Cover


Palmsonntagsmord


Eine wahre Moritat


Es war einmal…
Nein, das passt nicht. Immerhin wird hier kein Märchen erzählt, sondern die tragische und leider Gottes wahre Geschichte des Gockels Josef. Ach, viel zu früh ereilte ihn das Ende! Aber beginnen wir von vorne.

Auf dem Temlhof im kleinen Dorf Schnatting herrschte der Gockel Josef über ein ansehnliches Harem von braun gescheckten Hühnern. Jede einzelne von ihnen war hingerissen von der Schönheit seines braungrünen Gefieders und seinem leuchtend roten Kamm. Wenn er sich in Pose warf und seine Federn in der Sonne smaragden schimmern ließ, konnte ihm keine der Damen widerstehen. Natürlich gab es auch noch andere Untertanen in seinem Reich, doch die waren kaum der Rede wert. Die beiden Gänse wurden von ihm – ganz der milde Herrscher – hoheitsvoll geduldet, die Schweine ignoriert und die Hofkatzen würden es nicht wagen, seinen Hühnern zu nahe zu treten. So führte er ein ruhiges, hühnerglückliches Leben und hatte kaum etwas anderes zu tun, als in der Sonne zu sitzen und hin und wieder zu krähen.

So saß er auch an jenem Tag auf dem Baumstumpf im Temlschen Garten und ließ sich die Sonne aufs Gefieder brennen, als er ein Gespräch zweier Menschen mithörte. Nun interessierte es den Gockel Josef, Herrscher über alles Getier des Hofes, herzlich wenig was Menschen in ihrer beschränkten Sichtweise für wichtig hielten und so hätte er wohl auch gar nicht weiter auf sie geachtet, wäre da nicht ein Wort gefallen, dass ihn unweigerlich an die grausame menschliche Sitte des Hühnerbratens erinnerte.

„Gell, bald ist Ostern?“, fragte der kleine Mensch den großen. Der kleine Mensch trug ein kurzes blaues Kleidchen und presste ein komisches Stoffding an sich, das an einen noch kleineren Menschen erinnerte. Josef dachte kurz nach. Das musste ein Mädchen sein. Es gab zwei davon auf seinem Hof. Ihre Aufgabe war es die Festmähler und Bankette für seinen Hofstaat auszurichten. Hoheitsvoll duldete er ihre Anwesenheit. Der große Mensch in Hosen beugte sich zu dem kleinen Mädchen herunter und tätschelte ihr den Kopf.
„Ja, bald ist Ostern. Morgen ham mer noch Palmsonntag und dann is Ostern.“
„Und dann gibt’s Süßes?“
„Na, aber bunte Oar und an gscheiten Hefezopf mit Rosinen! Und am Palmsonntag gibt’s ja a scho wos.“
„Wirklich? Was denn?“
Der große Mensch schmunzelte leise.
„Ja, woast an des net? Am Palmsonntag legn d’Gickerl roade Oar.“
„Hä?“
„Am Palmsonntag legen die Hähne rote Eier.“
Josef bemerkte amüsiert, dass der große Mensch seine Stimme verstellen musste, damit das kleine Mädchen ihn verstand. Offenbar hatten die Menschen mehr Schwierigkeiten mit der Kommunikation untereinander, als sie zugeben wollten. Ihm oder seinen Hühner würde etwas derartig peinliches nie passieren.

„Kann der Bepi denn Eier legen?“, fragte die Kleine skeptisch und deutete mit einem ihrer Fingerchen auf Josef.
„Wennst na sprengst, dann legt er a roads Oar. Tschuldigung. Wenn du ihn sprengst – ja, zefix, wia übersetz i jetz des? – wenn du ihm hinterher rennst und gscheit jagst, dann legt er a rotes Ei.“

Die kleine Eri schaute immer noch skeptisch zwischen dem großen Menschen und dem Gockel Josef hin und her, doch dann nickte sie kindlich bestimmt und akzeptierte diese Erklärung des Unmöglichen. Aufgeregt lief sie davon. Wahrscheinlich um dem zweiten Mädchen diese Neuigkeit unter die Nase zu reiben.

Josef schüttelte sich. Menschen! Sie erzählen und glauben doch jeden Schmarrn. Schnell strich er das soeben gehörte aus seinem Gedächtnis. Es gab Wichtigeres zu tun. Hatten ihm seine Untergebenen heute eigentlich schon angemessen gehuldigt? Mit der Würde eines Königs hüpfte er von seinem Aussichtspunkt herunter und machte sich auf den Weg.
So zog der Gockel Josef aus um an diesem lauen Frühlingsabend noch einmal sein Reich zu inspizieren und sich von seinen Untertanen bewundern zu lassen.

Am frühen Morgen eines Palmsonntags, irgendwann während des großen Krieges, wurde der hinterhältige Mord entdeckt. Der Gockel Josef, Herrscher über alles gehende, kriechende und fliegende Getier des Temlhofes zu Schnatting, lag tot hinter der Scheune. Ein Gegacker des Entsetzens ging durch den Hühnerstall. Wie konnte so etwas nur passieren? Wer war zu einer solchen Untat nur fähig?
Neben dem Dahingemeuchelten, an der Hand des Hofherrn, stand die kleine Eri. Sie trug noch immer ihr viel zu weites Nachthemd und grenzenlose Empörung stand ihr ins Gesicht geschrieben.
„Jetzt hab ich ihn über den ganzen Hof gejagt und der legt immer noch kein Ei!!!“


„ZUASTEIGN, BITTE!“



Wenn sich Straßenbahnen quietschend in Bewegung setzen, wenn perfekt gestylte Figuren mit dem Cappuccino in der Hand zwischen die sich schließenden Türen springen und Omas in ausgebeulten Trainingsanzügen ihre Enkel zum Kindergarten bringen – dann beginnt ein neuer Tag in München.
Wenn die Sonne sich in der Glaskuppel des Justizpalastes spiegelt, der hohnlachend in seiner Pracht auf ein mit Neonwerbung verunstaltetes Edelhotel herabblickt und die Punks und Penner am Stachus langsam in der Menge der Berufstätigen verloren gehen – dann beginnt ein neuer Tag in München.

