keine mögliche Antwort fiel besonders gut aus. Ängstliche, nur mühselig getarnte Schulterblicke, hektisch suchende Augen und ein schneller Gang. Nur noch diese Eigenschaften waren mir zu Eigen sobald ich aus der Tür trat.

Janko dagegen tat als wäre nie etwas geschehen. Als hätte er mir nie von dieser vermaledeiten Prophezeiung erzählt. Er jagte, feixte und machte seine üblichen anzüglichen Witze über die nur er selbst lachen konnte, während unser Zuhause von einem halben Dutzend Augenpaaren beobachtet wurde. Das leichte Kribbeln im Nacken, das mich bisher immer vor Gefahren gewarnt hatte, wurde mir zum ständigen Begleiter. Ebenso wie Michel. Einem Schatten gleich schlich er um mich herum. Wohin ich ging, er folgte mir. Schweigend streifte er mit mir durch die Nacht und beantwortete jeden meiner verzweifelten Versuche ihn zum Reden zu bringen mit der höflichen Kühle eines Fremden. Zu sehen wie er sich immer mehr von mir entfernte, quälte mich mehr als meine ständige Angst. Mein Verstand sagte mir, dass er richtig handelte, aber mein Herz schrie. Denn je mehr er sich mir entzog, desto klarer wurde mir, dass ich ihn liebte. Ich mochte seine ruhige, sanfte Art genauso wie seine kleinen Scherze. Ich liebte die Melancholie und den Zorn in seinen Augen. Mir fehlten sein Lächeln und seine leisen Worte und gleichzeitig versuchte ich mir einzureden, dass all dies keine Bedeutung für mich hatte.

Kalter Wind pfiff uns um die Ohren, als wir an einem stürmischen Januarabend nach Hause gingen. Michel hatte den Kragen seines Mantels hochgeschlagen, dessen schwarzer Stoff ihn wie ein Schwarm aufgeregter Vögel umflatterte. Fest in meine dicke Winterjacke gemümmelt schlitterte ich auf dem vereisten Gehweg entlang. In mir pulsierte noch die Wärme fremden Blutes. Ein Gefühl, dass ich noch etwas länger genießen wollte. Prüfend fuhr ich mit der Zunge über meine Lippen und leckte noch etwas Blut aus dem Mundwinkel. Wohlig erschauernd fühlte ich seine Lebenskraft. Er, der mir dieses Hochgefühl geschenkt hatte, lag leblos auf einer kalten Holzbank im Englischen Garten. Sein kleiner Terrier war fröhlich um mich herumgehüpft und hatte mich zum Spielen überreden wollen. Seltsam. Ich fühlte nur Mitleid mit dem Hund, den ich mit seinem toten Herrn zurücklassen musste.
„Warum hast du ihn getötet?“ Überrascht blieb ich stehen. Seit Tagen hatte Michel kaum ein Wort mehr als nötig mit mir gesprochen und nun brach er wegen so einer Lappalie sein Schweigen?
„Weil ich es wollte.“ Er schüttelte traurig den Kopf.
„Das ist nicht deine Art, Annabelle.“

Das alarmierende Kribbeln kehrte mit erstaunlicher Heftigkeit zurück. So lässig wie möglich hakte ich mich bei Michel unter und zog ihn die Stufen zur Ludwigskirche hinauf. Kaum schlug das Portal hinter uns zu, verschwand das beunruhigende Gefühl von drohender Gefahr. Offenbar wartete unser Verfolger lieber draußen.
„Was soll das, Annabelle?“
„Lass uns ein bisschen weiter nach vorn gehen.“ Hinter mir glaubte ich das Kratzen von Stein auf Stein zu hören, was mich unangenehm an mein Erlebnis in Notre Dame erinnerte. Ich schluckte die Angst hinunter und murmelte in Gedanken immer wieder mein Credo: „Nur Bilder, nur Stein, nur Holz. Von Menschen geschaffen und völlig harmlos.“
Vor dem erleuchteten Altar ließen wir uns auf eine unbequeme Kirchenbank nieder. Ich lehnte den Kopf zurück und bestaunte das kunstvolle Mosaik über uns, während Michel ungeduldig auf eine Antwort wartete.

„Draußen hätte einer zugehört.“
„Da war keiner, Anna.“
„Doch! Natürlich. Jemand hat uns den ganzen Abend verfolgt. Ich habe es gespürt.“
„Du hast es gespürt?“ In Michels Augen funkelte die Neugier.
„Spürst du immer, wenn ein anderer Vampir in deiner Nähe ist?“
„Na ja, meistens. Und ich spüre es deutlich, wenn Gefahr droht. Du nicht?“ Michel schüttelte den Kopf.
„Dann wissen wir ja endlich, welche Gabe du hast.“
Eine Weile saßen wir wieder schweigend da. Michel stützte seinen Kopf auf seiner Faust ab und starrte auf das Kreuz am Altar.
„Warum hast du ihn getötet?“
„Musst du das unbedingt wissen?“ Ein kurzer Seitenblick von ihm genügte.

„Weil ich es wollte. Nein, lass mich ausreden. Ich wollte ihm alles Leben nehmen, um mich für ein paar Minuten selbst lebendig zu fühlen. Kennst du das nicht? Dieses wunderbar warme Gefühl, wenn Menschenblut durch deine Adern zischt und du in einem kurzen Moment die ganze Kraft eines Menschen in dich aufnimmst. Wenn die ganze Welt dir selbst zu gehören scheint und alle Angst zu einem bloßen Schatten verschwimmt. Wenn alle Angst von dir abfällt.“
„Ist es deshalb? Weil du deine Angst vergessen willst?“ Ich nickte betreten und fühlte mich plötzlich überhaupt nicht mehr gut. Aus seinem Mund klang dieser Satz so vorwurfsvoll.
„Hast du deshalb schon vier Menschen umgebracht?“ Waren es schon so viele? Wieder nickte ich und starrte auf meine Schuhspitzen.
„Annabelle, du musst damit aufhören! Die Polizei mag ahnungslos sein, aber eines Tages stolpern sie doch über dich. Das Risiko entdeckt zu werden, können wir uns nicht leisten. Mir gefällt diese Stadt! Und ich will nicht schon wieder von einem Zuhause Abschied nehmen.“ Skeptisch sah ich ihn an. Ich konnte kaum glauben, dass ihm Paris so sehr fehlte. Und dann fiel mir ein, dass er dort vor gut zweihundert Jahren geboren worden war. Er hatte dort seine Kindheit und Jugend verbracht. In den Straßen der Stadt wurde er zum Vampir. Seine Schwester lag dort begraben und auch sein eigenes leeres Grab stand dort. Mir fiel ein, dass unsere Wohnung in Paris Jahrzehnte leer gestanden hatte und schlagartig wurde mir klar, dass wir sie vielleicht nie mehr wieder sehen würden. Wahrscheinlich wohnten längst andere Mieter in unserem Zuhause. Mühsam schluckte ich den Kloß in meinem Hals hinunter und versprach ihm feierlich, keine Münchner mehr zu töten.

Ein lautes Krachen zerriss die einsame Stille. Gleichzeitig sprangen wir auf und suchten den Kirchenraum ab. Doch außer uns war niemand zu sehen und ich war mir sicher, dass unser Verfolger die Kirche nicht betreten hatte.
„Da drüben.“ Michel deutete zu einem Seitenaltar. Der schmiedeeiserne Kerzenständer lag auf dem Steinboden und die Teelichter, die Gläubige darauf erzündet hatten, waren aus ihren Halterungen gefallen.
„Ich glaube, dabei musst du mir helfen.“ Auf Michels Gesicht zeigte sich ein lange vermisstes Lächeln. Für dieses Lächeln hätte ich wahrhaft alles getan. Mit vereinten Kräften stellten wir den Leuchter wieder an seinen Platz. Als wir die verstreuten Teelichter wieder einsammelten, stieß Michel plötzlich einen überraschten Pfiff aus.
„Sieh dir das an!“ Im schwachen Schein der Altarlichter sah ich wie Michel einen runden Gegenstand in die Höhe hielt. Anscheinend war die hölzerne Marienstatue von ihrem Podest gekippt und hatte dabei, im wörtlichen Sinne, den Kopf verloren. Ein makabrer Anblick, der mir keinesfalls behagte. „Irgendeine Idee, wie wir das wieder auf den Rest der Madonna kriegen?“ „Keine Ahnung. Wenn wir sie einfach liegen lassen? War ja immerhin nicht unsere Schuld, oder?“ Meine Stimme zitterte. Ich hätte schwören können, dass sich der Heilige an der Wand zu mir hinunter gebeugt hatte. Eine kopflose Madonna konnte ich jetzt echt nicht brauchen. So vorsichtig wie möglich wuchtete Michel den hölzernen Torso wieder an seinen Platz, den abgebrochenen Kopf legte er der Figur zu Füßen. Einen Moment hielt er inne und murmelte irgendetwas. Wie konnte er jetzt nur beten? Mein Kopf zuckte nervös von der einen zur anderen Richtung. Konnte er es denn nicht hören? Sie wisperten. Die Steine selbst flüsterten hinter mir unverständliche Worte. Die Einsamkeit füllte sich plötzlich mit ungezähltem Leben. Auf jeder Bank schienen sich unsichtbare Wesen zu drängen und wieder griffen die kalten Klauen der Angst nach mir. Meine Lippen bebten, während ich angestrengt versuchte, meinen Körper vom Zittern abzuhalten.

„Michel, bitte lass uns gehen“, flehte ich ihn an. Ich fürchtete mich vor der Stimme, die mich fragen würde, was ich hier zu suchen hätte. Ich wollte sie nicht noch einmal hören. Nicht schon wieder. Verständnislos lächelnd nahm Michel mich beim Arm und führte mich hinaus in die Kälte. Ein bedrohlicher Schatten geleitete uns lautlos nach Hause.

***

Im feinsten Zwirn stand ich im Foyer der Staatsoper. Janko und Michel hatten überraschend ihre kulturellen Tage bekommen und genau aus diesem Grund zerrten sie mich seit Tagen durch die Museen, Galerien und Theater Münchens. Den Museen konnte ich ja noch etwas abgewinnen und manche Theaterstücke amüsierten mich, aber in den Galerien langweilte ich mich zu Tode. Drei Striche an die Leinwand pinseln und dann die hochtrabenden Worte „Chaos im Mikrokosmos“ darunter schreiben, das konnte doch wohl jeder. Ein Vermögen dafür zu verlangen und irgendeinem reichen Deppen klar zu machen, dass dieses sagenhafte Gemälde jeden Penny wert ist – darin lag die wahre Kunst.

Und nun stand ich hier im Nationaltheater, bereit für meine erste Opernerfahrung. Das erst am Nachmittag gekaufte samtgrüne Abendkleid umschmeichelte meine Figur, während ich unruhig an der dazupassenden Handtasche herum nestelte. Endlich ging es in der Reihe vor der Damentoilette vorwärts. Etwas nervös überprüfte ich im Spiegel den Sitz meiner kunstvoll hochgesteckten Frisur. Dem Friseur sei Dank hielt jede einzelne Locke. Noch einmal puderte ich mir etwas Farbe ins Gesicht und zupfte meinen Ausschnitt zurrecht. Den Rückenausschnitt wohl gemerkt. Die Mode konnte mich nicht wirklich begeistern, aber wallende Rückenausschnitte in allen Farben füllten die Hälfte meines Kleiderschrankes. An dem missmutig dreinblickenden Platzanweiser drückte ich mich vorbei und nahm meinen Platz in den oberen Rängen ein.

Das Getuschel des Publikums verstummte, als das Orchester die Ouvertüre anstimmte und die Lichter sanft gedämpft wurden. Mit ohrenbetäubendem Gebrüll begann die Oper. Als die Sopranistin ihre Arie schmetterte, warf mich ihre Stimme in den rot bezogenen Samtsessel zurück. So unauffällig wie möglich versuchte ich zumindest ein Ohr vor dem hohen E zu schützen, doch die heulenden Töne bohrten sich mir unauslöschlich ins Gehirn. Fassungslos bestaunte ich die Hingabe mit der Janko und Michel der Sirene lauschten. Welche Sprache sollte das eigentlich sein? Deutsch, Französisch oder Italienisch? Oder vielleicht auch nur ein grausamer Mischmasch aus allen drei Sprachen? Endlich, endlich fiel der Vorhang.

„Oh Gott sei Dank! Ich hab’s überstanden.“
„Anna, das ist erst die Pause.“ Mein geschocktes Gesicht amüsierte Michel köstlich. Galant bot er mir den Arm an und geleitete mich ins Foyer hinunter, wo bereits prächtig geschmückte Kunstsinnige und –willige mit Sektflöten in der Hand herum flanierten. Es überraschte mich nicht, als sich bald wieder ein alarmierendes Nackenkribbeln einstellte.
„Haben wir nicht wenigstens einen Tag Ruhe?“
„Ist schon wieder einer da?“
„Ja. Verdammt noch mal, wie viele Vampire gibt’s in dieser Stadt eigentlich?“ Michel lächelte unbeeindruckt.
„Komm, Anna. Der zweite Akt beginnt gleich.“ Ich hatte keine Lust mich noch einmal dem musikalischen Geplärre auszusetzen. Lieber würde ich mich den ganzen Abend lang mit meinem unsichtbaren Verfolger beschäftigen. Vielleicht könnte ich ihn zu einer Partie Schach überreden oder so.

„Geh doch bitte vor. Ich komme gleich nach.“
„Sicher?“
„Ja, ja. Ich geh mir nur noch mal die Nase pudern.“ Kaum dass Michel auf den Fuß auf der ersten Treppenstufe hatte, war ich auch schon zur Tür hinaus. Außer mir standen noch mehrere elegant gekleidete Opernbesucher herum und fachsimpelten über Sopranistinnen, Tenöre und Komponisten. Eine Frau trat an mich heran.
„Schickes Kleid.“
„Danke.“ Ich starrte in die schwarzen Augen einer Bestie. Leuchtendblonde Locken, die einer Marilyn Monroe zur Ehre gereicht hätten, umrahmten ein hageres Gesicht und ließen den Teufel wie einen Engel erscheinen.
„Neue Haarfarbe, Kassandra?“ Betont eitel zog sie einen Spiegel aus ihrer Handtasche und legte eine widerspenstige Strähne zurück an ihren Platz.
„Nun, eine kleine Typveränderung schadet nie, meinst du nicht auch? Was hältst du davon?“
„Steht dir nicht.“ Scharf schnappte der Handspiegel wieder zu und ein spöttisches Lächeln in den Mundwinkeln machte sie äußerlich noch mehr zur Marilyn.
„Glaubst du, die schwarzen Haare stehen mir besser?“
„Ich weiß nicht genau. Die lila Stoppelfrisur hat dich ganz gut gekleidet. Oder probier es doch mal ganz ohne Kopf. Tot wärst du mir nämlich am liebsten!“
„Seltsam. Mir geht es genauso mit dir.“

Jede einzelne schmerzhafte Erinnerung brodelte in mir und der Schrei nach Rache erfüllte mich bis in die Haarspitzen. Tessa, Marie und vor allem der kleine René zogen an meinem geistigen Auge vorbei. Ihre blassen Gesichter, Maries weit aufgerissene Augen und der Zeitungsartikel über Tessa. Meine Hände ballten sich zu Fäusten und die Fingernägel bohrten kleine Halbmonde in meine Handflächen.
„Was willst du eigentlich von mir, Kassandra?“ Mit dem Lächeln einer wahnsinnigen Fanatikerin sah sie mich an.
„Alles, Schätzchen! Was immer ich dir nehmen kann, dass werde ich dir nehmen.“ Schnell hinderte ich meine Gedanken daran über meine Lippen zu huschen.
„Ich hab es dir schon einmal gesagt, Kassandra, und ich sage es wieder: Lass mich in Ruhe!“
„Hättest du wohl gern, was?“ Wieder spürte ich ihren harten Griff um meinen Oberarm.
„Mäuschen, du nervst mich gewaltig!“ Ihre Stimme wandelte sich schlagartig von schmeichlerisch zu giftig.
„Du, mit deinem Opferlamm-Gesichtchen, deinen roten Engelslöckchen, den süßen herausgepressten Tränen und deinem jämmerlichen Mitleid!“ Sie würgte das Wort mit einem Ekel hervor, als hätte ich sie gezwungen, saure Milch zu trinken.
„Ich beobachte dich schon die ganze Zeit, Schätzchen. Du solltest mein Opfer werden, Annabelle. Und ich werde dich kriegen, Annabelle.“
„Wunderbar! Du hast dich ausgesprochen. Ich würde sagen, wir sind einen großen Schritt weiter gekommen. Adieu und gute Nacht!“ Sie stellte sich mir in den Weg.

„Mach dich nicht über mich lustig! Du bist gar nichts wert! Ich könnte dich hier und jetzt zerquetschen und niemand würde nach dir fragen. Nicht einmal dein heiß geliebter Michel!“ Autsch! Das tat weh. Gezielt hatte sie ihren giftigen Stachel in meine empfindlichste Stelle gerammt. Wie eine Löwin um die Beute, schlich sie um mich herum. Sie hatte mich in der Falle. Ich wusste es. Sie wusste es und sie grinste.
„Oh, ich weiß von Paris. Von euren heißen Küssen. Ich weiß von jedem Kompliment von jeder eurer scheuen Berührungen. Wie oft du bei ihm Halt suchst und wie oft er das gleiche bei dir sucht. Aber glaube mir, wenn ich dir sage: Du bedeutest ihm gar nichts.“ Triumphierend sah sie auf mich herab. Ich starrte auf das Kopfsteinpflaster und versuchte alles um den Zweifel, der in mir keimte, zu vertreiben. Konnte es sein, dass ich mich getäuscht hatte? Aber Michel schien so offensichtlich in mich verliebt. Kassandra wollte mich nur fertig machen. Leider gelang ihr das ziemlich gut.

