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Erstes Capitel.


Am Ufer der Marne, in der Nähe der kreidereichen weißen Ebene der Champagne, liegt die alte Stadt Saint-Dizier, ein kleiner Ort mit etwa fünftausend Einwohnern, deren Industrie zum großen Theil darin besteht die auf der Marne herabgeflößten Holzstämme in Bretter zu zerschneiden — außerdem befinden sich dort berühmte Manufacturen von Eisenwaaren und durch diese Gewerbthätigkeit hat der ganze Ort trotz seiner geringen Ausdehnung, vielleicht gerade wegen derselben eine bedeutende Wohlhabenheit erreicht.

Die alte Stadt zieht sich mit ihren winkligen und ziemlich unregelmäßigen Straßen in einer verhältnißmäßig bedeutenden Längenausdehnung am Ufer der Marne hin. Auf dem höchsten Punkt liegt eine alte Kirche von hohen Bäumen umgeben, welche ebenso wie die Stadt selbst und deren altersgraues Rathhaus voll von historischen Erinnerungen ist, die innig mit großen Momenten der Geschichte Frankreichs zusammenhängen.

Schon von Alters her waren die Einwohner von Saint-Dizier sehr streitbare und kriegerische Männer, man nannte sie im Mittelalter les bragars — eine Zusammenziehung aus les braves gars — und die bragars von Saint-Dizier waren die treuesten und muthigsten Kämpfer Franz I.; sie hielten eine lange Belagerung Carl V. aus und leisteten dem Lande dadurch wichtige Dienste, für welche der ritterliche König sie mit verschiedenen bedeutenden Privilegien auszeichnete.

Diese stolzen Erinnerungen leben noch heute in den Bewohnern von Saint-Dizier fort und so klein und unscheinbar die Stadt ist, so stolz blickt sie auf ihre Geschichte zurück und jeder Bürger von Saint-Dizier macht das Wort Franz I.: „tout est perdu fors l'honneur“ zu seiner Devise.

Die unmittelbare Umgebung der Stadt ist flach und eben; in einiger Entfernung erheben sich kleine Anhöhen mit niedrigen Laubwaldungen und Weinpflanzungen bedeckt. Dort befindet sich eine Wasserheilanstalt, welche wegen ihrer gesunden Luft und ihrer frischen Quellenbäder von den Bewohnern der Umgegend häufig besucht wird und während des Sommers die kleine Stadt mit dem bewegten Leben eines Badeortes erfüllt.

Es war an einem Februarabend des Jahres 1870.

Rauh und kalt wehte der Wind über die ebene Umgebung der Stadt; die Wellen der Marne vom Sturm gepeitscht schlugen an die Ufer und die dort aufgehäuften Holzblöcke; durch die in zerrissenen Flocken über den Himmel hinjagenden Wolken blickte von Zeit zu Zeit ein Strahl des Mondlichtes und erhellte einen Augenblick die öde und kalt daliegende Gegend.

Auf einem ebenen Wege am Flußufer, der an schönen Tagen für die Bewohner von Saint-Dizier eine beliebte Promenade bildete, gingen langsam zwei Männer auf und nieder.

Beide waren hoch und kräftig gewachsen und wenn das Mondlicht vorübergehend ihre Gesichtszüge beleuchtete, so konnte man in denselben jenen eigenthümlichen Typus der norddeutschen Race erkennen. Der Eine von ihnen mochte etwa fünfundzwanzig Jahre alt sein; seine Gestalt war geschmeidig, seine Bewegungen elastisch und nicht ohne eine gewisse natürliche fast elegante Anmuth, welche nicht vollständig mit der Kleidung übereinstimmte, die er trug und die ungefähr diejenige des französischen Arbeiterstandes war.

Sein Gesicht war scharf geschnitten und drückte Intelligenz, Muth und Willenskraft aus; über der leicht aufgeworfenen Oberlippe kräuselte sich ein kleiner dichter Schnurrbart, volle blonde Locken quollen unter dem kleinen runden Hut hervor und in den großen blauen Augen lag eine gewisse schwärmerische Tiefe, verbunden mit scharfer Beobachtung, welche zuweilen den Ausdruck listiger Schlauheit annehmen konnte. Neben ihm schritt ein bedeutend älterer Mann von etwa vierzig bis fünfundvierzig Jahren. Sein Gesicht sah bereits ein wenig verwittert aus und zeigte weniger Intelligenz als das seines Begleiters, dagegen aber mehr von jener beinahe eigensinnigen Zähigkeit, welche dem norddeutschen, insbesondere dem niedersächsischen Bauernstamme eigen ist.

Beide Männer gehörten der hannöverschen Emigration an, welche im Jahre 1867 ihr Heimathland verlassen und nachdem sie aus Holland und der Schweiz ausgewiesen war, ein Asyl in Frankreich gefunden hatte. Der Jüngere der beiden Männer war der frühere hannöversche Dragoner Cappei; der Aeltere war der frühere Unterofficier Rühlberg, welcher das Commando über die kleine Abtheilung Emigranten führte, welche in Saint-Dizier stationirt waren.

„Ich sage Euch noch einmal, Cappei,“ sprach der Unterofficier, „überlegt wohl, was Ihr thun wollt, denn die Sache wird ernst — ich habe den Herrn Lieutenant von Mengersen, als er das letzte Mal hier inspicirte, auf das Gewissen gefragt, ob es wirklich wahr sei, daß der König die Emigration auseinander schicken und Jeden mit einer Summe von einigen hundert Francs abfinden wolle und der Herr von Mengersen, der ein braver und ehrlicher Mann ist, hat die Achseln gezuckt und mir keine rechte Antwort gegeben — er weiß mehr als er sagen will und die Kameraden in Paris haben mir geschrieben, daß dort etwas vorgeht; es sind Herren aus Hietzing dagewesen, man hat dann lange Conferenzen gehalten und die Herren Officiere sind alle sehr niedergeschlagen gewesen, — glaubt mir nur, ich täusche mich nicht, wir werden einfach fortgeschickt werden, nachdem wir uns vier Jahre lang für den König in der Welt herumgeschlagen haben und dann muß Jeder von uns ernstlich daran denken, wie er sich sein Brot erwerben und sich ehrlich durch's Leben bringen kann.“

„Ich glaube das nicht, Herr Unterofficier,“ rief Cappei, indem er stehen blieb und lebhaft mit dem Fuße auf den Boden trat; „es ist unmöglich, daß Seine Majestät seine treuen Soldaten, die in der Noth und Verbannung zu ihm gehalten haben, so einfach auseinander schickt, ohne sich um ihr Schicksal zu kümmern. — Ich werde das nicht eher glauben, als bis es wirklich geschieht — wenn es aber je dazu kommen sollte, dann steht mein Entschluß ganz fest — ich gehe nach Hannover in die Heimath zurück, mag daraus entstehen was da wolle. — Die Preußen können uns doch nicht Alle todtschießen; man wird uns bestrafen, aber dann sind wir doch wenigstens in der Heimath und haben festen Grund für unsere Existenz. Ich habe ein kleines Gehöft von meinem Oheim zu erben, das wird man mir nicht nehmen und wenn man mich wirklich ein oder zwei Jahre einsperrt, so werde ich doch nachher ruhig in meinem Hause sitzen und mir eine Familie gründen können.“

„Ihr sprecht so,“ erwiderte der Unterofficier, „weil Ihr verliebt seid und weil Ihr nur daran denkt, je eher je lieber die kleine Französin zu heirathen, der Ihr den ganzen Tag den Hof macht; aber das ist nicht recht von einem ordentlichen Soldaten — denkt doch daran, daß Ihr noch militairpflichtig seid und daß man Euch jedenfalls, wenn Ihr zurückkehrt, zum Dienst einziehen wird. Wollt Ihr, ein alter hannöverscher Garde du Corps, der sich so lange der preußischen Eroberung widersetzt hat, hinterher noch die preußische Uniform anziehen und nach preußischem Commando exerciren?“

„Wenn der König seine Getreuen wirklich verläßt,“ rief Cappei, „was habe ich, der einzelne Mensch für eine Veranlassung oder für ein Recht mich der preußischen Herrschaft zu widersetzen? Ihr werft mir vor, daß ich verliebt sei — das ist wahr; ich bin verliebt und ich habe keinen größeren Wunsch als meine kleine Luise zu heirathen, aber ich versichere Euch — Gott ist mein Zeuge — daß der König und seine Sache mir höher steht als meine Liebe und wenn der König mich heute riefe um für ihn in's Feld zu ziehen, so würde ich mich nicht einen Augenblick besinnen und meine Luise würde nicht von mir verlangen, daß ich meiner alten Fahne untreu werden sollte — wenn aber der König uns gehen läßt, so bin ich ein einzelner freier Mensch und habe nur für mich zu sorgen und dann werde ich der Narr nicht sein, mich in der Welt herumzuschlagen und die Heimath aufzugeben.

„Hart wird es freilich für mich sein die fremde Uniform zu tragen“ — sprach er seufzend, — „aber was geht es im Grunde mich an? Schickt der König uns fort, dann sind wir Alle frei zu thun was wir wollen und dann allerdings werde ich mich bei meinem Entschluß nur durch meine Liebe bestimmen lassen.“

„Nun,“ sagte der Unterofficier, „Gott gebe, daß es nicht dazu kommen möge. Was mich betrifft, so gehe ich nicht nach Hannover zurück; ich bin zu alt geworden, um in den neuen Verhältnissen leben zu können. Man hat uns ja eine schöne Ansiedelung in Algier versprochen — wenn es dahin kommt, so lasse ich meine Frau kommen und gründe mir dort im fernen Afrika eine neue Heimath, in der ich wenigstens nach alter Weise leben und meine Gedanken frei aussprechen kann — Ihr werdet's Euch auch noch überlegen, hoffe ich. — Es ist ein Unglück, daß bei Euch jungen Leuten immer die Liebe mitspricht —“

Ungeduldig erwiderte Cappei:

„Ich sage Ihnen nochmals,“ Herr Unterofficier, „daß es nicht die Liebe ist, welche mich bestimmt — wenn der König uns nach Algier schickte und uns sagen ließe: wartet dort bis ich Euch brauchen kann, ich würde hingehen, so wahr ich hier vor Euch stehe und wenn meine Braut nicht mit mir gehen wollte, so würde mich das zwar traurig machen, aber keinen Augenblick in meinem Entschluß irre werden lassen. Wenn aber der König uns aufgiebt, so bin ich frei — ich habe meine Soldatenpflicht erfüllt und kann als ehrlicher Mann thun was ich will.“

Sie waren am Ende des Weges angekommen und schritten langsam in die Straße der Stadt hinein, welche durch die flackernden Gaslaternen nur spärlich erleuchtet war. — — —

Um dieselbe Zeit saß in dem Wohnzimmer eines großen, durch einen weiten Vorhof von der Straße getrennten Hauses in der Nähe der alten Kirche, welches dem Holzhofbesitzer Challier gehörte, ein junges Mädchen von etwa siebzehn Jahren in einem tiefen Lehnstuhl vor dem flackernden Kaminfeuer; sie trug ein einfaches Hauskleid von dunklem Wollenstoff, das sich ihrer schlanken Gestalt anmuthig anschmiegte, ihr dunkles, glänzendes Haar war glatt gescheitelt und auf dem Hinterkopf in zwei Flechten zusammengebunden, deren reiche Fülle jeden künstlichen Chignon unnöthig machte; ihr etwas blasses, feines Gesicht zeigte den eigentümlichen, scharf geistvollen, beinah etwas höhnischen, dabei aber doch wieder zugleich sentimental gefühlsreichen Ausdruck, der den französischen Frauen eigenthümlich ist. Ihre mandelförmig geschnittenen dunkeln und von scharf geschnittenen Brauen überwölbten Augen blickten sinnend in die Gluth des Kaminfeuers, während ihr kleiner frischer Mund sich ein wenig spöttisch verzog, indem sie den lebhaften Worten eines Mannes von etwa dreißig Jahren zuhörte, der vor ihr stand.

Dieser Mann war mittelgroß und von hagerer Gestalt; sein etwas gelbliches nicht schönes aber intelligentes Gesicht zuckte in lebhafter Aufregung, die Blicke seiner großen tief liegenden dunkeln Augen sprühten in nervöser Unruhe hin und her, sein krausgelocktes, dichtes Haar reichte tief in die Stirn hinab und sein kleiner schwarzer Schnurrbart war in zwei geraden Spitzen aufwärts gedreht.

„Es ist unrecht von Ihnen, Fräulein Luise,“ rief er, seine Worte mit lebhaften Gesticulationen begleitend, „es ist unrecht von Ihnen, daß Sie für die Versicherungen meiner Liebe nur ein höhnisches Lächeln haben. Sie wissen, daß seit lange Ihnen mein ganzes Herz gehört; — meine Eisenfabrik wirft mir einen reichen Gewinn ab, mein Vater hat Nichts gegen meine Bewerbung — warum weisen Sie fortwährend meine Bitte zurück, mir Ihre Hand zu reichen? — Ich kann Ihnen eine sichere und wahrlich keine einschränkte Existenz bieten und was meine Person betrifft, so glaube ich sollten Sie mich genug kennen, um vertrauensvoll Ihr Schicksal mit dem meinigen zu verbinden.“

„Ich habe Ihnen schon öfter gesagt, Herr Vergier,“ erwiderte das junge Mädchen, „daß ich durchaus keine Eile habe mich zu verheirathen. Ich bin, Gott sei Dank, erst siebzehn Jahre und habe noch Zeit ein wenig meine Freiheit zu genießen; ich habe Sie oft gebeten mir diese Zeit zu lassen — das ist doch in der That keine unbillige Bitte — oder fürchten Sie, daß ich Ihnen zu alt werde,“ fügte sie lächelnd hinzu, indem sie ihre Augen mit einem schalkhaften Blick emporschlug.

„Da antworten Sie mir wieder in diesem höhnischen Ton, den ich nicht ertragen kann,“ sagte Herr Vergier, indem er lebhaft mit der Hand durch die Haare fuhr; „es wäre wahrhaftig besser, wenn Sie mir auf einmal offen und ehrlich sagten, daß Sie Nichts von mir wissen wollen, als daß Sie mich auf diese Weise hinhalten und verspotten.“

„Warum erfüllen Sie denn meine Bitte nicht,“ erwiderte Luise, „und lassen mir ruhig Zeit zur Ueberlegung? Ich habe ja Nichts von Ihnen verlangt, als daß Sie ein Jahr lang mit mir gar nicht über Ihre Heirathspläne sprechen und ich habe Ihnen versprochen, nach Ablauf dieser Frist Ihnen ein bestimmtes ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ zu sagen. — Warum drängen Sie mich fortwährend?“

„Weil ich,“ rief Herr Vergier lebhaft, „täglich deutlicher sehe, daß es nicht die Liebe zu Ihrer Freiheit ist, welche Sie die entscheidende Antwort verschieben läßt, sondern daß sich Ihr Herz mir mehr und mehr entfremdet. Oh!“ sagte er näher zu ihr herantretend, indem er sie mit unruhigen, halb bittenden, halb zornigen Blicken betrachtete, „früher war das anders; früher als Sie fast noch ein Kind waren, sprachen Sie gern mit mir, Sie hatten Vertrauen zu mir, Sie lächelten freundlich und widersprachen mir nicht, wenn ich Sie meine kleine Braut, meine künftige Frau nannte, das verstand sich Alles von selbst — und machte mich so glücklich; aber jetzt,“ fuhr er fort, die Zähne zusammenbeißend und mit Mühe einen heftigen Ausdruck zurückhaltend — „jetzt ist das Alles anders — seit —“

„Seit?“ fragte das junge Mädchen den Kopf emporwerfend und mit einem kalten, fast hochmüthigen Blick Herrn Vergier vom Kopf bis zu den Füßen musternd, „seit —?“

„Seit jener fremde Deutsche hierhergekommen ist,“ rief Herr Vergier mit brennenden Blicken, indem seine Gesichtszüge sich durch einen häßlichen Ausdruck von Zorn und Haß entstellten, „jener heimathlose Flüchtling, von dem man nicht weiß woher er kommt — seit dieser Mensch, der nur ein gemeiner Soldat war, sich in Ihr Herz eingeschlichen hat — seit jener Zeit haben Sie die Erinnerungen Ihrer Kindheit vergessen — haben Sie Ihren Vater und Frankreich vergessen, denn es ist auch ein Verbrechen an Ihrem Vaterlande einen Fremden zu lieben, noch dazu einen Fremden, welcher jener deutschen Nation angehört, die stets die Feindin Frankreichs war und deren Schaaren den heiligen Boden unsers Vaterlandes mehr als einmal verwüsteten. — Ich hasse die Deutschen,“ fuhr er mit grimmigem, dumpf gepreßtem Tone fort, „ich habe sie gehaßt so lange ich die Geschichte meines Landes kenne und ich hasse sie jetzt — mehr als je, seit mir Einer aus dieser Race die Hoffnung meiner Zukunft und das Glück meines Lebens geraubt hat.“

Bei diesen Worten, welche Herr Vergier fortgerissen von seiner inneren Erregung, in immer steigendem Affect gesprochen, hatte zuerst eine fliegende helle Röthe Luisens Gesicht überzogen, dann öffneten sich ihre Augen groß und weit, das Blut verschwand aus ihren Lippen und ein Ausdruck von Verachtung und feindlichem Hohn legte sich um ihren festgeschlossenen Mund.

„Ich erinnere mich nicht,“ sagte sie mit zitternder Stimme, welche sie mühsam zu ruhigem Ton zwang — „ich erinnere mich nicht, Herr Vergier, Ihnen das Recht gegeben zu haben, Vermuthungen über meine Beziehungen zu andern Personen auszusprechen und an diese Vermuthungen Belehrungen und Beleidigungen zu knüpfen. Ich habe von Ihnen Frist verlangt, um über Ihre Wünsche nachzudenken und Ihnen versprochen, Ihnen demnächst zu antworten.

„Wenn Sie sich herausnehmen in dem Ton mit mir zu sprechen, den ich so eben gehört, so wird die Folge davon sein, daß ich, ohne weiter einer Frist zu bedürfen, Ihren Antrag sogleich mit einem bestimmten und unwiderruflichen ‚Nein‘ beantworte.“

Herr Vergier beugte sich unter dieser entschiedenen Erklärung des jungen Mädchens zusammen, er schlug die Augen nieder und zwang sich zu einem freundlichen Lächeln.

„Verzeihung, Fräulein Luise!“ sagte er mit leiser Stimme, indem er dem jungen Mädchen näher trat und ihr die Hand reichte, welche sie nur leicht mit den Spitzen ihrer Finger berührte — „Verzeihung, ich habe mich hinreißen lassen von meinem Gefühl, aber gerade diese Bewegung sollte Ihnen zeigen wie tief dasselbe ist.“

Luise antwortete nicht, schlug die Arme übereinander und blickte unbeweglich in die Kaminglut.

Nach einigen Augenblicken tiefen Schweigens trat der Vater des jungen Mädchens, der Holzhändler Challier in den Salon. —

Herr Challier war ein Mann von sechszig Jahren, nicht hoch gewachsen, aber trotz seines Alters noch von schlanker und elastischer Gestalt; das kurze dichte Haar war durchweg grau und an den Schläfen wie über der Stirn zurückgestrichen, so daß das scharfgeschnittene, ausdrucksvolle Gesicht mit den lebhaft blickenden dunkeln Augen und den noch fast schwarzen Augenbrauen an jene alten Köpfe aus der Zeit des Puders erinnerte.

Der alte Herr begrüßte Herrn Vergier und seine Tochter, ohne die peinliche Gereiztheit zu bemerken, in welcher Beide sich befanden.

„Wir haben heute die Arbeit spät geschlossen,“ sagte er, „es sind so bedeutende Bestellungen von Seiten der Kriegsverwaltung gemacht, daß wir alle Hände voll zu thun haben um denselben zu genügen; nach diesen Vorbereitungen sollte man fast glauben, daß große Ereignisse bevorstehen, während doch die Zeitungen Nichts dergleichen vermuthen lassen und alle officiellen Kundgebungen nur die zuversichtlichsten Friedensversicherungen enthalten.“

„Ich glaube an diese Versicherungen wenig,“ sagte Herr Vergier, welcher sehr zufrieden damit zu sein schien, daß die Unterhaltung ein Gebiet berührte, das so weit von dem Gegenstande entfernt war, der so eben das Gespräch zwischen ihm und Fräulein Luise gebildet hatte — „wir haben es schon öfter erlebt, daß unmittelbar vor den großen Conflicten in allen Tonarten der Weltfriede verkündet wurde und mich machen so feierliche und so bei jeder Gelegenheit wiederholte Friedensversicherungen ein wenig mißtrauisch.

„Ich weiß, daß auch auf dem Gebiet meines Geschäfts neuerdings wieder große Bestellungen gemacht worden sind und die ganze industrielle Welt hat das Gefühl, daß in der schwülen Luft dieser Zeit ein großes erschütterndes Gewitter sich vorbereitet, und so sehr ich,“ fuhr er lebhafter fort, „als Industrieller den Frieden wünsche, so muß ich doch sagen, daß ich als Franzose mit tiefem Schmerz die passive Unthätigkeit empfinde, zu welcher die Regierung des Kaisers Frankreich verurtheilt und durch welche die Stellung unseres Landes in Europa immer schwerer erschüttert und immer tiefer untergraben wird.“

Der alte Challier schüttelte langsam den Kopf.

„Mir fehlt es wahrlich nicht an französischem Nationalgefühl,“ sagte er, „und gerade die Bürger von Saint-Dizier, zu denen meine Familie seit Jahrhunderten gehört, sind mit dem militairischen Ruhm Frankreichs eng verwachsen, aber ich sehe wahrlich nicht, daß und wie die Achtung gebietende Stellung unseres Landes bedroht wäre und ich glaube daß der Kaiser sehr wohl daran thut den kriegerischen Aufwallungen nicht nachzugeben, welche sich seit längerer Zeit so oft bemerkbar machen.