Ich liebe es mit der Tram durch München zu gondeln. Setzt man sich in eine dieser quietschenden und summenden Straßenbahnen, entdeckt man einen ganzen Zoo unterschiedlicher Gestalten. Nie fehlt es am liebenswerten Opa im Trachtenjanker oder dem mürrischen Alkoholiker, der bereits morgen sein billiges Bier säuft. Banker, die mit gesenktem Haupt und der schweren Laptoptasche um die schmalen Schultern gehängt, dem schwersten aller Tage entgegen gehen zu scheinen und natürlich die unvermeidliche Gruppe übernächtigter Studenten gehören zum festen Interieur der montagmorgendlichen Trambahnfahrt. Manchmal kommt mir die Tram vor, wie der mobile Frühstücksraum eines mittelpreisigen Hotels. Wenn ich verstohlen in meine dick mit Butter beschmierte Brezn beiße und so unauffällig wie möglich Kaffee aus einem Pappbecher schlürfe, kann ich mir sicher sein, diesen manierlichen Fauxpas nicht allein zu begehen.

Wie herrlich amüsant ist es, die mitfahrenden Pärchen zu beobachten, wenn die Tram am Stachus den Gleisen zum Sendlinger Tor folgt. Unwillkürlich wenden sich die Köpfe der Mädchen und Frauen nach links; reihen sich doch auf der Ostseite der Sonnenstraße Brautmodengeschäfte wie die Glieder einer funkelnden Kette eng aneinander. Traumverloren begutachten sie die Schaufensterauslage, verziehen angewidert das Gesicht oder pappen im Geiste ihr eigenes Gesicht auf den Kopf der Schaufensterpuppe; während der neben ihnen sitzende Auserwählte nichtsahnend damit beschäftigt ist, das Händchen der Liebsten festzuhalten. Vielleicht ist er auch gar nicht so nichtsahnend und will mit dieser Geste einfach nur verhindern, dass sie den Knopf zum Aussteigen drückt. Wer weiß das schon so genau?

Dieses Mal muss ich zum Nationalmuseum. Pompös ragt es zwischen dem satten Grün des Englischen Gartens und dem in der Morgensonne golden leuchtenden Engel über der Isar auf. Wie ein Staffelläufer, im Moment der Stabübergabe zur Salzsäule erstarrt, thront er über der Stadt. Es würde durchaus romantisch wirken, wenn es mir gelingen würde, die lärmenden und stinkenden Autos auf der Prinzregentenstraße zu ignorieren. Viel zu schnell rattern sie über die Tramgleise, beachten weder die überholenden Autos, noch rote Ampelphasen – obwohl die für den Hauptverkehr so kurz gehalten werden, dass man es als Fußgänger nur laufend schafft, die Straße bei grün zu überqueren.

Es fällt mir schwer, dem Museum eine bestimmte Stilrichtung aufzuzwingen. Mit der Gewalt einer mittelalterlichen Burg erheben sich die Türme und Säle, doch griechische Götter und Fabelwesen schmücken seine Fassade. Fast könnte man meinen, es handele sich um eine Theaterkulisse, erbaut von einem Architekten, der nicht mehr genau wusste ob Hamlet oder Antigone gespielt werden sollte.
Hinzu kommen noch schmückende Elemente aus einer Epoche mit der sich München keinesfalls schmücken möchte und seit einiger Zeit auch ein knallrotes, chinesisches Schriftzeichen, das „Willkommen!“ bedeuten soll. Ich betrachte die Skulptur eher skeptisch. Bei chinesischen Schriftzeichen kann man nie sicher sein, ob nicht ein falsch gesetzter Pinselstrich aus einem „Willkommen!“ ein „Verpisst euch!“ macht.

Als ich zurück zu meiner Tram gehen will, um zum nächsten Ziel dieses Tages zu gelangen, ist es plötzlich ganz still. Kein einziges Auto fährt an mir vorbei. Oh, ich höre sie noch. Aber sehr gedämpft. Das Rauschen kommt aus den Seitenstraßen, das Gerumpel von schlecht beladenen Lastwägen und natürlich die Hupen. Erst eine, dann viele. Wütend werden sie immer und immer wieder betätigt und ihr Klang erinnert an Kriegshörner, die zum Angriff blasen. Männer in dunkelgrün stehen am Straßenrand, die Waffe locker und zweifellos entsichert in ihren Händen und in ihren Gesichtern zeigt sich eine Mischung aus angespannter Aufmerksamkeit und gähnender Langeweile. Ich blicke nach oben, als ich die knatternden Rotorblätter eines Hubschraubers höre, und entdecke zwei schwarz gekleidete Gestalten, die über das Dach des Wirtschaftsministeriums turnen. Polizisten versperren mir den Weg.
„Hier fährt gleich ein Konvoi durch. Da dürfen Sie jetzt nicht über die Straße.“
Missgelaunt beobachte ich den Trachtenumzug der etwas anderen Art. Voran die Musikkapelle, bestehend aus etwa zwanzig polizeilich besetzten Motorrädern. Dann der Presseclub im Regionalbus Oberbayern, dann eine kleinere Gruppe der motorisierten Garde und zwei bis vier verdunkelte und bewimpelte Kutschen voller Ehrengäste, die dank Panzerung so langsam vorbei schleichen, dass sie sich mit Weinbergschnecken ein Rennen liefern könnten. Dann folgt noch einmal der Trachtenverband Weiß-Grün und schließlich wird die Fahrbahn wieder für den Pöbel freigegeben, der wild hupend sein Recht auf Hektik durchsetzen will.