„Frag ihn doch mal nach Sandrine. Oder wie hieß die Florentinerin? Francesca, glaub ich. Und, nicht zu vergessen, Mercedes aus Mexiko und selbstverständlich die süße Svetlana. Es macht ihm alle paar Jahre Spaß, kleine Mädchen hinters Licht zu führen. Du bist gerade gut genug um ihm für ein paar Jahre die Zeit zu vertreiben, Anna.“
Ein strahlend helles Licht ging in mir auf und wischte Zweifel und Eifersucht genauso schnell weg, wie sie gekommen waren. Natürlich. Was hatte Rick gesagt? „Kassandra wird alles für die Blutjünger tun, solange sie dafür Michel kriegt.“

„Zu dumm, dass er sich mit dir nicht die Zeit vertreiben wollte. Stimmt’s, Kassandra?“ Ihr triumphaler Gesichtsausdruck verschwand mit einem Mal. Ihre Lippen verschmälerten sich zu dünnen, blassen Strichen und ich hatte das Gefühl, dass sie mich mit ihren Blicken durchbohren wollte.
„Pass bloß auf, Schätzchen. Noch lachst du über mich, aber bald ist es damit vorbei. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis der Rat deinen Tod befiehlt und dann werde ich zur Stelle sein. Du wirst leiden, Anna, wie noch kein Unsterblicher vor dir. Und ich werde es genießen.“ Langsam stöckelte sie davon. Noch einmal drehte sie sich zu mir um.
„Ich werde dich töten, Anna. Und wenn es das letzte ist was ich tue.“ Lachend verschwand sie in der Dunkelheit.


Die Wochen nach unserem Opernbesuch verliefen ereignislos und selbst meinen Verfolgern schien es langsam langweilig zu werden. Es gab Tage an denen sie mich vollkommen in Ruhe ließen. An einem dieser Tage entkam ich Michel und streifte allein durch die Stadt. Der schneereiche Winter hatte sich längst verflüchtigt um einem kalten, regnerischen Frühling Platz zu machen.

Doch an diesem Tag versprach schon der frühe Morgen heißen Sonnenschein und er hielt sein Versprechen. Mit meiner weißumrandeten Monster-Sonnenbrille bewaffnet und einem breitrandigen, weißen Hut auf meinen roten Locken bot ich wohl eine extraordinäre Erscheinung. Jedenfalls verfolgten mich einige belustigte Blicke auf meinem Weg durch Münchens Straßen. Auf der Maxstraße mochte mein Aufzug ja noch als Haute Couture durchgehen, aber spätestens in den schmalen Straßen der Maxvorstadt war mein Aufzug nur noch lächerlich. Ich wusste es und es kümmerte mich nicht.

Als sich die Abenddämmerung über die Häuser der Stadt senkte, schlenderte ich über einen kleinen Friedhof, der sich über Jahrhunderte inmitten der Wohnblöcke erhalten hatte. Einmal mochte er vor den Stadttoren gelegen haben, doch schon längst hatte ihn der urbane Moloch verschluckt. Moosbewachsene Grabmäler erzählten von innig beweinten Kindern und edlen Gatten, die der Tod von der Erde radiert hatte. Bahnbeamtenwitwen moderten unter wucherndem Efeu und harrten der Auferstehung am Jüngsten Tag, wo sie vermutlich mit der Königlichen Eisenbahn auffahren würden, wo sie doch mit solchem Stolz die Berufsbezeichnung ihres Gatten übernommen hatten. Ganze Lebensläufe standen dort in Stein gemeißelt und viele schöne Worte erzählten von den Verstorbenen. Aufmerksam las ich in den vergangenen Leben, als dumpf grollender Donner ein frühes Gewitter ankündigte. Gierig sog ich die elektrisierte Luft ein. So frisch und wohlriechend konnte nur Gewitterregen sein. Die ersten Tropfen benetzten mein Gesicht. Ich setzte mich auf eine Bank und genoss das Kribbeln auf meiner Haut. Und dann sah ich die Grabfigur mir gegenüber.

Ein Engel hielt ein junges Mädchen fest in seinen steinernen Armen. Sie war ihm zugewandt, ihre Arme um seinen Hals geschlungen. Keine Angst, nur blankes Vertrauen zeichnete sich in ihrem gemeißelten Gesicht ab. Ein typisches Produkt der Romantik, irgendwo zwischen Kunst und Kitsch angesiedelt und trotzdem stimmungsvoll auf seine Art.
„Du bist so dumm, Mädchen. Gibst dem Tod mit beiden Händen dein Herz.“

„Sprichst du von den beiden oder von dir selbst?“ Erschrocken wirbelte ich herum. Hinter mir stand Michel.
„Was machst du hier?“ Lässig lehnte er an einem brüchigen Obelisken, der windschief in der Erde steckte.
„Du hast mir noch keine Antwort gegeben, Anna.“
„Verschwinde!“ Demonstrativ starrte ich wieder auf das Grabmal. Warum konnte er nicht einsehen, dass zwischen uns niemals mehr sein dürfte, als Freundschaft? Und doch sehnte ich ihn mit jedem Mal stärker an meine Seite, je öfter ich ihn rüde zurück wies.
„Hast du Angst?“
„Ich habe gesagt, du sollst verschwinden!“, fauchte ich ihn an.
„Weißt du, dass du mir jetzt schon zwei Antworten schuldig bist.“
„Herrgott noch mal! Du nervst mich!“ Doch je mehr ich mich aufregte, desto breiter wurde sein Grinsen.
„Du bist verliebt, chérie.“
„Woher willst du das so genau wissen?“ Als ich aufstand um weg zu gehen, packte er mich am Arm und drehte mich zu sich herum. Angestrengt wich ich seinem Blick aus.
„Ich weiß es einfach, Anna. Die Art wie du mich ansiehst, mir aus dem Weg gehst, deine Tagträumereien, deine Fragen… Du bist verliebt. Und zwar in mich.“
„Ha! Das würde dir wohl gefallen.“
„Ja, durchaus.“ Er lachte laut und brachte mich damit noch mehr zur Weißglut.

Ja, verdammt, ich war bis über beide Ohren in ihn verliebt. Ich hätte ohne zu Zögern mein Leben für ihn gegeben. Aber ich hasste mich selbst dafür, so leicht von ihm enttarnt worden zu sein. Zornig warf ich mich auf ihn und wie balgende Kinder rollten wir über den nassen Rasen. Während ich mit aller Kraft versuchte ihn zu kratzen, zu schlagen oder sonst wie loszuwerden, lachte er nur umso lauter. Seine Augen blitzten vor Vergnügen und sein Spott stachelte mich immer weiter an. Doch dann verstummte sein Lachen und plötzlich lag ich unter ihm. Er hielt meine Hände eisern auf den Boden gedrückt und alles Zappeln und Treten hätte mich nicht befreien können. Wütend aber ruhig sah ich ihn an.
„Eine weitere Lektion, Anna: Lass dich nicht provozieren, wenn du kämpfst.“
„Deine tollen Lektionen gehen mir am Arsch vorbei, Michel.“ Lächelnd küsste er meine Stirn.

„Ich will Antworten, Annabelle.“ Er genoss es sichtlich mich in diese Lage gebracht zu haben und trotzig schwieg ich. Seufzend schüttelte er den Kopf.
„Hast du dein Herz dem Tod geschenkt?“, flüsterte er. Sollte ich etwas dazu sagen? Meine Augen verrieten mich sowieso.
„Hast du Angst?“
„Sollte ich?“ Lange musterte er mein Gesicht und sein Griff wurde lockerer. Blitzschnell stemmte ich ihn von mir und sprang auf. Lange starrten wir einander an, bevor sich meine Lippen wie von selbst bewegten.
„Jetzt beantworte mir eine Frage, Michel. Als ich noch ein Mensch war, warum hast du mich belogen?“ Pure Überraschung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Diese Frage hatte er nicht erwartet.
„Hätte ich dir denn sagen sollen …“ Rasch winkte ich ab.
„Nein, das nicht. Aber du hast mit mir geflirtet. Du hast mich glauben lassen, dass du mich attraktiv findest. Du hast mit mir geflirtet, als gäbe es kein Morgen. War das alles nur Show? Wolltest du wirklich nicht mehr als mein Blut?“ Ein Anflug von Enttäuschung verdunkelte sein Gesicht.

„Du glaubst mir immer noch nicht?“ Resigniert schüttelte er den Kopf. „Ich habe dich niemals belogen, Annabelle!“
„Vampire können nicht lieben, Michel. Es passt einfach nicht zusammen.“
„Ach ja? Erkläre mir etwas. Du spürst doch auch Freude und Schmerz, Trauer, Angst … hier drin.“ Michel deutete auf sein Herz. „Ich fühle es und ich weiß, du fühlst es auch. Wenn du all das kannst, wieso solltest du dann nicht auch lieben können, Annabelle?“
Ich schwieg und drehte ihm demonstrativ den Rücken zu. Langsam ging er an mir vorbei. Seine Fingerspitzen streiften über meinen Rücken, meine Taille und ließen mich schließlich los. Langsam ging er den Friedhofsweg entlang. Ich beobachtete wie bei jedem Schritt seine halblangen Haare leicht wippten. Der übliche schwarze Mantel wehte hinter ihm her. Das Herz hüpfte mir bei diesem Anblick bis zum Hals. Und ich rief ihm hinterher.
„Michel?“
„Hmm?“
„Ich hasse dich!“
„Lügnerin.“

***

Triefend nass kam ich in den frühen Morgenstunden nach Hause. Aus dem Lautsprecher dudelte Jankos Lieblingsband.
„Du hinterlässt eine ansehnliche Spur auf dem Teppich, Töchterchen.“
„Oh.“ Janko schlug seine Zeitung zusammen.
„Was ist los?“
„Nichts.“
„Erzähl keinen Blödsinn! Ich kenne dich inzwischen lange genug.“
„Es ist nichts! Ich will mich nur umziehen.“
„Bevor du das Wohnzimmer unter Wasser setzt…“
„Ja, ja, ja.“

Als ich barfuss zurück ins Wohnzimmer tappte, saß Janko immer noch auf der Couch. Stumm forderte er eine Erklärung. Ich ließ mich in den tiefen Sessel plumpsen, zog meine Beine an und kuschelte mich unter meine dicke Flauschdecke.
„Red endlich, Mädchen!“
„Es gibt nichts zu reden, Janko. Ich möchte einfach nur Musik hören.“
„Michel.“
„Hä? Was?“
„Du rennst die ganze Nacht draußen herum, obwohl es junge Hunde regnet. Du knallst die Türen zu, kaust an deinen Fingernägeln und hast offensichtlich zu wenig getrunken. Der Erfahrung nach kann daran nur Michel schuld sein.“

Zack und schon sprudelten die Worte aus mir heraus. Janko schwieg und hörte zu, während ich auf Michel schimpfte. Dann unterbrach er mich.
„Kindchen! Du bist in ihn verknallt! Selbst der letzte Volltrottel hat das inzwischen bemerkt. Wieso machst du ihm das zum Vorwurf?“ Mein Mund klappte auf und ergebnislos klappte er wieder zu. Janko lächelte verschmitzt. „Na anscheinend ist jetzt der Groschen gefallen.“
„Dann können Vampire also doch lieben?“
„Logisch!“ Janko legte eine andere Platte auf und Frank Sinatra swingte durch die Wohnung. Meine Gedanken fuhren mal wieder Karussell. Er hatte Recht. Schockierend, aber Janko hatte tatsächlich Recht.

„Warst… warst du schon mal verliebt, Janko?“ Eine Weile sagte er gar nichts, sondern starrte nur auf das Poster an der Wand. Als ich schon glaubte, überhaupt keine Antwort mehr zu kriegen, hörte ich endlich ein dünnes „Ja“.
„In wen denn?“
„Marta. Ihr Name war Marta“ und etwas leiser: „Ich habe seit Jahren nicht mehr an sie gedacht.“
„Erzählst du mir von ihr?“
„Warum denn, Kind? Was würden dir meine Geschichten nützen?“
„Das weiß ich erst, wenn du sie mir erzählt hast“, meinte ich listig. Janko lächelte verträumt.

„Es ist seltsam. Ich erinnere mich an ihre Worte, an das Gefühl, wenn wir uns im Arm hielten, an den Klang ihrer Stimme – aber ich erinnere mich nicht mehr an ihr Gesicht. So sehr ich es auch versuche. Es ist viel zu lange her.“ Er starrte an die Decke und nestelte an seinem Hemd herum. Ich wartete.
„Weißt du, Annabelle, vor langer Zeit war ich tatsächlich verheiratet. So unglaublich es auch klingt. Marta war meine Frau und mein Glück. Ich kann dir das nicht richtig erklären, aber mit ihr an meiner Seite fühlte ich mich – ganz. So seltsam das auch klingen mag. Oh Gott, ich hasse es wenn ich sentimental werde!“ Ich schmunzelte.
„Das steht dir zur Abwechslung aber mal ganz gut.“ Janko lachte leise.
„Tatsächlich? Vielleicht sollte ich dann noch ein bisschen sentimentaler werden. Ich war sogar Vater. Drei Kinder. Freche Zwillingsmädchen und einen kleinen, stillen Jungen. Manchmal, wenn ich mich an sie erinnere, sehe ich sie auf den Wiesen hinter unserem Haus spielen und Marta, die lachend versucht ihnen die stibitzte Schürze abzujagen. Die vier waren meine größten Schätze, Annabelle. Mein Leben. Von dem Moment an, als sie mir das erste Mal begegneten, bis zu dem Moment ihres Todes, beherrschten sie meine Gedanken, meine Liebe und jedes andere Gefühl in mir. Wenn ich genau darüber nachdenke, tun sie das immer noch.“

„Wie sind sie gestorben? Ich meine, du bist ein Vampir und da schließen sich anscheinend natürliche Todesursachen bei menschlichen Freunden und Verwandten aus“, fügte ich noch rasch hinzu und fühlte mich dabei wie ein Sensationsreporter.
„Leider hast du in dem Punkt Recht, Annabelle. Aber als ich sie zum ersten Mal verließ, war ich noch ein Mensch. Unser Fürst zog in den Krieg und ich musste wie alle anderen auch für ihn kämpfen. In der Geschichte der Menschheit hat es noch nie einen unfähigeren Soldaten als mich gegeben, das kannst du mir glauben. Bereits die erste Schlacht sollte meine letzte sein. Du hast den Tod kennen gelernt, Annabelle. Du siehst ihm jedes Mal wenn du tötest ins Auge. Aber Tod ist nicht gleich Tod. Du schenkst den Tod sanft und in der Stille, so dass er kaum erschreckender wirkt als ein Traum. Ich dagegen sah ihn von seiner hässlichsten Seite. Du kannst dir nicht vorstellen, welche Schmerzen ein Mensch aushalten kann. Ehrlich gesagt, wünsche ich mir, dass du dir das niemals vorstellen kannst! Ich lag da im Dreck des Schlachtfelds, aufgeschlitzt, blutend, Krieger trampelten über mich hinweg und nach einer halben Ewigkeit beugte sich endlich jemand zu mir herunter. Er drehte mich um und zum ersten Mal sah ich in Durands Gesicht. „Willst du leben?“, fragte er mich. Und ja, verdammt! Ich wollte leben. Nach Hause gehen zu meiner Frau und meinen Kindern. Sie in den Arm nehmen und weiterleben. Und genau dieser Antwort verdanke ich meine Existenz als Vampir.“

„Bist du zu deiner Familie zurückgekehrt?“
„Ja. Einfach war es nicht, meinen Zustand zu erklären. Aber es funktionierte. Ein vorgetäuschtes Begräbnis, eine Kiste unterm Boden und fertig war die Scharade. Die Kinder fanden sich überraschend schnell damit ab, dass sie mich nur noch nachts zu Gesicht bekamen und Martas Angst vor meinem neuen Selbst dauerte auch nicht lange an. Doch als einer unserer Nachbarn den totgesagten Janko nachts umherschleichen sahen, brodelte die Gerüchteküche hoch und meine Familie wurde immer mehr geschnitten. Das dicke Ende kam dann viel zu schnell. Eines Nachts wachte ich in einem brennenden Haus auf. Als ich vor den Flammen nach draußen floh, stieß ich mit dem ganzen schreienden Dorf zusammen. Tragisch oder? Jetzt würde ich sie wie lästige kleine Mücken zerquetschen, doch damals schleiften sie mich mit vereinter Kraft zum Friedhof. Mein leeres Grab hatten sie geöffnet und davor lagen Marta, meine Töchter, mein Sohn.“ Jankos Hände ballten sich zu Fäusten bis die Fingerknöchel weiß hervortraten und in lange vergessenem Hass biss er sich die Lippen blutig.
„Aufgereiht wie die Orgelpfeifen lagen sie vor mir. Blutüberströmt, gepfählt und ihre entstellten Köpfe lagen neben ihren Füßen. Und dieses Lachen. Es dröhnt immer noch in meinen Ohren. Wie ein… ein Echo. Ein Echo aus längst vergangenen Zeiten. Ich sehe ihre gehässig grinsenden Gesichter. Bevor all das geschah, nannte ich sie Freunde und jetzt lachten sie über mein Leid und feierten sich als die Bezwinger der Vampire. Ich habe sie alle getötet, Annabelle. In einer Nacht habe ich alle getötet.“

Janko seufzte tief und wischte sich über die Stirn. So, als wolle er damit auch seine Erinnerungen fortwischen. Endlich sah er mich wieder an.
„Seitdem gab es in meinem Leben etliche Frauen. Wenn das Leben ewig währt, wäre es eine wahre Verschwendung ewige Liebe zu schwören. Aber mein Herz hängt immer noch an dieser einen, ersten Frau.“
„Wie lange ist das alles schon her?“
„Ich will es mal so formulieren, Annabelle: Beim ersten Kreuzzug gehörte ich schon zum 2. Clan und meine Familie schon eine ganze Zeit lang zu den Engeln.“
Wow! Eine verdammt lange Zeit für ein einzelnes Leben.
„Die Sonne geht bald auf. Klapp also den Mund wieder zu Annabelle und behalte alles was ich dir heute gesagt habe für dich. Verstanden?“ Ich nickte nur und half Janko beim Schließen seines Sarges. Dann kroch ich müde in mein eigenes Bett und träumte einer neuen Nacht entgegen.