„Er hat Frankreich auf eine Höhe des Wohlstandes gebracht wie dieselbe kaum jemals früher vorhanden war; sein neues Wegesystem hat jeder Arbeit den sicheren und leichten Absatz verschafft und es wäre ohne die allergewichtigsten Ursachen geradezu ein Verbrechen unser so herrlich aufblühendes Land in die Gefahren eines großen Krieges zu stürzen. Die Nachwehen dieser mexikanischen Expedition, welche uns so viel Geld und Blut gekostet hat, sind kaum überwunden und ein neuer Krieg würde kaum zu verantworten sein.“

„Aber glauben Sie denn,“ rief Herr Vergier lebhaft, „daß der Kaiser sich auf die Dauer wird halten können, wenn er nicht durch einen glücklichen und siegreichen Krieg seiner Regierung ein neues nationales Fundament giebt? Man sagt ja, daß seine besten Freunde ihm zu solchem Kriege rathen. — Ich liebe das kaiserliche Regiment nicht — ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, daß ich in der Republik die einzige Regierungsform sehe, welche Frankreich dauernd zu Glück und fester Größe führen kann und ich würde ohne Bedauern den Zusammenbruch dieser willkürlichen Regierung ansehen, der wir jetzt unterworfen sind —“

„Sie thun Unrecht,“ fiel Herr Challier ernst und entschieden ein — „die Jugend liebt die Veränderung und glauben Sie mir, es ist wesentlich die Neigung zur Veränderung, welche die Gegner des Kaiserreichs erfüllt; ich bin kein unbedingter Bewunderer der Napoleonischen Herrschaft — die Traditionen unserer Stadt und unserer Gegend weisen uns vielmehr auf die alten legitimen Könige von Frankreich zurück, mit denen unsere Vorfahren in der großen Geschichte der Vorzeit so eng verbunden waren; aber ich erkenne an, daß das legitime Königthum für Frankreich abgeschlossen ist und daß in dem Kaiserreich die einzige Garantie für eine ordnungsmäßige gesicherte Entwickelung der nationalen Wohlfahrt liegt. Dem Kaiser Schwierigkeiten zu bereiten ist nach meiner aufrichtigsten Ueberzeugung ein Unrecht gegen Frankreich selbst, um so mehr nachdem der Kaiser sich jetzt mit liberalen Institutionen umgeben und Männer in seinen Rath berufen hat, welche das Vertrauen des Volkes besitzen.“

„Das Vertrauen des Volkes?“ rief Herr Vergier. „Besitzt dieser Herr Ollivier, welcher dem Portefeuille seine Ueberzeugung, die er früher so laut und emphatisch aussprach, Stück für Stück geopfert hat — besitzt dieser, täglich die Farbe wechselnde Minister das Vertrauen des Volkes? — Dieser Mann, der äußerlich den anspruchslosen und einfachen Bürger spielt und in seinem Herzen ein schlimmerer Höfling ist als die Satelliten der römischen Kaiser.“

„Nun,“ sagte Herr Challier das Gespräch abbrechend, „ich hoffe, daß die kriegerischen Befürchtungen auch diesmal unbegründet sein werden und daß man die steigende Wohlfahrt des Landes einem augenblicklichen militairischen Ruhm vorziehen wird.“

Er blickte auf seine Uhr.

„Ist unser Diner bereit?“ fragte er seine Tochter, welche fortwährend still in ihrem Stuhl gesessen hatte, ohne auf das Gespräch ihres Vaters mit Herrn Vergier zu achten.

Luise erhob sich.

„Sogleich,“ sagte sie, „Herr Cappei muß jeden Augenblick kommen; er hat versprochen heute bei uns zu essen,“ fügte sie hinzu, indem ihr Blick sich fast herausfordernd auf Herrn Vergier richtete, welcher die Lippen zusammenbiß und sich abwendete.

Die Thür öffnete sich und der junge Hannoveraner trat ein.

Herr Challier begrüßte ihn mit herzlicher Freundlichkeit; das junge Mädchen trat ihm entgegen, reichte ihm mit anmuthiger Bewegung die Hand und sprach, indem sie mit einem kalten, feindlichen Seitenblick Herrn Vergier streifte:

„Wir fürchteten schon, daß Sie nicht kommen würden und würden Ihre Abwesenheit sehr bedauert haben.“

Der junge Mann hielt Luisens Hand einige Augenblicke in der seinen, er machte eine unwillkürliche Bewegung, als wollte er diese Hand an seine Lippen führen — dann trat er zurück und begrüßte mit einer höflichen Verneigung Herrn Vergier.

Eine hübsche Dienerin in der zierlichen Tracht der französischen Landmädchen öffnete die Thür des anstoßenden Speisezimmers. Fräulein Luise, welche als die einzige Tochter ihres früh verwittweten Vaters dem Haushalte vorstand, trat hinein, warf einen letzten Blick über den einfach aber sauber und geschmackvoll gedeckten Tisch, in dessen Mitte eine kleine Schale mit frischen Blumen stand und kehrte dann zurück, um ihrem Vater zu sagen, daß Alles bereit sei.

Man setzte sich zu Tisch. Fräulein Luise machte mit der den Französinnen aller Stände so eigenthümlichen Anmuth die Honneurs, doch wollte sich der heitere Unterhaltungston, welcher sonst in diesem kleinen Kreis heimisch war, nicht recht finden. Es lag eine gedrückte Stimmung auf der Gesellschaft.

Der junge Cappei blickte sinnend und fast traurig vor sich nieder; Herr Vergier beobachtete mit scharfen spähenden Blicken den jungen Deutschen und Fräulein Luise schien mit besonderer Absichtlichkeit ihre ganze Aufmerksamkeit Herrn Cappei zuzuwenden. Sie legte ihm die Speisen vor, schenkte ihm Wein ein und begleitete alle diese kleinen Aufmerksamkeiten mit noch freundlicheren Blicken und Worten, indem sie dabei zuweilen mit dem Ausdruck von Trotz und höhnischer Herausforderung zu Herrn Vergier hinübersah.

Das Diner verlief schweigsam.

Der junge Deutsche bewies seinen Dank für die Aufmerksamkeiten seiner schönen Nachbarin mehr durch glückstrahlende Blicke als durch Worte.

Herr Vergier verbarg, so gut er konnte seine innere zornige Erregung und hörte mit gezwungenem Lächeln den scherzhaften Bemerkungen zu, durch welche Herr Challier, der eine angenehme Unterhaltung bei Tisch liebte, von Zeit zu Zeit die Conversation zu beleben suchte.

Man erhob sich endlich und kehrte in den kleinen durch eine einfache Lampe erleuchteten Salon zurück.

Herr Vergier empfahl sich bald unter dem Vorwande dringender Geschäfte, die er noch zu erledigen habe und Herr Challier zog sich zurück, um seiner Gewohnheit gemäß einen Augenblick „nachzudenken“, wie er sagte, das heißt in dem Lehnstuhl seines Cabinets einen kleinen Schlaf zu machen.

Als die jungen Leute allein geblieben waren, zog Cappei ein kleines Tabouret neben den Lehnstuhl vor den Camin, auf welchem das junge Mädchen sich wieder niedergelassen hatte, setzte sich an ihre Seite und ergriff zärtlich ihre Hand, die sie ihm reichte.

„Meine süße Luise,“ sagte er mit jenem fremden Accent, den die französische Sprache im Munde eines Deutschen immer annimmt, „ich fürchte, daß der Augenblick herannaht, in welchem wir uns auf eine vielleicht lange Zeit trennen müssen und ich bedarf der festen Zuversicht und des unerschütterlichen Vertrauens, daß Deine Liebe mir für alle Wechselfälle des Schicksals gesichert bleibt.“

„Kannst Du daran zweifeln?“ erwiderte Luise, indem sie sanft mit der Hand über sein Haar strich und ihn mit einem leuchtenden Blick ansah, „ich habe Muth und Festigkeit — ich stamme,“ fügte sie lächelnd hinzu, „von jenen alten Bragards von Saint-Dizier und wie jene die Sache ihres Königs und ihres Landes auf den Schlachtfeldern vertheidigten, so werde ich wenigstens ohne Zagen und Schwanken für meine Liebe einzustehen wissen. Der Kampf dafür,“ fuhr sie, ihn immer mit entzückten Blicken betrachtend fort, „wird übrigens nicht so schwer sein. Mein Vater ist Dir persönlich geneigt und hat eine tiefe Sympathie für die Sache Deines so ritterlichen unglücklichen Königs. — Er liebt mich und ich sehe nicht ein, was er unserer Verbindung entgegenstellen sollte —“

„Dein Vater,“ sagte Cappei ernst, „ist aber ein Mann des sichern, ruhigen Geschäftslebens und er wird und muß für die Zukunft seiner Tochter Garantieen verlangen, die ich in diesem Augenblick nicht zu geben im Stande bin — ich bin ein heimathloser Flüchtling —“

„Du hast Deine Heimath an meinem Herzen gefunden,“ rief Luise lebhaft, „genügt Dir diese Heimath nicht?“ —

Er küßte zärtlich ihre Hand und sagte mit innigem Ton:

„Das ist für mein Herz die schönste, die ich finden kann, die einzige, die ich suche, aber wir bedürfen auch des festen Bodens im wirklichen Leben und dieser fehlt mir in diesem Augenblick vielleicht mehr als je —“

„Doch,“ unterbrach sie ihn, „warum sprachst Du davon, daß wir uns trennen sollen? Glaubst Du,“ fuhr sie fort, „daß der Augenblick naht, in welchem Du für Deinen König zu Felde ziehen mußt? — Glaube mir, die Trennung wird mir tiefen Schmerz bereiten, aber ich werde Dich mit Stolz hinziehen sehen und meine Gebete werden Dich im Kampfe begleiten und Gott und die heilige Jungfrau, die ich stündlich anrufen werde, werden Dich mir erhalten — Deine Sache wird siegen und dann — dann wird unserm Glück Nichts mehr im Wege stehen.“

Er blickte düster vor sich hin.

„Wäre es so wie Du sagst,“ sprach er, „so würde ich mit froher Begeisterung und Hoffnung der Zukunft entgegensehen, aber leider fürchte ich, daß die Zukunft sich anders gestaltet. Ich höre, daß die Legion aufgelöst werden soll und dann werde ich gezwungen sein nach meiner Heimath zurückzukehren, unter die fremde Herrschaft, um mein kleines Erbe mir zu erhalten, die einzige Grundlage, auf welcher ich im Stande bin Dir eine Zukunft zu schaffen.“

„Das wäre traurig,“ sagte Luise — „doch warum willst Du in solchem Fall in Deine Heimath zurückkehren? Warum willst Du nicht hier bleiben und in unserm schönen Frankreich Dir ein neues Vaterland gewinnen? Mein Vater,“ fügte sie rasch hinzu, „ist wohlhabend genug, um uns eine Heimath zu gründen —“

„Nein!“ rief er sich stolz aufrichtend, „ich kann ein heimathloser Flüchtling sein, so lange ich einer großen Sache diene — der Sache des Königs, dem ich einst Treue geschworen habe; wenn diese Sache fällt, so kann ich nicht bittend vor Deinen Vater hintreten und mir von ihm eine Existenz schaffen lassen.

Ich muß dann den festen Fuß in meiner Heimath wiedergewinnen und wenn ich sie verlasse, wenn ich hierher zurückkehre, um dem Zuge meines Herzens zu folgen, so muß es offen und frei geschehen und ich muß auch ohne die Hülfe Deines Vaters im Stande sein, unserer Zukunft eine sichere Grundlage zu geben, möge dieselbe so bescheiden sein, wie sie wolle. Ich werde keine Mühe scheuen, um dies Ziel zu erreichen; das Einzige was ich von Dir erbitte ist, daß Du mir vertraust und auch während meiner Abwesenheit mir Deine Liebe bewahrst.“

Sie beugte sich zu ihm nieder, legte beide Arme um seine Schultern und blickte ihm tief in die Augen.

„Kannst Du daran zweifeln?“ sagte sie. „Was Du beschließest, was Du thun wirst, es wird das Rechte sein und keine Zeit, keine Abwesenheit wird jemals Dein Bild aus meinem Herzen reißen können. Man sagt, die deutschen Frauen seien fester und treuer in ihrer Liebe — ich will Dir beweisen, daß die feurigern Gefühle, welche das Herz der Französinnen bewegen, darum nicht minder treu und beständig sind.“

Sie lehnte ihr Haupt an seine Schulter und er drückte seine Lippen zärtlich auf ihr duftiges, glänzendes Haar! —

Rasche Tritte ertönten auf dem Vorplatz. Luise fuhr empor und lehnte sich in ihren Sessel zurück.

Cappei rückte das Tabouret einen Schritt seitwärts.

Der Unterofficier Rühlberg trat ein. Er begrüßte mit einer etwas steifen Verbeugung das junge Mädchen und sprach mit einer von innerer Erregung bewegten Stimme.

„Was wir befürchteten, geschieht. So eben als ich nach Hause kam fand ich einen Brief des Lieutenants von Mengersen vor, der mir anzeigt, daß in der nächsten Zeit eine Commission zur Auflösung der Legion hier eintreffen wird. Jedem Einzelnen sollen vierhundert Francs ausgezahlt und ihm die Freiheit gelassen werden, zu gehen wohin er will.

„Nun,“ rief er mit bitterm Tone, „ich weiß, wohin ich gehen werde, um auf meine alten Tage ruhig und frei zu leben; wir sind schon über Zweihundert, die wir uns verbunden haben, nach Algier zu gehen und Ihr thut Unrecht, Euch uns nicht anzuschließen — aber das kommt —“

Er warf einen schnellen Seitenblick auf das junge Mädchen, biß sich auf den Schnurrbart und schwieg.

„Die Entscheidung naht,“ sagte der junge Mann, ernst und traurig seine Geliebte anblickend.

„Und die Liebe und Treue wird sich bewähren,“ erwiderte diese leise.

„Ich bin gekommen, um Euch abzuholen,“ sagte der Unterofficier — „verzeihen Sie, mein Fräulein,“ schaltete er mit einer gewissen mürrischen Höflichkeit ein — „unsere Abtheilung ist bei mir beisammen und wir wollen ein wenig unter einander die Sache besprechen.“

Cappei stand auf, reichte Luise die Hand, bat sie, ihn bei ihrem Vater zu entschuldigen und verließ mit dem Unterofficier den Salon.

Das junge Mädchen blieb allein in tiefen Gedanken vor dem allmälig erlöschenden Kaminfeuer sitzen, sinnend blickte sie vor sich nieder; doch war es kein trauriger und trüber Ausdruck, der auf ihrem Gesicht lag, ihre Seele war muthig und stolz darauf, ihrem Geliebten auch unter schweren Verhältnissen die Treue bewahren zu können. Der Kampf mit den Verhältnissen des Lebens reizte sie und ihr hoffnungsvolles Herz hatte keinen Zweifel, daß Alles endlich sich zu glücklichem Ausgang fügen würde.


Zweites Capitel.


Eine trübe Februarsonne schien durch die halb geschlossenen Fenstervorhänge des Schlafzimmers des Kaisers Napoleon des Dritten in den Tuilerien.

Der Kaiser lag auf einer in der Mitte des Zimmers stehenden Chaiselongue, eingehüllt in einen weiten Schlafrock von leichter Seide, sein Kopf war zurückgelehnt auf ein rundes Kissen, seine Augen waren geschlossen und die bleichen Züge seines Gesichts trugen den Ausdruck tiefen Leidens; sein fast ganz ergrautes Haar hing unfrisirt an den Schläfen herab, der sonst so wohl gepflegte Bart war ungeordnet und der ganze Kopf, der sonst so ausdrucksvoll und lebendig erschien, erinnerte in seiner unbeweglichen Starrheit an eine Todtenmaske; die Hände des Kaisers waren ausgestreckt, die Fingerspitzen bewegten sich leicht in convulsivischen Zuckungen.

Zu den Füßen des Ruhebettes stand der Dr. Conneau, kaiserlicher Leibarzt und langjähriger Freund; sein von einem kurz geschnittenen schmalen Backenbart umrahmtes bleiches Gesicht mit der hoch hinauf kahlen Stirn und der stark vorspringenden Nase zeigte den Ausdruck theilnehmender Besorgniß und die tief liegenden, scharfblickenden Augen schauten mit gespannter Aufmerksamkeit auf seinen wie leblos da liegenden Souverain.

An einem Seitentisch in einiger Entfernung war der Doctor Nélaton beschäftigt einige elegant gearbeitete chirurgische Instrumente von Silber und Kautschuk in ein Etui von schwarzem Sammt einzupacken. Sein geistvolles, etwas kränkliches Gesicht war ernst und ruhig und wenn er auch zuweilen forschend nach dem Kaiser hinüber blickte, so schien er doch mehr mit der sorgfältigen Aufbewahrung seiner Instrumente als mit dem Zustande seines Patienten beschäftigt.

Dr. Conneau beugte sich über den Kaiser herab und ergriff dessen Hand, aufmerksam dem Pulsschlag folgend.

„Der Puls geht ruhig und gleichmäßig,“ sagte er sich zu Nélaton wendend; „es scheint nur eine Krise der Nerven zu sein; ich würde Sr. Majestät gern einige Tropfen Aethergeist einflößen.“

„Ich halte das nicht für nöthig“ erwiderte Dr. Nélaton. „Die Sondirung hat durchaus keine bedenklichen Symptome ergeben, Seine Majestät ist ungeheuer empfindlich für den Schmerz und eine augenblickliche Ruhe wird das Gleichgewicht der Kräfte sofort wieder herstellen. Ich überlasse den Kaiser Ihrer Sorgfalt,“ fügte er hinzu indem er sein Etui schloß, „und hoffe, daß er einige Zeit von weiteren Operationen wird verschont bleiben können, nur muß Seine Majestät in der nächsten Zeit es sorgfältig vermeiden zu Pferde zu steigen oder lange zu stehen.“

Er verließ mit leisen Schritten das Zimmer. — Dr. Conneau blieb ruhig an seinem Platz stehen, fortwährend das Gesicht des Kaisers beobachtend, auf welchem allmälig wieder eine etwas lebhaftere Farbe erschien.

Napoleon erhob die Hände langsam, faltete sie über der Brust zusammen, seine Lippen öffneten sich zu einem tiefen Athemzuge — dann schlug er die Augen auf und blickte wie verwundert im Zimmer umher.

„Ist Nélaton fort?“ fragte er. — „Was hat er gesagt? Werden diese entsetzlichen Qualen sich oft wiederholen müssen?“

„Nélaton ist vollkommen zufrieden und beruhigt, Sire,“ erwiederte Dr. Conneau, „und er hofft, daß Ew. Majestät für lange Zeit Ruhe haben werden; es sind durchaus keine bedenklichen Symptome vorhanden und ich hoffe durch innere Mittel sehr wirksam eingreifen zu können.“

„Oh, mein alter Freund,“ sagte der Kaiser mit traurigem Ton, „Sie glauben nicht wie sehr ich leide. Meine Natur kann eine einmalige gewaltsame Erschütterung leicht überwinden, aber diese fortwährenden kleinen Schmerzen zerrütten mein Nervensystem, untergraben meine Willenskraft und machen mich zuweilen vollständig unfähig zu denken und zu handeln.“

„Ich bitte Ew. Majestät inständigst,“ erwiderte Dr. Conneau, „sich in diesen so erklärlichen und natürlichen Gefühlen nicht gehen zu lassen. Ew. Majestät so reizbare Natur wird mehr als eine andre Organisation durch die Wiederholung kleiner und peinlicher beiden angegriffen; aber Ew. Majestät,“ sprach er ernst mit volltönender Stimme, „sind mehr als andere Menschen. Ew. Majestät großer Geist muß die kleinen beiden überwinden um die großen Aufgaben Ihrer Stellung erfüllen zu können und je mehr Ew. Majestät die Kraft Ihres Willens anstrengen, um so mehr werden jene kleinen Leiden sich vermindern, um so sicherer hoffe ich auf Ihre endliche, vollständige Wiederherstellung.“

Der Kaiser schüttelte langsam und traurig den Kopf. „Die großen Aufgaben meiner Stellung!“ sprach er mit matter Stimme — „das ist es ja eben, was mich so niederdrückt und lähmt — daß die Maschine den Dienst versagt, um das ausführen zu können was nothwendig geschehen muß; ja, daß sogar oft die Klarheit des Erkennens dessen was nothwendig ist mir schwindet. Wäre ich einer jener legitimen Könige, die ruhig auf ihrem Thron sitzen, die denselben sicher und unangefochten ihrem Nachfolger überlassen können — oh, dann würde ich ruhig alle diese Leiden und Schmerzen ertragen. Ich fürchte wahrlich den Tod nicht — fast möchte ich ihn zuweilen wünschen, denn die Genüsse und Freuden des Lebens sind für mich — beendet; aber, mein Gott,“ rief er händeringend, „ich darf ja nicht nur an mich und mein Leben denken, ich muß sorgen für die Zeit die nach mir kommt; ich muß meinem Sohn das Erbe sichern, für dessen Erwerbung mein großer Oheim seine Riesenkraft eingesetzt hat und für welches ich in mühsamer Arbeit die Tätigkeit meines ganzen Lebens angestrengt habe und nun gerade, da ich diese letzte Aufgabe meiner irdischen Laufbahn erfüllen will und erfüllen muß, geht mir die Kraft aus und wenn dieser elende Körper zusammenbricht, so wird das stolze Gebäude in Trümmer fallen, welches ich aufgerichtet und dieses Frankreich, das ich so sehr liebe, für das ich gestrebt und gearbeitet habe so lange Jahre hindurch, es wird wieder zurücksinken in unruhige Zerrüttung; Ohnmacht und Elend wird die Folge davon sein.“

„Aber, mein Gott, Sire,“ sagte Dr. Conneau, „warum diese schwarzen Gedanken? Die Macht des Kaiserreichs steht fest begründet im Innern und hoch geachtet nach Außen da. Es giebt vielleicht unter den alten legitimen Monarchieen so manche, welche nicht auf so sichern und unerschütterlichen Fundamenten ruht als der Thron Ew. Majestät und wenn der kaiserliche Prinz — was Gott noch lange verhüten möge, dereinst berufen sein wird jenen Thron zu besteigen, so wird er ein nach allen Richtungen hin vollendetes, großartiges Werk vorfinden, dessen natürliche Weiterentwickelung er nur fortsetzen und leiten darf. Ew. Majestät Werk ist wahrlich größer als das Ihres Oheims, denn die Schöpfungen jenes Riesengeistes stützten sich doch immer nur auf die Spitze seines Degens, während Ew. Majestät Bau breit und ruhig auf der Wohlfahrt des ganzen Volkes ruht.“

Der Kaiser schüttelte abermals den Kopf.

„Auch Sie, mein alter Freund,“ sagte er, „täuscht der Schein — oder Sie wollen mich beruhigen und mir das Vertrauen auf die Zukunft wiedergeben, das ich immer mehr verliere.

„Ich selbst,“ sagte er nach einem tiefen Athemzuge, indem es wie leichte Nachwehen nervöser Schmerzen über sein Gesicht zuckte — „ich selbst kann besser wie jeder Andere die Schwächen dieses Kaiserreichs erkennen, das ich selbst erbaut und so lange Zeit aufrecht erhalten habe.

„Fest begründet im Innern, sagen Sie, stehe mein Reich da? — Und dennoch wogt und gährt es in dieser so leicht beweglichen Pariser Bevölkerung — ich kenne sie genau die Vorzeichen der revolutionairen Stürme und ich sehe sie deutlich in der heutigen Bewegung des öffentlichen Lebens.“

Dr. Conneau lächelte.