Ach, wie schön gemütlich ist es, sich da auf einem der blauen Sitze niederzulassen und die Häuserfassaden der Stadt an sich vorbei gleiten zu sehen. Wie einfach kann ich hier zur Heldin des Alltags werden und lobende Blicke ernten, indem ich einfach nur aufstehe und dem Herrn mit dem Krückstock meinen Sitzplatz anbiete.

„Ach, Mädl, das hätt’s doch nicht gebraucht“, sagt er und lässt sich ächzend auf dem vorgewärmten Sitz nieder. Er spricht mit der Stimme eines Zuazognem. Hochdeutsch für bayerische Ohren, aber bayerisch für Preissn. Sein Gesicht gleicht einer fröhlichen Rosine.
„Na, aber sitzen ist doch sehr viel bequemer als stehen, oder?“, lache ich zurück.
„Kommt drauf an, welches sitzen sie meinen. Das andere hab ich auch schon hinter mir. Nein, nein. Keine Angst. Das war während dem Krieg. Da kann ich stolz drauf sein.“ Zur Bekräftigung klopft er mit seinem Stock auf den Boden und verfehlt nur um Haaresbreite meinen großen Zeh.
„Ich war in ner Studentenvereinigung, wissen Se? Hier, an der Maximilian. Und als dann das ganze Zeug war… Ja, da haben sie mich abgeholt und wollten, dass ich ihnen Namen nenne. Ich habe ihnen dann gesagt, dass sie nach Herrn Hansi Hase und Professor „Leckt mich am Arsch“ suchen sollen. Und da haben sie mich eingesperrt. Drei Tage lang musst ich stehen. Ich konnt mich nirgends hinsetzen, Fräulein. Können Se sich das vorstellen? Drei Tage lang. Kein Wasser, nix zum Essen und nur Stehen… Am vierten Tag brachten sie mich dann in nen Raum und da stand ein Tisch, ein Stuhl, ein Glas Wasser, Papier und Bleistift.“ Seine dunklen Augen überzieht ein seltsamer Schimmer und für einen Moment befürchte ich, dass er gleich anfängt zu weinen.
„Wenn du drei Tage gestanden bist“, erzählt er leise weiter, „Dann unterschreibst du alles. Einfach alles, Fräulein.“ Er schluckt und die Falten scheinen sich noch etwas tiefer in sein Gesicht zu graben. Dann entdeckt er das Bärchen, das von meinem Rucksack baumelt.
„Mei, wie lieb. Wie heißt der denn?“
„Oh, der hat keinen Namen. Im Advent wird er durch nen Weihnachtsmann ersetzt.“
„Tommy sollt er heißen. So hieß einer, der es damals nicht geschafft hat.“
Ich kann nur nicken und beschließe insgeheim eines Tages meinen Sohn auf den Namen Tommy taufen zu lassen.

Familiär geht es zu in der Tram und je öfter man mit ihr durch die Viertel Münchens fährt, desto klarer wird einem, dass „der Münchner“ eine Fantasiegestalt, ein Hirngespinst von schwindligen Journalisten und Autoren von Reiseführern sein muss. Den Münchner an sich gibt es nämlich nicht.
Es gibt die Alteingesessenen, die diese Stadt aus den Trümmerbergen des Krieges neu hochgezogen haben; deren Kinder im reißenden Eisbach das Schwimmen lernten; deren Enkel im Luitpoldpark Fußball spielen und sich sonntags in der Sendlinger Kirche St. Margareth den Hintern abfrieren. Aber diese Menschen sind keine Münchner.
Sie sind Giesinger, Sendlinger, Schwabinger, Max- oder Isarvortädter, Rammersdorfer, Neuhausener und so weiter und so fort. Jedes Viertel für sich ist ein Dorf. Eine eingeschworene Gemeinschaft mit Eckkneipen, die ihre Zulassung scheinbar nach dem „De war scho oiwei do“-Prinzip bekommen haben und Fleischwarenfachverkäuferinnen, Friseusen und Gemüsehändlern, die den neuesten Klatsch des Viertels verbreiten. Mancher Boulevardblattjournalist würde sich mit Freuden den rechten Arm abkauen um an die Geschichten zu kommen, die mir beim Metzger meines Vertrauens zwischen Aufschnitt und Leberkäs zugesteckt werden.

Münchner, das sind die „Zuazogna“. Eine der größten Gruppen sind wohl die Teilzeitmünchner. Sie kommen mit der festen Überzeugung in die bayerische Hauptstadt, dass die Zeit hier nur eine kurze Episode in ihrem Leben darstellen wird. Es sind die Studenten, die sich rühmen können an einer Eliteuni studieren zu dürfen und denen München eigentlich viel zu laut, zu teuer und zu provinziell ist. Sie sind leicht zu erkennen. Rucksack, vielleicht sogar eine Tasche mit dem Logo der Uni oder ein Plastiktüterl aus der Staatsbibliothek. Sie reden davon, dass die Vorlesungen langweilig sind, die Mietpreise horrend und unbezahlbar, das Bier völlig überschätzt und das Nachtleben – na ja.
Aber ihre Sichtweise verschiebt sich rasch und die meisten bleiben eben doch an München pappen. Die Stadt zu verlassen, ihr auf ewig den Rücken zu kehren, ist nach einigen Jahren für die meisten unvorstellbar geworden. Und tut man es doch, so fühlt man sich so schäbig, als hätte man eine langjährige Geliebte sitzen gelassen. Sie mag nicht schön gewesen sein und sie mag einem den letzten Heller aus den Taschen gerissen haben, aber dennoch hat man sie lieben gelernt und sich ihrer Lebensart angepasst. München verdirbt seine Einwohner für jede andere Stadt dieser Welt. Denn immerzu muss sich der derzeitige Wohnort mit dem einstigen messen und welche Stadt könnte gegen München schon bestehen?