***

Ein frischer Nachtwind zerrte an meinen Haaren und in vollen Zügen genoss ich den Duft des ausklingenden Frühlings. Die gefürchtete Schafskälte hatte den warmen Fönwind vertrieben, so dass sich inzwischen nur noch die modeverrücktesten Mädchen ohne Jacke aus dem Haus wagten und ihre nackten Beine dem Wind aussetzten. Halb hinter einer Mauer verborgen beobachtete ich die Straßenbahngleise am Hauptbahnhof.

In seiner ganzen Hässlichkeit erstrahlte er im orangenen Licht der Straßenlaternen und einige Polizisten von der U-Bahnwache näherten sich meinem Abendessen. Wie schlafend lag er auf der schmierigen Wartebank. Seine Hand lag kraftlos auf der großen weißen Einkaufstasche, in der er seine wenigen Habseligkeiten verpackt hatte. Verfilzte rotblonde Haare lugten unter der dreckigen Wollmütze hervor, die im krassen Gegensatz zu den dünnen Stoffschuhen an seinen Füßen stand. Den Mund hatte er wie im Augenblick des Erstaunens geöffnet und sein trüber Blick schien in der Ferne jemanden zu erkennen. Er hatte so einsam und verloren gewirkt, als ich ihn fand. Bibbernd vor Kälte hatte er versucht irgendeine Pille einzuwerfen, doch sie war ihm aus den steif gefrorenen Fingern geglitten. Als er auf dem Boden kniete um im Gully danach zu stochern, hatte ich ihn zurück zu seiner Bank geführt und ihm die Erlösung geschenkt, die ihm die Welt vorenthalten hatte.

„He! Hamma wieder zvui gsuffa?“ Der Polizist schlüpfte in ein Paar Gummihandschuhe und stupste den Mann leicht an.
„He! Lebst du no?“ Ich lachte leise in mich hinein. Was für eine bescheuerte Frage. Ob ihm wohl darauf schon mal jemand mit „Nein“ geantwortet hatte? „Mane, ruf an Krankenwagen.“
„Meinst du, das hilft noch was?“ Der erste Polizist schüttelte nur den Kopf und fuhr in seiner kalten bayerischen Art fort. „Na, der is hi.“

Ich hätte vermutlich entsetzt über seine derbe Wortwahl sein sollen. Immerhin sprach er hier von einem Menschen und nicht von irgendeinem Vieh. Aber es schockierte mich nicht im Mindesten. Wahres Mitleid hatte ich schon lange nicht mehr empfunden und deshalb setzte ich es auch bei anderen nicht mehr voraus. Die meisten Menschen waren im Grunde ihres Herzens kalt, gefühlsarm und dachten in pragmatisch-praktischen Bahnen. Diejenigen die ihr Mitgefühl und ihre Entrüstung wie einen Schild vor sich hertrugen, gebrauchten diese Eigenschaften ja doch nur um auf sich und ihren scheinbaren Edelmut aufmerksam zu machen. Ein paar Nachtschwärmer standen in der Nähe des Toten und wie ein Forscher ein seltenes Tier beobachtet, analysierte ich ihr Verhalten.

Einige studierten demonstrativ die Litfasssäule am anderen Straßenrand und schienen gar nichts bemerkt zu haben. Nur durch ihre hastigen Seitenblicke verrieten sie ihre Neugier. Ein paar Mädchen blickten schockiert drein und entrüsteten sich über die offensiv gaffenden Schaulustigen, die immer engere Kreise um den Schauplatz des Todes zogen. Beide Gruppen freuten sich – die einen insgeheim, die anderen offensichtlich – dass sie jetzt für den Rest des Abends und die darauf folgenden Tage neuen, heißen Gesprächsstoff bekamen. Kopfschüttelnd drehte ich mich von ihnen weg.

„Sie sind armselig, nicht wahr?“ Kassandra saß halb auf einem Fahrradständer und überblickte die Szenerie mit der Arroganz einer Königin. Ich wartete, zählte im Geiste bis drei und befahl meinem Herzen sich wieder zu beruhigen. Wie hatte sie sich an mich heranschleichen können? Wieso hatte ich sie nicht gespürt?
„Sieh sie dir an, Annabelle. Wie Ratten, die sich um einen frischen Kadaver scharen. Die Krone der Schöpfung. Dass ich nicht lache.“ Aber sie verzog ihren Mund nicht einmal zu einem höhnischen Lächeln. „Du tust gut daran, wenn du sie tötest, Schätzchen.“
„Nein, tue ich nicht.“
„Oh, tatsächlich? „Erzähl mir nicht, dass du dich dabei schlecht fühlst. Du genießt es, wenn sie in deinen Armen ihren letzten Atemzug tun. Wenn sie dir ihr Leben ganz und gar zu Füßen legen. Dann wünschst du dir, dass der Augenblick ewig währen möge.“
Selbstzufrieden lächelte sie und nickte. „Wusste ich es doch. So heilig wie du immer tust, bist du gar nicht.“

Ich schwieg und versuchte das Tier in mir zu bändigen, das wütend an seinem Käfiggitter auf und ab hüpfte und nach Rache verlangte. Rache für die Freunde, die mir Kassandra genommen hatte. Rache für das Leben, das ich hätte führen können.
„Wie geht es Michel?“
„Frag ihn doch selbst.“ Kassandra lachte und stellte klackend ihre Füße auf den Boden. Sie steckten in glänzenden schwarzen Fick-mich-Stiefeln, deren spitzer Absatz silbern funkelte. „Was für eine hervorragende Idee, Annabelle. Sei so lieb und bring mich zu ihm.“
„Hältst du mich für vollkommen bescheuert?“ Sie schüttelte nur den Kopf und sah verträumt zu dem Krankenwagen, der nun mit lautem Sirenengeheul um die Ecke schoss.
„Michel gehört mir, Annabelle. Du kannst dich noch so sehr dagegen sträuben. Er und ich gehören zusammen.“

„Solltest du das nicht mich entscheiden lassen, Kassandra?“ Michels Hand glitt wie selbstverständlich in die meine. Nun war es an mir Kassandra ein triumphierendes Lächeln zu schenken. Michel beugte sich näher an mein Ohr, als es nötig gewesen wäre. „Komm, Anna. Lass uns gehen.“ Kaum hatten wir ein paar Schritte getan, holte Kassandra uns wieder ein. Sie ignorierte mich und redete beschwörend auf Michel ein.

„Warum tust du mir das an? Was kann dir dieses Kind geben, dass du nicht auch von mir bekommen könntest? Erinnerst du dich nicht mehr an die schöne Zeit, die wir gemeinsam hatten, mein Liebster?“
„Ich erinnere mich an die Leichen deiner Kinder – Camilla.“ Kassandra fasste seine Hand, in der Hoffnung, dass er dann stehen blieb.
„Ist es das? Willst du mich dafür bestrafen? Enthältst du mir deshalb deine Liebe, Michel?“ Wütend schlug er ihre Hand beiseite.
„Sieh es endlich ein! Ich habe dich nie geliebt, Kassandra. Und ich werde dich auch niemals lieben! Ich wollte dein Blut, nicht dein Herz.“ Völlig belämmert blieb sie stehen und starrte uns hinterher.

Michel zog mich weiter. „Dreh dich jetzt bloß nicht um“, wisperte er mir ins Ohr. Die Härchen in meinem Nacken stellten sich warnend auf und mit eingezogenem Kopf beschleunigte ich meine Schritte. Wie ein wütender Sturm fegte Kassandra uns auseinander. Kreischend riss sie mich an den Haaren zu sich und für einen Augenblick glaubte ich kalten Stahl an meinem Hals zu fühlen.

Schnell, als würde man eine laufende Filmrolle in Brand setzen, verblasste alles um mich herum und es blieb nichts als grenzenlose Finsternis, in der ich ohne Halt zu treiben schien. In dieser Welt der Leere herrschte allein die Einsamkeit. Kälte griff nach meinem Herzen und unsichtbare Klauen wollten mich noch tiefer ins Dunkel zerren. Doch plötzlich traf mich ein wärmender Strahl. Im Nichts schwebend drehte ich mich danach um. Ein ungewöhnlich helles und doch sanftes Licht glänzte weit von mir entfernt. Ich fühlte mich nicht mehr einsam und ängstlich, sondern ganz und gar glücklich. Farbenfroh leuchtende Wesen baten mich mit ihnen zu gehen, sie in dieses strahlende Licht zu begleiten, doch meine Bemühungen blieben vergebens. Ich konnte mich im Glück sonnen, aber ich konnte nicht hinein gehen, wie die Anderen. Etwas oder jemand griff nach meiner Schulter.

„Anna! Anna! Hörst du mich?“ Verwirrt blinzelte ich in die Dunkelheit. „Anna? Atme wieder!“
„Ich atme doch schon die ganze Zeit.“ Michel schloss mich so fest in seine Arme, dass mir die Luft gleich wieder weg blieb. Immer noch nicht ganz klar im Kopf schaute ich mich um. Ich lag in einer Seitenstraße beim Justizpalast. Kassandra konnte ich nirgendwo entdecken und das beruhigte mich. Aber meine weiße Jacke sah aus, als hätte ich damit ein Schwein geschlachtet. An der Stelle an der Kassandras Messer meine Kehle durchschnitten hatte, schmerzte mich jede Bewegung. Die Ampel auf der gegenüberliegenden Straßenseite schien sich zu drehen und ich fühlte mich, als hätte ich seit Jahren nichts mehr getrunken. Was hatte Michel vorher zu mir gesagt? Atme wieder? Fragend blickte ich in Michels besorgtes Gesicht.

„War ich tot?“ Viel zu hastig schüttelte er den Kopf.
„Du bist nur gestorben.“ Müde lehnte ich mich an seine Schulter. In der Welt hinter dem Sterben war es so schön gewesen. So warm und freundlich.
„Wieso hast du mich aufgeweckt?“ Er zog mich noch näher an sich heran und zwang mich mit sanftem Druck ihn anzusehen.
„Weil ich dich nicht verlieren wollte, Anna.“
Eine Weile saßen wir schweigend beieinander und schauten uns an.

Ich hatte das Gefühl als hätte das warme Licht von vorher seinen Weg in die diesseitige Welt gefunden. Kein zündender Funke sprang über, der ein flammendes Inferno verursacht hätte, sondern zwei unsichtbare, warm strahlende Bänder wanden sich wie Schlangen zu einem festen Knoten zusammen. Kassandras Gerede bedeutete nichts mehr. Die Angst vor den Anderen verschwand. Zögernd erst, dann umso leidenschaftlicher küsste ich ihn. Ich wollte seine Küsse, ebenso sehr wie sein Blut, das sich in meinem Mund sammelte. Zum ersten Mal hatte ich ihn in meiner Gewalt und nicht er mich. Ein fast vergessenes Hochgefühl erfüllte mich, ließ mein Herz schneller schlagen und meine Lippen noch mehr fordern. Wir hielten uns im Arm, so fest, dass ich glaubte seinen Puls fühlen zu können. Ich wollte ihn ganz in mir spüren. Meine Zähne knabberten an seinem Hals, während meine Finger sein Hemd öffneten. Seine Lippen wanderten über meine Haut, in die kleine Kuhle zwischen Hals und Schultern. Mit einem Ratschen öffnete er den Reißverschluss meiner blutbesudelten Jacke und im Rausch fühlte ich, wie er sich sein Blut zurückholte.

Ein Feuer brannte in jener Nacht. Flammen tanzten in mir, spielten mit mir, neckten mich, versengten und verbrannten mich und hüllten mich in sanfte, einlullende Wärme um gleich darauf nur noch heißer als zuvor aufzulodern. Mir war als hätte ich etwas, das lange gefangen war endlich befreit. Etwas, das sich jetzt vor lauter überschwänglichem Enthusiasmus förmlich überschlug und mir keinen Moment zum Atem schöpfen lassen wollte. Tausend Gefühle stürzten gleichzeitig durch die enge, endlich offen stehende Tür meines Herzens und ließen mich in wohligem Taumel ein ums andere Mal erschauern. Ich erinnerte mich an die Musik der Oper. Sanft auf- und abschwellende Töne, hell und flötengleich. Melodien, die sich zu ungeahnten Höhen emporschwangen und krachende Paukenschläge, die alles um sich herum in die Tiefe zu reißen schienen. Die Musik der Leidenschaft ließ mich verzweifelt nach Luft schnappen, raubte mir den Verstand und ließ nichts als reines, strahlendes Glücksgefühl zurück. Als die ersten scheuen Sonnenstrahlen sich ihren Weg durch die Vorhänge meines Zimmers bahnten und Michels schlafende Gestalt beschienen, hatte ich das Gefühl ein Stück Himmel hätte sich in einer einzigen Nacht in mein Herz gelegt um dort ein Leben lang zu bleiben.

***

Von nun an konnten ganze Wochen vergehen, in denen Michel und ich nicht eine Stunde von einander getrennt verbrachten. Stundenlang saßen wir beieinander, redeten uns die Lippen fusselig, jagten gemeinsam und fielen an den unmöglichsten Orten zu noch unmöglicheren Zeiten über einander her. Ich hatte recht gehabt. Der Himmel genehmigte mir einen ausgedehnten Spaziergang im Paradies. Mit all meinen Gebeten und all meinem Sehnen wünschte ich mir, dass es niemals enden würde. Noch nie zuvor, weder in meinem sterblichen noch in meinem unsterblichen Leben hatte ich mich so glücklich und frei gefühlt, wie in diesen Tagen. Einzig Janko dämpfte die Stimmung, der uns immer wieder zurrecht wies und uns als lebensmüde schalt. Das ging so weit, dass ich ihn genervt anfauchte, wenn er wieder eine seiner Gardinenpredigten loslassen wollte. Sollten sie mich doch beobachten! Sollten sie doch ihre neugierigen Nasen in meine Angelegenheiten stecken! Was kümmert’s mich! Tausend wahnsinnige Spinner konnten mir nichts anhaben, solange ich nur einen weiteren glücklichen Tag mit Michel verbringen durfte. Nur einen weiteren Tag voller Lachen. Nur noch einen Tag ohne nagende Angst. Nur noch einen Tag im Liebestaumel. Und an jedem neuen Morgen, bevor sich meine Augen schlossen, sandte ich ein Gebet an den, der für mein Schicksal verantwortlich sein mochte: „Nur noch einen Tag! Bitte, nur noch einen weiteren Tag.“

Ein knallheißer Sommer zog an uns vorüber. Lärmende Schulkinder säumten im August die Straßen, deren Asphalt leise brodelte. Sie bewarfen sich mit Wasserbomben, tobten durch die Hinterhöfe und radelten fröhlich plappernd ins Freibad. Das Thermometer zeigte unglaubliche 40 Grad an, doch ich fühlte keinen gravierenden Unterschied zum Winter. Die einzige Wärme, die ich verspürte, kam aus mir selbst. Sie ließ mich lächelnd durch die Straßen laufen und laut singend über den Bürgersteig tanzen. Menschen lachten mich an, einige pfiffen mit, alle hielten mich für restlos verrückt. Und wahrscheinlich hatten sie damit Recht.