„Ew. Majestät überschätzen diese kleine Bewegung,“ sagte er. „Die stets unruhige Bevölkerung des Faubourg St. Antoine bedarf von Zeit zu Zeit solcher leichter Emotionen, aber unter einer so starken Regierung wie diejenige Ew. Majestät ist hat das nichts zu bedeuten. Die große Masse der Bevölkerung Frankreichs, namentlich die ländlichen Grundbesitzer hängen an Ew. Majestät und empfinden dankbar die Segnungen, welche Ihre Regierung ihnen gebracht hat. Dank der Ordnung, Ruhe und Sicherheit des öffentlichen Verkehrs, Dank dem neuen Wegesystem, das Ew. Majestät geschaffen und das jedem Grundbesitzer die Möglichkeit der reichsten Verwerthung seiner Producte sichert, steht Frankreich auf einer Höhe des Wohlstandes wie nie zuvor und einige unruhige Köpfe in Paris werden niemals die Macht haben, die tiefe Anhänglichkeit des ganzen Volkes an Ew. Majestät und Ihre Dynastie zu erschüttern.“

„Sie kennen Frankreich nicht wie ich,“ sagte der Kaiser traurig — „ich weiß wie Sie, daß das Volk im ganzen Lande mir dankbar ist und daß aus dem Lande selbst niemals eine Bewegung gegen das Kaiserreich hervorgehen wird; aber die Centralisation in diesem Lande hat eine unbesiegbare Gewalt — eine unvernünftige Gewalt, wenn Sie wollen, doch die Gewalt ist da und ich sage Ihnen, bei irgend einem Unglück, bei irgend einer Schwäche der Regierung — bei meinem Tode vielleicht,“ fügte er seufzend hinzu, „wird immer eine Hand voll Nichts bedeutender Menschen, denen es gelingt Paris zu terrorisiren, die Macht haben eine Regierung zu stürzen, welche die Sympathieen des ganzen Landes besitzt und dieses so ganze reiche, so arbeitsame, so geistvolle Frankreich wird den Thorheiten folgen, zu denen man Paris zu verleiten im Stande sein möchte. —

„Und nach Außen,“ fuhr er fort, fast mehr noch zu sich selbst als zu Conneau sprechend — „hat man in Europa noch Achtung, hat man noch Furcht vor Frankreich? Wohin richten sich die Blicke der Cabinette? Ich fühle es heraus aus den Berichten aller meiner Gesandten, man sieht nach Berlin und die Zeit ist vorbei, in der ich mit einem Worte Europa bewegen konnte.

„Niel ist todt,“ sagte er mit dumpfem Ton — „Alle sind todt, die mich einst auf der Höhe der Macht und des Einflusses umgaben — Morny, Walewsky — selbst Felix und mein treuer Nero — ich bin allein.

„Ich habe nur noch Sie,“ sagte er mit einem unendlich innigen Blick auf den Dr. Conneau, indem er ihm mit einer matten Bewegung die Hand reichte; „aber Sie, mein braver und treuer Freund, Sie können mir nicht helfen; das Getriebe der Politik liegt Ihnen fern — Sie könnten mir nur helfen, wenn Sie dieser alten gebrechlichen Maschine neues Leben einzuflößen vermöchten.

„Oh,“ rief er, indem ein Blitz aus seinem Auge sprühte, „ich wollte allein all diesen Schwierigkeiten entgegentreten, über sie alle Herr werden, wenn ich nur auf wenige Jahre meinen Nerven und meinen Muskeln die Kraft der Jugend wiedergeben könnte. — Le Boeuf,“ fuhr er nach einer augenblicklichen Pause fort, „er ist der Schüler von Niel, er hat ihm nahe gestanden, er ist das Werkzeug zur Ausführung seiner Ideen gewesen — aber er ist kein Niel und der Schüler kann den Meister nicht fortsetzen. —

„Ich habe den Augenblick verloren und dem Augenblick gehört das Schicksal; ich fürchte, ich fürchte, mein treuer Conneau, der Augenblick kommt nicht wieder und mein Stern, den ich einst so hell leuchtend über meinem Haupt erblickte, er hat sich in trübe, trübe Wolken verhüllt.

„Vielleicht,“ fuhr er immer seinen Gedanken folgend fort — „habe ich einen Fehler begangen dadurch, daß ich eine Dynastie gründen wollte. Vielleicht ist eine dynastische Monarchie Frankreichs in unserm Jahrhundert nicht mehr möglich; vielleicht stände ich größer und sicherer da, wenn ich mich hätte entschließen können nur der Cäsar zu sein, der an keinen Nachfolger denkt, der sich identificirt mit der pulsirenden Bewegung des Volkslebens und dessen Geschichte mit seinem Tode aufhört.

„Das ist der Ursprung meiner Herrschaft — und man sagt, die Regierungen fallen, die sich von den Principien ihres Ursprungs entfernen.

„Ist mein Oheim nicht gefallen, weil er aufhörte Cäsar zu sein und weil er der Begründer einer neuen dynastischen Legitimität werden wollte?

„Aber, mein Gott,“ rief er die Hände über der Brust faltend, indem ein unendlich weicher Ausdruck auf seinen Zügen erschien — „mein Gott, ich habe einen Sohn und ich liebe diesen Sohn — ich liebe ihn sehr, Conneau und mag es ein Fehler sein oder nicht — meine ganzen Gedanken, meine ganze Arbeit gehören der Zukunft, gehören meinem Sohn.“

In tiefer Bewegung trat Dr. Conneau an das Lager des Kaisers, ergriff dessen Hand und führte sie an seine Lippen.

„Diese Arbeit wird ihre Frucht tragen, Sire,“ sagte er mit zitternder Stimme — „ich wollte, es wäre mir vergönnt mein Leben für Sie und für den kaiserlichen Prinzen hinzugeben.“ —

„Geben Sie mir lieber,“ sagte Napoleon sanft lächelnd, „durch Ihre Kunst die wahre Kraft des Lebens wieder, dann werden Sie Frankreich, mir und meinem Sohn den höchsten Dienst leisten.“

Conneau trat zur Seite, ergriff ein kleines Fläschchen von geschliffenem Crystall, das auf einem Tisch am Fenster stand und mischte einige Tropfen der hellen Flüssigkeit, welche dasselbe enthielt, mit einem Glase Wasser.

„Ich bitte Ew. Majestät dies zu trinken,“ sagte er dem Kaiser das Glas reichend; „ich hoffe damit wenigstens einen Theil der Aufgabe zu erfüllen, welche Sie mir bezeichnen; dieses Getränk wird Ew. Majestät die Nervenkrise überwinden helfen, welche Nélatons Sondirung hervorgerufen hatte.“

Der Kaiser leerte langsam das Glas, dessen Inhalt eine grüne opalisirende Farbe angenommen hatte. Die nervöse Spannung seiner Gesichtszüge verschwand, seine mattgelbliche Haut nahm eine röthere Färbung an und um seine Lippen legte sich jener Zug wohlwollender Freundlichkeit, welcher ihm in der Unterhaltung eigenthümlich war und der auf Jeden, der mit ihm, sprach seinen Zauber ausübte.

Er stand langsam auf.

„Ich danke Ihnen, Conneau,“ sagte er, „das hat mir wohlgethan. Wollte Gott, Sie könnten die Wirkung dieses Elixirs dauernd machen; leider wird der Schmerz und die Schwäche bald wieder meine Nerven zur alten Unfähigkeit herabstimmen.“

„Nicht so leicht,“ erwiderte Dr. Conneau, „wenn die Willenskraft meinem Elixir zu Hülfe kommt; der menschliche Willen ist ein mächtiger Factor und selbst der kranke Körper gehorcht seinem Befehl.“

„Der Willen?“ sagte der Kaiser schmerzlich lächelnd — „um zu wollen, dazu gehört Kraft und um die Kraft zu entwickeln gehört Willen; wo ist der Anfang dieses Kreises, in welchem sich der leidende Mensch traurig herumbewegt? — Doch,“ fuhr er fort, „für den Augenblick habe ich den Willen und ich will ihn benutzen zu klarem Einblick in die Verhältnisse, denn das ist die erste Quelle aller guten Entschlüsse.“

Er reichte Conneau die Hand, — der Arzt führte dieselbe an seine Lippen und verließ das Schlafgemach seines Herrn.

Der Kaiser klingelte.

„Es ist nicht mehr mein treuer Felix,“ sprach er seufzend, „der alle Wechselfälle des Lebens mit mir getheilt hat und dessen Erscheinung mir eine so liebe Gewohnheit geworden war.“

Der Kammerdiener trat ein und Napoleon machte mit aller Sorgfalt seine Toilette, nach deren Vollendung aus seinen Zügen und seiner Haltung die Spuren der Schmerzen und der Erschöpfung fast ganz verschwanden; nur sein schwankender, unsicherer und in den Hüften wiegender Gang zeugte von seiner gebrochenen Kraft.

„Ist Herr Duvernois da?“ fragte er mit einem letzten Blick in den Spiegel.

„Zu Befehl, Sire.“

„Man soll ihn eintreten lassen,“ sagte Napoleon, indem er in sein Cabinet trat, das sorgfältig gelüftet, von einem hellen Kaminfeuer erwärmt und mit dem leichten Duft von eau de Lavande durchzogen war. Wer den Kaiser hier sah, hätte sich unmöglich von dem leidenden, ganz gebrochenen Manne ein Bild machen können, der noch kurz vorher unter den Händen der Aerzte seufzte und der gequält von den Leiden des Körpers den Glauben an die Zukunft und das Vertrauen auf sich selbst verloren hatte.

Napoleon trat heiter lächelnd, den Blick halb unter seinen Augenlidern verborgen, dem Journalisten Clément Duvernois entgegen, dem soeben der Huissier die Thür des Cabinets geöffnet hatte.

Herr Duvernois, der seine publicistische Laufbahn in Algier begonnen, früher lebhafte Opposition gemacht, und endlich damit geendet hatte, aus wirklicher und aufrichtiger Ueberzeugung ein begeisterter Anhänger des Kaisers zu sein, war damals etwa fünf und dreißig bis vierzig Jahr alt. Seine nicht hohe und nicht schlanke Figur, hatte Etwas von jener leicht gerundeten Corpulenz, welche die Königin von Dänemark für Hamlet in seinem Kampf mit Laërtes fürchten läßt. Sein etwas großer Kopf war mit langem blonden Haar bedeckt, das die Stirne ziemlich weit hinauf kahl ließ, — die Züge seines bleichen Gesichts waren scharf geschnitten und entsprachen in ihrem lebhaft bewegten Ausdruck nicht ganz dem wesentlich phlegmatischen Typus seiner Figur. Seine Augen, obgleich hell und beim ersten Anblick nicht besonders tief erscheinend, erleuchteten sich während der Unterhaltung und ihre leicht blaugraue Farbe schien dann wie von einer dunkeln Gluth durchschimmert.

Herr Duvernois ging ohne jene elegante Leichtigkeit des Hofmannes, doch völlig ungezwungen auf den Kaiser zu, ergriff ehrerbietig die Hand, welche dieser ihm entgegenstreckte und verneigte sich tief.

„Nun mein lieber Duvernois,“ sagte Napoleon mit freundlicher Herzlichkeit, „— wie geht es Ihnen, — ich habe Sie bitten lassen zu mir zu kommen, weil die Zeit wieder ernst zu werden beginnt, — es gährt und bewegt sich in den Tiefen und ich werde von allen Seiten mit so vielem Rath überschüttet, — daß es mir wirklich Bedürfniß ist, auch die Meinung Derjenigen zu hören, welche meine wahren Freunde sind.“

„Es sind leider nicht Alle Ihre Freunde, Sire, welche sagen es zu sein,“ erwiderte Clément Duvernois mit einer Stimme ohne harmonischen Wohllaut, aber mit scharf und klar accentuirtem Ton, — „fast möchte ich sagen — ich bin der ergebene Diener Eurer Majestät, obgleich ich es laut ausspreche.“

„Und gehören Sie auch zu Denen,“ fragte Napoleon, „welche meinen, daß diese Bewegung in den Massen Nichts zu bedeuten habe, daß man nur ruhig abwarten dürfe, bis sie sich völlig wieder verläuft? — Sie haben es gelernt,“ fuhr er fort, „die öffentliche Stimmung zu verstehn, Sie haben den klaren Blick, den die Höhe nicht blendet, — und der vor den Tiefen des Abgrundes nicht zurückschaudert, — was sehen Sie auf der Höhe, — was sehen Sie in den Tiefen, — sprechen Sie frei und offen — Sie wissen, daß ich zu hören und zu lernen verstehe,“ fügte er mit freundlichem Lächeln und einer leichten artigen Neigung des Kopfes hinzu.

„Ich habe Eurer Majestät,“ erwiderte Clément Duvernois, „meine Ergebenheit stets dadurch bewiesen, daß ich vor Ihrem Angesicht den Kaiser vergaß und nur den großen und geistvollen Mann sah, dem Niemand einen größeren Dienst leisten kann als durch das Aussprechen seiner wahren und unverhüllten Ueberzeugung, — diese Ergebenheit werde ich Eurer Majestät auch heute beweisen, denn mehr als je thut heute die Wahrheit Noth und je mehr Jeder aus seinem Gesichtskreise heraus die Wahrheit spricht, um so leichter wird es dem freien Blick Eurer Majestät werden das wirklich Richtige zu erkennen.“

„Sie halten also die Situation für ernst?“ fragte der Kaiser, indem er sich seufzend in einen Fauteuil niedersinken ließ und Herrn Duvernois einen Sessel neben sich bezeichnete.

Clément Duvernois stützte die Hand leicht auf die Lehne dieses Sessels, blieb vor dem Kaiser stehen und sprach, ohne direct auf die an ihn gerichtete Frage zu antworten:

„Eure Majestät haben mir das schmeichelhafte und ehrenvolle Zeugniß gegeben, daß mein Blick gewöhnt sei, in die Tiefen hinab wie zu den Höhen hinauf zu blicken, — nun wohl, Sire, — ich habe nach beiden Richtungen scharf beobachtet — und werde Eurer Majestät frei sagen, was ich gesehen.“

Der Kaiser lehnte den Kopf auf die eine Schulter herüber, stützte den Arm auf sein Knie und hörte so, mit der Spitze seines Schnurrbartes spielend, aufmerksam zu.

„In den Tiefen, Sire,“ sagte Clément Duvernois, „sehe ich die finstern Dämonen, welche die mächtige Hand Eurer Majestät lange Zeit gefesselt hielt, einen Kampf auf Leben und Tod vorbereiten, — da sie fühlen, daß der Griff der kaiserlichen Hand nicht mehr dieselbe Festigkeit hat wie früher.“

Der Kaiser seufzte tief auf. Es schien, als wolle er sprechen, — doch blieb er schweigend und forderte Duvernois, der einen Augenblick inne gehalten, durch einen Wink auf fortzufahren.

„Die friedlichen Bürger, Sire,“ sprach der geistvolle Publicist weiter, „wissen nicht, was an jedem Abend in Paris geschieht, diese friedlichen Bürger schlafen ruhig im Vertrauen auf die Fürsorge und Kraft der Regierung, während der Boden, auf dem ihr Haus steht, unterhöhlt wird. Auf der Oberfläche scheint Alles ruhig, — die Repräsentanten der Nation berathen über die wichtigsten Interessen des Landes, die Minister suchen gut zu verwalten, die Geschäfte erholen sich und die ehrliche Arbeit freut sich der Ruhe und Ordnung.

„Was aber, Sire,“ fuhr er mit erhöhter Stimme fort, — „was birgt die Tiefe unter dieser Oberfläche des Friedens und Gedeihens? Täglich versammeln sich vier bis fünftausend Individuen — Feinde des Besitzes, Feinde der Arbeit, Feinde jeder Gesellschaftsordnung, welche die Thätigkeit zur Bedingung des Lebensgenusses macht — diese Individuen versammeln sich unter dem Vorsitze von Deputirten der äußersten Linken, — von Deputirten, die dem Kaiser und der Nation ihren Eid geschworen; sie mißbrauchen das Versammlungsrecht, das so liberal gegeben worden und überlassen sich den maßlosesten Ausschreitungen. Diese Leute führen die verleumderischsten Schimpfreden, reizen sich gegenseitig auf und verbrechen sich untereinander das Kaiserreich durch Gewalt umzustürzen, den Staat überhaupt und die Gesellschaft zu zerstören.

„Eure Majestät mögen mir erlauben, einige Worte aus den Reden zu citiren, welche man dort hält und welche Ihre Polizei sich vielleicht scheuen möchte, Ihnen zu wiederholen. Flourens hat gestern auf der Tribüne dieser wüsten Versammlung gerufen: ‚wir wollen keine Banditen, keine Mörder mehr, mögen sie aus Corsika oder anders woher kommen; wir wollen keine Retter der Gesellschaft mehr, welche ein Stück Speck am Hute tragen.‘“

Der Kaiser neigte den Kopf noch tiefer — sein Blick verhüllte sich völlig unter den Augenlidern.

„Flourens,“ fuhr Herr Duvernois fort, „sprach dann von den Vorgängen in Creusot und rief: ‚es wird so nicht lange weiter gehen, binnen kurzer Zeit werden wir alle diese Elenden zum Teufel jagen, welche durch ihren zusammengeschacherten Besitz die freien Arbeiter zu Sclaven machen wollen.‘ Doch es geht noch weiter; beim Bankett von St. Mandé, Sire, hat man auf die Kugel getrunken, welche das Staatsoberhaupt treffen würde.“

Der Kaiser hob den Kopf, blickte Duvernois groß und klar an und sprach mit ruhigem Lächeln:

„Wenn diese Kugel gegossen ist, mein lieber Duvernois, so wird sie mich treffen und wenn Alles in der tiefsten Ruhe wäre. Hat das Schicksal sie mir nicht bestimmt — so wird der Toast einiger Wahnwitzigen meinem Leben keine Gefahr bringen.“

„Ich weiß,“ erwiderte Duvernois, „daß Eure Majestät keine Gefahr scheut und es ist nicht um Eure Majestät vor einem Attentat zu warnen, daß ich erzähle, was man dort gesprochen hat — Diejenigen, welche so laut reden, sind keine Ravaillacs. Für heute und morgen, Sire, haben noch alle diese Bewegungen keine gefährliche Bedeutung; das Alles sind nur Versuche, was man wagen, wie weit man gehen kann. Wenn man aber fühlt, daß man ungestraft die Zerstörung der Gesellschaft predigen darf, so wird man weiter und weiter gehen und die große Masse der ruhigen Bürger wird, wie das bei allen Revolutionen der Fall ist, dem Terrorismus weniger Verbrecher verfallen, wenn nicht noch zur rechten Zeit die starke Hand der Regierung schützend in diese gefährliche Bewegung eingreift.“

„Und diesem finstern Bilde auf dem Grunde der Gesellschaft gegenüber,“ fragte der Kaiser, indem sein Blick forschend auf dem lebhaft bewegten Gesicht Duvernois' ruhte — „was haben Sie auf den Höhen gesehen?“

Clément Duvernois schwieg einen Augenblick.

Er sah nachdenkend zu Boden und schlug dann das großgeöffnete, dunkelglühende Auge zum Kaiser auf.

„Auf der Höhe,“ sprach er dann mit tief eindringender Stimme, „sehe ich, Sire, einen großen Fürsten, der durch mächtige und edle Arbeit seiner Nation Macht und Wohlstand geschaffen hat, der in großherzigem Vertrauen nicht daran zu glauben vermag, daß diese Nation für so viele Wohltaten undankbar sein könnte, dessen Gedanken erfüllt sind von dem Streben auch über seinen Tod hinaus, den er mit kaltblütigem Heldenmuth in's Auge faßt, seinem Volk das Glück zu sichern, welches seine Regierung geschaffen hat; einen Fürsten, der sich anschickt, dem von ihm aufgerichteten Gebäude die Krone der letzten Vollendung zu geben — der aber —“

„Der aber?“ fragte der Kaiser, den Kopf noch höher erhebend und mit gespannter Erwartung aufblickend.

„Der aber,“ fuhr Duvernois ruhig und ernst fort, „mit der Krönung des Baues beschäftigt, vergißt die Fundamente desselben gegen die finstern Gewalten zu schützen, welche dieselben langsam und systematisch untergraben.“

„Ich vergesse das nicht,“ sagte Napoleon, „im Gegentheil arbeite ich daran, diesen Fundamenten, welche bisher auf dem einzigen Pfeiler meines persönlichen Willens und meiner persönlichen Kraft ruhten die breite und sichere Grundlage von Institutionen zu geben, durch welche die besten und edelsten Kräfte des Landes um den Thron meines Nachfolgers vereinigt werden sollen. Diese Institutionen sollen stärker sein als die persönliche Macht des Souverains, so daß, wenn auch ein kaum der Kindheit entwachsener Knabe der Erbe meiner Regierung wird, Frankreich ruhig und unerschüttert wie in den vergangenen Tagen seiner alten Könige rufen kann: Der Kaiser ist todt — es lebe der Kaiser.“

„Die edle Absicht Eurer Majestät,“ erwiderte Clément Duvernois, „erkenne ich klar; ich erkenne nicht minder die hohe Weisheit, welche Ihre Entschlüsse dictirt hat und die Institutionen, welche Sie geschaffen, würden vollkommen geeignet sein das zu erreichen, was Eure Majestät bezwecken will, wenn — diese Institutionen und ihre Ausführung in anderen Händen lägen.“

Ein Zug von düsterm Unmuth erschien auf dem Gesicht des Kaisers; er ließ den Kopf auf die Brust sinken und sprach mit dumpfem Ton:

„Und in wessen Hände sollte ich diese Institutionen legen? Wo sind die treuen Freunde, denen ich unbedingtes Vertrauen schenken kann? — Diejenigen, welche mit mir emporgestiegen waren, Diejenigen, welche mit mir die Zeit des Unglücks und Leidens getheilt hatten — sie sind todt. — Eine neue Zeit steigt um mich herauf, wie schwer ist es, eine Wahl zu treffen unter allen Denen, die ich nur als Höflinge des Kaisers aber nicht als Gefährten des Verbannten kennen gelernt habe.“

Er versank einen Augenblick in düsteres Schweigen.

„Doch,“ sprach er dann, sich lebhaft emporrichtend, „sprechen Sie offen, Sie wissen, ich glaube an Ihre Aufrichtigkeit; haben Sie Grund den Männern zu mißtrauen, welche ich gegenwärtig in meinen Rath berufen habe, und welche, wie man mir allgemein sagt, das Vertrauen des Landes besitzen?“

„Mißtrauen?“ sagte Clément Duvernois ein wenig zögernd, „ist ein hartes und schweres Wort; es enthält eine Anklage, die ich gegen Eurer Majestät Minister auszusprechen nicht unternehmen möchte. Erlauben mir Eure Majestät zunächst von den Personen abzusehen und ganz allgemein zu sprechen.