Viele kommen eines Tages zurück. Noch mehr pendeln täglich in die Weltstadt, deren Herz durch Arbeit vorangetrieben wird und in deren Adern die Hektik pulsiert.
Preissn und Umlandsbayern, die den weichen münchnerischen Dialekt mit gestochenem Hochdeutsch, waidlerischem Gebrumbfel und zackigem Fränggisch untergraben, bevölkern die Straßen, Läden und öffentlichen Verkehrsmittel. Täglich üben preissische Mütter mit ihren Kindern die korrekte Aussprache von „Straßenbahngeleise“ und führen dabei den mitreisenden Fahrgästen ihrer Tram die Anmut der deutschen Sprache vor Augen. Doch dem ignoranten Alteingesessenen ist das völlig wurscht. Er schmunzelt und lehnt sich in seinem Sitz zurück mit der Gewissheit, dass seine Sprache doch immer noch die Schönste ist. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen. Der Münchner und der Bayer an sich akzeptiert durchaus die Notwendigkeit einer innerdeutschen Allgemeinsprache, die sich durch klare Aussprache und Grammatik auszeichnet. Allerdings sieht er außerhalb des Schriftverkehrs nur selten einen Grund sie gebrauchen zu müssen.
Was die Idylle einer Trambahn stört, sind psychedelische Trommelfellfolterungen, die aus so manchem Kopfhörer oder Handy mit Außenbordlautsprecher tönen. Wie dankbar bin ich der Mode, die uns zurück zu den Bügelkopfhörern geführt hat, die dafür sorgen, dass die Musik nur in die Ohren desjenigen gelangen, der sie auch hören will und der durch den Tunnel seiner Lieblingsmusik zur Arbeit schwebt. Wenn aber hinter mir kleine Jungs ihre neuesten Walkmanhandys voll aufdrehen und mich mit dem knarzenden Geplärre des neuesten sogenannten Rappers aus meiner Lektüre reißen, dann träume ich von einem Gegenangriff. Ich träume davon sie mit Liedern der Spider Murphy Gang zu beschallen, bis sie den Takt von „Schickeria“ rückwärts pfeifen können. Oder davon, dass eines Tages zwanzig Rentnern mit Grammophonen bewaffnet in der Tram hocken und „Kann denn Liebe Sünde sein“ in Endlosschleife laufen lassen. Besser gefällt mir allerdings die Vorstellung, dass sie alle die Vorzüge funktionierender Kopfhörer schätzen lernen, sodass ich in aller Ruhe in meinem Buch schmökern kann, während die Tram weiter vorwärts ruckelt.

Überhaupt Bücher. Man sieht sie allerorten. Menschen, die ihre Nase tief in Büchern vergraben haben. Lernende, die mit Leuchtstiften quietschend Spuren über die Buchstaben ziehen. Krimileser, die nervös am Daumennagel kauen und Leser, die ihr Taschenbuch wie eine Zeitschrift umknicken und damit den Einband ruinieren.
Am nachhaltigsten hat mich allerdings das Mädchen beschäftigt, das eines schönen Sommertages völlig hingerissen in einer alten Goetheausgabe schmökerte.
In der rechten Hand drehte sie immer wieder ein abgegriffenes Lesezeichen. Liebevoll blätterte sie die Seiten um, lächelte an manchen Stellen und schüttelte an anderen den Kopf. Ihr Anblick faszinierte ich, hatte ich selbst doch mit Goethes schwerer Dichtung nie etwas anfangen können.
Als die Tram am Maxmonument vorbeiratterte, schreckte sie hoch und stolperte fast über ihre eigenen Füße, als sie zur Tür hastete. Offenbar war sie so sehr in ihre Lektüre vertieft gewesen, dass sie ihre Haltestelle verpasst hatte und in ihrem vergeblichen Versuch, die Tram noch an der richtigen Haltestelle zu stoppen, rutschte ihr das Buch aus der Hand. Unter dem geschmückten, antiken Einband mit seinem intellektuellen Titel blitzte das Bild eines halbnackten Mannes hervor, in dessen übertrieben muskulösen Armen eine barbusige blonde Schönheit lag. Ein Nackenbeißer getarnt als Goethe. Blitzschnell hob sie das Corpus Delicti wieder auf und ließ es verschwinden. Sie hielt es für besser ihr Schundheft unter dem Einband edler Literatur verschwinden zu lassen und auch das ist München.

Menschen, die kaum wissen, wie sie die nächste Miete bezahlen sollen, täuschen mit günstiger, aber stilvoller Kleidung über die Lage ihres Kontostandes hinweg. Schwer schuftende Yuppies schmücken sich mit einem riesigen Freundeskreis, der doch nur aus losen Bekanntschaften besteht und Stundenten im Bachelorstudiengang, nur eine Handbreit vom endgültigen nervlichen Zusammenbruch entfernt, sitzen locker feixend im Café.
In München geht es uns gut. Und wem es nicht gut geht, der hat wenigstens so zu tun, als ob.

Wenn sich dann abends die Zugtüren des Regionalexpress piepsend schließen, wenn ich München hinter mir lasse und zurück aufs Land zu Haus und Garten fahre, dann bleibt doch ein Stück von mir hier. Ein Stück von mir blieb zurück in meiner winzigen Schwabinger Wohnung, die ich vor Jahren aufgegeben habe. Ein Stück von mir bleibt zurück auf dem Kopfsteinpflaster der Fußgängerzone. Ein Stück von mir bleibt frech auf den sommerlichen Wiesen im Englischen Garten liegen. Ein Stück von mir sitzt im Biergarten und bestellt sich „no a Maß“.