Michel und ich spazierten durch die Stadt, als würde sie uns gehören. Wie die Könige schlenderten wir durch die Straßen, wählten unsere Opfer und legten unsere Netze über sie. Wir versuchten uns in scherzhaftem Wettkampf gegenseitig in Raffinesse und List, mit denen wir sie in die Falle lockten, zu übertreffen. Dieses Mal hatten wir es auf ein Touristenpärchen abgesehen. Die beiden saßen an einem der Tische vor einem Café und schwiegen sich an. Einer mied den Blick des andern und grollte vor sich hin. Ein Zwinkern Michels genügte, um mir seinen Plan zu offenbaren. Wir setzten uns zu ihnen. Michel zu ihr, ich neben ihn. Höfliches Geplauder ging in schmeichelnde Süßholzrasplerei über und amüsiert beobachtete ich, wie sie geradezu dankbar auf unsere Flirtversuche eingingen. Sie hatten sich uns völlig zugewandt und unterhielten sich mit uns, als würde ihr Partner gar nicht mehr existieren. Ein plötzlich aufkommender frischer Wind leerte die Stühle ringsum. Ich spielte die Fröstelnde. Ich rieb mir die Arme, zog die Schultern hoch und ließ den wohl dämlichsten Satz der Flirtgeschichte über meine zitternden Lippen gleiten: „Huh, bisschen kühl hier.“

Augenblicklich wurde mir ein verschwitztes Jackett über die Schultern gelegt und eine Sekunde zu lang blieben seine Finger auf meiner Schulter liegen. Betont lasziv erhob ich mich, legte meine Hand auf seinen Oberarm und flüsterte ihm leise ins Ohr, dass ich gerne wohin gehen würde, wo es wärmer ist. Sofort raffte er seine Sachen zusammen, verabschiedete sich kurz angebunden von seiner Frau, die ihn gar nicht beachtete und folgte mir in die aufsteigende Dunkelheit. Wie ein Hündchen lief er hinter mir her, wagte sich schließlich näher und legte seinen Arm um meine Hüfte. Ich lächelte ihn an. Erleichtert stieß er kaum hörbar die Luft aus. Er durfte das. Wie weit würde er sich noch vorwagen dürfen? Seine Hand rutschte tiefer. Perfekt inszeniert lachte ich und ging einen Schritt schneller. Versuch ruhig mich zu erobern. Jage mich, du Idiot! Wenn du wüsstest, dass ich es bin, die dich jagt…

Ich lenkte meine Schritte zu einem dunklen Hauseingang, blieb mit meinen Stöckelschuhen im Kopfsteinpflaster hängen und stolperte galant in seine bereitstehenden Arme. Natürlich drängte er mich jetzt „völlig überraschend“ in die Nische und gab sich alle Mühe mich zu küssen. Innerlich lächelte ich, während ich ihn geschickt auf Abstand hielt und seine Bewegungen wie ein Puppenspieler kontrollierte. Ich dirigierte ihn noch ein Stückchen näher zu mir und schnell wie eine Viper schlug ich meine Zähne in seinen Hals. Genüsslich ließ ich den roten Lebenssaft durch meine ausgedörrte Kehle rinnen. Mein Opfer seufzte leise. Oder war ich es, die diesen wohligen Seufzer von sich gegeben hatte?

Ich öffnete die Augen und über die Schultern des Mannes erblickte ich Michel. Sein schwarzer Mantel flatterte im immer stärker werdenden Wind. Wie eine Statue stand er im bunten Treiben der nach Hause eilenden Menschen und beobachtete mich. Ein liebevolles Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Ich ließ von dem Fremden ab und verschloss seine Wunden. Er keuchte schwer vor Erregung und seine Augen schimmerten kraftlos, wie vor einer Ohnmacht. Ohne ein Wort schubste ich ihn an die Hausmauer und schwebte an ihm vorbei zu meinem schwarzen Engel. Die Nacht – unsere Nacht – legte sich über die Stadt und die Zeit der Vampire und Nachtschwärmer brach ein weiteres Mal an.

„Wo hast du das nur gelernt, Anna?“, fragte Michel verschmitzt lächelnd und legte seinen Arm um meine Schultern. „Ich weiß nicht was du meinst.“ Er küsste meine Stirn.
„Wie schaffst du es alle Männer in den Wahnsinn zu treiben?“ Ich lachte laut auf.
„Muss an der Vampirsache liegen.“
„Nein, das glaub ich nicht. Ich glaube, du hast deine Verführungskünste jahrelang vor dem Spiegel geübt und setzt sie jetzt endlich ein.“ Er schmunzelte und wusste dabei gar nicht wie nahe er mit seiner Vermutung wirklich lag. Ja, ich hatte als Mensch davon geträumt als Femme fatale die Männer zu becircen, mich aber nicht getraut, diese Seite in mir auszuleben. Jetzt aber dachte ich nicht mehr darüber nach, was andere von mir halten würden oder ob ich mir damit die Zukunft verbauen würde. Ich lebte jetzt und nichts anderes zählte mehr.

Die letzten Sonnenstrahlen verzogen sich hinter den Türmen der Frauenkirche und ich schob meine Sonnenbrille nach oben. Wie ein Haarreif lag sie über meinen kupferroten Locken und glänzte im trüben Dämmerlicht des Sommerabends. Michel klappte seine Brille zusammen und schob sie in die Manteltasche.
„Ich liebe diese Zeit des Tages.“ Er ließ sich auf einem der monströsen Blumenkästen aus Beton nieder, die überall herumstanden und streckte die langen Beine weit von sich. „Es ist dunkel genug um ohne Brille zu sehen und hell genug um noch die Farben zu erkennen.“ Ich setzte mich zu ihm und gemeinsam beobachteten wir wie das helle Gelb der Sonnenblumen langsam verblasste um im schummerigen Licht der Laternen zu einem schmutzigen Braun zu werden. Michels Finger streichelten meinen Handrücken. Im Dämmerlicht funkelten die roten Steine an seinem billigen Talisman, den er wie üblich um den Hals trug. Ich nahm das schwarze Kreuz in meine andere Hand und spielte damit. Das Lederband, an dem es baumelte, hob sich scharf von seiner weißen Haut ab. In seinen weichen Gesichtszügen glaubte ich wieder die Spuren eines kleinen Jungen zu entdecken. Eine neugierige Frage drängte sich mir auf.

„Michel, wie alt bist du eigentlich?“ Es schien, als müsse er über diese Frage genauer nachdenken. „Ich glaube“, begann er, „so ungefähr 216 Jahre und ein paar Monate.“
„Nein, ich meinte, wie alt warst du damals?“
„Damals? Als ich zum Vampir wurde?“ Ich nickte und stützte mein Kinn auf seine Schulter. „Siebzehn.“ Meine Augenbrauen zuckten überrascht nach oben. Ich hatte zwar geahnt, dass er als Mensch jünger als ich gewesen sein musste, aber so viel jünger hätte ich nicht gedacht.
„Himmel, Michel! Das grenzt ja an Pädophilie, was ich hier treibe“, spielte ich die Entrüstete. Er lachte, hüpfte von dem grauen Blumenkübel herunter, umfasste meine Taille und hob mich spielerisch in die Luft. Meine Arme um seinen Hals gelegt, glitt ich an ihm herunter. Nur einen Moment lang genoss ich den warmen Blick seiner blauen Augen, bevor ich mich auf die Zehenspitzen stellte um ihn noch einmal zu küssen.

Mein Herz überschlug sich vor Glück und zum ersten Mal wurde mir bewusst, wie lebendig ich mich in seiner Nähe fühlte. Ich gehörte ihm ganz. Mit all meinen Träumen, meinen Ängsten, all meiner Hoffnung hatte ich mich ihm geschenkt und in meinem Herzen wusste ich, dass auch er sich mir geschenkt hatte.


Glückliche Tage verstreichen im Nu. So sind es die schlechten, die uns allzu deutlich in Erinnerung bleiben. So ist es bei den Sterblichen. So ist es bei den Unsterblichen. Und sollten Götter zwischen guten und schlechten Tagen unterscheiden, so ist es gewiss auch bei ihnen so. Mein bis dahin schrecklichster Tag begann mit einem nassen Fleck auf meinem Kleid.

„Oh, bitte entschuldigen Sie! Das war keine Absicht.“ Hektisch tupfte die junge Frau den Sekt von meinem abenteuerlich teuren Kleid. Vergeblich versuchte ich sie zu beruhigen. Mit jedem beschwichtigendem Wort entschuldigte sie sich nur noch mehr, bis ich ihr Handgelenk ergriff und sie sanft zwang mich anzusehen. Das Blut schoss ihr in die Wangen, als sie scheu lächelnd meinem Blick auswich. Wie schön sie aussah! Und so verloren. Im mausgrauen Etuikleid stand sie vor mir, starrte zu Boden und wusste nichts rechtes mit sich anzufangen. Eine Perlenkette lag glänzend um ihren Hals, an der sie mit ihren schlanken Fingern nestelte. Ich konnte meine Augen kaum von ihr lassen. Zwischen all den knallig bunten Partygästen hatte ich ein unscheinbares Juwel entdeckt. Der Höflichkeit halber stellte ich mich dem Mädchen namens Conny als Annabelle Feurouge vor und begann mit den üblichen Smalltalkfragen.

„Sind Sie mit ihrem Mann hier?“
„Nein, ich habe keinen Mann. Auch keinen Freund.“ Sie lächelte verlegen und zog die Schultern hoch, als erwarte sie für diese Antwort Schläge. „Und Sie?“
„Ich bin allein hier.“ Das war ich tatsächlich. Janko hatte Michel zu einem Männerabend überredet. Anscheinend hatte er vor einigen Wochen ein paar sehr alte Freunde getroffen, denen er Michel unbedingt vorstellen wollte. Ich dagegen glaubte, dass er einfach Sehnsucht nach seinem alten Kumpel hatte und da ich niemals zu den Frauen gehören wollte, die ihren Freund im Klammergriff ihrer Liebe erdrückten, zog ich diese Nacht eben allein um die Häuser.

Bis zu dem Moment an dem ich Conny kennen lernte. Sie faszinierte mich in ihrer stillen Schönheit. Ich wollte mehr über sie erfahren. Woher sie kam, wohin sie ging, welche Pläne sie in ihrem Leben hatte. Mit dezenten Fragen versuchte ich sie aus der Reserve zu locken. Ihre Schüchternheit legte sich jedoch nicht. Dankbar hing sie an meinen Lippen, lauschte und schwieg, bis ich sie wieder direkt etwas fragte. Sie ging geduckt und unauffällig durch ihr kleines Leben. Doch wie sie glänzte! Wie sie strahlte! Ich kam mir vor wie ein Schatzjäger. Ich hatte sie entdeckt. Alle anderen hatten sie übersehen, aber ich hatte sie entdeckt, sie geborgen und sie zu meinem Besitz erklärt. Und mit einem Mal wurde mir klar, dass ich sie besitzen wollte. Sie sollte mir gehören. Für immer.

Ein seltsamer Freudentaumel erfüllte mich und in einer kleinen Ecke meines Bewusstseins klopfte mein Blutdurst lautstark an. Connys Augen glänzten als ein fröhliches Lachen aus ihrer Kehle sprudelte. Wie ein Kind lachte sie und freute sich an meiner Aufmerksamkeit. Alles an ihr war so voller Leben. Ein Leben voller Unschuld, voller irrationaler Ängste und bedingungslosem Vertrauen. Ich begehrte dieses Leben. Ich wollte ihren Körper in meine Arme schließen und ihn von diesem Leben befreien. In dem Moment ihres Todes wollte ich ihre kindliche Naivität in mich einschließen. Ich wollte die Freude am Leben empfinden, so wie Conny sie in jedem Augenblick empfinden musste. Ich musste sie haben! Jede Zelle meines toten Körpers sehnte sich nach ihr.

Ich lotste sie unter einem billigen Vorwand zur Damentoilette. Eine Haarsträhne hatte sich aus ihrem Knoten gelöst und kitzelte ihren Nacken. Vorsichtig, als würde ich einen zerbrechlichen Kristall berühren, legte ich die Strähne zurück an ihren Platz, um sie mit einer silbernen Haarnadel zu befestigen. Als meine Hand ihre Schulter berührte fühlte ich mich wie berauscht. So nah. So nah. Sanft aber bestimmt zog ich sie näher zu mir. Ich umfasste ihre Taille, sie schluckte nur und befeuchtete mit der Zunge ihre spröden Lippen.

„Ähm, Annabelle…“
„Schhh.“ Sie schwieg augenblicklich. Glücklich fühlte ich wie meine Eckzähne wuchsen, als ich mich ihrem Hals näherte. Zärtlich ließ ich sie in ihre Haut gleiten. Conny gab einen überraschten Seufzer von sich und schwankte leicht. Wie jedes meiner Opfer befand sie sich in einem Zustand willenloser Trance. Mein Herz schlug schneller und pumpte das fremde Blut durch meine Adern. Meine Fingerspitzen zuckten, als pures Adrenalin durch meinen Körper jagte. Conny stöhnte und brach in meinen Armen zusammen. Bilder schwirrten durch meinen Kopf. Bilder von Plattenbauten und Plüschtieren, von Schulfesten und Vorstellungsgesprächen. Jedes einzelne Bild ein Bild aus ihrer Erinnerung. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Sie gab mir tatsächlich ihr ganzes Leben hin. Ein ganzes Leben lag vor mir ausgebreitet und gierig sog ich jedes Bild in mich ein.

Das Pochen ihres Herzens dröhnte in meinen Ohren. Schneller, immer schneller und plötzlich wurde es ruhig, schlug noch ein letztes Mal und blieb still. Widerwillig ließ ich von ihr ab und genoss den Rausch, der sich über jeden noch so winzigen Nervenstrang meines Körpers ergoss. Sie gehörte mir. Für immer.

Langsam öffnete ich die Augen. Ich saß auf dem Boden und Connys Kopf lag auf meinem Schoß. Sie hatte die Augen geschlossen und schien wie Dornröschen nur zu schlafen. Ich lächelte und streichelte ihr über das dünne braune Haar. Wie schön sie doch war. Selbst im Tod schien sie noch sternengleich zu strahlen. Wie ein gestürzter Engel lag sie auf den kalten, grauen Fliesen. Viel zu makellos erschien sie mir für diese Welt. Viel zu schön, um sie in die Eiseskälte der Großstadt hinaus zu schicken. Unbändiger Stolz erfüllte mich. Ich hatte sie nach Hause geschickt. In ein besseres, schöneres Leben. Ein Leben in dem sie glücklicher sein würde, als in diesem.

Ein spitzer Schrei riss mich aus meinen selbstverliebten Träumen. An der Tür sank eine aufgetakelte alte Frau ohnmächtig zu Boden. Verärgert wollte ich sie zur Seite stoßen. Mit ihren dick aufgetragenen Schichten Schminke entweihte sie Connys Schönheit. Sie hatte kein Recht auf demselben Boden zu liegen wie sie! Doch eine zweite kreischende Frau versperrte mir den Weg. Wütend drehte ich ihr den Hals um bevor mir überhaupt bewusst wurde, was ich gerade getan hatte. Mehrere Menschen drängelten jetzt gleichzeitig in den engen Raum. Ich stieß zwei Männer mühelos von mir, die mich zu überwältigen versuchten.

Der Rausch wich und machte blanker Panik Platz. Hier drinnen gab es keine Fenster aus denen ich hätte fliehen können. Der einzige Ausgang wurde von einer aufgebrachten Menge versperrt, die in mir eine wahnsinnige Mörderin sah. Oh Gott! Sie hatten Recht! Der Wahnsinn hatte in dieser Nacht nach mir gegriffen und mich kalt erwischt. Wie konnte ich nur so bescheuert sein! Conny hatte mir vertraut und ich hatte sie getötet. Die Andere musste sterben, weil ich ihr Schreien nicht ertragen konnte. Ich musste wahnsinnig geworden sein!

Brüllend schlug ich die Menschen zurück, schleuderte die, die mir zu nahe kamen, an die Wand und sprintete schneller als ein Menschenauge es erfassen konnte zum Fenster. Fliegende Glasscherben und ein Sprung auf den viele Meter tiefer liegenden Bürgersteig retteten mich. Ich lief. Ich rannte bis mir die Luft ausging. Kalter Wind biss mir ins Gesicht und schwarze Schatten schienen mich hohnlachend zu verfolgen. Irgendwann ließ ich mich erschöpft auf eine Parkbank fallen. Was hatte ich nur getan? Welcher Teufel hatte mich nur geritten? Ich kramte einen Spiegel aus meiner Tasche. Mein Mund troff von Blut.

Wenn mich so jemand sehen würde, würde ich mich ruckzuck im Gefängnis wieder finden! Schnell ging ich zum Ufer des kleinen Baches, der sich in der Nähe seinen vorgegebenen Weg bahnte und wusch mir das Gesicht, nur um es gleich darauf mit Matsch zu beschmieren. Ich zog meine Kleider aus, wendete sie und zog sie gleichfalls durch den Schmutz. Meine fein geordneten Haare brachte ich so lange durcheinander, bis ich wie eine einfache Pennerin aussah. Inständig hoffte ich, dass diese Maskerade fürs Erste genügte und machte mich auf den Heimweg. Doch als ich wieder die brennenden Lichter in den Häusern am Parkrand sah, durchfuhr mich ein Gedanke wie ein Blitz.

Ich konnte nicht nach Hause gehen. Sie würden mich suchen. Wenn ich nach Hause ging, würden sie mich aufspüren. Die Nachbarn hatten mich oft genug gesehen. Noch etwas erkannte ich erst jetzt. Ich hatte nicht nur mich um ein Zuhause gebracht, sondern auch Janko und Michel. Auch sie würden vor der Polizei fliehen müssen. Schon wieder. Eine Pyramide aus Schuld und Reue krachte über mir zusammen und hemmungslos schluchzend lehnte ich mich an die steinerne Brüstung einer Brücke. Oh, ich Idiot! Ich wahnsinniges Miststück! Wie konnte ich nur so behämmert sein? Würgend hing ich über dem Geländer. Mein Körper wollte Connys Blut los werden, als könnte er damit mein Verbrechen ungeschehen machen. Mit einer unüberlegten Tat hatte ich alles was mir lieb geworden war verraten. Mein Zuhause, meine Freunde, Michel. Ich bat heulend um Verzeihung und wusste doch, dass er mir dieses Mal nicht vergeben würde.

Etwas piekste mich in den Oberschenkel. Meine Handtasche befand sich dort und in ihr wartete Rebekkas Dolch. Ja, das war die Lösung. Schimmernd und schwer lag er in meiner zitternden Hand. „Achte darauf, dass du nicht zu viel Blut verlierst.“ Rebekka hatte das zu mir gesagt, als sie ihn mir schenkte. In der Hoffnung so am meisten Blut zu verlieren, jagte ich ihn mir ins Herz.