„Ich sehe vor mir — und ich sehe von unten herauf wo Eure Majestät nur von oben herab blicken — ich sehe vor mir die eigenthümliche Thatsache, daß die Macht der kaiserlichen Regierung sich in den Händen des dem Kaiserreich feindlichsten Princips befindet — in den Händen des Orleanismus —“

„Sie glauben,“ fuhr der Kaiser heftig auf, „daß Graf Daru, daß Buffet mich verrathen könnten — daß sie mit den Orléans conspiriren?“

„Nein, Sire,“ antwortete Clément Duvernois, „das glaube ich nicht. Graf Daru ist ein Ehrenmann und auch Herrn Buffet halte ich dafür; aber, Sire, diese Männer, die gewiß, nachdem sie Eurer Majestät Portefeuille angenommen haben, das Wohl des Kaiserreichs ernstlich erstreben, leben und denken in den Doctrinen des Orleanismus, daß heißt der constitutionellen Theorie, welche das Schattenbild parlamentarischer Repräsentation an die Stelle des wirklichen und eigentlichen Volkslebens setzt und am letzten Ende der Kette, welche sich durch diese Doctrinen Glied für Glied bis in das Cabinet Eurer Majestät fortsetzt, befindet sich die lenkende und leitende Hand der orleanistischen Conspiration. Ohne es zu wollen, ohne klar darüber zu denken, werden Eurer Majestät Minister von dieser Kette geleitet; blicken Eure Majestät um sich, die Männer der orleanistischen Doctrinen herrschen auf allen Gebieten des französischen Staatslebens und unter den Anhängern der Doctrinen befinden sich jedenfalls auch Anhänger der Personen. Die Partei des Umsturzes begreift vollkommen den Nutzen, den sie aus solchen Zuständen zieht.

„Eure Majestät kennen die Verbindung Rocheforts mit der orleanistischen Propaganda; — nicht daß diese Leute jemals das Königthum Louis Philippe's wieder herstellen wollten, aber sie benutzen die Agenten jenes Princips als ihre Vorkämpfer. Wenn es so weiter geht wie es bis jetzt gegangen ist, Sire, so wird ein Moment kommen, in welchem die ganze Macht der Regierung in den Händen der Orleanisten ruht und wenn dann von unten her ein mächtiger Stoß gegen die Staatsautorität gewagt wird, so kann es kommen — nach meiner Ueberzeugung wird es kommen, daß die Maschine den Dienst versagt und daß Eure Majestät auf Ihrer Höhe einsam und allein dastehen werden.

„Ich habe diese Frage,“ fuhr er fort, „eingehend studirt; die Macht der Orleans ist groß, weit verzweigt und geschickt geleitet; es giebt keinen Ort in Frankreich, in welchem nicht ein Agent dieser Sache sich befindet. Zum großen Theil sind diese Agenten Besitzer von Buchdruckereien oder Buchhändler und sie versäumen keine Gelegenheit, das Vertrauen auf das Kaiserreich zu erschüttern.“

Der Kaiser stand auf — in zorniger Erregung zitterte sein Gesicht.

„Was wollen sie,“ rief er, „diese Orleans, die fortwährend dahin gestrebt haben die bestehenden Gewalten zu stürzen, und die es nie verstanden haben sich die Herrschaft zu erhalten? — Glauben sie mit ihren schwächlichen Intriguen dieses Frankreich regieren zu können, das einer eisernen Hand unter einem Handschuh von Sammet bedarf?“

„Gewiß würden sie nicht fähig sein,“ erwiderte Duvernois, „die Herrschaft fest zu halten, wenn sie je wieder in ihre Hände gelangen sollte, aber gewiß auch sind sie nicht geeignet, die kaiserliche Regierung gegen die Angriffe zu vertheidigen, welche von unten herauf gegen dieselbe gerichtet werden und — verzeihen Eure Majestät meine Offenheit — in diesem Augenblick liegen fast alle Vertheidigungsmittel des Kaiserreichs in den orleanistischen Händen und schon erhebt sich an den Grenzen Frankreichs die Candidatur Montpensiers — sollte dieselbe reüssiren, so werden mit veränderten Personen und unter veränderten Umständen die Zeiten der Beschwörung von Cellamare sich wiederholen.“

Der Kaiser setzte sich wieder in seinen Lehnstuhl und blickte finster vor sich nieder.

Dann schlug er die Augen groß auf und sah Clément Duvernois mit einem so brennenden und forschenden Blick an, als wolle er in den Tiefen seiner Seele lesen.

„Und was kann ich thun?“ fragte er. „Was müßte nach Ihrer Ueberzeugung geschehen, um einer solchen Beschwörung vorzubeugen und um den Schwerpunkt der Regierung wieder in meine Hände — in die Hände meiner Freunde zu legen?“

„Nach meiner Meinung,“ erwiderte Duvernois, „ist der Weg dazu einfach. Wie die Personen dem Princip des Orleanismus folgend in die Regierung eingetreten sind, so wird dieselbe sich wieder vollständig nach dem Willen Eurer Majestät bilden, anstatt der geschiedenen Freunde werden neue erstehen, sobald das Grundprincip des Kaiserreichs wieder zu kräftiger Geltung kommt und zum Schwerpunkt der Regierung wird.

„Ich meine damit,“ fuhr er fort, als der Kaiser ihn fragend ansah, „daß in diesem Augenblick das System des constitutionellen Doctrinarismus in Eurer Majestät Regierung maßgebend ist; die Minister halten mit den Rednern der Kammer dialektische Uebungen; studiren Gesetzesparagraphen und deren Amendements und vergessen darüber, daß es außerhalb der Cabinette und außerhalb der Sitzungssäle der Kammern ein Volk giebt, — ein Volk, welches lebt und athmet, welches nicht aus Marionetten besteht und welches schließlich eine sehr laute Stimme und sehr kräftige Arme hat, um, wenn es die Geduld verliert, alle diese Kammerredner zu überschreien und eine Regierung, welche die Fühlung mit ihm verloren hat, zu zertrümmern. Wie unter der Regierung Louis Philippe's die ganze Geschichte Frankreichs sich zusammenfaßte in das constitutionelle Schaukelspiel zwischen Thiers und Guizot, wie endlich diese künstliche Maschinerie unter dem ersten Hauch einer ernsten Volksbewegung in Atome zerfiel, so läuft Eurer Majestät Regierung jetzt Gefahr, sich von dem Boden des realen Volkslebens loszulösen.

„Das Kaiserreich steht,“ fuhr er immer ernster und lebhafter fort, während Napoleon mit der gespanntesten Aufmerksamkeit zuhörte — „das Kaiserreich steht auf dem Boden des allgemeinen Volkswillens, das ist Napoleonischer Boden; lassen sich Eure Majestät nicht hinüberlocken auf den Boden des Parlamentarismus, denn jener Boden gehört der orleanistischen Agitation.

„Wenn Eure Majestät,“ sprach er nach einer kurzen Pause weiter, „sich fest und entschlossen wieder auf das Princip der Entstehung Ihrer Regierung und Ihrer Dynastie stellen, so werden mit den falschen Grundsätzen, die jetzt die Autorität zersetzen, zugleich auch die Personen verschwinden, welche von diesen Grundsätzen emporgetragen wurden; gerade auf diesem Gebiet können Eure Majestät die Probe machen, ob Diejenigen, welche Sie in Ihren Rath berufen haben, wirklich feste und unerschütterlich treue Diener des Kaiserthums und der Napoleonischen Dynastie sind.“

„Ich verstehe vollkommen,“ sagte der Kaiser, „und finde in Ihren Gedanken Vieles was mit meinen Ideen übereinstimmt; doch möchte ich Sie bitten mir auch Ihre Meinung zu sagen über die Art und Weise, wie Sie glauben daß Ihre principiellen Anschauungen practisch ausgeführt werden können.

„Sie haben so tief und eingehend über den Kern der Fragen nachgedacht, welche die augenblickliche Situation bestimmen, daß ich überzeugt bin, Sie werden auch bereits die Mittel erwogen haben, durch welche Sie jene Fragen lösen zu können glauben.“

„Gewiß,“ erwiderte Clément Duvernois, „habe ich auch darüber meine Gedanken zu ordnen versucht und ich glaube, daß auf eine einfache Weise Eure Majestät alle Unklarheiten der augenblicklichen Situation beseitigen können. Der Fehler dieser Situation,“ fuhr er fort, während der Kaiser sich vorbeugte und mit gespannter Aufmerksamkeit zuhörte — „der Fehler dieser Situation liegt darin, daß der Schwerpunkt des ganzen politischen Lebens allmälig ausschließlich in die parlamentarischen Körperschaften und in die Debatten der Kammern verlegt worden ist; nach meiner Ueberzeugung müssen Eure Majestät diesen Schwerpunkt wieder dahin zurückverlegen, wo die wahre Macht sich befindet und wo die kaiserliche Regierung und die kaiserliche Dynastie ihre einzig wahre und dauernde Stütze finden kann, in das Volk selbst.

„Es sind viele Aenderungen in der Verfassung und in der Gesetzgebung des Kaiserreichs vorgenommen, Grund genug um das Volk zusammenzuberufen und durch ein Plebiscit alle diese Aenderungen gut heißen zu lassen; ein solches Plebiscit wird dann zugleich auch von Neuem beweisen, daß das ganze Volk noch ebenso wie beim Beginn des Kaiserreichs hinter Eurer Majestät, Ihrer Regierung und Ihrer Dynastie steht. Vor einer solchen mächtigen Kundgebung der ganzen Nation wird jenes Gaukelspiel parlamentarischen Scheinlebens, in welchem die orleanistische Doctrin ihre Ausführung und die orleanistische Agitation ihren Halt findet, verschwinden.“

Der Kaiser hob den Kopf empor, seine Augen öffneten sich groß und weit und ein stolzes und freudiges Lächeln spielte um seine Lippen.

„Sie haben Recht, mein Freund,“ sagte er mit leuchtendem Blick — „Sie haben Recht. Ihr Gedanke ist ebenso einfach als groß und wahr; ich habe neue Stützen, sichere Garantien für die Zukunft meiner Dynastie und für den Thron meines Sohnes gesucht, Sie zeigen mir den Weg, auf dem ich sie allein finden kann; Sie zeigen mir die breite und ewig feste Grundlage meines Reiches, diese Grundlage, welche mein großer Oheim verlassen hat und von welcher ich ebenfalls im Begriff war mich ablenken zu lassen. Ich danke Ihnen,“ fügte er mit unendlich liebenswürdigem Ausdruck hinzu, „Sie haben mir in dieser Stunde einen großen Dienst geleistet, Sie haben Klarheit in die Ideen gebracht, die in meinem Geiste hin und her wogten und sobald die Klarheit der Erkenntniß da ist, läßt auch die Entschiedenheit des Handelns nicht auf sich warten.

„Ich werde meine Entschlüsse über die formelle Ausführung des Gedankens, den Sie mir so klar entwickelt haben, zur Reife bringen und den Ministern durch Ollivier mittheilen lassen.“

„Wenn Eure Majestät diesen Schritt thun,“ sprach Clément Duvernois, „so wird sich auch die wahre Stellung der Personen deutlich erkennen lassen; diejenigen Ihrer Räthe, welche wirklich das volksthümliche Kaiserreich unterstützen, stärken und erhalten wollen, werden, wie ich überzeugt bin, mit Freuden auf dem Wege vorgehen, den Eure Majestät beschreiten wollen, diejenigen aber, welche den Doctrinen Ihrer Feinde dienen, werden verschwinden.

„Glauben Sie mir, Sire, die Probe wird zur Klarheit führen und wenn,“ fügte er mit dem Anklang leisen Vorwurfs hinzu, „Eure Majestät Ihre alten Freunde verloren haben, so werden Sie sich überzeugen, daß auf der richtigen und wahrhaft großen Basis neue und ebenso treue Freunde Ihnen erstehen werden.“

Der Kaiser streckte Herrn Duvernois mit anmuthiger Bewegung die Hand hin und sprach:

„Davon, mein lieber Freund, habe ich mich schon in diesem Augenblick überzeugt. Sie haben mir den Beweis gegeben, daß ich noch über Hingebung und Vertrauen gebieten kann, Sie haben mir ohne Furcht und Rückhalt die Wahrheit gesagt.

„Doch,“ fuhr er nach einer kurzen Pause fort, „ich möchte noch über einen Punkt Ihre Meinung hören.

„Sie wissen,“ sprach er langsam seinen Schnurrbart drehend, „daß das nationale Gefühl in Frankreich durch die preußischen Siege, durch die Herstellung des mächtigen preußischen Uebergewichts in Deutschland tief verletzt ist; der militairische Ruhm und das militairische Uebergewicht Frankreichs in Europa ist gewissermaßen eine Lebensbedingung einer Regierung, welche den Namen Napoleon führt und auf die Traditionen des großen Kaisers gestützt ist. Man räth mir von vielen Seiten und zwar von Seiten, deren Interesse an meiner Regierung nicht bezweifelt werden kann — die schwüle Luft, welche über Europa liegt, durch einen kräftigen Wetterstrahl zu klären und die militairische Stellung des napoleonischen Frankreichs wieder herzustellen.“

„Man räth Eurer Majestät,“ fiel Clément Duvernois ein, „ganz einfach den Krieg gegen Preußen zu führen, diesen übermächtig gewordenen Staat in seine Grenzen zurückzuweisen und der Welt zu zeigen, daß ohne Frankreichs Genehmigung keine Veränderungen in dem Gleichgewicht Europa's sich vollziehen können; man räth,“ fuhr er mit erhöhter Stimme fort, „um es mit einem Worte zu sagen, Eurer Majestät Das jetzt zu thun, was Sie — verzeihen Sie meine Kühnheit, Sire — unmittelbar nach der Schlacht bei Sadowa hätten thun sollen.“

Der Kaiser ließ die Augenlider herabsinken und sprach mit leiser Stimme:

„Und was meinen Sie zu diesem Rath?“

„Sire,“ erwiderte Duvernois, „ich bin Franzose und bin ein treuer Anhänger der napoleonischen Dynastie — Eure Majestät können also darüber nicht im Zweifel sein, daß meinem Gefühl der Rath, den man Eurer Majestät ertheilt hat, in hohem Grade sympathisch ist, mein Herz würde aufwallen, mein Blut sich erwärmen, mein patriotischer Stolz sich freudig erheben, wenn ich die Armeen Frankreichs unter den kaiserlichen Adlern zu neuen Siegen ausziehen sehen würde und ich verkenne nicht, daß ein mächtiger Erfolg gegen diese an unsern Grenzen sich emporrichtende preußische Macht den Thron Eurer Majestät immer fester und dauernder in den Sympathieen des ganzen Volkes begründen würde — aber —“

„Aber?“ fragte der Kaiser gespannt.

„Aber zuvor, Sire, möchte ich mir die Frage erlauben, sind Eure Majestät des Erfolges sicher, ist die Organisation und Schlagfertigkeit der französischen Armee wirklich auf der Höhe, um einem so furchtbaren Gegner wie Preußen mit der Gewißheit des Sieges entgegentreten zu können? Sind Eure Majestät ferner sicher, Preußen isoliren zu können und die Gegner, welche ihm 1866 gegenüber standen, zu einem neuen Kampf bestimmen zu können?

„Wenn Eure Majestät über diese Punkte völlig klar und sicher sind, dann ist der Krieg ein gutes Mittel, dann würde ein großer Sieg vielleicht besser als alle inneren Maßregeln die Schwierigkeiten der Lage beseitigen. Sind aber Eure Majestät eines solchen Erfolges nicht vollkommen sicher, müssen Sie befürchten, daß es dem so kühnen und so geschickten preußischen Staatsmann gelingen könnte, das gesammte Deutschland in einer nationalen Erhebung gegen Frankreich um sich zu versammeln, dann Sire um Gotteswillen keinen Krieg, denn, ich spreche abermals mit der vollkommenen Offenheit eines ergebenen Freundes, — ein unglücklicher Feldzug, eine Niederlage würde die Stellung Frankreichs in Europa für lange hinaus untergraben und zugleich im Innern alle Feinde des Kaiserreichs wie der staatlichen Ordnung überhaupt entfesseln.“

„Da liegt es,“ sagte der Kaiser mit dumpfem Ton. „Wäre ich mein Oheim, vermöchte ich es selbst mit der Spitze meines Degens die Armeen Frankreichs zu lenken — ich würde mich wahrlich keinen Augenblick besinnen, auf diese einfachste Weise alle Schwierigkeiten zu lösen — aber kann ich das Schicksal meines Hauses, das Schicksal Frankreichs in die Hände meiner Generale legen, welche diesem Gegner noch niemals gegenüber gestanden haben? — Niel ist todt,“ fuhr er fort, halb zu sich selbst sprechend, „ihm hätte ich mit vollem Vertrauen die Führung meiner Armee übergeben können. — Habe ich einen Niel? — Lebt sein Geist noch in den Schöpfungen, die er hervorgerufen? Man sagt mir, daß Alles bereit ist — man sagt mir, daß die französische Armee unüberwindlich sei, aber ein banges Mißtrauen erfüllt mich; und wenn es mißlänge — es wäre das Ende, ein va banque-Spiel um das Kaiserreich — um Frankreich — ein va banque-Spiel, bei dem man wohl Alles gewinnen, aber auch Alles verlieren kann.

„Der Oberst Stoffel,“ fuhr er fort, „schreibt mir vortreffliche Berichte über die preußische Armee-Organisation — es ist nicht genug, daß die französische Armee wohl gerüstet sei, sie muß auch in der Tactik und Bewegung jener so wunderbaren Organisation ebenbürtig sein, welche König Wilhelm und die großen und genialen Interpreten seines Willens geschaffen haben, denn wir dürfen niemals vergessen, daß wir es in diesem Kriege nicht mit den Gegnern von Magenta und von der Krim zu thun haben würden, und diesem Grafen Bismarck gegenüber würde kein Villa Franca möglich sein.“

„Mir genügt,“ sagte Clément Duvernois, „was Eure Majestät mir so eben gesagt haben; wenn in Ihrer Seele,“ fuhr er fort, „nur der geringste Zweifel lebt, dann Sire, beschwöre ich Eure Majestät, das Würfelspiel des Krieges nicht zu wagen. Ein Sieg könnte niemals so großen Nutzen bringen, als eine Niederlage Unheil und Verderben anrichten würde, und für die Machtstellung des kaiserlichen Frankreichs in Europa würde der gewaltige Eindruck eines Plebiscits fast dem Siege auf einem Schlachtfeld gleich kommen; auf diesem Wege sind Sie des Erfolges sicher, Sire — deswegen gehen Eure Majestät diesen Weg und bereiten Sie langsam und vorsichtig eine militairische Aktion für die Zukunft vor, denn nicht immer wird ja diese preußische Militairmacht von dem Geiste geleimt werden, der heute an ihrer Spitze steht und es wird früher oder später die Zeit kommen, in welcher mit der Sicherheit des Erfolges auch das Schwert wieder in die Wagschale geworfen werden kann.“

Der Kaiser stand auf.

„Ich danke Ihnen, mein lieber Duvernois,“ sagte er, „Sie sind auch in diesem Punkte meinen Ideen begegnet — Sie werden sich überzeugen, daß ich diesen Ideen gemäß handeln werde und ich hoffe, daß Sie mich mit Ihrer so gewandten und scharfen Feder unterstützen werden.

„Ich wünsche und hoffe,“ fuhr er mit freundlichem Lächeln fort, indem er Duvernois auf die Schulter klopfte, „daß Sie mir dereinst noch näher treten und mir auf höherem und weiterem Gebiet zur Seite stehen werden.“

Clément Duvernois verneigte sich tief und sprach mit dem Ausdruck stolzer Befriedigung:

„Wohin immer Eure Majestät mich zu stellen für gut befinden werden, meine ganze Hingebung, meine ganze Aufopferung und vor Allem meine ganze Aufrichtigkeit werden Ihnen immer gehören.“

Er zog sich langsam zurück, verneigte sich an der Thür noch einmal tief vor dem Kaiser, der ihm mit freundlichem Kopfnicken zulächelte und verließ das Cabinet.

„Er hat Recht,“ sagte Napoleon, in seinen Lehnstuhl zurücksinkend — „er hat Recht; ich habe nicht mehr zu erkämpfen, sondern zu erhalten; ich darf das große Spiel nicht spielen, zu dem man mich drängen möchte und zu dem ich,“ sagte er mit düsterer Traurigkeit, „nicht mehr die Kraft in mir fühle.“

Der Huissier öffnete die beiden Thürflügel und rief:

„Ihre Majestät die Kaiserin!“

Napoleon seufzte tief auf, erhob sich und ging seiner Gemahlin entgegen.


Drittes Capitel.


Ihre Majestät die Kaiserin Eugenie trat raschen elastischen Schrittes in das Cabinet.

Das röthlich blonde Haar der Kaiserin war in reichen Flechten über ihrer edlen hochgewölbten Stirn wie ein natürliches Diadem zusammengewunden. Das antik klassisch geschnittene Gesicht der Kaiserin, mit dem wunderbar zarten, perlmutterschimmernden Teint zitterte in zorniger Bewegung, ihre großen dunkelblauen Augen flammten in glühendem Feuer.

Sie trug einen einfachen dunkelgrauen Morgenanzug ohne allen Schmuck und reichte mit einer anmuthigen aber etwas hastigen und unruhigen Bewegung ihrem Gemahl die Hand hin, welche dieser mit ritterlicher Galanterie an seine Lippen führte.

„Ich habe so eben,“ sagte der Kaiser, „recht schmerzlich die Macht der Zeit und des Alters empfunden, aber wenn ich Sie, meine ewig junge und schöne Gemahlin ansehe, möchte ich fast an dieser Macht zweifeln. Warum können Sie,“ fügte er mit einem leicht wehmüthigen Lächeln hinzu, „Ihr Geheimniß, der Zeit zu trotzen, mir nicht mittheilen? Niemand hat unvergängliche Jugend nöthiger als ein Regent auf dem Thron dieses unruhigen Frankreichs.“

„Ich hoffe,“ rief die Kaiserin mit leicht zitternder Stimme, indem sie sich in einen Lehnstuhl warf, „daß Sie jene Jugend und Energie wiederfinden werden, um aller dieser Feinde Herr zu werden, welche sich gegen uns erheben. Es ist dahin gekommen,“ fuhr sie immer lebhafter fort, „daß man in diesem so leicht beweglichen Paris nicht mehr von dem Kaiser spricht, sondern daß Herr Rochefort, dieser elende Pamphletist, den Mittelpunkt des Interesses bildet. Haben Sie bereits ausführlichere Nachrichten über die Unruhen empfangen, welche gestern Abend in der Stadt stattgefunden?

„Die Verhaftung dieses Rochefort ist auf recht ungeschickte Weise vorgenommen, sie hat diesen Nichts bedeutenden Menschen noch populärer gemacht und dazu beigetragen, von Neuem die Tiefen aufzuwühlen und den Haß gegen die Regierung zu schüren.“

„Ich habe gehört,“ erwiderte der Kaiser ruhig, „daß einige Unruhen stattgefunden haben, indessen scheint mir das nicht von Bedeutung gewesen zu sein; ausführliche Berichte habe ich noch nicht erhalten.“

„Schlimm genug,“ rief die Kaiserin, „daß man Ihnen das noch nicht erzählt hat; es scheint, daß in Ihrer Umgebung eine gewisse Neigung vorherrscht, Ihnen Alles im rosigsten Licht darzustellen.