Ich weiß, dass ich von München nicht loskomme. Ich arbeite und lebe in dieser Stadt, und auch wenn ich den Titel eine echte Münchnerin zu sein nicht mehr verdiene, werde ich im Herzen doch immer eine bleiben. Diese Stadt lässt mich nicht los. Ich bin ihr verfallen wie Odysseus den Sirenen. Und das Schlimmste daran:
Sie weiß es.


Gerüchteküche


oder wie man einen Lehrer tötet



Es beginnt mit leisem Gewisper auf dem Schulhof. Erstklässler wie Hauptschüler stecken aufgeregt tuschelnd die Köpfe zusammen und schenken den Aufsicht habenden Lehrkräften einen Tag unverhoffter Ruhe. Seltsames geht vor in der niederbayerischen Volksschule. Sehr seltsames! Zu seltsam um darüber schweigen zu können.
Denn seit einigen Wochen fehlt einer der Lehrer. Herr R., allgemein beliebt aufgrund seiner sanften Stimme, seinen leichten Aufgaben und seiner geduldigen Art zu lehren, ist verschwunden. Stattdessen lehrt jetzt ein windiger, leicht zu verunsichernder Referendar seine Fächer. Nicht zu vergleichen mit Herrn R, auf dessen rundem Gesicht stets ein unverwüstliches Lächeln schien und dessen gewaltiger Leibesumfang bei Schulfesten gerne mit Hilfe eines dicken Kissens karikiert wurde.
Wo steckt er denn nun? Was ist passiert, dass er sich so ganz ohne Abschied aus dem Staub gemacht hat?
Mit einer wegwerfenden Handbewegung lässt Simone ihre Armreifen klimpern. „Wahrscheinlich is er bloß im Urlaub.“ „San doch gar koane Ferien, du Depp!“ Veronika schüttelt genervt den Kopf. Die 12jährige Simone ist zweifellos hübsch, aber auch deppert wie drei Meter Feldweg. „Vielleicht is er ja krank?“, piepst der kleine Alex Leuscher. Die Brauer-Buam lassen vom Kastler Rupert ab, den sie vor fünf Sekunden noch verprügeln wollten, und gesellen sich zu der Gruppe hinzu. „Logisch! Dem is doch vorher scho ned so guat ganga. Krank werd der sei und sunst nix.“ Murmelnd finden sich die Kinder mit dieser Erklärung ab und zerstreuen sich um den restlichen 200 Mitschülern mitzuteilen, dass Herr R. krank sein muss.

Stolz grinsend erzählt Alex beim Mittagessen dann seiner Mutter, dass der Herr R. krank ist und deshalb nicht zur Schule kommen kann. Immerhin hatte er das herausgefunden.
Nachmittags vor der dörflichen Metzgerstheke diskutiert Mama Leuscher mit der Metzgersfrau, wie es möglich sein konnte, dass niemand von Herrn Rs schwerer Krankheit erfahren hatte. Ach, wahrscheinlich hat ihn dasselbe erwischt wie die arme Frau Henkel. Drei kleine Kinder und einen trauernden Mann hat sie zurück gelassen. Der Krebs ist doch eine hintertückische Krankheit!
Als Papa Leuscher am Samstag morgen vom Bäcker neben der Kirche Frühstückssemmeln holt, erzählt ihm eine in Tränen aufgelöste Oma Kimbl, dass sie soeben von der Frau X erfahren habe, dass die Frau Y der Frau Z erzählt hätte, dass die Frau M von der Frau W weiß, dass der arme Herr R letzte Nacht an einem Herzinfarkt verstorben sei. Ja, der Mann hätte halt auf seine Gesundheit achten sollen. Da sieht man mal wohin einen das Rauchen, Trinken und Fressen bringt. Ins Grab bringt’s einen. Jawohl! Ins Grab! Und dabei war er doch noch so jung! Ja, und weil die Oma Kimbl mit dem alten Fräulein Theres befreundet ist, die ja die Haushälterin vom Pfarrer ist, bereitet auch der Pfarrer schon die Trauerrede für den verstorbenen Lehrer vor. Ach, welch ein Jammer! Welche Schand, dass es immer die Jungen trifft.

Zuhause runzeln die Kinder die Stirn. Wie kann der Herr R an Herzinfarkt sterben, wenn er doch nur ne kleine Grippe hat? Aber wenn die Eltern das erzählen, muss es wohl wahr sein, oder?
Derweilen setzen sich trauernde Mütter zu Kaffekränzchen zusammen und versuchen mit kriminalistischem Spürsinn Herrn Rs Adresse herauszubekommen um seiner armen Frau einen Kondolenzbrief oder zumindest eine Karte schicken zu können. Männer stoßen im Wirtshaus auf den Verstorbenen an und der Stammtisch der Schafkopfer sucht nach einem neuen Spieler, der den Platz des Verblichenen einnehmen könnte.
Wo wird denn die Beerdigung sein? Wahrscheinlich in der Stadt. Da hat er ja gewohnt. Aber zumindest die Trauerfeier werden sie hier im Dorf machen. Immerhin hat er hier viele Freunde. Die Schafkopferer haben beim örtlichen Gärtner schon mal einen Trauerkranz geordert.

So stellt sich ein ganzes Dorf auf die Beerdigung eines ihnen lieben Menschens und eines vorbildlichen Lehrers ein, als sich klingelnd die Tür zur Metzgerei öffnet. Das allgemeine Plappern der Weiber im Raum verstummt. „Jessas, Maria und Josef“, keucht Oma Kimbl. Frau X fängt Frau M auf, als diese seufzend in Ohnmacht fällt und mit weit aufgeklappten Mündern starren die Frauen auf die Gestalt im Türrahmen. Ein deutlich dünner gewordener, quicklebendiger Herr R, schaut alle der Reihe nach an und fragt verlegen lächelnd:
„Is wos?“



Sendlinger Mordweihnacht




Sanft fielen Schneeflocken zur Erde. Tannen beugten sich ächzend unter der weißen Last und vom Dach des Birnbichler-Hofes rauschte eine kleine Lawine. In der Stube drinnen warteten drei Brüder auf die Rückkehr des Vaters. Schweigend saßen sie um den Tisch herum und wagten es nicht einmal mehr miteinander zu reden. Sie hatten den ganzen Abend damit zugebracht über den Ausgang der Versammlung zu spekulieren. Die Mutter saß auf der Bank am Kachelofen und strickte. Das Knäuel Wolle hüpfte in seinem Korb grad als wäre es ein lebendiges Wesen. Auch sie arbeitete still. Im Ofen knackte brennendes Holz, die stählernen Nadeln klapperten und der Wind strich über das Haus.