Dunkelheit empfing mich. Eisige Dunkelheit. Hoffnungsvoll suchte ich nach dem warmen Licht, dass ich schon einmal sehen durfte. Doch ich fand es nicht. Nichts als rabenschwarze Finsternis waberte um mich herum und gab sich alle Mühe mich zu verschlingen. Doch etwas hielt sie davon ab. Nur was? Verwundert lauschte ich dem sanften Rhythmus einer unsichtbaren Trommel. Dum-Dum. Dum-dum. Die regelmäßigen Schläge lullten mich ein, besänftigten mich und brachten mich zum Weinen. Keine Tränen der Verzweiflung rannen über meine Wangen. Erlösende Tränen waren es. Ein Weinen, das man begrüßt und willkommen heißt. Neugierig darauf, woher diese seltsame Melodie kam, öffnete ich die Augen und das dumpfe Trommeln verstummte.

Ich saß noch immer auf der Brücke und es herrschte noch immer eine sternenlose Nacht. Überrascht bemerkte ich, dass mein Herz noch nicht wieder schlug. Wie konnte es auch? Steckte doch ein antiker Dolch bis zum Heft in meiner Brust. Ächzend zog ich ihn wieder heraus und stockte plötzlich in meiner Bewegung. Die dumpfen Schläge, die ich vor wenigen Augenblicken gehört hatte, kamen mir so vertraut vor. Und als mein Herz wieder begann zu schlagen, wusste ich woher. Mein Herz klang genauso. Ein lebendiges, vollkommen gesundes Herz klang so! Aber wie war das möglich? Verwundert drehte ich den Dolch in meiner Hand und horchte noch tiefer in mich selbst hinein. Als ich schon glaubte mich einfach nur getäuscht zu haben, hörte ich es. Wie die leise Ahnung eines noch leiseren Echos folgten schnellere Schläge den Schlägen meines Herzens.

Keuchend vor Entsetzen ließ ich die Welt und all ihre Geräusche wieder herein. Das fröhliche Rauschen des Baches unter mir, das verschlafene Zwitschern einer Amsel und das ferne Hupen der Autos kehrten zurück, doch ich hatte nur Ohren für dieses dumpfe Trommeln in mir. Dum-dum, dum-dum. Ich zog die Knie an, umschlang sie mit meinen dünnen Armen und legte den Kopf darauf. Dum-dum, dum-dum. Wieso? Wie hatte das passieren können? Alle hatten sie mir gesagt, so etwas sei gar nicht möglich und doch schlug in mir ein zweites Herz. Das winzige Herz eines unbemerkt heranwachsenden Kindes.


Ich nahm Abschied. Abschied von der Kaiserstraße mit ihren kleinen Villen, die mich immer wieder aufs Neue an verwunschene Hexenhäuschen erinnerten. In einem von ihnen hatte ich die glücklichste Zeit meines Lebens verbracht. Dort ließ ich die Liebe meines Lebens zurück, stieg in ein Taxi und ließ mich zum Bahnhof fahren. Wohin es gehen sollte, wusste ich noch nicht. Einfach nur weit weg von hier. Weit weg von zu Hause.

***

Allein saß ich im Zugabteil. Die Menschen hielten Abstand von der heruntergekommenen Gestalt mit den verquollenen Augen. Sie hatten Angst davor mich fragen zu müssen, was mich bedrückte. Ich war der menschlichen Natur noch nie so dankbar wie in diesem Augenblick. Hauptsache sie ließen mich alle in Ruhe. Viel zu sehr war ich damit beschäftigt mein Leid zur Seite zu schieben. Ich wollte nicht mehr an meine Schuld denken. Ich wollte nicht mehr darüber nachdenken, was mich an diesem Abend geritten hatte und ich wollte nicht mehr an Michel denken. Verzweifelt versuchte ich Michels Gesicht aus meinen Gedanken zu verbannen. Das blaue Funkeln in seinen Augen. Die Art wie er sich das schwarze Haar im Nacken zusammenband und die Wärme, die er mir geschenkt hatte. Alles, alles wollte ich vergessen, doch je mehr ich versuchte mich von ihm loszulösen, desto klarer stand er mir vor Augen. Wenn ich nur weit genug fort fahren würde, dann würde ich ihn vergessen. Doch als sich der Zug – schnaufend wie ein asthmatisches Mütterchen – in Bewegung setzte, ließ ich den Tränen freien Lauf und schluchzte hemmungslos in mein Taschentuch. Ich hatte keine Ahnung wohin ich gehen sollte. Der Zug nach Nirgendwo, wo würde er mich absetzen? Bilder meines Lebens zogen an mir vorbei. Sehr viele waren es nicht. Und mit einem Mal hatte ich ein Ziel.

***

Am folgenden Abend stand ich vor einer dunklen Haustür. Das matte Glas schien wie durchzogen von eisernen Ästen. Mit viel Fantasie konnte man eine halbe Sonnenblume erkennen. Mein Finger schwebte über der Türklingel, doch etwas hielt mich zurück. Ich wunderte mich. Das Haus war blütenweiß gestrichen, nur an einigen wenigen Ecken konnte man noch einen blassen Gelbton erkennen. Mutter hatte gelb geliebt. Was wollte ich denn sagen, wenn sie die Tür für mich öffnete? Ich wusste es nicht und so zögerte mein Finger immer noch den Knopf zu drücken. Schließlich zog sich meine Hand zurück. Von Anfang an war das eine meiner dämlichsten Ideen gewesen. Sie würden mich gar nicht erst erkennen und wenn doch würde ich ihnen vermutlich einen Herzinfarkt bescheren. Vorsichtig schlich ich ums Haus. An der Südseite hatten meine Eltern vor Jahren einen Wintergarten anbringen lassen, der im Laufe der Zeit zum Wohnzimmer geworden war. Wenn sie daheim sein sollten, dann müssten sie jetzt dort sein. Vorsichtig lugte ich um die Ecke und tatsächlich schimmerte Licht aus den meterhohen Fenstern.

Mein Vater saß in seinem heißgeliebten Ohrensessel, der nicht zu Mutters moderner Couchgarnitur passte und den er immer wieder gegen sie verteidigen hatte müssen. Ich erinnerte mich daran, wie ich dort auf seinem Schoß gesessen und seinen Erzählungen gelauscht hatte. Er hatte mir nie Märchen oder Abenteuergeschichten erzählt, sondern immer nur Dinge, die auf der Arbeit passiert waren, aber ich hatte es damals geliebt. Wenn er mich seine Prinzessin nannte, kam ich mir vor wie eine kleine Erwachsene. Ein aufgeschlagenes Buch lag auf seinen Knien, als sei er eben erst eingeschlafen, aber er starrte nur an die Wand, als stünden dort alle Antworten dieser Welt. Die Zimmertür öffnete sich und rasch duckte ich mich, um nicht gesehen zu werden, obwohl ich wusste, dass man bei eingeschalteter Innenbeleuchtung nicht erkennen konnte, was im Garten geschah. Meine Mutter kam herein. Sie sah genauso aus, wie ich sie in Erinnerung hatte. Das Haar war etwas grauer geworden und die Falten in ihrem Gesicht etwas tiefer und doch hatte ich das Gefühl, dass sie noch nie so schön ausgesehen hatte. Am liebsten hätte ich alle Bedenken über Bord geworfen und wäre ihr um den Hals gefallen. Aber nicht nur aus Angst vor der Gefahr, in die ich sie bringen würde, ließ ich es bleiben. Es lag auch an dem kleinen Wesen, dass meine Mutter auf ihrem Arm hielt. Sie beugte sich zu meinem Vater hinunter und übergab ihm das strampelnde, hellblaue Bündel und ich sah wie auf seinem Gesicht ein sanftes Lächeln erschien. Ich hatte einen kleinen Bruder und meine Eltern den Sohn, den sie sich so lange gewünscht hatten. Der Junge kicherte fröhlich, als mein Vater mit ihm durchs Zimmer tanzte und verträumt strich ich über meinen Bauch. Als mir bewusst wurde, was ich gerade getan hatte, überkam mich das reine Entsetzen. Es konnte einfach nicht sein. Ich hatte mir das alles nur eingebildet. Monster wie ich bekommen keine Babys. Noch einmal sah ich auf das traute Familienbild zurück, bevor ich mich vom Haus meiner Eltern abwandte und in der Dunkelheit verschwand. Die beiden hatten ihr Glück wieder gefunden und für mich war darin kein Platz mehr. Sie sollten eine Erinnerung für mich bleiben. Ein Traum, der einst wirklich gewesen war.

***

Ich zog weiter. Irgendeine Großstadt sollte es sein. Zunächst überlegte ich, ob ich mir irgendwo ein Ticket nach Übersee besorgen sollte, doch am Flughafen sah ich einen der Halben arbeiten. Eigentlich spürte ich ihn mehr, als dass ich ihn sah. Mag sein, dass er für mich völlig ungefährlich gewesen wäre, aber zu der Zeit misstraute ich jedem mit spitzen Eckzähnen. Neue Kleider, eine schwarze Glatthaarperücke und eine fette Sonnenbrille verhalfen mir zu bewundernswerter Ähnlichkeit mit Yoko Ono und ich fühlte mich ein wenig sicherer. Nach meiner Begegnung am Flughafen entschied ich mich meine Reise zu Fuß fort zu setzen. Das würde zwar sehr lange dauern, aber damit rechneten die Anderen bestimmt nicht. Irgendeine riesige, europäische Stadt musste her und ich entschied mich für London. Ich hatte sehr schnell herausgefunden, dass das Leben in der Anonymität der Großstadt für eine Unsterbliche sehr viel einfacher war, als auf dem Land wo eine Fremde sofort auffällt. So hielt ich mich in den Dörfern und Kleinstädten entlang meines Weges nur kurz auf um zu jagen und zu schlafen. Und wo ich überall schlief! In zugemüllten Abrisshäusern, in Schafställen und unter Brücken mit den anderen Landstreichern. Wo ich nichts dergleichen fand, brach ich in Kirchen ein.
Noch immer plagten mich scheinbar wispernde Heiligenfiguren und das unbestimmte Gefühl nicht an diesen heiligen Ort zu gehören. Ich versuchte meine Furcht zu ignorieren, aber als ich eines Nachts wieder durch ein halbverfallenes Gotteshaus schlich, hörte ich plötzlich wieder diese Stimme, die mich in Paris verfolgt hatte.
„Was suchst du hier?“ Erschrocken zuckte ich zusammen und hielt instinktiv Ausschau nach anderen nächtlichen Besuchern. „Was willst du, Annabelle?“ Eigentlich keine schlechte Frage. Was wollte ich? Draußen stieg die Sonne auf und brachte die aufgeweichte Erde zum Dampfen. Die ganze letzte Nacht war ich in strömendem Regen Berge hinauf geklettert und hatte matschige Täler durchquert. Die Augen fielen mir bald von selbst zu und jetzt das schon wieder.
„Was suchst du hier?“

„Herrgott noch mal! Halt die Klappe und lass mich schlafen, verdammt!“ Entnervt löste ich einige Dielenbretter vor dem Seitenaltar, legte mich in die staubige Höhle und lauschte eine Weile in die Finsternis. Überraschender Weise blieb es still. Keine donnernde Stimme, die mir meinen Untergang prophezeite oder Racheengel, die mich aus der Kirche zerrten. Nur das Zwitschern der erwachenden Vögel drang durch die mit Brettern vernagelten Fenster. Und noch etwas. Entweder hatte mein Verstand jetzt einen Totalschaden erlitten oder ich hörte tatsächlich die Heiligen lachen. Müde schob ich die Dielen wieder an ihren Platz und schlief sofort ein. Ich hatte meine Dämonen besiegt. Blieb abzuwarten welche neuen Teufel sich jetzt warm liefen um mich fertig zu machen.

***

Venedig sehen und sterben.
London besuchen und in der Hektik den Verstand verlieren.

Anders lassen sich meine ersten Tage in der Millionenmetropole nicht beschreiben. Auf den Straßen wurde ich geschubst, gestoßen und wildfremde Menschen hinterließen ihre Schuhabdrücke auf meinen Füßen. Unangenehm riechende, fremde, trampelnde Sterbliche. Täglich wurde ich von einem freundlichen Regenschauer geweckt, der mich meist auch durch den Nachmittag begleitete und mir bisweilen ziemlich aufs Gemüt schlug. Doch dann schienen wieder die Sonne, der Mond oder die Sterne und mit wehendem Rock strampelte ich auf meinem Fahrrad durch den Hydepark.

Ich besuchte die Museen der Stadt, die Sehenswürdigkeiten und lernte die einzigen Ruhepunkte Londons kennen: nach altem Holz, Bier und Essen duftende Pubs. Dank der prall gefüllten Geldbörse eines äußerst zuvorkommenden älteren Bankiers konnte ich mir den Luxus leisten einige Tage im Ritz abzusteigen. Der Bankier hatte eigens für mich sein Konto leer geräumt bevor er in einen bedauerlichen Zwischenfall mit einem Paar scharfer Eckzähne und den Wassern der Themse verwickelt wurde. Die Chemikalien im Fluss hatten ihn wahrscheinlich längst zersetzt, bevor einer seiner Angehörigen auch nur eine Vermisstenanzeige aufgeben konnte.

Diesmal mordete ich ohne Reue, auch wenn es nicht immer absichtlich geschah. Mein Durst nahm von Tag zu Tag zu, so schlimm, dass ich mich bisweilen einfach nicht mehr bremsen konnte. Wo mir vor einigen Monaten noch ein Imbiss gereicht hätte, verlangte mein Körper jetzt nach einem ganzen Gelage. Verwundert bemerkte ich eines Tages, dass wohl eine neue Kleidergröße angebracht war. Ich grübelte eine ganze Woche darüber nach, wie das sein konnte, wo mir doch Janko und Michel stets eingeschärft hatten, dass sich das Aussehen eines Vampirs gar nicht ändern konnte. Die Haare wuchsen vielleicht einige Zentimeter, aber das war’s. Warum also wurde ich plötzlich wieder dick? Im Grunde wusste ich die Antwort ja, aber eingestehen wollte ich es mir nicht. Diese Möglichkeit schien mir immer noch zu ungeheuerlich.

Wieder regnete es und unsicher wackelte ich auf meinen spitzen Schuhen über das Kopfsteinpflaster eines eher düsteren Viertels. Ich fühlte mich an alte Krimis erinnert. Gleich würde Nebel ins Bild wabern und ein mysteriöser Mann vor die Kamera treten. Er würde eine Pistole ziehen und auf ein unbekanntes, kreischendes Ziel feuern. Doch noch war ich in multicolor und nicht schwarz-weiß und die Straße durch die ich ging, erschien mir nicht durch Ripper und Co vorbelastet zu sein. Doch plötzlich brauste das Gefühl der Gefahr mit der Wucht einer Dampfwalze durch meinen Körper und schüttelte mich so heftig, dass ich an einer Hauswand Halt suchen musste. Wäre ich menschlich gewesen, wäre mir der Angstschweiß auf der Stirn gestanden.

Ich fühlte nicht nur einen der Anderen sondern eine ganze Menge von ihnen. Es mochten zehn, zwanzig oder noch mehr sein, die sich hier in der Nähe versammelt hatten. In Panik sah ich mich um, doch niemand schien mich zu beachten. Schemenhafte Gestalten wankten Arm in Arm auf mich zu. Vier Vampire. Das konnten unmöglich alle sein. Einen Moment überlegte ich ob ich fliehen sollte, aber gegen eine solche Macht an Vampiren, wie ich sie vermutete, hätte ich sowieso keine Chance gehabt. Also klammerte ich mich an den dünnen Strohhalm Hoffnung. Immerhin konnte es gut möglich sein, dass sie sich gar nicht meinetwegen in dieser Gegend aufhielten. Einer der vier wurde auf mich aufmerksam und stolperte grölend wie ein Betrunkener auf mich zu.

„Halloho, Süße!“ Er war tatsächlich betrunken. Allerdings nicht vom Alkohol. Schwer atmete ich den berauschenden Duft von extrem viel Blut ein. Zum ersten Mal sah ich einen unserer Art, der dadurch über Stunden hinweg high sein konnte. Ich fand es faszinierend und abstoßend zugleich. „Neu hier? Hab disch noch nie gesssehn.“
Ich hielt den Atem an. Gut, er kannte mich nicht. Was war mit den Anderen? Eine Frau löste sich aus der Gruppe. Ihre Haare standen zackig in allen Richtungen vom Kopf ab, ihre Haut war von Piercings durchlöchert und ihre Jeans wiesen mehr Löcher als Stoff auf. Betont lässig kaute sie auf etwas herum, von dem ich hoffte, dass es Kaugummi war.
Blutroter Kaugummi.

Ich starrte auf ihre schwarz geschminkten Lippen und registrierte nur mit den Augen, dass sie mich wohl gerade angesprochen hatte.
„Entschuldigung?“
„Warum du hier draußen rumstehst, Schwachbirne. Die Party ist da drin.“ Eine Party? Eine Party für Vampire? Irritiert schwieg ich erst einmal.
„Ach du Scheiße! Hast du noch nie was von den Clubs gehört? Die meisten von uns kommen doch deshalb hierher.“
„Richtige Clubs für Vampire?“ Eigentlich wollte ich das nur denken.
„Alles legal, Schätzchen. Und die Blutkonserven stehen Schlange um bei uns rein zu kommen.“ Sie lächelte, ließ das blutige Etwas in ihrem Mund herumwirbeln und zeigte mir stolz ihre perlmuttweißen Beißerchen. Einen Augenblick war ich verwirrt. Wer wollte schon freiwillig von uns gebissen werden?