„Statt Rochefort,“ fuhr sie fort, „in aller Stille abzuführen, statt ihn einfach verschwinden zu lassen, hat man ihn mitten aus einer aufgeregten Menge herausgenommen und ihm Gelegenheit gegeben, eine Märtyrer-Rolle zu spielen; in der ganzen Stadt herrscht, wie man mir erzählt, eine sehr bedenkliche Aufregung.“

Der Kaiser lächelte.

„Wenn Sie meiner Umgebung vorwerfen, Eugenie,“ sagte er, „daß man mir die Lage und die Ereignisse des Tages zu günstig darstellt, so scheint bei Ihnen das Gegentheil stattzufinden. Ihnen gegenüber scheint man kleine unbedeutende Dinge zu großen Erschütterungen anschwellen zu lassen.

„Doch hören wir,“ sagte er mit artiger Verbeugung gegen seine Gemahlin, „den genauen Bericht.“

Er trat zu der Portière, welche die Thür zu dem Zimmer seines Geheimsecretairs maskirte und nach kurzer Zeit trat auf seinen Ruf Herr Pietri, ein noch junger schlanker Mann mit blassem intelligentem Gesicht, mit einem kleinen Schnurrbart und Knebelbart und von der Stirn zurückgestrichenem Haar in das Cabinet.

Herr Pietri verneigte sich tief vor der Kaiserin, welche mit leichtem Kopfnicken seinen Gruß erwiderte und blieb schweigend stehen, die Anrede des Kaisers erwartend.

„Ist ein genauer Bericht über die Ereignisse des gestrigen Abends und der Verhaftung Rocheforts eingegangen?“ fragte Napoleon.

„Zu Befehl, Sire,“ erwiderte Herr Pietri „Die Ruhestörungen sind nicht ganz unbedeutend gewesen, doch scheint in diesem Augenblick Alles beendet.“

„Wie hat man Rochefort verhaftet?“ fragte der Kaiser, indem er sich neben seine Gemahlin in einen Fauteuil setzte.

„Man hat gestern Abend um acht Uhr, Sire,“ sprach Herr Pietri, „in der Rue des Flandres Rochefort in dem Augenblicke arretirt, als er in das dortige Versammlungslocal der radicalen Partei eintreten wollte; am Eingange des Saales standen zahlreiche Personen, welche auf die Aufforderung von Flourens Miene machten, sich den Polizeiagenten gewaltsam zu widersetzen. Rochefort forderte sie jedoch auf sich ruhig zu verhalten und stieg ohne Widerstand mit den Beamten in den Wagen, um nach dem Gefängniß von St. Pélagie geführt zu werden. Die im Innern des Saales tagende Versammlung wurde zugleich aufgelöst, wobei es zu heftigen Scenen kam, man insultirte den Polizeibeamten, welcher das Auflösungsdecret verlas und vertheilte sich dann in heftiger Bewegung und unter lautem Tumult nach verschiedenen Seiten. Es kam in der Rue Aboukir, im Faubourg du Temple, namentlich aber in Belleville zu Volksansammlungen und lebhaften Demonstrationen; um Mitternacht wurden einige Detachements der Garde de Paris und Truppen nach Belleville abgesandt; daselbst war eine Barrikade gebaut, welche mit den Waffen in der Hand genommen wurde; es sind auf beiden Seiten schwere Verwundungen vorgekommen, bereits um Mitternacht sind zweihundert Gefangene nach der Präfectur gebracht — auch an einigen andern Orten wurden Versuche zum Barrikadenbau gemacht, aber durch das Einschreiten der Truppen sofort vereitelt. Gegen Mitternacht zogen große Haufen von Arbeitern nach der Fabrik Lefaucheur in der Rue Lafayette, plünderten dieselbe und nahmen ungefähr dreihundert Revolver und fünfzig Gewehre mit sich fort. Die Boulevards waren bis gegen Morgen sehr belebt, verschiedene Laternen sind zerbrochen, verschiedene Kioske umgeworfen, doch ist jetzt Alles beendet.“

„Sie sehen,“ sagte die Kaiserin, „daß die Sache ernst ist; wenn man erst den Anfang hat machen können, ungestraft die Gewehrfabriken zu plündern, wenn auf diese Weise die Aufrührer in den Besitz von vortrefflichen Waffen kommen, so läßt sich gar nicht berechnen, welche Dimensionen eine solche Bewegung annehmen kann.“

Der Kaiser schüttelte mit mißmuthigem Ausdruck den Kopf.

„Es scheint allerdings, mein lieber Pietri, daß man bei der Verhaftung Rocheforts recht ungeschickt verfahren ist. Warum hat man ihn nicht am Ausgang des Corps legislativ arretirt oder in der Nacht aus seiner Wohnung geholt? Der ungeeignetste Ort ihn zu fassen war jedenfalls eine große Volksversammlung, von welcher aus sich naturgemäß die unruhige Bewegung über ganz Paris verbreiten mußte. Schreiben Sie sogleich an Ollivier und verlangen Sie Auskunft darüber, warum man diesen nach meiner Ansicht ungeeignetsten Weg eingeschlagen hat?“

Pietri verneigte sich.

„Ich bedaure sehr,“ sagte der Kaiser, sich zu seiner Gemahlin wendend, „daß ich mich überhaupt habe bestimmen lassen, meine Genehmigung zu dem Strafverfahren und zur Verhaftung Rocheforts zu geben; man hat dadurch diesen an sich so unbedeutenden Menschen groß und einflußreich gemacht. Schon das Verbot der ‚Laterne‘ war ein Fehler; dieses an sich ziemlich geist- und witzlose Machwerk wäre von selbst untergegangen, wenn man sich nicht darum gekümmert hätte.“

„So hätten Sie lieber ruhig zusehen wollen,“ rief die Kaiserin mit flammenden Augen, „daß elende Pamphletisten nicht nur die Autorität der Regierung angreifen, sondern sogar die Personen nicht schonen daß sie es wagen, sogar Sie selbst, mich Ihre Gemahlin und Ihren Sohn mit Schmutz zu bewerfen? Wenn so etwas in Paris ungestraft geschehen darf, wie soll man in dem übrigen Frankreich, wie soll man im Auslande noch an die Macht der kaiserlichen Regierung glauben?

„Und in der That,“ fügte sie bitter hinzu, „man fängt bereits an, diesen Glauben zu verlieren.“

Der Kaiser neigte leicht das Haupt gegen Pietri:

„Haben Sie die Güte,“ sagte er, „den Brief an Ollivier sogleich abgehen zu lassen.“

Pietri entfernte sich mit tiefer Verbeugung.

„Sie müssen einen ernsten Entschluß fassen, Louis,“ sagte die Kaiserin. „Die Zustände können unmöglich so weiter bestehen. Es ist eine Zügellosigkeit, eine Frechheit bei den Agitatoren und den von ihnen geleiteten unteren Volksklassen entstanden, welche stets wachsen müssen und uns endlich verderben werden, wenn nicht schleunigst Einhalt gethan wird.“

„Aber Sie sehen ja,“ sagte der Kaiser, „daß mit aller Energie vorgegangen worden ist; hat man auch etwas ungeschickt gehandelt, so ist doch die Autorität der Regierung mit leichter Mühe Sieger geblieben.“

„Sie ist es heute geblieben,“ sagte die Kaiserin, „sie wird es morgen noch bleiben, aber der Zeitpunkt kann vielleicht bald kommen, in welchem man nicht mehr Herr über die Bewegung sein wird, denn wir befinden uns dieser Bewegung gegenüber in der Defensive und das ist eine schlimme Position; es muß mit einem großen, gewaltigen und kühnen Schlage mit dem Allen ein Ende gemacht werden. Sie müssen die Verhältnisse mit fester und entschlossener Hand da anfassen, wo der Schlüssel zu all dieser Unsicherheit und all diesen schwankenden Bewegungen liegt —“

— „Und dieser Schlüssel liegt?“ fragte Napoleon, mit der Hand über seinen Knebelbart streichend.

„Er liegt in dem tiefen Gefühl,“ rief die Kaiserin, „welches ganz Frankreich durchzieht, und welches Ihre besten und treusten Freunde erfüllt, daß die Macht und das Ansehen des Kaiserreichs, daß Ihr persönliches Prestige in Europa schwer erschüttert ist, ja täglich von Neuem verhöhnt wird durch diese täglich anmaßender auftretende preußische Macht.“

Ein Zug schmerzlicher Ermüdung erschien auf dem Gesicht des Kaisers; er zuckte fast unmerklich die Achsel und sagte:

„Aber glauben denn die Partisane des Krieges, welche“ — fügte er mit einer ganz feinen Nüance leichter Ironie hinzu — „es so vortrefflich verstehen, Ihnen ihre Ideen einzuflößen, — glauben sie denn, daß ich de but en blanc an die Grenzen marschiren und Preußen den Krieg erklären könnte? Dazu gehören doch vor Allem sehr ernste militairische Vorkehrungen dazu gehört denn doch auch ein Kriegsgrund, welcher ebenfalls mit Geschicklichkeit vorbereitet werden muß.“ —

„Zu den militairischen Vorbereitungen,“ sagte die Kaiserin, „sollten Sie, wie ich glaube, seit der Schlacht bei Sadowa Zeit genug gehabt haben; es ist allerdings ein großes Unglück, daß der vortreffliche Niel gestorben ist, aber bereits vor mehr als einem Jahr erklärte er unsere Armee für vollkommen schlagfertig —“

„Seit jener Zeit ist eben mehr als ein Jahr verflossen,“ fiel der Kaiser ruhig ein, „und in diesem Zeitraum hat sich,“ sagte er seufzend, „die Leitung der Armee leider nicht mehr in Niels Händen befunden.“ —

„Und was den Kriegsgrund betrifft,“ sprach die Kaiserin lebhaft weiter, ohne die Bemerkungen ihres Gemahls zu beachten, „so liegt Ihnen derselbe ja völlig fertig zur Hand. Der Prager Frieden ist unter der Garantie Frankreichs geschlossen worden und Preußen verletzt täglich die Bestimmungen jenes Friedensvertrages. Man giebt den armen Dänen ihr Recht nicht, welche Frankreich vertraut haben und auf Frankreich hoffen und in Süddeutschland ist die Stimmung eine tief erbitterte; täglich werden dort Versuche gemacht, in die durch den Prager Frieden garantirte Selbstständigkeit der Staaten einzugreifen; auch dort erwartet man nur eine kräftige Action Frankreichs, um diese gewaltsamen Schöpfungen von 1866 wieder zu zertrümmern.“

„Sind Sie so genau über die Stimmung in Süddeutschland unterrichtet?“ fragte der Kaiser. „Ich habe nicht ein so absolutes Vertrauen auf den Beistand, den wir dort finden können.“

„Die ganze katholische Kirche in Bayern,“ sprach die Kaiserin weiter, „ist von tiefem Haß gegen Preußen erfüllt und wenn Frankreich für die genaue Erfüllung des Prager Friedens eintreten würde, so würden alle jene Besiegten von 1866, bei denen noch die Traditionen aus der Zeit Napoleons I. mächtig sind, Frankreich als seinen Retter begrüßen.“

Der Kaiser schüttelte bedenklich den Kopf und schwieg einige Augenblicke in Gedanken versunken, während die Kaiserin ihn forschend und ungeduldig ansah.

„Ich verkenne nicht,“ sagte er dann, „daß eine geschickte Behandlung der Verhältnisse, welche der Prager Frieden geschaffen, uns einen guten Grund zum Kriege bieten kann, bei welchem es sich auch vermeiden läßt das deutsche Nationalgefühl auf die Seite unserer Gegner zu bringen. Doch das Alles verlangt ruhige und ernste Erwägung, da wir vor Allem vermeiden müssen, vor den Augen des übrigen Europa als die Störer des Weltfriedens dazustehen und zu diesen Vorbereitungen scheint mir jetzt nicht der geeignete Augenblick.“

„So wollen Sie warten,“ rief die Kaiserin, „bis die Wogen der inneren Unruhen immer übermächtiger heranschwellen? — bis endlich die ganze Welt sagen wird, Sie machten den Krieg nur, um einen Ausweg zu suchen aus den Verlegenheiten, in welche wir immer tiefer versinken?“ —

„Um den Krieg vorzubereiten,“ sagte Napoleon, seinem inneren Gedankengange folgend — „muß ich mit Männern umgeben sein, welche den Krieg wollen. — Glauben Sie,“ fragte er, die Augen groß aufschlagend und seine Gemahlin fest anblickend — „glauben Sie, daß Daru der geeignete Mann ist, um den Kriegsfall diplomatisch vorzubereiten? Halten Sie Ollivier für geeignet, den Krieg im Lande selbst populär zu machen — diese Männer der parlamentarischen Doctrin, deren Lebensbedingung der Friede quand même ist?“ —

„Daru?“ rief die Kaiserin. „Warum ist Daru Ihr auswärtiger Minister? Warum haben Sie diesen mit den Orleans so eng verbundenen Mann neben sich, der, obgleich er den Namen des großen Kaisers trägt, doch keinen von den Instincten in sich hat, welche einen Minister des napoleonischen Frankreichs erfüllen müssen.

„Und Ollivier,“ sprach sie mit einem feinen Lächeln von unbeschreiblichem Ausdruck — „nun, Ollivier wird Ihnen vortreffliche Reden voll Eloquenz und Begeisterung für den Krieg halten, wenn Sie ihn nur richtig zu nehmen wissen — oder wenn Sie ihn mir überlassen wollen, und wenn dieser Mann des Friedens den Krieg predigt — so wird sich doch ganz Frankreich überzeugen, daß der Krieg eine Nothwendigkeit ist.“

„Und wenn Graf Daru abträte?“ sagte der Kaiser — „wen habe ich, um an seine Stelle zu setzen, wo finde ich den Mann, der die Kühnheit hat, eine solche Verantwortung auf sich zu nehmen und zugleich das Ansehen, um Frankreich mit sich fortzureißen?“

„Ich glaube,“ sagte die Kaiserin, „daß ein solcher Mann nicht zu schwer zu finden sein würde; ich würde um die Wahl nicht in Verlegenheit sein und Sie haben ja selbst schon früher an Denjenigen gedacht, welcher mir im Sinne liegt —“

Der Kaiser blickte fragend zu seiner Gemahlin hinüber.

„Grammont,“ sagte diese, „ist tief durchdrungen von der Ueberzeugung, daß nur ein großer nationaler Krieg den Fehler von 1866 wieder gut machen und Frankreich wiederum auf seine alte Höhe heben kann. Grammont kennt auf das Genaueste die Verhältnisse in Oesterreich, der einzigen Macht, auf welche wir direct oder indirect bei unserer Action rechnen können; Grammont ist aufrichtig und ohne Rückhalt dem Kaiserreich und unserer Dynastie ergeben und sein Name hat einen guten Klang im Lande, da er mit allen großen ruhmreichen Epochen der Vorzeit verknüpft ist. Grammont ist ein ritterlicher und fester Charakter — warum lassen Sie Grammont in Wien? Setzen Sie Grammont an Daru's Stelle und Alles wird sich von selbst machen.“

„Sie könnten Recht haben,“ sagte Napoleon, indem er seinen Blick vollständig unter den herabsinkenden Augenlidern verschleierte — „lassen Sie mich darüber nachdenken —“

„Nur darf dieses Nachdenken,“ rief die Kaiserin aufstehend, „nicht zu lange dauern. Ich bitte Sie Louis,“ rief sie, nahe an ihn herantretend, indem sie den Arm auf seine Schulter legte und ihn mit fast zärtlichen Blicken ansah — „ich bitte Sie, denken Sie, daran, daß es sich nicht nur um unser Ansehen und unsere Macht handelt, sondern daß auch die Zukunft unseres Sohnes, unseres einzigen Kindes in Frage steht. — Die Armee, diese edle französische Armee ist unsere einzige Stütze wie sie einst die seinige sein wird — und die Armee beginnt unzufrieden zu werden über die lange Unthätigkeit, über die untergeordnete Stellung, zu welcher das militairische Frankreich in Europa herabgedrückt wird. Unser Kind ist der Armee noch fremd, aber er ist groß genug, um in einem nationalen Feldzuge in der Mitte der Truppen hinauszuziehen.

„Denken Sie, daß die französische Armee in großen, siegreichen Schlachten unser theures Kind in ihren Reihen sieht, daß sein Name sich verknüpft mit ihrem Ruhm und ihren Lorbeeren, dann,“ — rief sie, indem ihr Auge begeistert aufleuchtete, „dann wird keine Bewegung im Innern, kein Rochefort, kein Flourens im Stande sein, ihm das Erbe streitig zu machen, das Sie für ihn durch die Arbeit eines halben Lebens geschaffen haben.“

Der Kaiser drückte seine Lippen auf die marmorweiße Stirn seiner Gemahlin und strich langsam mit der Hand über ihr weiches, goldschimmerndes Haar. —

„Ich danke Ihnen, Eugenie,“ sagte er sanft und innig, „daß Sie in meine alternde Seele das Feuer und die Kraft der Jugend gießen. Lassen Sie mich alle Fragen der Situation ruhig prüfen und überlegen und glauben Sie, daß der Funke, den Sie in diesem Augenblick in mir entzündet, nicht erlöschen wird.“

Sie lehnte den schönen Kopf an seine Schulter und blieb einige Augenblicke schweigend neben ihm stehen.

„Ich will jetzt,“ sagte Napoleon dann, „ein wenig ausfahren und die Boulevards besuchen; man soll nicht sagen, daß ich im Alter gelernt habe, mich vor dem Aufruhr und der Gefahr zu fürchten — ich will festen Blickes diesem Volk von Paris in's Auge sehen; man soll erkennen, daß ich noch Vertrauen auf meine Kraft und auf meinen Stern habe.“

„Ich weiß es, Louis,“ sagte die Kaiserin, ihm die Hand drückend, „daß die Furcht in Ihrer Seele keinen Platz hat und ich bitte Gott, daß es mir vergönnt sein möge, Sie noch einmal von siegreichen Schlachtfeldern lorbeergekrönt zurückkehren zu sehen.“

Der Kaiser geleitete sie bis zur Thüre und küßte sie nochmals innig auf die Stirn.

„Meine Gemahlin möchte ein wenig die Leitung in die Hand nehmen, wie es scheint,“ sagte er, als die Kaiserin das Cabinet verlassen hatte, langsam auf- und niederschreitend. „Sie hat bereits diesen Ollivier, der eifrigst Alles thut, was sie will. Sie hat Recht, er würde auch den Krieg predigen, wie er schließlich Alles vertheidigen würde, was ihm Gelegenheit giebt eine schöne Rede zu halten und seinem Ehrgeiz und seiner Eitelkeit schmeicheln zu lassen. Nun will sie auch noch Grammont. — Grammont ist kein Ollivier, er ist ein edler und ritterlicher Charakter, aber sein Geist hastet an der Oberfläche der Dinge. Es ist ihm unmöglich, sich in die Ursachen und Consequenzen der Ereignisse zu vertiefen. Grammont und Ollivier würden den Krieg machen, das ist wahr. — Sie würden auch in einem augenblicklichen Elan den Nationalgeist mit sich fortreißen. Aber wohin würde dieser Krieg führen? Würden jene Männer im Stande sein, im Falle des Unglücks den Widerstand zu organisiren, die Nation um mich fest zu halten? —

„Nein, nein,“ sagte er mit fest entschlossener Stimme, „noch sehe ich die augenblickliche Nothwendigkeit einer kriegerischen Action nicht ein. — Sie wird freilich täglich näher an mich herantreten,“ sprach er seufzend, „und entziehen werde ich mich ihr nicht können. Dann aber soll wenigstens die Leitung der Angelegenheiten in festen und entschlossenen Händen liegen. —

„Ich will mit Drouyn de L'huys sprechen. — Er hat auch gewisse Beziehungen zwischen den Orleans,“ sprach er leise in tiefen Gedanken, „aber immerhin ist er ein ehrlicher, fester, entschiedener Mann, der es versteht das durchzuführen, was er beginnt — Eugenie liebt ihn nicht, ich weiß es. Aber auf persönliche Neigung oder Abneigung meiner Gemahlin kann es in einer so ernsten Frage, bei welcher die ganze Existenz des Landes auf dem Spiel steht, nicht ankommend.“

Er bewegte die Glocke.

„Ich will ausfahren,“ sprach er zu dem eintretenden Kammerdiener. — „Große Attelage, offene Kalesche! Ist der General Favé da?“

„Der General wartet im Vorzimmer.“

„Führen Sie ihn herein!“

Der Kammerdiener öffnete die Thür.

Der General Favé im schwarzen Morgenanzuge trat ein.

Der Kaiser ließ sich seinen Hut und einen warm gefütterten Morgenanzug reichen, nahm ein spanisches Rohr und stieg, sich leicht auf den Arm des Generals stützend, die Treppe hinab. Die offene Kalesche mit dem schwarzen Viergespann fuhr unter das Zeltdach des Einganges.

Langsam und etwas schwerfällig mit leichtem schmerzlichem Zucken in seinem Gesicht stieg der Kaiser in den Wagen und setzte sich vorsichtig nieder.

General Favé nahm zu seiner Seite Platz. — Die Piqueurs sprengten voran und schnell fuhr die kaiserliche Equipage aus dem Ehrenhof der Tuilerien.

Als der Kaiser an den Anfang der Boulevards bei der Madeleinekirche gekommen war, befahl er langsam zu fahren.

Schnaubend und ungeduldig gingen die edlen Thiere des kaiserlichen Gespanns im Schritt über die Mitte der großen Boulevards hin, während die Piqueurs etwa dreißig Schritt vorausrittten. Die Vorübergehenden blieben stehen. Es umgab eine dichte Menschenmasse den kaiserlichen Wagen. Die Menge befand sich in der unmittelbaren Nähe des Kaisers. Die sergeants de ville, die den Dienst auf den Boulevards thaten, wollten die Herandrängenden zurückweisen.

„Laissez approcher!“ sagte Napoleon mit lauter Stimme, indem er zugleich den Hut erhob und die Menge mit freundlichem Lächeln begrüßte.

Erst einzelne Stimmen, dann ein tausendstimmiger Ruf antwortete mit lautem: „Vive l'Empereur!“ auf diesen Gruß.

Ein einfach gekleideter Mann aus dem Volke stieg auf den Tritt des kaiserlichen Wagens, schwenkte den Hut in der Luft und rief mit laut schallendem Ton:

„Es lebe der Kaiser, die Kaiserin, der kaiserliche Prinz. Nieder mit den Meuterern!“

Diese Rufe wiederholten sich weit hin über die Boulevards.

Langsam fuhr der Kaiser die ganze Linie hinunter, immer begleitet von einer stets anwachsenden und immer lauter rufenden Menge, immer mit der Hand und freundlichem Kopfnicken grüßend.