Dann endlich hörten sie wie die Haustür aufgestoßen wurde. Es rumpelte, als sich der Vater den Schnee von den Stiefeln stieß. Mit hochrotem Gesicht und Schnee in seinem ergrauten Bart betrat er die warme Stube.
„Und Vater? Was ham sie gsagt?“, wurde er sofort von seinem Jüngsten bedrängt.
„Lass mi doch erst amal Luft holen, Hiasl“, schmunzelte er, zog sich den Stuhl an den Kamin heran, setzte sich und legte die Füße auf die Kaminbank. Seine Frau legte das Strickzeug beiseite und verschwand in der Küche.

„Erzähl schon, Vater. Was ham sie gsagt? Gemma nach Minga oder net?“
„Fanni!“, schrie der Vater stattdessen seiner Frau hinterher. „Sei so guad und bring ma a Bier mit.“
Sein ältester Sohn, der Martin, trommelte ungeduldig mit seinen Fingern auf der Tischplatte herum. Gierig auf Neuigkeiten starrten die Brüder ihren Vater an. Hatten die Tölzer dem Jäger Hans nachgegeben? Würden die Bauern nach München gehen um das zu vollbringen, was die hohen Herrschaften nicht zustande gebracht hatten? Die Stadt und damit ganz Bayern von der österreichischen Pest zu befreien.

Die Mutter stellte Brot und Wurst vor dem Vater ab. Das Bier fehlte. Sieh sah den vorwurfsvollen Blick ihres Mannes und noch bevor er sich beschweren konnte, haute sie ihm ihr Gegenargument um die Ohren. „Bier hast heut scho genug ghabt, Franz! Glaubst ebba, ich weiß ned, was ihr auf eure sogenannten Versammlungen treibts? Und jetzt spann die Buam nimmer auf d’Folter und sag ihnen was rauskomma is.“
Franz schaute seine Buben der Reihe nach an. Martin schlug langsam Kerben in das Holz, der Hiasl wippte aufgeregt mit den Füßen und nur Josef saß ganz still und wartete.
„Mir gemma!“, verkündete er. Keinen Augenblick später lagen sich die Brüder jubelnd in den Armen.
„Wir gehen nach Minga und haun das Habsburger Gschwerl raus!“, sang Hiasl und stieß dabei die Faust in die Luft.


Spät in der Nacht wurde Josef von den streitenden Stimmen seiner Eltern geweckt.
„Franz, nimm doch Vernunft an. Was wollts ihr denn gegen die überhaupt unternehmen? Du hast doch nicht amal a Gwehr!“
„Aber der Schorsch hat eins.“
„Der wird’s aber selber brauchen. Ich kenn den Deppen doch. Der ist doch bei jeder Spinnerei sofort dabei.“
„Mir schaffen des scho, Weib.“
„Glaubst das ehrlich? Also ich war mir da ned so sicher…“
„Jetzt hör mal. Die Unterländler schicken 15.000 Mann. 15.000 Weib! Die kommen von Erding her, wir von Schäftlarn. Der Anzinger Postmeister wird uns sagen, wann die Österreicher so mit den Unterlandlern beschäftigt sind, dass wir in Minga einmarschiern kennan. Wir schließen die Habsburger aus Minga aus und dann kinnans erst amal schaun, wias do wieder rein komman.“
„Franz, bitte. Überlegs dir noch amal…“
„Da gibt’s nix mehr zu überlegen, Fanni. Wir können die Steuern nimmer zahlen, die de Halsabschneider verlangan. Es geht einfach nimmer!“
Josef lauschte weiter in die Dunkelheit, doch lange schwiegen sich seine Eltern an. Dann hörte er die flehende Stimme seiner Mutter.
„Bring mir bloß meine Buam wieder, Franz. Bring mir meine Buam wieder heim.“
„Keine Angst, Fanni. Bis Neujahr san wir alle wieder zruck.“


Weit vor Sonnenaufgang machten sich die Männer auf den Weg. Mit Jägerbüchsen, geerbten Rapieren, Sensen und scharf geschliffenen Mistgabeln bewaffnet zogen die Oberländler zum Kloster Schäftlarn. Fast zwei Tage marschierten sie von früh bis spät durch die Winterkälte, bis sich endlich die Mauern der Abtei vor ihnen zeigten. Im Hof wurden sie von noch mehr Männern empfangen. Beinahe dreitausend Bayern hatten sich versammelt. Bauern, Handwerker, Kaufleute – niederes Volk. Die meisten mit Feuer im Herzen und Waffen in der Hand. Ein paar allerdings auch ängstlich und mürrisch. Gerüchte gingen um, dass der … Bürgermeister seinen Leuten mit der Aberkennung der Bürgerrechte gedroht hatte, wenn sie sich den Aufständischen nicht anschlossen.