Bis mir klar wurde, dass die Menschen, die dort an der Ecke auf Einlass warteten, gar nicht wussten wofür sie drinnen gebraucht wurden. Sie wollten nur tanzen, vielleicht einen Hauch Düsternis mit nach Hause nehmen und dann vor ihren Freunden angeben, dass sie in diesen exklusiven Club eingelassen worden waren. Dass die Küsse, die sie von den anderen Gästen erhielten, nicht ohne Folgen für sie bleiben sollten, war ihnen gar nicht bewusst. Der Kerl hatte immer noch den Arm um mich gelegt und hielt mir stammelnd eine Flasche unter die Nase. Jedenfalls handelte es sich dabei um keinen Wein. Die Punklady lachte. Es klang angenehm, so als könnte ich ihr vertrauen. Doch meine Angst riet mir niemandem zu vertrauen. Erst recht keinem Vampir.

„Nimm Albert nicht ernst. Er hat einen zu viel. Komm mit! Die Sache ist mindestens eine Sünde wert.“ Hatte sie tatsächlich das Wort „Sünde“ benutzt? Es passte so gar nicht zu ihr. „Für ein Mädchen vom Festland auf jeden Fall eine einmalige Erfahrung.“ Plötzlich wirkte sie ganz anders, als noch vor ein paar Minuten. Fast schon fürsorglich. So als wolle sie mich unbedingt von der Straße haben. Ich schüttelte den Kopf.
„Nein danke. Ein andermal.“ Als ich schnell weggehen wollte, blieben einige Haare an Alberts Armbanduhr hängen und meine Perücke verrutschte ein wenig.

Ein Ruck ging durch die Punklady. Wie angewurzelt stand sie da und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an. Mit einem raschen Seitenblick vergewisserte ich mich, dass die drei Männer nichts bemerkt hatten und ließ die rote Strähne, die sich hervorgewagt hatte, hinter schwarzen Haaren verschwinden. Sie kam näher. Wenn ich jetzt weglaufen würde, dann wären alle hinter mir her. Wenn ich hier auf sie warten würde, dann würde sie mich eben allein töten. Panisch tastete ich nach meinem Dolch in der offenen Handtasche. Sie schüttelte kaum merklich den Kopf und deutete mit der Handfläche beschwichtigend zum Boden. Was zum Henker hatte sie vor? Kumpelhaft befahl sie ihren drei Gefährten vorzugehen und im Club auf sie zu warten. Sie sah ihnen nach, bis sie im Eingang verschwunden waren. Plötzlich stand sie neben mir und packte meinen Arm. Instinktiv schrie ich auf, doch sie hielt mir den Mund zu.

„Du solltest nicht hier sein, Annabelle! Janko hat recht. Du bist wirklich noch ein dummes Kind.“ Die Erwähnung von Jankos Namen ließ mich erstaunt aufschauen. „Versprich mir nicht zu schreien, klar?“ Ich nickte stumm, dann ließ sie ihre Hand wieder sinken.
„Woher kennst du Janko?“ Sie zerrte mich wortlos auf die Straße zurück. Immer wieder blickte sie über ihre Schulter und bog immer wieder in dunkle Seitengässchen ab. Sie lief viel zu schnell für mich. Als ich mich außer Atem auf den Boden sinken ließ, zog sie mich wieder hoch.
„Es folgt uns keiner!“, schrie ich sie schon völlig verzweifelt an.
„Woher willst ausgerechnet du das wissen?“
„Ich weiß es einfach!“ Wütend riss ich mich los und stolperte fast bei dem Versuch stehen zu bleiben. Übermenschliche Geschwindigkeiten ließen sich nicht so leicht abbremsen und sie hatte mich rasend schnell hinter sich her geschleift. Keuchend setzte ich mich auf den Boden und hielt mir den schmerzenden Bauch. Irgendjemand da drin trat mich mit Füßen und das wahrscheinlich zu Recht. Es dauerte einige Minuten bis ich überhaupt wieder sprechen konnte.

„Was sollte das? Wer bist du überhaupt? Und woher kennst du Janko?“ Immer noch beobachtete sie die Gegend um uns herum mit wachsamen Augen.
„Sagen wir einfach, ich bin dem Mistkerl noch nen Gefallen schuldig.“ Fragend zog ich die Augenbrauen hoch und sie wurde wenigstens etwas deutlicher. „Wir waren mal zusammen. Vor ner Ewigkeit. Nichts ernstes, aber lange genug um mich an mein Wort zu binden. Ich bin Angel. So nennen mich zumindest die, denen du vertrauen kannst, Annabelle. Du fragst mich ja gar nicht, woher ich deinen Namen kenne?“
„Entweder von Janko oder vom Rat oder irgendeinem der anderen Trotteln, die meinen mich durch die Gegend hetzen zu müssen. Ich frage mich nur gerade, was du mit mir vor hast.“ Sie grinste und spuckte das Ding in ihrem Mund aus. Ich wollte gar nicht wissen, worum es sich dabei handelte. Meine Vermutungen darüber, was es sein könnte, waren schon widerlich genug.

„Ich hab dir grade den Arsch gerettet, Schätzchen! In dem Club sind um diese Zeit mindestens hundert von uns. Und mindestens 99 davon haben es auf deinen Skalp abgesehen. Dank erwarte ich allerdings nicht.“
„Ich will erst wissen, wie’s weiter geht, bevor ich dir danke, Angel.“
„Kinder!“ Sie spuckte das Wort richtig aus. „Wenn ich dich umbringen wollte, hätte ich das längst getan! Kapierst du das nicht? Im Grunde sowieso scheißegal was aus dir und deinem Balg wird. Mein Kumpel ist einer von diesen Theologen. Von dem könntest du dich als Mutter Gottes verehren lassen. Dafür darfst du dich dann allerdings vor den Killern unseres tollen Rates verstecken. Oder wären dir die Blutjünger lieber? Die haben nette Rituale, bei denen nur zur Hälfte Menschenblut fließt. Du kannst dir von denen gerne den Bauch aufschlitzen lassen!“
„Ok, schon gut. Es tut mir leid.“ Zerknirscht bat ich um Verzeihung. Sie hatte recht. Zumindest heute Nacht konnte und musste ich ihr vertrauen.
„Komm schon mit und halt die Klappe, bevor ich mich vergesse.“ Sie klang schon sehr viel versöhnlicher und half mir hoch.

Um einiges langsamer gingen wir durch die dunklen Straßen Londons bis sie mich vor einem typisch englischen Reihenhäuschen absetzte. Unsicher stand ich nun in einem mit grünem Teppich ausgelegten Flur und hörte dem geflüsterten Gespräch des fremden Paares zu.
„Wie lange wird sie bleiben?“
„So lange es notwendig ist, Schatz.“
„Und wie lange wird das sein? Wie soll ich das den Kindern erklären?“
„Sag einfach sie wäre die Tochter einer Freundin oder sonst irgendetwas.“
„Pah!“
„Schatz, bitte. Sie braucht deine Hilfe. Unsere Hilfe. Willst du sie etwa dem Tod ausliefern?“
„Nein, aber ich will auch nicht unsere Familie in Gefahr bringen, falls du das übersehen hast!“
„Ich schwöre dir, dass das nicht passieren wird, Debby. Versprochen.“
„Nun gut...“

Debby kam wieder in den Flur und begrüßte mich noch einmal mit einem zuckersüßen Lächeln. Durch ihre braune Dauerwelle zogen sich die ersten grauen Strähnen. Ihr Mann Lance stand hinter ihr. Sein jugendliches, dunkles Gesicht leuchtete wie Bronze und er zwinkerte mir aufmunternd zu. Irgendwann in seinem Leben war er aus Indien hierher nach London gekommen. Angel hatte mir nicht viel von ihm und Debby erzählt. Nur dass sie ein außergewöhnliches Paar waren. Vor über hundert Jahren hatte sein Leben als Vampir begonnen und vor fünfundzwanzig Jahren hatte er Debby gefunden. Sie hatte ihn so akzeptiert wie er nun einmal war, ihm drei Söhne geschenkt und sich für ein Leben als Mensch entschieden. Eine kluge Wahl.

Ich wurde im Gästezimmer einquartiert. Eine geblümte Steppdecke lag über dem schmalen Bett und kitschige Bilder von Blumenkindern und Waldtieren hingen an den Wänden. Ich dankte den beiden, wünschte ihnen und dem röhrenden Hirsch über der Tür eine gute Nacht und legte mich schlafen. Beim ersten Umdrehen vermisste ich bereits die Pariser Maßstäbe für Matratzengrößen. Ich dachte an Paris, München und Michel und weinte leise.


Zwei Tage in dem gutbürgerlichen, englischen Häuschen genügten um mir endgültig darüber klar zu werden, dass die Hausherrin mich keineswegs als Gast sondern als unnötige Last empfand. Sie mied mich und gab mir auf stumme Weise zu verstehen, dass sie mich nicht in ihrem Haus haben wollte. Mit strenger, vorwurfsvoller Miene schüttelte sie meine Kissen auf, wenn ich mich gerade schlafen legen wollte. Niemand sollte ihr nachsagen, dass sie keine gute Gastgeberin wäre.

Mit diesem Satz brachte sie mich an den Rande des Wahnsinns. Auf Angels Rat hin – oder sollte ich es besser Befehl nennen? – sollte ich das Haus nicht verlassen und mich durch nichts, aber auch gar nichts bemerkbar machen. Also versuchte ich am Tag zu schlafen und nachts in einem abgedunkelten Wohnzimmer zu sitzen und auf mein Essen zu warten. Lance servierte mir Blut in Weinflaschen, das ich literweise in mich hinein schüttete. Es schmeckte widerlich kalt, aber meine Gier duldete keinen wählerischen Geschmack. Die drei Jungs, die ich tagsüber in ihren Zimmern und im Hinterhof lärmen hörte, begegneten mir schweigsam und verschüchtert. Der Kleinste zeigte unverhohlene Angst und versteckte sich hinter Möbeln, sobald ich das Zimmer betrat. Und jedes Mal, wenn ich versuchte mit einem von ihnen zu reden, schickte sie ihre Mutter nach oben.

Ich fühlte mich wie eine Gefangene. Eingesperrt in eine sichere, aber monoton freudlose Zelle. Nur Lance zeigte sich freundlich und plauderte mit mir über die ein oder andere Belanglosigkeit. Meist hatte es etwas mit dem Wetter zu tun, welches in England das Gesprächsthema Nummer eins zu sein schien. Eines Tages hielt ich es nicht mehr aus und bat ihn um Informationen über meine Familie. Er sah mich zunächst nur verständnislos an.

„Deine Familie? Glaubst du wirklich, dass es gut wäre deine Menschen jetzt zu belästigen?“ Ich musste trotz allem lachen. Wie selbstverständlich hatte ich von Michel und Janko als meine Familie gesprochen.
„Ich meinte Michel und Janko. Meine Gefährten. Weißt du etwas über sie?“
„Janko? Der Ungar?“ Ich zuckte nur mit den Schultern. Schon möglich. Irgendwann hatte Janko etwas von Ungarn gesagt. Was mich mehr verwunderte, war die plötzliche freudige Erregung in Lances Gesicht.
„Janko war dein Gefährte? Was hat er dir erzählt? Von sich selbst, meine ich?“

„Wieso interessiert dich das so sehr?“, fragte ich, misstrauisch geworden, zurück. Wortlos stand Lance auf, holte eine dicke Schreibkladde aus dem Bücherschrank und hielt sie mir entgegen. Leider hatte er eine dermaßen krakelige Handschrift, dass ich nicht ein Wort entziffern konnte, so sehr ich mich auch bemühte.
„Ich habe begonnen, die Geschichte unserer Art zu erforschen, Annabelle. Noch nicht lange. Aber ich habe schon Erstaunliches entdeckt. Wusstest du, dass unsere Art wahrscheinlich zu den ältesten Wesen der menschlichen Geschichte zählt? Es gibt da einige Höhlenmalereien, ich habe sie selbst gesehen, die ein Wesen mit Flügeln und scharfem Gebiss zeigen. Ein eindeutiger Hinweis auf vampirische Aktivitäten. Es ist sogar gut möglich, dass der Vampir noch vor dem Menschen entstand.“
„Wie soll das gehen? Wir waren doch alle selber mal Menschen?“
„Nicht alle. Es gab tatsächlich einige Personen, die als Vampire geboren wurden. Sehr wenige, aber es gibt eindeutige Hinweise darauf. Es ist wie die Sache mit dem Huhn und dem Ei. Was war zuerst da? Eine schwierige philosophische Frage. Jedenfalls hat mir Janko in den frühen Jahren meiner Forschung geholfen. Zumindest so lange, bis ich begann seine eigene Geschichte zu erforschen. Hat er dir von seiner Familie erzählt? Von seiner menschlichen Frau und so?“ Ich nickte. Diese Geschichte hatte mich stark berührt. Er hatte damals eine weitere seiner unbekannten Seiten gezeigt. Doch Lances Antwort traf mich wie ein Schlag.

„Glaub sie nicht. Er mag diese Geschichte, aber ich glaube nicht, dass sie sich so zugetragen hat. Er mag eines fernen Tages tatsächlich Familie gehabt haben, aber nicht zu der Zeit, die er immer gerne anführt. Und Durand, unser großartiger Hüter der Bücher“, die letzten Worte spuckte er förmlich aus, „er kann gar nicht Jankos Schöpfer gewesen sein. Durand taucht zum ersten Mal im vierzehnten Jahrhundert auf und Janko wird bereits in Quellen aus dem siebten Jahrhundert nach Christus erwähnt! Kaum zu glauben, oder? Dennoch. Irgendetwas scheint diese Beiden miteinander zu verbinden. Weder der Eine noch der Andere gibt viel von sich preis und beide versuchen irgendetwas voreinander und vor den Anderen zu verbergen. Irgendeinen Punkt in ihrer Geschichte. Denn die beiden haben zumindest einen kleinen Teil ihrer Jahrhunderte miteinander verlebt. Da bin ich mir todsicher. Ha, TODsicher!“ Er lachte über seinen scheinbar gelungenen Wortwitz. Mit fiebrig zitternden Händen setzte er sich auf die Armlehne meines Sessels und griff nach meinem Arm.

„Du bist der Schlüssel zu allem, Annabelle. Du kannst alle diese Rätsel lösen. Es fehlt nur noch eine Kleinigkeit. Ich wünschte, ich wüsste was es ist.“
„Lance, du machst mir Angst.“ Wieder lachte er leise, während ich versuchte so viel Abstand wie es die Höflichkeit zuließ, zwischen uns zu bringen.
„Verzeihung. Der Wissenschaftler ist gerade mit mir durchgegangen. Du bist das Kind von dem in der Prophezeiung die Rede ist, nicht wahr? Du bist die, vor der sich alle fürchten.“
„Zumindest behaupten das einige. Ich glaube nicht an Prophezeiungen.“
„Nein? Mal sehen. Du bist ein Vampir mit flammend rotem Haar. Du trägst das Kind eines Vampirs unter dem Herzen, das kannst du nicht mehr verbergen. Und noch dazu ist es das Kind deines Schöpfers und Lehrers, der zufällig auch noch das Kind des Propheten ist. Nein, du hast recht. Ich glaube auch nicht an Prophezeiungen.“ Er lachte schelmisch und zog sich dann mit einem letzten Gute Nacht zurück ins Ehebett, in dem Debby wahrscheinlich schon begierig auf den neuesten Klatsch über mich wartete. In derselben Nacht schlich ich mit Debbys Haushaltsgeld, das sie in einer Keksdose auf dem Küchenbord aufbewahrte, aus dem Haus und verschwand ein weiteres Mal in den nebligen Straßen Londons.

Aber ich blieb nur so lange, bis der Highland-Express in Kings Cross einfuhr um mich mit an Bord zu nehmen. Die Kopfsteinpflaster der Hauptstadt waren mir definitiv zu heiß geworden. Also sollte das ferne Schottland mit seinen Highlands, Schlössern, Geistern und Seemonstern mir eine neue Heimat bieten. Zumindest für einige Zeit. Ich durchstreifte einmalig schöne Landschaften, badete in kristallklaren Seen und trank vom süßen Nektar, den mir die Schotten so großzügig zur Verfügung stellten. Nicht ganz freiwillig, das gab ich gerne zu, aber keiner von ihnen verlor sein Leben zu früh. In der Einsamkeit fällt ein Toter mehr auf, als im Sumpf der Großstadt und so wurde ich wieder vorsichtiger.

Eine Zeit lang machte ich mir einen Spaß daraus, in einem Schlosshotel herum zu spuken. In einem Pub hatte mir jemand von der Legende einer grünen Frau erzählt, also besorgte ich mir ein grünes Kleid und wohnte einige Wochen mit freier Kost und Logis in einem hervorragenden Hotel und erschreckte einige Touristen. Inzwischen waren meine Kräfte stark genug um schneller wegzulaufen, als die Menschen gucken konnten. Alle beschworen, dass ich mich von einer Minute auf die andere in Luft aufgelöst hätte, dabei war ich nur einige Schritte zur Seite getreten. Die meisten Angestellten gewöhnten sich bald an mich und ein besonders Abgebrühter grüßte mich jedesmal mit einem freudigen: „Guten Morgen, Mylady. Darf ich Ihnen unseren Zimmerservice empfehlen.“ Das ganze machte so lange Spaß, bis die Parapsychologen aufkreuzten und Kassettenrecorder, Temperaturmesser und Kameras installierten. Die Grüne Lady legte ihr grünes Kleid ab und ging weiter nach Edinburgh.