„Sehen Sie,“ sagte er lächelnd, sich zum General Favé wendend, „alle diese Unruhen haben Nichts zu bedeuten. Jeder Mann konnte mich hier mit einem Dolch oder mit einer Kugel erreichen, und alle diese Leute grüßen mich und rufen mir ihre Anhänglichkeit und Treue entgegen. Man muß diesem Geist der Revolution nur ruhig in's Auge sehen, dann verliert er sofort seine großen und gefährlichen Dimensionen.“

Der Wagen war am Ende der Boulevards angekommen.

„Nach Belleville!“ rief Napoleon.

Er grüßte noch einmal mit dem Hute, noch einmal brach die ganze versammelte Menschenmenge in ein lautes, volltönendes „Vive l'Empereur!“ aus und in raschem Trabe fuhr der Wagen nach jenen von der arbeitenden Bevölkerung der Residenz bewohnten Gegenden.

„Fürchten Eure Majestät nicht,“ sagte der General Favé, „daß in jenem unruhigsten Viertel von Paris irgend etwas Feindliches zu besorgen wäre? Wir haben keine Bedeckung, nicht einmal Waffen bei uns,“ fügte er mit etwas ängstlicher Miene hinzu.

„Wer die Gefahr fürchtet, wird ihr unterliegen,“ antwortete der Kaiser, stolz den Kopf erhebend. „Lassen Sie uns ruhig diese Spazierfahrt machen. Wir haben Nichts zu besorgen und Frankreich muß erkennen, daß ich mich noch als seinen Herrn fühle.“

Man war in Belleville angekommen.

Abgebrochene Laternenstangen, zerschlagene Fenster, stellenweis zerstörte Trottoirs zeugten noch von der Unruhe der letzten Nacht. Wenige Menschen gingen auf der Straße, an den Thüren der Häuser standen meist Frauen und Kinder, welche neugierig der kaiserlichen Equipage nachsahen; hinter denselben erblickte man finstere Gesichter mit verworrenem Haar und struppigen Bärten, welche ihre düstern Blicke mit dem Ausdruck finstern Hasses auf den kaiserlichen Wagen richteten. Alles verhielt sich schweigend, kein grüßender Ruf ertönte, aber auch kein Laut feindlicher Kundgebung ließ sich hören.

Man kam an eine in der Nacht vorher errichtete und von den Truppen genommene Barrikade. Einige Arbeiter in Blousen waren unter der Aufsicht von sergeants de ville beschäftigt, die Trümmer derselben hinweg zu räumen, welche aus dem Holz von umgeworfenen Kiosken, zerbrochenen Fiakern und Asphaltstücken des Trottoirs bestanden.

Der Kaiser ließ halten.

An den Fenstern des nächsten Hauses erschienen in großer Anzahl jene düsteren, feindlich blickenden Gesichter, welche man in dem eleganten glänzenden Theil von Paris nur dann erblickt, wenn die aufgährenden Wogen der Revolution aus den Tiefen heraufdringen. Der Kaiser befragte den Führer der sergeants de ville, welcher in dienstlicher Haltung an den Wagenschlag herangetreten war, genau nach allen Details der nächtlichen Vorgänge, dann ließ er den Blick über die Fenster hinschweifen.

Kleine Gruppen von Menschen waren auf der Straße stehen geblieben. Napoleon grüßte artig mit der Hand hinüber, aber kein Ruf antwortete ihm. Alle diese Männer und Frauen blickten finster und unbeweglich vor sich hin.

„Vorwärts!“ befahl Napoleon.

Die Pferde zogen an, und langsam bewegte sich der Wagen über die noch nicht ganz fortgeräumten Trümmer der Barrikaden.

Da ertönte aus einem der umliegenden Häuser wie aus der Luft herklingend eine tiefe, rauhe und heiser tönende Stimme.

„Fahre hin, blutiger Cäsar! Das Volk, das Du gemordet, erwartet Dich vor dem Richterstuhl der Geschichte!“

Der Kaiser zuckte zusammen.

„Halt!“ rief er.

Sein Wagen stand unbeweglich. Keine Bewegung zeigte sich an den Fenstern. Die verschiedenen Menschengruppen auf der Straße standen starr und still. Niemand schien die Worte gehört zu haben, welche eben so schauerlich durch die Luft klangen. Der Kaiser ließ den brennenden Blick seiner großen düster aufleuchtenden Augen rings umher schweifen.

Die sergeants de ville wollten auf die Menschengruppen nach der Seite hin, von welcher man jene Stimme vernommen hatte, zueilen.

„Man soll keine Nachforschungen anstellen,“ sagte Napoleon kalt und ruhig.

Dann legte er sich in den Wagen zurück, blickte einige Minuten auf die Trümmer der Barrikaden, grüßte nochmals mit würdiger Handbewegung die an der Seite der Straße stehenden Gruppen und befahl endlich, weiter zu fahren.

Schweigend und in Gedanken versunken fuhr der Kaiser über die äußern Boulevards durch den Parc de Monceau nach der rue François premier. An der Ecke dieser Straße hielt der Kutscher, welcher von dem General Favé seine Instructionen erhalten hatte, vor einem großen Hause die Pferde an.

Das Thor des Hauses öffnete sich, Lakaien eilten heraus und traten dienstfertig an den Schlag des kaiserlichen Wagens.

„Ist Herr Drouyn de L'huys zu Hause?“ fragte der Kaiser.

„Zu Befehl, Sire.“

Napoleon stieg aus und trat, auf den Arm des Generals gestützt, durch das große Eingangsthor in einen innern elegant gepflasterten Hof, an dessen Langseite eine breite Steintreppe von vier bis fünf Stufen in das Innere des Hotels führte.

In dem Vestibule des Hauses erschien schnell herbeieilend der frühere langjährige Minister der auswärtigen Angelegenheiten, jetziger Senator und Mitglied des Geheimen Raths, Herr Drouyn de L'huys. Seine Gestalt war etwas voller, seine Bewegungen etwas schwerfälliger geworden; sein kurzes Haar und sein Backenbart erschienen fast weiß, aber der Ausdruck und die Farbe seines kräftigen, etwas phlegmatischen Gesichts zeigten noch immer eine fast jugendliche Frische, und die kleinen, klaren, grauen Augen blickten lebhaft und geistvoll unter den starken Augenbrauen hervor.

Herr Drouyn de L'huys verneigte sich mit würdevoller Ruhe vor dem Kaiser und sprach mit seiner vollen und klaren aber etwas leisen Stimme:

„Ich bitte um Verzeihung, Sire, daß ich Eure Majestät nicht schon am Wagenschlag empfangen habe. Aber ich bin durch die Ehre Ihres Besuchs so vollständig überrascht, daß ich kaum die Zeit hatte, Ihnen entgegen zu eilen.“

„Ich sehne mich Sie zu sehen, mein lieber Herr Drouyn de L'huys,“ sagte der Kaiser, seinem frühern Minister die Hand reichend, die dieser ehrerbietig ergriff. „Da Sie sich selten in die Tuilerien machen, so muß ich wohl zu Ihnen kommen.“

Herr Drouyn de L'huys war dem Kaiser vorgeschritten.

Sie traten in den großen Empfangssalon.

„Madame Drouyn de L'huys wird sogleich bereit sein, vor Eurer Majestät zu erscheinen, sie ist noch mit ihrer Toilette beschäftigt.“

„Ich bitte Sie,“ sagte der Kaiser, „Ihre Gemahlin nicht zu derangiren. Lassen Sie uns in Ihr Cabinet gehen, ich möchte ein wenig mit Ihnen plaudern. Der General wird die Güte haben mich hier zu erwarten.“

Drouyn de L'huys verneigte sich und führte den Kaiser durch ein kleines Vorgemach in sein Arbeitszimmer, dessen Fenster durch Vorhänge von dunkelgrüner Seide zur Hälfte verhüllt waren und dessen ganze Ausstattung in einem großen Tisch von Eichenholz, einigen großen Fauteuils und auf verschiedenen Consolen aufgestellten Antiken, Kunstwerken von Marmor oder Bronce bestanden. In einem schön gearbeiteten Kamin brannte ein helles Feuer.

Napoleon legte seinen Ueberrock ab und ließ sich, indem er fröstelnd zusammenschauerte, in einen tiefen Lehnstuhl vor dem Kamin nieder.

Drouyn de L'huys nahm auf seine Einladung neben ihm Platz und erwartete schweigend die Anrede seines Souverains, der einige Augenblicke in sinnendem Nachdenken auf die züngelnde Flamme blickte.

„Die Lage ist ernst, mein lieber Herr Drouyn de L'huys,“ sagte Napoleon endlich, indem er, wie einen raschen Entschluß fassend, sofort auf den Gegenstand einging, der seine Gedanken beschäftigte, — „die Lage ist ernst, und ich muß darauf denken, sie zu verbessern. Denn,“ fügte er halb scherzend, halb wehmüthig hinzu, „die Zeit respectirt die Kronen und den Purpur nicht. Ich werde alt und immer älter und bevor ich aus diesem irdischen Leben scheide, muß ich meine Angelegenheiten ordnen und mein Haus bestellen. Mein Haus aber ist Frankreich. Sie sind so lange der Hüter dieses Hauses gewesen, daß ich in dem ernsten Augenblick, in dem wir uns jetzt befinden, bei Niemandem besser Rath finden kann als bei Ihnen.“

Drouyn de L'huys verneigte sich schweigend, keine Miene seines Gesichts zeigte die geringste Bewegung; in seinen Zügen lag nur die ehrerbietige Aufmerksamkeit auf das, was der Kaiser ihm sagen würde, aber keine Neugierde, keine Spannung es zu vernehmen.

„Sie haben,“ sagte der Kaiser zögernd und eine leichte Verlegenheit überwindend, „Sie haben im Jahre 1866 mit patriotischem Eifer und begeisterter Ueberzeugung die Ansicht vertheidigt, daß ich den Thatsachen gegenüber, welche sich in Deutschland durch die Schlacht von Sadowa vollzogen haben, mein Veto einlegen solle, um die Constituirung der neuen preußischen Macht zu verhindern oder für Frankreich diejenigen Compensationen zu erreichen, welche uns in den Stand gesetzt hätten, auch jener Macht gegenüber unsere Stellung zu behaupten.“

Drouyn de L'huys neigte betätigend das Haupt.

„Ich erinnere mich, Sire,“ sagte er, „daß jene Ansicht, welche auch heute noch die meinige ist, damals unausführbar war, weil Eurer Majestät Marschälle erklärten, daß eine militairische Action in jenem Augenblick unmöglich oder höchst bedenklich sei. Ich bin auch heute noch der Ansicht,“ fuhr er mit fester Stimme fort, „daß damals eine wirklich militairische Action garnicht möglich geworden wäre, daß die französischen Fahnen am Rhein allein genügt hätten, um unmittelbare Annahme der Bedingungen zu erwirken, welche man später, nachdem der Frieden von Prag geschlossen war, so schnöde zurückgewiesen hat.“

„Sie sind damals,“ sprach der Kaiser mit sanfter trauriger Stimme, „von den Geschäften zurückgetreten, weil ich Ihrer Ansicht nicht beipflichten konnte. Sie zürnen mir, vielleicht haben Sie Recht — vielleicht habe ich damals Unrecht gehabt.“ —

„Ich wage nicht, Eurer Majestät Handlungen zu beurtheilen,“ erwiderte Drouyn de L'huys, „und erlaube mir nicht Eurer Majestät zu zürnen, weil Sie nach Ihrem eigenen Ermessen Frankreich regieren, aber Eure Majestät wissen auch, daß ich nur dann Ihr Minister sein kann, wenn die Politik, die Sie befehlen, meiner eigenen Ueberzeugung entspricht. Daß ich mich damals zurückgezogen habe, daß ich mich seither von dem politischen Leben vollkommen fern halte, werden Eure Majestät natürlich finden und mir deshalb Ihre Gnade und Ihr Vertrauen nicht entziehen.“

„Wie wenig mein Vertrauen zu Ihnen erschüttert ist,“ sagte Napoleon, „sehen Sie daraus, daß ich in diesem Augenblick zu Ihnen komme, um Ihren Rath zu hören, — den Rath eines Freundes, eines bewährten Freundes, eines der wenigen Freunde, die mir noch bleiben,“ sagte er tief seufzend — „denn ich habe viel verloren.“

„Mein Rath, Sire,“ erwiderte Drouyn de L'huys, „wenn Eure Majestät auf denselben Werth legen, wird Ihnen in jedem Augenblick zu Gebote stehen, und der Privatmann wird Ihnen mit derselben Ergebenheit und Aufrichtigkeit die Wahrheit oder das, was er für die Wahrheit hält, sagen, als es Ihr Minister gethan hat.“

„Irgend ein großer Staatsmann,“ sagte der Kaiser, immerfort in die Flammen des Kamins blickend, „ich glaube Metternich — sagt, einen Fehler machen sei nicht so schlimm, als einen gemachten Fehler nicht verbessern. Nun wohl,“ fuhr er fort, sich mit verbindlichem Lächeln zu Drouyn de L'huys wendend, „wir haben einen Fehler gemacht, ich fange an mich zu überzeugen, daß es weit besser gewesen wäre, damals Ihrem Rath zu folgen. Doch möchte ich nicht die zweite größere Schuld auf mich laden, jenen Fehler nicht zu verbessern, und es handelt sich darum, wie dies geschehen könne. Man hat mir zu liberalen Concessionen gerathen,“ fuhr er schneller und lebhafter sprechend fort, „um die Zukunft des Kaiserreichs mit populairen Institutionen zu umgeben. Ich habe jene Concessionen gemacht, die Unzufriedenheit hat sich vermehrt und die Zukunft des Kaiserreichs beruht, wenn wir uns die Wahrheit nicht verhehlen wollen, mehr als je auf meinen persönlichen Einfluß. Von allen Seiten sagt man mir, und ich fange an zu glauben, daß man Recht hat, daß die Schwierigkeit der Situation weniger im Innern, als in dem geschwächten Einfluß Frankreichs nach Außen hin liege. Alles drängt mich den Fehler von 1866 zu verbessern, mit einem Wort: den Krieg zu machen und dasjenige wieder zu zerstören, was man vielleicht besser damals garnicht hätte entstehen lassen sollen. — Um aber den Krieg zu machen, bedarf ich außer der Tüchtigkeit der Armee, welche vorhanden ist, wie man mich versichert, auch Männer von festem, klaren und entschlossenem Geist, welche die militairische Action politisch vorbereiten und während der Ereignisse die Zügel der Politik in starker Hand halten. Sollte es zum Kampf kommen, so muß ich und werde ich persönlich bei der Armee sein, denn der Kaiser, der den Namen Napoleon führt, muß da sein, wo die Gefahr ist, wo die Adler Frankreichs dem Feinde entgegengetragen werden. Ich würde die Kaiserin als Regentin in Paris zurücklassen müssen, dann aber wäre es vor Allem nothwendig, daß neben ihr ein Mann stände von erprobter Treue, von erprobter Geschäftskenntniß, ein Mann, welchem die europäischen Cabinette ihre Achtung und ihr Vertrauen entgegentragen, und zu welchem ebenso mit Vertrauen und mit Achtung das französische Volk aufblickt. Ich wüßte keinen bessern Mann dafür als Sie, mein lieber Herr Drouyn de L'huys, und ich bin deshalb gekommen, um ohne alle Umschweife Sie zu fragen, ob Sie es für nothwendig und für klug finden, jenen Fehler von 1866, den Sie einst so scharf getadelt und der Sie mir entfremdet hat, heute zu verbessern, und ob Sie in einem solchen Fall mir mit Ihrem Rath und Ihrer Kraft zur Seite stehen wollen?“

Drouyn de L'huys blickte lange ernst und schweigend vor sich nieder, dann erhob er das kluge offene Auge zu dem Kaiser, der mit dem Ausdruck lebhaftester Spannung seine Antwort erwartete. Er sprach ruhig und langsam, jedes Wort scharf betonend:

„Eure Majestät haben mir in wenig Worten eine Frage gestellt, welche nicht leicht ist kurz zu beantworten. — Es ist wahr, Sire,“ fuhr er fort, „daß ich den Fehler, den die französische Politik im Jahre 1866 gemacht hat, heute noch schmerzlich beklage. In jenem Fehler liegt die Wurzel, der Anfang der ganzen Verlegenheit, in welcher wir uns gegenwärtig befinden. Ob aber dieser Fehler wieder gut zu machen ist, ob er heute oder in naher Zeit gut zu machen ist — daran, Sire, muß ich ernstlich zweifeln. Frankreich befindet sich, wenn ich einen Vergleich brauchen darf, in der Lage eines Mannes, der es verweigert hat ein Duell anzunehmen in dem Augenblick, wo man ihn beleidigt hat, er empfindet später in der allgemeinen Mißachtung die Folgen seiner Unschlüssigkeit. Aber gewiß kann er sie dadurch nicht gut machen, daß er irgend eine Gelegenheit vom Zaune bricht, um sich zu schlagen. Für uns ist in diesem Augenblick eine richtige, einer großen Nation würdige Veranlassung zum Kriege nicht vorhanden. Wir haben alle Veränderungen, welche der Krieg von 1866 in Deutschland hervorgerufen, acceptirt, wir haben den Prager Frieden nicht nur geschehen lassen, sondern haben selbst bei dessen Abschluß mitgewirkt. Alles, was jetzt in Deutschland geschieht, ist nur die Consequenz jenes Friedensvertrages, und mag man hier und da über den Wortlaut desselben hinausgehen, für Frankreich kann darin gewiß kein Grund zu einem so furchtbaren und folgenschweren Krieg liegen, durch den man heute mit dem Einsatz aller Kräfte und der ganzen Machtstellung des Landes einen Fehler wieder gut machen wollte, der damals durch eine einfache militairische Demonstration hätte vermieden werden können. —

„Ich sage nicht, Sire,“ fuhr er fort, als der Kaiser ihn erstaunt und verwundert anblickte, „ich sage nicht, daß der Conflict zwischen dem sich immer fester constituirenden Deutschland und Frankreich nicht früher oder später kommen müsse. Heute aber ist er noch in keiner Weise reif, und vor allen Dingen kann es nicht die Initiative Frankreichs sein, welche diesen Conflict hervorrufen darf. Die Fragen, um welche es sich in diesem Augenblick handelt, sind nicht französische. Frankreich ist weder der vertragschließende Theil, noch garantirende Macht bei dem Prager Frieden. Geht Preußen über die Schranken hinweg, welche es sich selbst im Jahre 1866 gezogen hat, so muß es zunächst die Sache Oesterreichs und der Süddeutschen Staaten, das heißt, der in jenem Krieg Besiegten sein, Einhalt zu thun und Protest zu erheben. Wenn die Frage so gestellt wird, wenn die Süddeutschen Staaten ihre Unabhängigkeit gegen Preußen vertheidigen, wenn Oesterreich zum Schutz dieser seiner Verbündeten die strenge Aufrechthaltung der Verträge fordert, dann kann Frankreich hinzutreten, jene Forderungen unterstützen und als Verbündeter der deutschen Staaten, als Verbündeter Oesterreichs gegen Preußen zu Felde ziehen. Dann werden wir sicher sein, daß das deutsche Nationalgefühl sich nicht als ein mächtiger Verbündeter des Berliner Cabinets uns gegenüberstellt. — Davon, Sire,“ fuhr er fort, „sind wir noch sehr weit entfernt. Ich habe,“ sagte er lächelnd, „obgleich ich mich ganz von der activen Politik fern gehalten, dennoch aus alter Gewohnheit den Gang der Dinge scharf beobachtet, und ich habe kein Zeichen bemerkt, daß die Süddeutschen Staaten entschlossen oder auch nur geneigt wären, einen energischen Widerstand gegen Preußen zu machen.“

„Doch werden dort,“ fiel der Kaiser ein, „namentlich in den katholischen Kreisen vielfache Sympathien für Frankreich laut. Man erwartet von uns Hülfe und Beistand.“

„Um Hülfe und Beistand zu erwarten,“ erwiderte Drouyn de L'huys, „muß man zunächst selbst handeln. Und ich kann Eurer Majestät nicht genug wiederholen, daß die höchste Gefahr in einem Krieg gegen Preußen darin liegt, das deutsche Volk zu dem Irrthum zu veranlassen, es handele sich um eine französische Frage. Mögen die Herren in München und in Stuttgart statt halbe Winke und Andeutungen hierher zu senden, mögen sie fest und frei auftreten, mögen sie ihr Recht vertheidigen, sich mit einer starken Bewegung ihres Volkes umgeben, dann, Sire, kann der Moment kommen, in welchem Frankreich kluger und berechtigter Weise jenen durch diese ganzen langen Jahre sich wie eine schleichende Krankheit hinziehenden Conflict zu endlicher Lösung zu bringen, das heißt auch dann nur in dem Fall, daß Oesterreich mit festem Willen und ernster Energie entschlossen ist, auch seinerseits den Kampf um seine alte Stellung in Deutschland wieder aufzunehmen.“

„Ich habe keinen Grund,“ sagte der Kaiser, „daran zu zweifeln, daß Oesterreich in dem gegebenen Augenblick einen solchen Entschluß fassen und ausführen wird. Nach dem Bericht des Herzogs von Grammont ist der Grundgedanke der österreichischen Regierung immer der, die deutsche Basis, von welcher sie herabgeworfen ist, wieder zu gewinnen, und ich betrachte die Mitwirkung Oesterreichs auch ohne daß darüber etwas Bestimmtes stipulirt ist, für gesichert.“

„Ich bin nicht in der Lage, Sire,“ erwiderte Drouyn de L'huys ruhig und kalt, „das Vertrauen Eurer Majestät zu theilen. Selbst da, wo bestimmte Verträge vorlagen, hat Oesterreich uns oft im Stich gelassen. Gegenwärtig aber scheint mir, so weit ich die Lage beurtheilen kann, nicht einmal irgend eine faßbare Verhandlung zu existiren. Oder verzeihen Eure Majestät meine indiscrete Frage, die durch Ihre vertrauensvolle Berufung an mein Urtheil gerechtfertigt sein mag, haben irgend welche Verhandlungen mit bestimmten Resultaten zwischen Oesterreich und Frankreich Statt gefunden?“

„Das nicht,“ erwiderte der Kaiser mit einer leichten Verlegenheit, „indessen die Bestimmung, die ich selbst persönlich bei dem Kaiser Franz Joseph Gelegenheit hatte zu bemerken, und die Mittheilungen, welche Grammont über die dortigen Verhältnisse macht, lassen mich an einer activen Mitwirkung Oesterreichs nicht zweifeln. Nur,“ fuhr er fort, „scheint man dort — ganz entgegengesetzt der Ansicht, die Sie soeben aussprachen — dringend zu wünschen, daß der Kriegsfall nicht aus einer deutschen Frage genommen werde, da es für Oesterreich schwer sein würde, in einer solchen eine diplomatische Handhabe für seine Aktion zu finden, nachdem es in seine völlige Ausschließung aus Deutschland eingewilligt hat.“

Ein leichtes höhnisches, fast mitleidiges Lächeln glitt über Drouyn de L'huys' ernste Züge.