Die Mönche verteilten heißen Brei an die frierenden Gestalten.
„Nicht Recht ist euer Plan“, mahnte ein dicker Benediktiner mit erhobenem Finger. „Was das Habsburgerpack macht, is auch nicht Recht“, grölte der Schmied-Schorschi und ließ eine Flasche mit Blutwurz herumgehen.
Josef lehnte ab. Er war zu aufgeregt, als dass er hätte trinken können. Von Essen ganz zu schweigen. Er sah wie in den Augen der jüngeren Mönche dasselbe Feuer brannte, wie in den Augen seiner Brüder. Sie wären wohl mit ihnen nach München marschiert, wenn es ihnen möglich gewesen wäre. Martin goss sich einen ziemlich großen Schluck Schnaps ein und kippte ihn hinunter. Stolz zeigte er den anderen sein Rapier. Vom Großvater geerbt. Bis vor Kurzem hatte es als Zierstück über dem Tisch in der Stube gehangen. Matthias‘ Wangen hatten eine feuerrote Farbe angenommen und sein Blick hing glasig an den Lippen des großen Bruders. Der Schnaps zeigte bereits seine durchschlagende Wirkung bei dem Bub. Josef nahm ihm die Flasche aus der Hand und gab sie Schorsch zurück.
„Jetzt glangts, Hiasl. Sonst verschlafst morgen die ganze Sach.“
„Geh, lass ihn doch“, lachte Martin. „Der Bub hält des aus.“ Wie zur Antwort hickste Hiasl, lehnte sich an Martins Schulter und schlief augenblicklich ein. Die Männer lachten. Gerade erst aus den kurzen Hosen raus und schon wollte er den starken Mann markieren – wo er doch nicht mal ein Glaserl Schnaps vertrug.

Josef trug seinen Bruder in den Stall der Abtei, wo sie schlafen sollten, und bettete ihn auf das Stroh. Furcht beschlich ihn. Was wenn die Unterländler es nicht rechtzeitig bis ins Münchner Land schafften? Immerhin kamen sie nicht nur von Erding und Landshut her. Josef hatte gehört, dass sich selbst eine Gruppe aus Passau den Aufständischen anschließen wollte. Er wusste, dass sie auf die Hilfe der Unterländler angewiesen waren. Sie waren zu wenige um mit den Österreichern allein fertig zu werden. Zu wenige und viel zu schlecht bewaffnet. Seine Sense wäre gegen eine Muskete machtlos. Martin mochte ein ganz passabler Faustkämpfer sein, aber mit dem Rapier hatte er keine Erfahrung. Und Hiasl…
Er war noch so klein. Wie sollte der Junge sich gegen kampferprobte Soldaten wehren? Josef seufzte schwer und faltete betend die Hände. Hoffentlich ging nichts schief. Heilige Jungfrau Maria, bitt für uns. Ihr Heiligen Vierzehn Nothelfer, helft uns.


Der Anzinger Postmeister, Verbindungsmann zwischen Ober- und Unterländlern, kam nicht zum vereinbarten Treffpunkt. Die Männer gingen trotzdem weiter. Verunsichert zwar, aber voller Hoffnung, den säumigen Verbündeten auf der nächsten Meile anzutreffen. Vielleicht war er aufgehalten worden. Und selbst wenn er gekniffen hatte – ein paar Habsburger konnten ein Heer gestandener Bayern doch wohl nicht aufhalten. Auf freiem Felde feierten sie die Christnacht.

So gelangten sie am Weihnachtsmorgen nach München. Zuerst hatten sie Glück. Den roten Turm konnten sie beinahe kampflos einnehmen, doch dann griffen die kaiserlichen Truppen an. Vor ihnen gab es kein Entrinnen. Der Birnbichler-Bauer und seine Söhne schafften es mit einigen anderen sich bis nach Sendling durchzuschlagen, doch bei St. Margaret erwarteten sie die Habsburger Truppen bereits. Hämisch grinsende Offiziere ließen ihre Soldaten auf die Aufständischen anlegen und die Männer fielen wie die Fliegen. Martin wurde von den Füßen gerissen. Josef dachte nicht lange nach. Er packte seinen verbliebenen Bruder und ging hinter der Friedhofsmauer in Deckung.

Die Kämpfer stoben auseinander, taub für die Rufe ihrer Anführer. Lange dauerte es nicht, bis die ersten ihre Waffen fallen ließen und sich den österreichischen Truppen ergaben. Die Husaren zügelten ihre Pferde und warteten auf die Befehle ihrer Offiziere. Josef sah, wie der Vater und noch einige andere von den Soldaten umzingelt wurden. Der Vater schien seine aussichtslose Lage zu erkennen. Wütend warf er dem nächsten Soldaten das geliehene Gewehr vor die Füße und hob die Arme. Die meisten anderen taten es ihm gleich. Sie ergaben sich.
Und dann krachte ein Schuss.

Josef sah den Rauch der Muskete. Er sah das ungläubige Gesicht seines Vaters, dann ging er in die Knie und fiel vornüber in den Schnee. „Vater!“ Neben ihm schrie Hiasl auf und im letzten Moment konnte er den Bub davon abhalten sich mit der Sichel in der Hand auf die Soldaten zu stürzen. Fluchend und schreiend versuchten sich Männer auf den Friedhof zu retten, doch die Soldaten hetzten hinter ihnen her.

Josef und Hiasl sprangen hinter den nächsten Grabstein, duckten sich und Josef hörte das Zischen der Kugel, die an ihm vorbeisauste. Ein weißbärtiger Alter lag neben ihnen im Schnee. Blut gefror in seinen Mundwinkeln, doch in seiner Hand hielt er noch immer eine Muskete. Die Husaren preschten über den Friedhof, ritten die Männer nieder, die ihnen in den Weg standen, stachen mit ihren Rapieren auf sie ein.

Sie lachten. Josef hörte sie lachen, als sich ihnen ein junger Bursche in den Weg stellte. Kaum älter als fünfzehn Jahre mochte er sein. Er stand vor den habsburgischen Soldaten, in der Hand nicht mehr als eine rostige Mistgabel. Josef versuchte dem Toten die Muskete aus den erstarrten Händen zu reißen. Er zog und rüttelte daran und endlich löste sie sich. Er legte an, zielte auf den Reiter und drückte ab. Ein Schuss löste sich wohl, doch nicht aus seinem Gewehr. Das Pulver war längst verschossen. Der Bub wurde rücklings in den Schnee geschleudert. Blut spritzte auf das Grabkreuz hinter ihm.