Es wurde sowieso Zeit ein gutes Versteck zu finden. Lange konnte es nicht mehr dauern. Ich kugelte durch die Gegend und mit jedem Tag kam ich mir mehr vor wie eine überreife Melone. Ich verfiel immer wieder in Depressionen, in denen ich tage- und nächtelang nur irgendwo herumlag und in fremde Kissen weinte, um dann wieder in einen wahren Blutrausch zu verfallen. Ich vermisste Michel. Ich vermisste seine Liebe, die Stärke, die er mir immer gegeben hatte. Sein Lachen, seine Hilfe, selbst seine langweiligen Lehrstunden fehlten mir. Ich wollte mich wieder an ihn schmiegen und seinen Duft einatmen, seine Umarmung spüren und mit ihm in den Himmel fliegen. Aber er war nicht da und wahrscheinlich würde ich ihn auch nie wieder sehen. Alles was mir von ihm blieb, trat mir zornig gegen die Bauchdecke, wenn ich schluchzend nach Luft rang. Ich hatte absolut keinen Plan, was nach der Geburt geschehen sollte. Ich war allein, ohne Freunde, aber mit einem Haufen Feinde im Nacken. Wie zum Teufel sollte ausgerechnet ich ein Kind durchbringen?

Dazu kam dann noch die Angst, was für ein Wesen da in mir heranwuchs. Würde es aussehen, wie ein ganz normales Baby? Oder brütete ich ein Monster aus? Ich betete inständig darum, dass es tot geboren werden würde, wie Rebekka gesagt hatte. Dann wäre alles nur ein böser Traum gewesen und ich könnte endlich wieder nach Hause gehen. Nach Hause in Michels Arme.
Als ich eines Nachts wieder mordend um die Häuser Edinburghs schlich, spürte ich wieder, wie unsterbliche Blicke auf mir ruhten. Doch diesmal befiel mich nicht die Angst.

Dieser jemand wollte mir nichts Böses. Er wollte nur, dass ich ihn bemerkte. Erwartungsvoll sah ich mich um und entdeckte in einer dunklen Ecke die bekannte Gestalt einer großen, schlanken Frau. „‘n Abend, Kleines.“ Vor Freude jauchzend fiel ich Rebekka um den Hals.
„Wie kommst du denn hierher? Wie geht’s dir? Wie hast du mich gefunden? Was weißt du von Michel? Geht es ihm gut?“ Lachend wehrte Rebekka meine Fragen ab.
„Langsam, langsam. Ich kann nicht alles gleichzeitig beantworten. Wie geht’s dir, Kleines? Mann oh Mann. Ich sollte wohl besser fragen, wie es euch geht. Jedenfalls weiß ich jetzt, wieso du verschwunden bist.“ Ich nickte nur betreten und drängte Rebekka weiter meine Fragen zu beantworten. Sie hatte seit Wochen meine Spur verfolgt.
„Die Nase eines Werwolfs ist unschlagbar“, meinte sie zwinkernd. „Und bestimmte Details in Londoner Polizeiakten ebenfalls.“ Schuldbewusst zog ich den Kopf ein. Anscheinend hatte ich die zersetzende Wirkung des Chemieabfalls in der Themse überschätzt. Oder die Wasserqualität war sehr viel besser, als es den Anschein hatte.

„Wie geht es Michel? Vermisst er mich?“ Rebekka zögerte einen Tick zu lange.
„Ganz ehrlich?“ Beklommen nickte ich. Wenn sie schon so anfing, dann hatte er mich wahrscheinlich längst überwunden und gegen eine andere ausgetauscht, oder? „Er geht ein. Irgendwie schwankt er ständig zwischen der Wut, dass du ihn verlassen hast und der krankhaften Sorge um dich. Irgendwie nicht ganz normal. Gehört der da zu deiner Kundschaft?“ Einen Moment irritiert starrte ich in die Ecke, in die Rebekka zeigte. Tatsächlich lag dort eine meiner laufenden Blutkonserven. So hatte ich ihn gestern noch bezeichnet. Jetzt sah ich seinen starren Blick und erschauerte. Bekka ging vor ihm in die Hocke und untersuchte den Leichnam interessiert.
„Ganze Arbeit, Kleines. Respekt. Man könnte fast meinen du isst für zwei.“ Dann drehte sie sich wieder zu mir um. „Bist du eigentlich komplett wahnsinnig? Du kannst von Glück sagen, dass ich dich als Erste gefunden habe und nicht einer von den Blutsaugern.“
„Die finden mich bestimmt nicht. Hier gibt’s kaum Vampire. Die meisten sind in London.“
„Aha. Seit wann bitteschön bist du Expertin auf dem Gebiet? Mach dir mal klar, dass ich dich gefunden habe! Wenn ich dich aufspüren kann, dann können das auch die Anderen. Hast du das verstanden?“
„Sollen sie doch!“

Zornig ließ ich mich nach oben schnellen. Die enge Gasse war perfekt. Kaum das meine Hand die Wand des einen Hauses berührte, stieß ich mich wieder ab und sprang so im Zickzackkurs nach oben, bis ich mit zerzausten Haaren auf dem Dachfirst stand. Der kühle schottische Nachtwind umschmeichelte mich. Ich schloss meine Augen und wartete. Kurze Zeit später hörte ich Rebekkas keuchenden Atem, als sie sich durch ein Dachfenster nach draußen zog. Geduldig wartete ich, bis sie genug Luft zum Sprechen holen konnte.

„Wieso... hast du ... das gemacht?“
„Weil ich es tun wollte.“ Die Hände auf die Oberschenkel gestützt, schüttelte sie verständnislos den Kopf.
„Kannst du mich das nächste Mal vorwarnen? Bevor du einen auf Catwoman machst?“ Lachend griff ich ihr unter die Arme. „Nein, werde ich nicht.“ Schwer atmend sah sie zu mir auf und strich einige Haarsträhnen zur Seite. Nur nebenbei bemerkte ich die spitzen Ohren, an denen einige dünne Haare hingen. Gestern noch hatte der Mond in voller Pracht vom Himmel geschienen. Heute glich er eher einer Ellipse als einer Scheibe.
„Ich werde dich nicht vorwarnen. Wenn ich Lust habe, etwas zu tun, dann tue ich es. Das ist das Schöne an der Nacht. Ich muss niemals jemanden um Erlaubnis bitten.“

Rebekkas Lächeln konnte so wunderschön sein. Selbst der hochrote Kopf und die glänzenden Schweißperlen auf ihrer Stirn konnten das nicht entstellen. Wieder spürte ich das aufkeimende Verlangen nach Blut und Entsetzen kroch in meine Gedanken. Sie war meine Freundin! Ohne ein weiteres Wort drehte ich mich um und lief los. Die Dunkelheit rauschte an mir vorbei. Von einem Dach zum anderen, über Häuserschluchten, immer schneller mit immer größeren Sprüngen. Und lauthals begann ich zu singen.
„After midnight, in my wildest fantasy ...“ Rebekka hetzte hinter mir her. Sie war schnell.
„I need a Hero!“
„Warte!“
„He’s gotta be strong, he’s gotta be fresh from fight!“

Abrupt blieb ich stehen und lachte. Ein irres Lachen. Wie eine Wahnsinnige lachte ich meinem Saufkumpanen Tod ins Gesicht. Ja, heute Abend bring ich dir wieder einen. Freu dich, es wird ein Festmahl. Was hättest du gern als Hauptgang, Tod? Mann, Frau? Gebildet oder dämlich? Die Gebildeten sind leichter zu fangen. Sie lassen sich nur auf das ein, was der Verstand ihnen sagt und nichts anderes. Guter Narr von mir hast du nichts zu befürchten. Die Schlauen, die Vernünftigen sollen meine Opfer sein. Gerade wollte ich mich an einer Regenrinne herablassen, als ein scharfer Stich mich wimmernd in die Knie gehen ließ. Rebekka hatte mich eingeholt und hielt mich fest, als ich mich vor Schmerzen krümmte. Es war also soweit.

***

Nur sehr vage erinnere ich mich daran, dass Rebekka mich hochhob und in einen muffigen Dachboden trug. Auch an den modrigen Geruch, den die Kissen ausströmten, die sie mir in den Rücken stopfte und an die Schmerzen, die mich Stunde um Stunde quälten. Rebekka redete die ganze Zeit auf mich ein. Von mir aus hätte sie mir Kochrezepte vorlesen oder von ihren Abenteuern mit Julius Cäsar berichten können, ich beachtete sie sowieso nicht. Ich horchte nur auf einen Satz, der immer wieder auftauchte: „Luft holen, Kleines. Bald hast du’s hinter dir.“ Erstaunlich wie lange „bald“ sein kann.

Endlich fiel ich erschöpft zurück und horchte auf die plötzliche Stille in mir. Es war weg. Ich hatte es überstanden. Erleichtert schob ich die Locken zur Seite, die mir auf der schweißnassen Stirn klebten. Tatsächlich! Das Ding in mir existierte nicht mehr. Die Kraft zum Jubeln hatte ich nicht mehr, also wurde daraus nur ein müdes Krächzen. Rebekka setzte sich neben mich und hielt mir ein blutverschmiertes Bündel entgegen.

„Schaff das Ding weg!“
„Annabelle!“
„Das ist doch eh tot, also schenk dir deine Nummer und spiel hier nicht den Moralap….“ Die Worte blieben mir im Halse stecken. Fassungslos starrte ich auf ein zerknautschtes Gesichtchen hinunter und fragte mich ob ich meinen Augen noch trauen durfte.
„Hat es gerade….“
„Ja, es hat! Und falls es dich interessiert: ES ist eine Sie!“ Das Baby in meinen Armen zappelte kurz mit den Ärmchen und gähnte genüsslich. Sie bewegte sich, wie es alle Neugeborenen tun. Sie atmete! Sie lebte! Aber so etwas konnte doch nicht möglich sein! Janko, Michel, Angel, Rebekka selbst – alle hatten sie mir erzählt, dass Vampirkinder tot geboren werden. Wieso schlug dann dieses kleine Herz? Wieso zwinkerte sie mich an? So als würde sie sagen, „Ha! Damit hast du nicht gerechnet, was?“

„Wie ist das möglich?“ Rebekka schüttelte den Kopf.
„Ich habe keine Ahnung, Kleines. Aber irgendjemand scheint mit deiner Tochter einiges vor zu haben!“ Irgendjemand? Jemand im Himmel oder jemand in der Hölle? Interessiert musterten wir uns, mein Baby und ich, gegenseitig. Schwarzer Flaum klebte ihr am Köpfchen und ihre Augen schienen mich belustigt anzufunkeln. In einem strahlenden Blau, so voller Rätsel wie der Ozean und doch mit einem schelmischen Lachen im Augenwinkel. Ich sah in das Gesicht meiner Tochter und sah Michel. Meinen Michel. Ich drückte mein Kind an mich, weinte leise und fiel schließlich in ohnmachtsgleichen Schlaf.

***

Schreiend schnellte ich hoch. Kalte Schauer jagten mir über den Rücken und meine Nackenhaare stritten sich mal wieder um einen Stehplatz. Vor einem der verriegelten Fenster stand Rebekka und schaukelte mein Kind in ihren Armen.

„Da hinten in der Ecke findest du was zum Beißen, Kleines.“ Wortlos gehorchte ich ihr und zog mich auf allen Vieren in die Dunkelheit. Die Geburt hatte mich viel Blut gekostet. Ich war müde, erschöpft und über die Maßen hungrig. In besagter Ecke lag eine ganze Familie. Bewusstlos geschlagen aber lebendig. Gierig machte ich mich über die Menschen her und trank mich satt. Doch mit jedem Schluck wurde das Gefühl der drohenden Gefahr stärker.

„Sie braucht einen Namen, findest du nicht?“ Mit vollem Mund versuchte ich Rebekka zu warnen.
„Gefahr!“
„Etwas zu martialisch für ein kleines Kind, oder?“
„Nein! Wir sind in Gefahr! Wir müssen hier weg.“ Jemand mit einer Stinkwut im Bauch näherte sich uns. Er schleuderte mir seinen Hass entgegen wie ein blankes Schwert. Ich riss mich von meinem Frühstück los und riss ein Stück des Tuches ab, das Opas alten Ohrensessel bedeckte, der in der Ecke stand. Staubige Sonnenstrahlen tanzten über den Boden.
„Wie spät ist es?“
„Sechs Uhr morgens, wieso…?“
„Na los! Gib mir mein Kind.“
„Warum…?“
„Herrgott noch mal! Du musst uns führen, Bekka. Draußen scheint schon die Sonne und frag mich nicht, wann ich zum letzten Mal eine Sonnenbrille in der Hand hatte!“

Rasch wickelte ich mein Kind fester in das Tuch um sie vor allen bösen Sonnenstrahlen zu schützen und legte mir selbst die dreckige Augenbinde um. Blind griff ich nach den Fensterläden und riss sie heraus. Mit dem quäkenden Baby fest an mich gedrückt, ließ ich mich von Rebekkas Hand über rutschige Dachziegel führen. Wieder hetzten wir über die Dächer, sprangen von niedrigen Schuppen hinunter auf die Straße, an tuckernden Autos vorbei und an Menschen, die uns wild hinterher fluchten. Doch der unsichtbare Verfolger blieb hartnäckig und er holte schnell auf.

„Lauf schneller!“
„Nein!“
„Lauf schneller, Bekka! Er ist ganz nah!“
„Nein!“ Rebekka zerrte mich durch eine enge Tür hindurch und blieb keuchend stehen. „Ich kann nicht mehr, Kleines!“ Sie schnappte so sehr nach Luft, dass ich sie kaum noch verstehen konnte. Deshalb und weil meine Tochter erstaunlich laute Schreie von sich geben konnte.
„Ist es hier dunkel?“
„Wir… wir sind unter der Straße.“

Ich nahm das Tuch ab, das mir die Sicht versperrte und versuchte mein hochrot angelaufenes Baby und mich selbst wieder zu beruhigen. Eine einzelne, altersschwache Glühbirne baumelte an der steinernen Decke und durch einen dünnen Schlitz in der Mauer drang ein lausiger Strahl Sonnenlicht. Rebekka rang noch immer nach Atem, also hatte ich einige Minuten allein mit dem Kind. Was nun?

Jetzt bist du also da, du kleiner Unruhestifter. Muss ich dich jetzt umbringen um wieder ein halbwegs beschauliches, langweiliges Leben führen zu können? Eines war klar. Solange das Kind lebte, würde ich keine ruhige Minute mehr haben und sie auch nicht. Hinzu kam dann wahrscheinlich auch noch die systematische Verfolgung meiner Freunde, allen voran Michel und Rebekka und der Rat wäre wahrscheinlich noch der humanste Gegner. Mit Grausen dachte ich an Jankos Geschichten über die Blutjünger. Als sich ihr Geplärre legte und in müdes Gähnen verwandelte, entdeckte ich die spitzen Eckzähnchen in ihrem sonst noch zahnlosen Mund. Ein richtiger kleiner Vampir. Vernünftig wäre es wohl gewesen diesen Vampir direkt nach der Geburt zu töten. Aber ich konnte nicht vernünftig sein.

„Deiner Liebe Erben …“ Ja, in Liebe hatten wir sie geschaffen. Ich liebte Michel und dies war sein Kind. Wie hätte ich sie von mir stoßen können? Dieses vielleicht letzte Geschenk von ihm an mich. Ich liebte ihn und genauso sehr liebte ich dieses kleine Wesen, das gerade, in eine dreckige alte Decke gewickelt, einschlummerte. Ich lehnte mich an eine Mauer und rutschte daran zu Boden.
„Jetzt hast du es geschafft, mein Kleines. Jetzt hast du mich tatsächlich noch rumgekriegt.“ Und ich lachte. Ich lachte, dass es von den kalten Wänden widerhallte. Meine Sorgen schwammen auf den Wellen des Glücks davon. Vom ersten Tag an hatten sie mir alles genommen. Mein Leben, meine Freunde, meine Familie, meine Heimat. Nicht zu vergessen meinen klaren Verstand und meine große Liebe Michel. Aber dies würde mir niemand nehmen.

Als ich aufsah rannen heiße Freudentränen über mein Gesicht. Rebekka stand mit verschränkten Armen vor mir und hielt mich offensichtlich für endgültig übergeschnappt. Ich wusste, was zu tun war.
„Sie sind bald hier, Bekka.“ Wortlos drückte ich ihr die Kleine auf den Arm. „Verschwinde von hier. Bring sie in Sicherheit. Ich habe hier etwas zu erledigen.“
„Spinnst du?“
„Tu was ich dir sage!“
Verblüfft und beleidigt starrte sie mich, die Jüngere, die ängstliche, dumme „Kleine“, einen Moment lang an, bevor sie sich auf dem Absatz umdrehte und fort lief.

Angespannt horchte ich auf ihre langsam verklingenden Schritte in der Ferne. Eine Tür im gegenüberliegenden Bereich des finsteren Labyrinths öffnete sich erstaunlich lautlos. Ein Vampir schlich, einem Geist gleich, auf mich zu. Einer der Alten. Der sehr Alten! Seine Macht strahlte wie gleißendes Licht und brannte sich in mein Bewusstsein. Ihn würde ich niemals besiegen können und dennoch ging mein Körper wie von allein in Angriffsposition. Doch der Fremde schien still auf etwas zu warten.