„Dies entspricht ganz der unsichern zweideutigen Haltung, welche mir in der österreichischen Politik nichts Neues ist,“ sagte er. „Das ist der vollständige cercle vitieux, das heißt mit andern Worten klar und ohne Rückhalt ausgesprochen. Wir sollen allein die Gefahr tragen, wir sollen das siegreiche Preußen niederwerfen, und dann will Oesterreich die große Gnade haben, mit uns die Früchte des Sieges zu theilen. — Nein, Sire,“ rief er lebhaft, „auf einer solchen diplomatischen Basis kann Frankreich in diesem Augenblick keinen Krieg führen! Wir müssen feste und starke Alliirte haben! Wir müssen des energischen Vorgehens der Süddeutschen Staaten und vor Allem der festen Alliance und der genau normirten und bis zum Ende sicher gestellten Mitwirkung Oesterreichs vollkommen gewiß sein. Die jetzigen Beziehungen zwischen Frankreich und Oesterreich kommen mir vor wie das Verhältniß eines Herrn zu einer Dame, der ihr die Cour macht, ihr Bouquets überreicht, ihr die Taschentücher aufhebt, aber niemals von Heirathen spricht. Soll Frankreich eine so ernste entscheidende Action beginnen, so muß vor allen Dingen mit Oesterreich eine wirkliche, ganz feste Alliance geschlossen werden. Diese Alliance allein kann verhindern, daß die ganze, so ungeheuer angewachsene preußische Militärmacht sich in mächtig concentrirten Vorstößen über den Rhein her gegen uns heranbewegt. Diese Alliance allein ist im Stande, auch Italien in Schach zu halten, das sonst gewiß jede Verwickelung Frankreichs benutzen wird, um Rom zu nehmen und damit unseren Einfluß auf der pyrenäischen Halbinsel zu zerstören und Eurer Majestät Regierung die mächtige Stütze zu rauben, welche Ihnen der katholische Clerus bietet.“

„Und würden Sie geneigt sein,“ fragte der Kaiser, welcher sehr ernst zugehört hatte und auf den die Worte seines früheren Ministers einen tiefen Eindruck gemacht zu haben schienen, „die französische Politik nach den Grundsätzen, welche Sie mir soeben entwickelt, wieder zu leiten und die große Action nachdrücklich vorzubereiten, welche uns wieder auf die alte Höhe zurückführen soll?“

„Ich werde, Sire,“ erwiderte Drouyn de L'huys, „meine Dienste Eurer Majestät und meinem Vaterlande niemals verweigern, doch scheint mir in diesem Augenblick noch nicht die Zeit gekommen zu sein, um an einen Krieg zu denken. Ich würde Eurer Majestät rathen, zuerst die Verhältnisse im Innern zur vollständigen Abklärung zu bringen. Denn ich muß Ihnen mit aller Aufrichtigkeit sagen, Sire, daß so wie die Dinge jetzt liegen, auch ein nur vorübergehender Mißerfolg unserer Armee die bedenklichste und gefährlichste Bewegung im Lande selbst hervorrufen kann. Die alte Kraft der Regierung ist gebrochen, — die unzufriedenen Elemente sind fest organisirt und jeden Augenblick entschlossen, das Aeußerste zu wagen.“

„Aber die Nation,“ sprach der Kaiser mit einem Anklang von Ungeduld in der Stimme, „empfindet tief das Herabsinken Frankreichs von seiner militairischen Höhe. Man sagt mir allgemein, daß die Nation den Krieg will, und daß ein großer nationaler Krieg das beste Mittel sei, um der Regierung die allgemeinen Sympathieen wieder zu gewinnen.“

„Ich glaube,“ sagte Drouyn de L'huys, „daß Diejenigen, die dies Eurer Majestät sagen, sich täuschen. Ich habe seit meinem Rücktritt von den Geschäften meine Muße mit dem Studium der öconomischen Verhältnisse ausgefüllt. Man hat mir die Ehre erzeigt, mich zum Präsidenten der großen Gesellschaft der Landwirthe zu erwählen, welche sich über ganz Frankreich verbreitet. Ich habe in dieser meiner Stellung viele Reisen gemacht und die meisten Provinzen des Landes besucht als Präsident der Gesellschaft, welche die großen Grundbesitzer, wie die kleinen ländlichen Eigentümer und die Bauern umfaßt. Ich hatte Gelegenheit wie aus einer Loge die ganze Bewegung zu beobachten, welche sich auf der Scene des wirthschaftlichen Lebens zeigt, und ich kann Eurer Majestät meine Ueberzeugung nur dahin aussprechen, daß das ganze Land, d.h. das Land, welches schafft und arbeitet, den Frieden will, den Frieden auf lange Zeit, um all die Quellen des Wohlstandes, welche so viele weise Maßregeln Eurer Majestät eröffnet haben, zu vollkommenem und ergiebigem Fluß zu bringen. Würde eine große Verwickelung in Deutschland entstehen, würde die unterdrückte Bevölkerung der Süddeutschen Staaten, würde Oesterreich die Hülfe Frankreichs gegen Verletzungen der öffentlichen Verträge anrufen, so würde es allerdings die Nation als eine Ehrensache betrachten, dann mit voller Kraft und mit allem Nachdruck in den Kampf einzutreten. Würde aber Frankreich einseitig einen Conflict provociren, ohne dringende Notwendigkeit sich in die Opfer und Wechselfälle eines Krieges stürzen — dann, Sire — ich spreche meine innigste und festeste Ueberzeugung aus, dann würde man vielleicht einiges chauvinistisches Geschrei auf den Boulevards hören, aber die ganze große Bevölkerung des Landes würde mit tiefem Schmerz ihren durch Fleiß und Arbeit erworbenen Wohlstand der unsicheren Entscheidung durch die Spitze des Schwertes preisgegeben sehen.“

Der Kaiser senkte das Haupt und drehte lange schweigend an seinem Schnurrbart.

„Sie meinen also, daß die Consolidirung der innern Verhältnisse einer Action nach Außen vorhergehen müsse?“ fragte er.

„Ebenso gewiß,“ erwiderte Drouyn de L'huys fest, „als man bei jedem Vorgehen an den Rückzug denken muß. Eure Majestät müssen sicher sein,“ sagte er mit leiser durchdringender Stimme, — „verzeihen Sie meine kühne Aufrichtigkeit — daß Sie nach einer immerhin möglichen Niederlage noch Herrscher bleiben, den Thron von Frankreich noch erhalten können.“

Der Kaiser öffnete weit die Augen. Ein eigenthümlich durchdringender Blick fiel auf das ruhige Gesicht des Herrn Drouyn de L'huys. Dann beugte er sich mit einer raschen Bewegung zu ihm hinüber, reichte ihm die Hand und sagte mit sanfter weicher Stimme.

„Ich danke Ihnen für dieses Wort, ich habe mich nicht getäuscht, als ich im Vertrauen auf Ihre Freundschaft zu Ihnen kam. Ich habe die Wahrheit gesucht und Sie gaben mir dieselbe, wie es einem wahren Freunde geziemt, — doch,“ fuhr er fort, „wenn Sie der Meinung sind, daß die in's Schwanken gekommenen inneren Verhältnisse wieder befestigt werden müßten, so haben Sie auch gewiß Ihre bestimmte Ansicht darüber, in welcher Weise dies geschehen könnte. — Sie haben mir selbst,“ fuhr er nach einer kleinen Pause fort, „früher den Rath gegeben, den kaiserlichen Thron mit liberalen Institutionen, welche in der freien Bewegung des Volkes beruhen, zu umgeben, damit wenn die Vorsehung es will, daß mein Sohn im frühen Jünglingsalter zur Herrschaft berufen werde, diese Institutionen seinen Thron schützend umringen. Sie sehen, daß ich Ihren Rath befolgt habe. Aber,“ sagte er seufzend, „statt Befriedigung habe ich nur eine immer unzufriedener wachsende Unruhe hervorgerufen.“

„Weil,“ fiel Drouyn de L'huys ein, „Eure Majestät hierbei einen Fehler gemacht haben. Das heißt,“ schaltete er, sich verneigend ein, „nach meiner unvorgreiflichen Ueberzeugung, welche Sie mir frei auszusprechen befohlen haben — einen Fehler, welcher schon oft in ähnlichen Verhältnissen begangen worden ist, und welcher jedesmal verderbliche Folgen gehabt hat.“

„Und welchen,“ fragte der Kaiser gespannt, den Arm auf das Knie stützend und den Kopf zu Drouyn de L'huys hinüber neigend.

„Eure Majestät haben liberale Institutionen durch liberale Personen einführen lassen,“ erwiderte Drouyn de L'huys, „und zwar durch Personen, welche durchdrungen sind von dem parlamentarischen Doctrinismus, der niemals selbstständig und fest handelt, sondern immer nach rechts und links hin lauscht, was wohl der leicht beweglichen öffentlichen Meinung in jedem Augenblick am meisten zusagen möchte. Es ist aber,“ fuhr er fort, „eine alte Regel der Staatskunst, daß man liberale Institutionen immer durch sehr feste und energische Männer einführen lassen muß, durch Männer, welche in ihren Grundgesinnungen wesentlich conservativ und vor Allem der Regierung und der Dynastie sehr ergeben sind, damit man in der freiern Bewegung die Zügel nicht aus den Händen verliert, — ebenso wie es auf der andern Seite jedenfalls richtig und geboten ist, energische oder gar reactionaire Maßregeln stets durch Persönlichkeiten ausführen zu lassen, welche als liberal bekannt sind, und welche jenen Maßregeln das öffentliche Vertrauen zu gewinnen im Stande sind. Ich liebe Herrn Rouher nicht, wie Eurer Majestät bekannt,“ sprach er weiter, „dennoch glaube ich, daß er der richtige Mann gewesen wäre, um die freiere Bewegung zu inauguriren, welche Eure Majestät dem Staatsleben haben geben wollen. — Ebenso wie Herr Ollivier,“ fügte er mit leichtem Lächeln hinzu, „ganz der Mann sein würde, um etwa nothwendig werdende strenge Maßregeln durch ihn durchführen zu lassen.“

Der Kaiser hatte mit äußerster Aufmerksamkeit zugehört.

„Sie haben Recht, Sie haben vollkommen Recht,“ sagte er. „Ich habe auch darin wieder einen Fehler gemacht. So wie man Concessionen macht, betritt man eine schiefe Ebene, und es gehören starke Kräfte dazu, um dem zu schnellen Hingleiten nach der abschüssigen Bahn sich entgegen zu stemmen. — Die Männer aber, in deren Händen gegenwärtig die Gewalt der Regierung liegt, haben diese Kräfte nicht.

„Sie meinen also,“ fuhr er fort, „daß um die freieren Grundsätze ohne Schaden für die Nationalität in das öffentliche Leben hineinwachsen zu lassen —“

„Andere Männer nöthig sind,“ fiel Drouyn de L'huys ein, „und zwar Männer, welche die öffentliche Bewegung beherrschen, nicht aber ihr folgen.“

„Was meinen Sie,“ sagte der Kaiser schnell, „zu dem Plebiscit, um den neuen Institutionen des placet de suffrage universel zu geben und damit auch dem Kaiserreich von Neuem die Basis eines wiederholten Vertrauensvotums des ganzen Volkes zu schaffen? Man könnte dadurch mit einem Schlage einen Schwerpunkt aus dem parlamentarischen Parteitreiben herausnehmen, welches jetzt nur zu sehr der Mittelpunkt des öffentlichen Lebens geworden ist.“

Drouyn de L'huys blickte ein wenig erstaunt in die lebhaft erregten Züge des Kaisers.

„Und Sire,“ fragte er, „wie würde sich Graf Daru, wie würde sich Herr Buffet zu einer solchen Wiederholung des suffrage universel stellen?“

„Das weiß ich nicht,“ sagte der Kaiser. „Doch,“ fuhr er achselzuckend fort, „liegt mir an dem Vertrauensvotum der französischen Nation mehr als an Daru und Buffet.“

Drouyn de L'huys neigte mit dem Ausdruck des Verständnisses den Kopf.

„Und Ollivier?“ fragte er dann.

„Ich werde ihm einen Brief schreiben,“ sagte der Kaiser, „ich werde die ganze Sache in seine Hände legen. Seine früheren parlamentarischen Stützen sind sehr schwankend geworden, er wird mit Freuden die Gelegenheit ergreifen, wie ich glaube, um sich auf den breitern und festern Grund des allgemeinen Volkswillens zurückzuziehen.“

„Ich glaube,“ sagte Drouyn de L'huys, „aus den Andeutungen Eurer Majestät entnehmen zu dürfen, daß Ihre Ideen sich auf dem Wege befinden, den ich unter den augenblicklichen Verhältnissen nur als den richtigen anerkennen kann. Wenn Sie das allgemeine Volksvotum als das beste Mittel erkennen, die neue und freie Verfassung des Kaiserreichs auf festen Grundlagen zu etabliren und vor schwankenden Bewegungen zu schützen, so ist es gewiß richtig, diese Maßregeln durch Ollivier vorbereiten und ausführen zu lassen. Nachdem dies geschehen ist, wird es meiner Ueberzeugung nach an der Zeit sein, die Zügel der Regierung in festere und kräftigere Hände zu legen, wobei indeß Herr Ollivier, der so unendlich leitungsfähig ist, immer conservirt werden kann. Dann, Sire, wird auch vielleicht der Augenblick gekommen sein, in welchem man an eine wohl überlegte und verständige Vorbereitung einer großen militairischen Action wird denken können, welche die Consequenzen des Jahres 1866 wieder zu redressiren im Stande sein möchte.“

Der Kaiser erhob sich.

„Und dann,“ sagte er, „dürfte ich auch darauf rechnen, daß mir Ihre Unterstützung nicht fehlen wird.“

„Ich werde dann, Sire,“ erwiderte Drouyn de L'huys, „jeden Augenblick bereit sein, Eurer Majestät meine Ideen, über welche ich reiflich nachdenken will, auseinanderzusetzen, und diese Ideen, wenn Sie dieselben acceptiren, auszuführen.“

„Ich danke Ihnen,“ sagte der Kaiser, ihm die Hand reichend. „Ich verlasse Sie, wie immer, so oft ich mit Ihnen gesprochen, reicher an guten Gedanken und Entschlüssen. — Ich bitte Sie, Madame Drouyn de L'huys meine angelegentlichsten Empfehlungen zu machen, ich will sie nicht derangiren, denn ich möchte sogleich nach den Tuilerien zurückkehren, um meine Entschlüsse reif werden zu lassen und sie ohne Verzug zur Ausführung zu bringen.“

Drouyn de L'huys geleitete den Kaiser an seinen Wagen. — Napoleon stieg mit dem General Favé ein und fuhr durch die Champs Elysés nach den Tuilerien zurück.


Viertes Capitel.


In einer eleganten Parterrewohnung eines Hauses der Thiergartenstraße saßen in einem behaglich eingerichteten Wohnzimmer zur vorgerückten Abendstunde eines dunklen und stürmischen Februartages zwei alte Herren in bequemen Lehnstühlen neben einem großen Tisch, der durch eine hohe Lampe mit einem flachen Schirm beleuchtet wurde.

Der Eine derselbe zeigte in seiner ganzen Haltung und dem Ausdruck seines Gesichts, obgleich er im einfachen Civilanzug gekleidet war, alle Eigenthümlichkeiten eines alten Militairs. Das etwas empor stehende graue Haar war kurz geschnitten, der graue Bart dienstmäßig zugestutzt, und das bleiche kränkliche Gesicht hatte jenen ruhigen, etwas zurückhaltenden und fast dienstlich gleichmäßigen Ausdruck, welcher den preußischen Officieren eigenthümlich ist. Die dunklen Augen blickten scharf und klar unter den grauen Augenbrauen hervor. Er saß grade aufgerichtet in seinem Stuhl, von Zeit zu Zeit eine volle Rauchwolke aus der großen dunklen Havannahcigarre ziehend, welche er in seiner Hand hielt.

Dieser alte Herr war der Oberstlieutenant von Büchenfeld, welcher seit einiger Zeit wegen rheumatischer Leiden den activen Dienst verlassen hatte und in sehr einschränkten Verhältnissen von seinem kleinen Vermögen und seiner Pension lebte.

Neben ihm saß der Baron von Rantow, sein Jugendfreund, ein großer Grundbesitzer aus der Provinz Schlesien, welcher als Mitglied des Herrenhauses den Winter in Berlin lebte und, ohne selbst ein großes Haus zu machen, sich doch viel in der vornehmen Gesellschaft der Residenz bewegte.

Der Baron von Rantow war in seiner ganzen Erscheinung das vollständige Gegentheil seines Freundes. Sein ganzes Wesen zeigte jene bequeme Eleganz, welche das Bewußtsein einer unabhängigen Lebensstellung verleiht. Sein volles Gesicht von gesunder Farbe war von einem dichten, wohl gepflegtem, nur leicht ergrauten Backenbart umrahmt. Sein Kopf war fast kahl, und der Blick seiner großen blauen Augen war zwar nicht ohne Geist und ohne Intelligenz, schien aber alle Gegenstände, auf die er sich richtete, nur leicht und oberflächlich zu streifen, und ließ Diejenigen, mit denen der Baron sprach, oft daran zweifeln, ob er sich wirklich mit den Gegenständen der Unterhaltungen beschäftigte oder ob seine Gedanken anderswo weilten.

Herr von Rantow saß bequem zurückgelehnt in seinem Fauteuil und spielte leicht mit den Fingern seiner vollen weißen Hand auf der Lehne desselben.

„Die Kammern sind ja jetzt geschlossen,“ sagte der Oberstlieutenant mit einer scharfen, bestimmt klingenden Stimme. „Ihr habt Euer Werk für dies Jahr vollendet, und der Norddeutsche Reichstag tritt jetzt auf die Scene. Du wirst wohl nicht mehr lange hier weilen,“ fügte er seufzend hinzu. „Das thut mir recht leid, ich werde dann wieder in meiner Einsamkeit hier allein sein. Ich kann mich noch nicht so recht in mein Leben als Pensionair finden. Die active Dienstthätigkeit fehlt mir überall, und mich dem geselligen Leben anzuschließen, dazu bin ich mit der Zeit zu steif und schwerfällig geworden.“

„Ich bleibe noch zwei Monate hier, mein alter Freund,“ erwiderte der Baron von Rantow. „Du wirst also noch einige Zeit hier einen Ort haben, wo Du gelegentlich einen langweiligen Abend unterbringen kannst. Dann kommst Du mit mir auf mein Gut, frische Luft wird Dir wohl thun, die Bewegung im Freien Deine Kräfte wieder stärken.“

„Du bleibst noch hier?“ fragte der Oberstlieutenant ein wenig erstaunt. „Das ist mir unendlich erfreulich,“ fügte er hinzu, „doch begreife ich nicht, daß Du Dich so lange ohne dringende Nothwendigkeit Deiner Wirthschaft entziehst.“

„Ich habe einen sehr tüchtigen Verwalter,“ erwiderte der Baron von Rantow, — „und dann,“ fuhr er fort, indem sein Blick wie zerstreut sich in die Ferne zu richten schien, „Du weißt, mein Sohn ist in seinem Staatsexamen begriffen, ich möchte das Resultat abwarten, um ihn dann gleich mit mir zu nehmen. Der Landrath meines Kreises wird bald zurücktreten, und ich wünsche, daß mein Sohn sich um diese Stelle bewerben möge; — wenn er dereinst meine Besitzungen übernimmt, so ist es sehr gut für ihn zugleich Landrath des Kreises zu sein und sich so eine angenehme und nützliche Thätigkeit, bedeutenden Einfluß und vielleicht die Aussicht auf eine große Carriere zu schaffen.“

„Du bist glücklich, alter Freund,“ sagte der Oberstlieutenant mit etwas wehmüthigem Ton, „daß Du Deinem Sohn eine solche Perspective eröffnen kannst. Ich kann leider,“ fuhr er fort, eine dichte Rauchwolke vor sich hinblasend, „meinem armen Carl nur dieselbe Lebensbahn bieten, an deren Ende ich jetzt angelangt bin, eine gleichförmige und wenig fröhliche Bahn. Man zehrt seine Kräfte im Dienst auf und dann bringt man sein Alter als ein unbrauchbares Glied der menschlichen Gesellschaft hin. Hätte ich es mir recht überlegt oder wäre meine Frau am Leben geblieben, — vielleicht wäre es anders geworden. Sie wollte immer, daß unser einziger Sohn studiren sollte. Nun,“ — sagte er, leicht mit der Hand über die Augen fahrend, „sie ist lange dahingegangen, und der Junge hatte immer so große Freude an den Knöpfen der Uniform und den Epauletten und bat so dringend, daß er auch des Königs Rock tragen dürfe, daß ich ihm nachgegeben habe. Jetzt ist es geschehen, und er muß den Weg zu Ende gehen. Gott gebe, daß er mehr Glück und Freude auf demselben finden möge, als mir zu Theil geworden ist.“

„Mein lieber Freund,“ sagte der Baron von Rantow, indem der Ausdruck phlegmatischer Zerstreutheit und Gleichgültigkeit auf seinem Gesicht einen Augenblick von einem wärmeren Gefühl verdrängt wurde, „Du darfst nicht vergessen, daß das Leben eines Soldaten in seinem ruhigen und einförmigen Gang dafür aber auch von manchen Sorgen und Aufregungen verschont bleibt, die uns treffen und daß es doch auch schön ist,“ fügte er hinzu, dem Oberstlieutenant die Hand drückend, „sich zuletzt sagen zu können, daß man alle Zeit mit Ehren seine Pflicht erfüllt hat.“

„Ja, ja,“ erwiderte der Oberstlieutenant mehrmals mit dem Kopf nickend, „das ist Alles ganz schön, aber man fragt sich denn doch auch, wozu das Alles, wo ist der Nutzen, den dieses Leben von Arbeit, Pflichterfüllung und Entbehrung gebracht hat?“

„Der Nutzen?“ fragte Baron von Rantow lebhaft. „Du wirst den Nutzen nicht im Kreise des Einzelnen, nicht in der beschränkten Zeit eines Menschenlebens suchen; Ihr Alle, die Ihr Eure Kräfte und Arbeit im militairischen Dienst dem Staat widmet, schafft Glied für Glied, Kette für Kette jene große gewaltige Macht, die Armee, die in den entscheidendsten Augenblicken der Weltgeschichte heraustritt und für alle die Ideen, welche die geistige Thätigkeit erzeugt und entwickelt hat, die Bahnen bricht und den Raum schafft. Wie Viele haben sich in den fünfzig letzten Friedensjahren gefragt, wofür sie ihre Kräfte anstrengten! Wie Viele sind gestorben, ohne eine Antwort auf diese Frage zu erhalten! Das Jahr 1866 hat diese Antwort gegeben, und Du, mein alter Freund, gehörst zu den Glücklichen, denn Du hast jenes Jahr noch mit erlebt und mit durchgekämpft. Du wenigstens weißt, wofür Du gestrebt und gearbeitet hast.“

„Nun, nun,“ sagte der Oberstlieutenant, indem er sich lächelnd den Schnurrbart strich, „ich murre auch nicht weiter. Wird auch der einzige Stein in einem großen Bau nicht bemerkt, er gehört doch auch mit zum Ganzen und darf auch mit Stolz sich sagen, daß er seinen Platz ausfüllt. Ich wünsche nur, daß mein Sohn keine fünfzig Friedensjahre vor sich haben möge.“

„Dazu hat es kaum den Anschein,“ sagte der Baron von Rantow mit einem leichten Anklang von Unzufriedenheit in seiner Stimme. „Man schwebt ja in dieser Zeit eigentlich fortwährend zwischen Krieg und Frieden, und in den letzten Tagen klingen wieder sehr kriegerische Stimmen von der andern Seite des Rheins herüber. Früher oder später müssen alle Conflicte, welche 1866 noch ungelöst geblieben, doch endlich wieder zum Ausbruch kommen. Ich bedaure es wirklich recht sehr,“ fügte er hinzu, „ich bin in verschiedenen großen Unternehmungen begriffen, welche einen vortrefflichen Erfolg versprechen. Ich möchte einige neue Industrieen auf meinen Besitzungen einführen, welche dazu vortreffliche Gelegenheit bieten, und stehe im Begriff, hier ein Consortium zu bilden, das mir die Capitalien dazu verschaffen soll. Um die Sache in Gang zu setzen, brauche ich noch einige Jahre Frieden. So lange aber,“ fügte er lächelnd hinzu, „kann ja Dein Sohn auch wohl noch warten.“

Der Oberstlieutenant schüttelte langsam den Kopf und blickte halb verwundert, halb mißbilligend zu seinem Freunde hinüber.