Mit dem Mut der Verzweiflung stürzten Männer aus ihrer Deckung, warfen sich dem Pferd an die Beine und brachten es zu Fall. Wieder krachten Schüsse. Einen der verdammten Österreicher nahmen die Tapferen mit in den Tod.

„In die Kirche!“, rief Josef seinem kleinen Bruder zu. „In d’Kirch! Schnell!“ Sie liefen zwischen Toten und Verletzten über den Friedhof. Kugeln flogen ihnen um die Ohren. Ein Österreicher stellte sich ihnen in den Weg, wurde aber durch Josefs Faustschlag zu Boden geworfen, bevor er schießen konnte.

Beinahe hatten sie das Portal schon erreicht. Die Aufständischen, die bereits dort Zuflucht gesucht hatten, wollten die Türen schließen. „Wartet!“, schrie Josef ihnen entgegen und beschleunigte noch einmal seinen Lauf. Plötzlich hörte er hinter sich den Schrei seines Bruders. Er blickte zurück und sah, wie der Kleine weiter vorwärts stolperte und dabei fast fiel. Josef hob ihn kurzerhand hoch, warf ihn sich über die Schulter und drückte sich durch die Tür, die hinter ihnen sofort verriegelt wurde. An die zwanzig Männer hatten sich in das dunkle Kirchenschiff geflüchtet, schoben nun alles was sich verrücken ließ vor die eichenen Flügeltüren oder saßen verängstigt wie kleine Kinder auf dem kalten Boden. Aus Gewohnheit wollte Josef seine Finger ins Weihwasserbecken am Eingang tauchen. Das Wasser war gefroren. Den stöhnenden Bruder noch immer über die Schulter gelegt, machte er einen Kniefall, bevor er vor zum Marienaltar ging und Matthias dort absetzte. Der Bub hielt die Augen geschlossen und wimmerte leise, als Josef ihn berührte.

„Hiasl. Hörst du mich? Mach d’Augn auf!“, flehte Josef ihn an und tatsächlich flatterten die Lider des Jungen. Was war geschehen? Hatte ihn etwa eine Kugel getroffen? Josef schälte ihn aus der Jacke und tatsächlich. An der rechten Seite, direkt unter der Achsel war das Hemd blutdurchtränkt.
„Sepp“, hörte er ihn wimmern. „Sepp, helf ma.“
„Scht, Hiasl. Red jetzt ned.“ Er packte den Bub wieder fest in seine Jacke und wickelte auch noch seinen eigenen Mantel um ihn.

Etwas krachte gegen das Portal.
„Die kommen doch ned hier rein, oder? Die werden doch ned in a Kirch einbrechen! In a Kirch doch ned!?“
„Schmarrn! An Weihnachten. So gottlos kennan ned mal die sei.“ Aber Josef hörte den Zweifel, der in diesem Satz mitschwang, allzu deutlich heraus. Wieder krachte es. Das Holz knirschte.
„Sepp. Sepp, mir is so kalt.“ Josef hielt seinen kleinen Bruder in den Armen und sah zu der gnädig lächelnden Marienstatue auf. Laut betete er zu ihr hinauf.
„Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder!“ Es knirschte und ein kalter Luftzug trug den Geruch von Blut und Schnee ins Gotteshaus. Schreie ertönten.
„Jetzt und in der Stunde…“ Kanonenschüsse knallten durch das Kirchenschiff. Das Geräusch brach sich an der Decke, den Säulen und hallte ohrenbetäubend zurück.
„… unseres Todes.“
Im Hauptschiff tobte die Hölle. Josef sah in das schmale Gesicht seines Bruders. Blass und still lag der Bub schwer in seinen Armen.
„Amen.“


Am 25. Dezember 1705 versuchten 3000, völlig unzureichend bewaffnete Bayern aus dem Oberland das von den Österreichern besetzte München einzunehmen. Sie wurden völlig aufgerieben. Einige schafften es sich bis nach Sendling durchzuschlagen. 16.000 Bayern aus dem Unterland kamen tatsächlich bis nach Steinhöring, wo sie ihr Hauptquartier aufschlugen. Da der Anzinger Postmeister Franz Kaspar Hierner aber keine Nachricht brachte, warteten sie dort ab. Als sie am Abend des 25. Dezember von der Niederlage erfuhren, traten sie sofort den Rückzug an.

Obwohl sich die meisten Aufständischen bereits ergeben und die Waffen niedergelegt hatten, töteten die habsburgischen Truppen weiter. In dem Glauben, dass die Soldaten heiligen Boden nicht entweihen würden, flüchteten sich die letzten Überlebenden auf den Friedhof und die Kirche von St. Margaret.
Die Kirche wurde vollständig zerstört. Ganz Sendling geplündert und teilweise ebenfalls zerstört.

An diesem Weihnachtsmorgen starben 40 kaiserliche Soldaten und 1100 Bayern.
500 Überlebende wurden in München gefangen gehalten. Drei Tage lang durfte sich niemand um sie kümmern, um weitere Revolutionsgedanken im Keim zu ersticken. Die Rädelsführer des Aufstands wurden am Marienplatz enthauptet und gevierteilt.

Entgegen der weitläufigen Meinung handelte es sich bei den kaiserlichen Soldaten nicht um Österreicher, sondern um würzburgische Truppen und ungarische Husaren unter kaiserlichem Befehl.




Impressum

Tag der Veröffentlichung: 15.03.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Der besten Großtante, dem Dorf meiner Kindheit und Bayern im Allgemeinen gewidmet.

Nächste Seite
Seite 1 /