„Komm raus! Ich habe dich längst gesehen!“ Aus den zuckenden Schatten trat eine hoch gewachsene, dunkle Gestalt, die mit viel zu bekannt wirkenden geschmeidigen Schritten auf mich zukam. Janko? In der schmutzigen Umgebung hob sich sein kalkweißes Gesicht scharf ab.

Fast Annabelle. Fast.

Niemand hatte diese Worte gesprochen und doch dröhnten sie in meinem Schädel unnatürlich laut wieder.

Wo ist es?

„Wo ist wer?“
„Verkauf mich nicht für dumm, Kind. Das haben schon sehr viel Schlauere versucht und sind daran gescheitert.“ Mit seinen kalten Augen sah Durand abfällig auf mich hinab. Der Herr der Bücher, wie Lance ihn bezeichnet hatte. Seine kalten Finger umklammerten mein Handgelenk so fest, dass die Knochen knackten.

Gib mir das Kind. Ich werde es zu seiner Bestimmung führen.

Bilder sausten durch meinen Kopf. Dunkel und grausam. Feuerspeiende Götzenstatuen, aufgerissene Leiber und eine blutdurstige Gottheit, die über allem stand und sich an dem Gemetzel zu ihren Füßen erfreute. Entsetzt riss ich mich los.

„Du verweigerst dich, Annabelle?“ Seine Hand schnellte vor um sich um meine Kehle zu legen.
„Das reicht, Durand.“
Durand zog sich einige Schritte zurück und eine mir fremde Frau nahm seinen Platz ein. Ein weißes Kleid umschmeichelte ihre üppige Figur und blondes Haar umgab sie wie ein Kranz aus Sonnenlicht. Weitere Gestalten tauchten im Halbdunkel auf. Der Halbe, den ich in Paris getroffen hatte, befand sich genauso darunter wie ein weiß schimmernder Vampir vom Clan des Glücks und der verschwommene graue Schemen einer fünften Gestalt. Vor mir stand der Rat der fünf Clans. Im Hintergrund postierten sich seine Gefolgsleute. Nach einem Fluchtweg suchend, drehte ich mich um und starrte in die ausdruckslosen Gesichter der Wächter. Sie hatten mich lautlos umzingelt.

Die Älteste des Ersten Clans umschlich mich wie eine Katze. Angespannt folgte ich ihren Schritten mit meinen Blicken. Sie stellte sich mit dem Rücken zu mir und begann zu den anderen Ältesten zu sprechen.
„Dies also soll das Mädchen der Prophezeiung sein? Das Kind des Lichts, das den Frieden zu zerstören trachtet?“
„Ich trachte gar nichts!“
„Du schweigst, Annabelle.“ Sie musste nicht brüllen oder Durands Gedankentricks ausprobieren. Ihre sanft klingenden Worte hatten eine so selbstverständliche Macht, dass mein Mund von allein zu klappte. Sie lächelte gütig und unbarmherzig zugleich. Mein Herz zog sich vor Furcht zusammen. Die Wächter schienen wie die Wölfe auf ihr Kommando zum Angriff zu warten.

„Wo ist dein Kind?“
„Welches Kind?“
„Dein Kind. Das Kind der Prophezeiung Den Bastard, den du geboren hast“ Durand verlor die Beherrschung. Diese vor Wut verzerrte Fratze war einfach zu köstlich anzusehen. Wieder setzte ich alles auf die eine Karte, die mir noch geblieben war.
„Ich habe nie ein Kind geboren, Durand!“ Er starrte mich durchdringend an und versuchte mit aller Gewalt in meine Gedanken einzudringen.
„Sie lügt.“
„So wirst du sterben, Annabelle.“ Die Älteste lächelte und winkte eine Wächterin zu sich. “Ich denke, hier ist noch eine Rechnung offen. Viel Spaß mit ihr, Kassandra.“

Ich hatte kaum Zeit ihrer plötzlichen Attacke auszuweichen. Scharfe Fingernägel kratzten mir mit unverhohlener Wonne die Wangen blutig. Doch ihre Fingernägel waren mein kleinstes Problem. Durch die Luft zischte eine schmale Klinge und verfehlte mich nur um Haaresbreite. Mit mehr Glück als Geschick drehte ich mich ein weiteres Mal genau im richtigen Moment zur Seite und hörte das scharfe Ratschen von Stoff, der in Stücke geschnitten wurde. Ich tauchte unter Kassandras immer wütender werdenden Schlägen weg und zog den Dolch aus meinem Mantel. Na wie geil. Ihr ein Meter langes Katana gegen mein winziges Küchenmesser.

“Verdammt!“ Das aufdringliche Brennen im linken Oberarm wollte mir entweder signalisieren, dass ich zukünftig eine fette Narbe mein Eigen nennen konnte oder gar keinen Arm mehr hatte. Also sah ich gar nicht erst hin.

Eine kreischende Kassandra stürzte sich auf mich und mit der ganzen Kraft meiner verbliebenen Gliedmaßen versuchte ich ihr das Schwert aus der Hand zu reißen, bevor ich unsanft auf dem kalten Boden landete. Weiter hinter mir klirrte etwas. Mein Dolch! Aus den Augenwinkeln sah ich wie Kassandra sich zu voller Größe aufrichtete, das Blut von ihrer Klinge wischte und mit einem siegessicheren Grinsen langsam näher kam. Den linken Arm – Gott sei Dank, er war noch dran! – hinter mir her schleifend robbte ich zu meinem tapferen Küchenmesser und krabbelte wieder hoch. Ein Lichtstrahl blitzte durch die Dunkelheit. Das karge Sonnenlicht, das über mir durch die Mauer drang, spiegelte sich in der Klinge und bescherte mir einen letzten, verzweifelten Geistesblitz.
Wortlos sah ich meine Feindin an und lenkte die Sonnenstrahlen auf ihr triumphierendes Lachen.

Kassandra, Vampir der Nacht, hielt sich kreischend die Hände vor’s Gesicht, die keine Sekunde später zu rauchen anfingen und immer mehr zu schrumpfen schienen. Es war wie bei Rick und doch ganz anders. Bei ihm fühlte ich mich an einen verwesenden Körper erinnert, doch sie verbrannte zur Gänze. Schleichend und unbarmherzig. Ich würgte, als mir der stechende Geruch verbrannten Fleisches in die Nase drang. Schreiend, wimmernd brach sie vor mir zusammen und wand sich wie eine sterbende Schlange zu mir. Die Sonnenstrahlen folgten ihr. Ich sah zu ihr hinunter, wie mich einst Janko angesehen hatte. Ein totes Tier, das jemand schnellstmöglich von der Fahrbahn kratzen sollte, um Anderen den ekelhaften Anblick zu ersparen.

Bewegung kam in die umstehenden Vampire. Ein anderer Wächter riss mich zu Boden und entwand mir den glänzenden Dolch. Unter seinen Armen sah ich wie Kassandra zu Staub zerfiel. Wie Tiere stürzten sie sich auf mich, rissen mir das Fleisch von den Knochen und schlugen sich um mein Blut. Ich nahm die Arme schützend über den Kopf, machte mich klein und hoffte darauf unsichtbar zu werden. Wimmernd ertrug ich ihre Bisse und Schläge, bis sie plötzlich damit aufhörten und wütend zu kreischen begannen.

Zitternd hob ich meinen blutenden Kopf und sah wie zwei von ihnen durch den Raum geschleudert wurden. Ein pinker Stachelkopf schoss einen der Wächter mit einem Revolver nieder und schlug ihm einen Augenblick später mit einem schwungvollen Hieb ihres Schwertes den Kopf ab. Ich erkannte Janko, der mit einer einzigen Handbewegung die Wächter zu Boden warf und Lance, der wie ein wütender Tiger auf die Vampire losging. Jemand umfasste meinen Körper und zog mich auf die Beine. Mehr humpelnd als laufend folgte ich meinem Befreier. Meine Gliedmaßen baumelten kraftlos herab und jeder Schritt fügte mir neue Schmerzen zu. Wächter, die sich uns in den Weg stellten wurden von Janko getötet und so fand ich mich in einer schmalen Ecke des Labyrinths wieder.

“Anna, sieh mich an.” Ich sah in Michels besorgtes Gesicht und wollte weinen vor Freude.
“Ich dachte, ich würde dich nie wiedersehen”, flüsterte ich stattdessen kraftlos. Er schmunzelte und kleine Lachfältchen bildeten sich in seinen Augenwinkeln.
“So leicht wirst du mich nicht los, Anna. Rebekka hat uns schon vor zwei Tagen verraten wo du dich versteckst.” „Und ich hatte so eine Ahnung“, schmunzelte Angel. Sie hatte sich neben mich gesetzt und versuchte meine zahllosen Wunden zu schließen. Erst jetzt fiel mir die plötzliche Stille auf. Die Vampire hatten sich zurückgezogen. Wahrscheinlich um sich auf einen erneuten Angriff vorzubereiten. Zitternd lag ich an Michels Brust und versuchte wieder klar zu denken.
“Wir müssen sie hier wegbringen”, hörte ich Jankos heisere Stimme. Wie ein Kind wiegte Michel mich in seinen Armen und streichelte mein zerzaustes Haar.
“Warum hast du mir nichts davon erzählt, Anna? Wir hätten schon irgendeine Lösung gefunden.” Müde schüttelte ich den Kopf. Nein, wir hätten keine Lösung gefunden. Ich hätte ihn nur noch mehr in Gefahr gebracht, als ich es eh schon getan hatte. Es war besser so. Mit geschlossenen Augen horchte ich auf sein Herz und genoss das Glück ihm so nahe zu sein.
“Du hast eine Tochter, Michel”, flüsterte ich leise. Mit einem Mal stoppte er in seinen beruhigenden Bewegungen. Es schien, als würde sein Herz einen Moment lang aussetzen, mit solcher Wucht hatten ihn meine Worte getroffen.
“Was?” Angel sah mich völlig verdutzt an. “Soll das heißen, dein Kind lebt?”
“Sie lebt. Von Anfang an. Ohne Blut dafür zu brauchen.”
“Aber das ist nicht möglich.” Ich nickte nur. Ja, das wusste ich schon. Aber trotzdem war es so.
“Wo ist sie jetzt?” Michel klang heiser, so als koste es ihn Mühe deutlich zu sprechen.
“Sie ist in Sicherheit.” Lance kehrte von seinem schnellen Rundgang zurück.
“Vor jedem Ausgang stehen Wächter, Janko. Wir kommen hier nicht weg.” Angel sah auf und suchte Jankos Blick, der mit verschränkten Armen im leeren Raum stand.
“Worauf warten sie denn noch?”
“Es sind nicht alle gegangen, Angel.” Ja, auch das wusste ich. Ich spürte ihre lauernden Blicke wie Nadelstiche, die sich in mein Fleisch gruben. “Durand und seine Brüder gehören zum zweiten Clan. Er kann genauso wenig von hier weg, wie wir. Aber er kennt jeden von uns und er weiß, wann wir am leichtesten zu besiegen sind. Er wird auf die Mittagssonne warten.”
“Und dann?”
“Dann wird er uns töten.”

Schaudernd drückte ich mich noch näher an Michel.
“Oder”, begann Janko in vielversprechenderem Tonfall, “wir wagen einen Ausfall, kämpfen uns durch die Meute, die draußen steht und haben wenigstens eine kleine Chance zu überleben.”
“Ja, ihr vielleicht. Und was ist mit mir, mein Lieber?” Angels Stimme bebte verärgert. “Mir bekommt kein Sonnenlicht, wie du weißt. Ich MUSS hierbleiben.” Verwundert sah ich in Jankos versteinertes Gesicht.
“Dir doch auch nicht, oder Janko?” Er kniete sich zu mir nieder und strich mir mit seinen kalten Finger über das Haar.
“Du kennst mich nicht gut genug, Prinzessin.”

Ich fühlte mich viel zu müde um noch mehr Fragen zu stellen. Michel half mir auf die Beine, während die anderen schon zur nächsten Tür gingen. Seine blauen Augen flackerten.
“Wir haben wirklich eine Tochter?” Ohne seinen Blick loszulassen nickte ich. “Wie sieht sie aus?” Ich lächelte und antwortete mit dem Satz, den alle stolzen Mütter von sich geben.
“Sie ist wunderschön.” Sein schmaler Mund verzog sich zu einem seligen Lächeln, als er die Frage aller Fragen stellte.
“Sieht sie mir ein bisschen ähnlich?”
“Sie sieht dir sogar verblüffend ähnlich, Michel. Du hast ihr deine Augen geschenkt.” Sanft küsste er meine Finger. Die Schmerzen, die ich bei jeder Bewegung empfand, schienen sich dadurch zu legen. Zärtlich berührte ich seine jungenhaft glatte Wange, zwirbelte eine schwarze Haarsträhne und zog ihn zu mir herunter. Ein letzter Kuss schenkte uns noch einmal das Gefühl von Ewigkeit, bevor die Schlacht beginnen sollte.

Mit klammen Fingern löste Michel sein Lederband und drückte mir seinen Talisman in die Hand. “Gib ihr die Kette, Anna. Damit sie etwas von mir hat.”
“Was redest du denn da? Du kannst sie ihr doch selbst geben, Michel. Wenn wir das hier überstanden haben, dann bring ich dich doch zu ihr.” Ich wollte ihm das Kreuz zurückgeben, doch er zog seine Hände weg und ging ohne ein weiteres Wort zu Janko, der schon ungeduldig auf uns wartete. Auf sein Zeichen hin stieß Lance die Tür auf. Dahinter warteten sie. Janko schleuderte die Jüngeren unter ihnen mit einer Armbewegung an die Wand, die Älteren lernten Angels Schwert kennen. Michel stieß mich zu Lance, der mich durch die freie Gasse hindurch eine Treppe hinauf zerrte. Um mich herum ertönte das wütende Geschrei der Wächter. Lance erschlug die Angreifer auf der Treppe und hetzte weiter zum rettenden Tor, das zur Außenwelt führen sollte. Michel und Janko sprinteten an meine Seite. Auf Michels Hemd klebte das Blut der Wächter und noch im Laufen fischte er seine Sonnenbrille aus der Manteltasche.

Hinter uns hörte ich Angels wütendes Kriegsgeheul und ekelhaft gurgelnde Geräusche, wie sie nur Sterbende von sich geben konnten. Als Janko die Hand an den Riegel legte, der das Tor öffnen sollte, schrie ich entsetzt auf.
“Nein! Die Sonne wird dich töten.” Er lachte laut und riss die Torflügel auseinander. Strahlend helles Licht blendete mich und zwang mich dazu die Augen zu schließen. Metall klirrte und ich spürte den Ruck, als sie Lance von mir wegzerrten. Augenblicklich hielt mich eine andere Hand.
“Folge mir, Anna.” Hinter uns schrie Lance. Jemand versuchte mich von Michel zu trennen, doch blind riss ich mich von ihm los. Die Vampire drängten sich um uns, so nah, dass ich ihre kalten Leiber spüren konnte. Plötzlich stoppte Michel in seinem Lauf.

“Scheiße.” Die Verfolger lachten höhnisch.
“Was ist los?” Michel zog mich in seine Arme und drückte mir seine Sonnenbrille auf die Nase. Ängstlich öffnete ich die Augen und hätte sie am liebsten sofort wieder geschlossen. Sie hatten uns vollkommen eingeschlossen. Grinsend standen sie um uns herum und konnten es kaum abwarten uns zu zerfleischen. Michel hatte die Lider geschlossen und seinen Kopf an meinen gelehnt. Seine Lippen bewegten sich ganz nahe an meinem Ohr.

“Sobald sie angreifen, läufst du weg. Links von dir ist eine Lücke zwischen ihnen. Ich werde sie lange genug ablenken.” Er schickte mich fort. Er schickte mich fort mit dem Wissen, dass er für mich in den Tod gehen würde. Ich wäre so gerne bei ihm geblieben, um mit ihm zu sterben, aber dann dachte ich an unsere Tochter. Sie brauchte mich noch! Zitternd drückte ich seine Hand zum Zeichen, dass ich verstanden hatte. Michel ließ mich los und atmete noch einmal tief durch.
“JETZT!”

Ich spurtete los, stieß einen im Weg stehenden Wächter zu Boden und lief um mein Leben, während hinter mir Michels Schreie verklangen. Durch Gassen und Straßen, an Häusern und Parks vorbei lief ich, bis die Stadt dem Land wich und ich erschöpft zusammenbrach. Um mich herum blieb es still und inständig betete ich darum meine Schächer abgehängt zu haben. Auf einer kleinen Anhöhe in der Nähe stand ein windschiefes Kirchlein, in das ich mich verkroch. Atemlos saß ich auf dem kalten Boden.

Ich hatte meine namenlose Tochter gerettet, als ich sie in Rebekkas Obhut gab. Ich hatte Kassandra getötet, war den Klauen des Rates entkommen und hatte damit eine weitere Chance auf Leben gewonnen.
Aber zu welchem Preis? Michel, der Mann den ich mit rasender Verzweiflung liebte; der Mann, mit dem ich Jahrhunderte verbringen wollte; der Mann, dessen Kind ich geboren hatte. Er war nicht mehr. Er hatte sich für mich geopfert. Damit ich weiterleben konnte.

Ein ohrenbetäubender Schrei hallte von den Wänden wider und nur langsam begriff ich, dass ich es war, die ihren Zorn, ihre Trauer und ihren Hass hinaus brüllte. Immer wieder ballte ich die Hand zur Faust und schlug auf den Boden ein, bis die Finger krachten. Mit grimmiger Verzweiflung schwor ich das Einzige zu beschützen, das mir noch geblieben war.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 16.03.2010

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