„Du willst Consortien gründen?“ fragte er. „Du willst Dich mit diesen Banquiers und Capitalisten associiren, um industrielle Spekulationen auf Deinen alten Besitzungen einzuführen? — Nimm es mir nicht übel, alter Freund,“ fuhr er fort, „mir scheint das nicht recht mit der Stellung eines alten Edelmanns zusammen zu passen. Dein Gut ist ja so schön und in vortrefflicher wirtschaftlicher Ordnung, es wirft Dir eine glänzende Revenue ab, Du bist wohlhabend und hast Alles, was Du bedarfst. Du hast nur einen Sohn, warum willst Du denn noch mehr, als die Vorsehung Dir gegeben und Deine Vorfahren Dir hinterlassen haben? Es verträgt sich nicht mit der Stellung des Adels nach meiner Auffassung, sich mit dieser modernen Capitalswelt zu verbinden, um Geld auf Geld zu häufen. Und außerdem scheint es mir nicht klug zu sein, denn auf diesem Gebiet werden wir den Juden und Banquiers doch niemals gewachsen sein, sie werden uns immer das beste Fett vorwegnehmen, und wir werden froh sein können, wenn uns überhaupt noch Etwas bleibt — verzeihe meine Aufrichtigkeit, — Du hast ja zu thun, was Dir beliebt, — aber meine Meinung ist nun einmal so, wie ich gesagt habe.“

„Ich glaube, Du hast vollkommen Unrecht,“ erwiderte der Baron von Rantow, indem er sich ein wenig emporrichtete und zu seinem Freunde hinüberneigte. „Das Geld ist die Macht, welche heut zu Tage die Welt beherrscht, ebenso wie es früher die körperliche Ueberlegenheit in den ritterlichen Uebungen war. Wenn der Adel seine Stellung behaupten will, so muß er jene herrschende Gewalt unserer Zeit in seine Hände bringen. Sieh die große Aristokratie von England an. Wodurch ist sie auf der Höhe geblieben? Nur dadurch, daß sie es immer verstanden hat, ihren Besitz nicht nur zu erhalten, sondern den steigenden Anforderungen der Zeit gemäß fortwährend zu vergrößern. Sieh, wie in Oesterreich der Adel an seiner schlechten Naturalwirtschaft zu Grunde geht. Du wirst mir zugeben, daß auf die Dauer keine Familie sich auf der Höhe ihrer Stellung ohne die Grundlage eines den Zeitbedürfnissen entsprechenden Besitzes zu erhalten im Stande ist.“

Wieder schüttelte der Oberstlieutenant bedenklich den Kopf.

„Der Besitz ist eine schöne Sache,“ sagte er, „aber er macht doch nicht allein die dauernde und feste Grundlage des Adels aus. Ich möchte fast der Meinung sein, daß die Armuth noch eher die ritterlichen Gesinnungen erhält, als der Reichthum, — wie denn auch die alten geistlichen Orden zur Erhaltung des ritterlichen Sinnes das Gelübde der Armuth ablegen mußten.“

„Das sie aber zuletzt sehr wenig hielten,“ sagte der Baron von Rantow lächelnd. Dann fügte er hinzu. „Die geistlichen Herren hatten keine Kinder, für die sie sorgen mußten. — Du hast mir vorhin gesagt, ich hätte nur einen Sohn und er hätte für sein Leben genug an dem, was ich besitze. Das ist ganz recht, aber mein Sohn kann mehrere Nachkommen haben. Und ich möchte doch gern,“ fuhr er fort, mit einem gewissen Stolz den Kopf emporrichtend, „daß auch später Jeder, der den Namen Rantow führt, einen diesem Namen entsprechenden materiellen Besitz habe. Wenn ich nun sehe, daß durch eine geschickte Capitalassociation mein Besitz sich vier- bis fünfmal vergrößern kann, sollte ich da unthätig bleiben, ruhig in alter Weise fortwirthschaften und damit meinen Nachkommen entziehen, was ich ihnen zu schaffen mich fast für verpflichtet halten muß?“

„Wir werden uns nicht darüber verständigen,“ sagte der Oberstlieutenant. „Ich meinerseits,“ sprach er bestimmt und energisch, „würde mich niemals mit dieser industriellen Welt in Verbindung setzen.“

Das Gespräch der beiden alten Herren wurde durch den Eintritt der Baronin von Rantow unterbrochen, einer Dame von hoher und trotz ihrer starken Fülle noch schlanken und elastischen Gestalt mit einem vornehm geschnittenen Gesicht von freundlich heiterm Ausdruck, das die Spuren früherer großer Schönheit zeigte.

Die Dame begrüßte den Oberstlieutenant, der ihr mit einer etwas altmodischen Höflichkeit die Hand küßte, herzlich und nahm auf einem breiten Divan vor dem Tisch Platz, auf welchem ein Diener in eleganter Hauslivree das Theegeschirr aufstellte.

„Die Wagen fangen bereits an vorzufahren,“ sagte Frau von Rantow, „es wird eine sehr große Gesellschaft sich über uns bei dem Herrn Commerzienrath Cohnheim versammeln. Es scheint,“ fuhr sie mit einem leichten Lächeln fort, „daß man Alles aufgeboten hat, um ein recht großartiges Fest zu geben.“

„Wir werden die Nacht recht gestört werden,“ sagte der Baron, „von dem Lärm über unsern Köpfen. Nun,“ fügte er achselzuckend hinzu, „das ist immer noch besser, als wenn wir hätten hingehen müssen. Ich bin einen ganzen Tag,“ fuhr er zum Oberstlieutenant gewendet fort, „zu Hause geblieben, um mein Unwohlsein recht natürlich vorzustellen, damit ich nicht genöthigt bin diese Gesellschaft zu besuchen, in der man sich zwischen emporgekommenen Börsenspeculanten und einzelnen heruntergekommenen Mitgliedern der guten Gesellschaft befindet.“

„Und darum,“ fragte der Oberstlieutenant erstaunt, „legtest Du Dir einen Tag Hausarrest auf? Warum lehntest Du denn nicht einfach die Einladung der Leute ab? Du hast doch wahrhaftig keine Rücksichten auf sie zu nehmen.“

„Doch, mein lieber Freund,“ erwiderte Herr von Rantow, „ich habe sogar recht große Rücksichten auf diesen Herrn Commerzienrath Cohnheim zu nehmen. Er ist gerade Derjenige, der mir meine Consortien zusammenbringen soll, und der mit großem Eifer dabei ist, mir diese Angelegenheit in Ordnung zu bringen. Ich darf ihn also in keiner Weise verletzen, ich nehme auch fortwährend die äußerste Rücksicht auf ihn, — doch mich in diese Gesellschaft hineinzubegeben, das ist etwas zu viel verlangt. In kleinen Kreisen bin ich schon bei ihm gewesen, ich will ihn auch gern bei mir sehen, ja, ich habe sogar Nichts dagegen,“ fuhr er lächelnd fort, „daß mein Sohn dem Fräulein Cohnheim den Hof macht, was er außerdem sehr gern thut, denn die Tochter des Herrn Commerzienraths ist wirklich von einer wunderbaren Schönheit, dabei sehr gut erzogen und sehr fein gebildet.“

„Um Gottes Willen,“ rief der Oberstlieutenant ganz erschrocken, „wenn nun aber die jungen Leute bei diesem Spiel sich Etwas in den Kopf setzen, wenn da eine ernste Neigung entstehen sollte.“

„Nun,“ sagte Herr von Rantow leicht mit den Fingern auf der Lehne seines Sessels trommelnd, „das wäre eine Sache, die sich überlegen ließe. Herr Cohnheim ist sehr reich, sein Vermögen wächst täglich und stündlich. Er wird nach kurzer Zeit sich auf die Höhe der ersten Matadore der Finanzwelt erhoben haben. Er hat nur diese einzige Tochter, wie ich den einzigen Sohn. Es haben sich ja schon viele alte Familien durch Heirathen zu großem Glanz gebracht, — die Sache würde sich vielleicht arrangiren lassen.“

„Ich vermag der neuen Zeit nicht mehr zu folgen,“ sagte der Oberstlieutenant. „Ich für meinen Theil, so arm ich bin, würde doch wahrhaftig niemals meine Zustimmung geben, daß mein Sohn sich durch eine Heirath in dieser Weise seine Lebensstellung machte. Ich halte viel auf meinen Namen und viel auf alte Familien, aber dennoch wäre mir jedes Mädchen aus dem Volke recht, wenn sie mir mein Sohn als Tochter zuführte. Aber mit diesen Kreisen der Finanzwelt, welche die Gesellschaft durch ihre unnatürlichen Speculation aussaugen, denen jedes Mittel recht ist, um nur Geld und wieder Geld aufzuhäufen, mit diesen Kreisen meine Familie zu verbinden! — — Nein,“ rief er lebhaft, „dazu würde ich niemals meine Zustimmung geben.“

„Nun, lieber Büchenfeld,“ sagte Frau von Rantow freundlich lächelnd, indem sie dem Oberstlieutenant ein Glas Grog mischte, „beunruhigen Sie sich nicht, mein Mann ist noch kein so schlimmer Spekulant geworden, als er Sie glauben machen möchte. Hüten Sie sich aber,“ fuhr sie leicht mit dem Finger drohend fort, „daß Ihr Sohn Sie mit Ihren Grundsätzen nicht in Verlegenheit bringt. Er besucht, wie er mir erzählt hat, seit er hier zur Kriegsschule commandirt ist, die Gesellschaften der haute finance sehr fleißig und amüsirt sich sehr gut dort. Er wird gewiß auch heute hier beim Commerzienrath sein in gefährlicher Nähe der schönen Augen des Fräulein Cohnheim.“

„Ich freue mich,“ sagte der Oberstlieutenant, „wenn mein Sohn sich amüsirt, doch bin ich vollkommen sicher, daß er an keine ernsthafte Liaison denkt, und daß er die Grundsätze, die ich vorhin ausgesprochen habe, vollkommen mit mir theilt.“

Er nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Glase und wandte sich dann zu der Baronin von Rantow mit einer gleichgültigen Frage, welche die Absicht zu erkennen gab, das bisherige Gesprächsthema nicht weiter zu behandeln.

Inzwischen hörte man vor dem Hause einen Wagen nach dem andern vorfahren. Bald war es das leichte Rollen eleganter Equipagen, bald der schwerfällig rasselnde Ton einer Droschke, und in der Bel-Etage über der Wohnung des Barons ließ sich das Geräusch zahlreicher Schritte und das dumpfe Gewirr verschiedener Stimmen hören.

Die weiten eleganten Räume des obern Stockwerks, welche der Commerzienrath Cohnheim bewohnte, und welche mit reicher, wenn auch nicht geschmackloser, so doch etwas überladener Pracht ausgestattet waren, strahlten im hellen Glanz einer intensiven Gasbeleuchtung. Die Fenster waren überall durch schwere seidene Vorhänge verdeckt, der ziemlich große Tanzsaal reich mit frischen Blumen decorirt, in den Nebensalons waren Spieltische arrangirt, die kostbaren Oelgemälde an den Wänden waren durch darüber angebrachte Schirmlampen in das möglichst beste Licht gesetzt. Kurz, es war Alles geschehen, um zu zeigen, daß der Commerzienrath ein Mann war, welcher die Mittel besaß, große Gesellschaft bei sich zu empfangen, und welcher es auch verstand, durch guten Geschmack es den Vornehmen gleich zu thun. Daß überall ein kleines Zuviel oder Zuwenig in diesen Arrangements die scharfe Grenzlinie des wirklich vornehmen Geschmacks überschritt oder hinter derselben zurückblieb, entging dem zufriedenen Blick des Commerzienraths, welcher nach einem letzten Blick über die Vorbereitungen zu seinem Feste sich in den ersten Salon begab, um die Gäste zu empfangen, die erst langsam und einzeln, dann immer schneller und zahlreicher zu erscheinen begannen.

Der Commerzienrath Cohnheim war eine kleine, volle und untersetzte Gestalt, von raschen, kurzen, etwas unruhigen Bewegungen. Er mochte etwa fünfzig Jahre alt sein, sein kleiner runder Kopf erhob sich nur wenig über die breiten, etwas hoch empor stehenden Schultern. Sein Haar leicht in's Graue spielend, war kurz und kraus gelockt, seine scharfen Züge, die hervorspringende, leicht gebogene Nase, die etwas aufgeworfenen Lippen, und die klugen, stets etwas unruhig umherspähenden Augen zeugten von Intelligenz und scharfer Beobachtung, während um seinen Mund ein fast stereotypes Lächeln spielte, welches halb aus gutmüthigem Wohlwollen, halb aus befriedigtem Selbstgefühl zusammengesetzt war.

Der Commerzienrath trug einen tadellosen schwarzen Anzug, eine Cravatte von blendender Weiße. Er zeigte in seiner ganzen Erscheinung eine strenge, vielleicht etwas gesuchte Einfachheit, welche nur durch einige große Hemdknöpfe von prachtvollen Diamanten unterbrochen wurde, die er sich nicht hatte versagen können. Im Knopfloch seines Fracks befand sich ein unendlich kleines Miniaturkreuz des Ordens eines kleinen deutschen Miniaturstaats; in seiner Hand mit den kurzen beweglichen Fingern, deren Spitzen den weißen Handschuh nicht vollständig ausfüllten, hielt er eine goldene Dose, deren er sich weniger zum eigenen Gebrauch als zur Entamirung einer Conversation zu bedienen pflegte.

Während er strahlend von liebenswürdiger Höflichkeit in dem ersten Salon seiner Wohnung Stellung nahm, befand sich die Frau Commerzienräthin mit ihrer Tochter in einem Zimmer, das an die entgegengesetzte Seite des Tanzsaals stieß, um dort die Begrüßung der Gäste zu empfangen.

Frau Commerzienräthin Cohnheim war eine große hagere Gestalt mit ziemlich eckigen Bewegungen und einem Gesicht, dessen entschieden jüdischer Schnitt in ihrem gegenwärtigen Alter wenig Einnehmendes hatte. Sie trug ein dunkelrothes Sammetkleid, ein reiches Collier von kostbaren Edelsteinen, Diamanten im Haar und Diamanten an den Armspangen. Der Blick ihrer großen dunklen und stechenden Augen war kalt und fast starr, und ihre etwas dünnen, gewöhnlich fest zusammengeschlossenen Lippen öffneten sich je nach dem Range und der Stellung ihrer Gäste zu einem mehr oder weniger höflichen und verbindlichen Lächeln.

In ihrer ganzen Erscheinung durchaus von ihrer Mutter verschieden stand ihre Tochter, ein junges Mädchen von achtzehn Jahren, neben ihr. Fräulein Cohnheim trug eine unendlich einfache Balltoilette von zartestem weißem Stoff, mit kleinen, fast unbemerkbaren Silbersternen übersäet; ihr Haar war mit frischen Maiblumen und Rosenknospen geschmückt. Sie trug keine Edelsteine, keinen Schmuck; und in der That waren auch die einfachen natürlichen Blumen der schönste und passendste Schmuck für diese so zarte Erscheinung, welche von dem idealen Schimmer jener eigentümlichen orientalischen Schönheit überhaucht war, welche man gewöhnlich mehr in den Schöpfungen der Künstler, als in der Wirklichkeit findet. Der durchsichtige Teint des jungen Mädchen zeigte jenen eigentümlichen Schmelz, welcher auf der zarten Schale der im Sonnenlicht des Südens gereiften Pfirsich liegt; ihr ebenholzschwarzes Haar war wie von bläulichem Phosphorschimmer übergossen. — Ihre großen dunklen Augen blickten wie träumerisch fragend in die Welt hinein, und um ihren zarten feinen Mund spielte ein halb kindlich harmloses, halb melancholisches Lächeln.

Die Säle füllten sich immer mehr. Es kamen zahlreiche Matadore der hohen Finanzwelt mit ihren Frauen und Töchtern — es kamen Geheimräthe trocken, steif und würdevoll mit mehr oder weniger dicht behängten Ordenskettchen im Knopfloch.

Die Damen der Bureaukratie blickten musternd und prüfend auf die Toiletten der Frauen und Töchter der Commerzien- und Commissionsräthe, indem sie durch ihren würdevollen und zurückhaltenden Ernst zu erkennen gaben, daß sie sich wohl bewußt seien, wie die Würde des Ranges und der Stellung sie trotz ihrer einfachen und zuweilen etwas dürftigen Anzüge doch hoch über jene in Federn, Diamanten und schwerer Seide prangenden Damen erhebe.

Dann kamen junge Officiere in den Uniformen fast aller Regimenter der Garde, welche sich Alle bald unter die Gruppen der im Tanzsaal harrenden jungen Damen mischten und ihre Feldzugspläne für die Tänze des Abends feststellten.

Der Commerzienrath war unerschöpflich in Liebenswürdigkeit beim Empfang seiner Gäste. Doch wußte er dabei mit unendlicher Schärfe und Feinheit die Nuancirungen seiner Höflichkeit jedem Eintretenden gegenüber genau abzumessen. Mit einer gewissen zuversichtlichen Vertraulichkeit begrüßte er die Geheimenräthe, und trat irgend ein magerer und steifer Herr mit einem kleinen ausländischen Stern auf dem Frack herein, so legte er wohl seinen Arm in den seines Gastes und begleitete denselben mit einigen Scherzworten bis zur Thür des nächsten Zimmers, um sich dann zum Empfang der Neueintretenden zurückzuwenden.

Mit würdevoller Zurückhaltung begrüßte er die Mitglieder der Finanzwelt, deren Stellung an der Börse noch nicht fest begründet war. In tiefer Ehrerbietung verneigte er sich vor den großen Matadoren der Geldwelt; mit cordialer Herzlichkeit drückte er irgend einem rasch vorüberschreitenden Gardeofficier mit altem Grafen- oder Freiherrntitel die Hand.

Mit fast fürstlicher Herablassung neigte er den Kopf gegen junge Kaufleute, welche, um den Tanzsaal zu füllen, in feine Gesellschaften zugelassen wurden. Und mit der Miene eines schützenden Mäcens klopfte er diesem oder jenem Künstler auf die Schulter, welcher seine Salons betrat und vielleicht im Stillen die Hoffnung hegte, daß der reiche Commerzienrath ihm eines Tages eins seiner Werke abnehmen werde.

Die Säle waren schon stark gefüllt, Lakaien in reich gallonirten Livreen präsentirten den Thee und jenes dumpfe Gesumme flüsternder Stimmen, welches sich stets beim ersten Beginn großer Gesellschaften vernehmen läßt erfüllte die Räume.

Die Thüren des ersten Salons, welche seit einiger Zeit geschlossen geblieben waren, öffneten sich abermals, und der Commerzienrath ging rasch den zwei jungen Leuten entgegen, welche neben einander eintraten.

Es war der junge Baron von Rantow und der Lieutenant von Büchenfeld, der Sohn des Oberstlieutenants, welcher in der Parterrewohnung desselben Hauses am Theetisch seines Freundes saß.

Der Referendar von Rantow hatte entschiedene Aehnlichkeit mit seinem Vater. Sein Gesicht war hübsch, vornehm, aristokratisch geschnitten und anziehend durch die frische jugendliche Gesundheit und durch das wohlwollende, gutmüthige und freundliche Lächeln, welches auf demselben lag. Doch hatten seine hellen klaren Augen denselben etwas gleichgültigen oberflächlichen Blick wie diejenigen seines Vaters. In seinem Lächeln lag ein Zug hochmütigen Selbstbewußtseins, der ohne jene Beimischung von Gutmütigkeit und Herzlichkeit beinahe hätte unangenehm berühren können. Die ganze Haltung des mit äußerster Eleganz und höchster Einfachheit gekleideten jungen Mannes zeigte vornehme und leichte Sicherheit. Er betrat die Gesellschaftsräume des Commerzienraths mit einer Miene, aus welcher ein wenig von dem Bewußtsein hervorschimmerte, daß er durch sein Erscheinen in diesem Hause mehr Ehre gebe, als empfange.

In der einfachen Uniform eines Linien-Infanterieregiments erschien, durch das schnelle Vorschreiten des Herrn von Rantow einen Schritt zurückbleibend, der Lieutenant von Büchenfeld.

Der junge Mann war hoch und schlank gewachsen, seine Haltung war fest und ritterlich, fast etwas starr, und die Züge seines magern, scharf geschnittenen bleichen Gesichts zeigten männliche Kraft, Muth und Entschlossenheit, doch dabei auch eine stolze, fast feindlich abwehrende Verschlossenheit. Auf der Oberlippe seines schön geformten, fest zusammengepreßten Mundes kräuselte sich ein leichter blonder Schnurrbart. Seine hellen grauen Augen blickten so ernst und ließen aus ihrem eigentümlichen Glanz eine solche Tiefe hervorleuchten, daß sie in einzelnen Augenblicken von fast dunkler Farbe zu sein schienen.

Der Commerzienrath drückte mit unendlich liebenswürdigem Lächeln dem jungen Baron von Rantow die Hand, während er zugleich mit freundlicher Höflichkeit den Kopf gegen den jungen Offizier wandte.

„Wie unendlich bedaure ich, mein lieber Herr von Rantow, daß Ihr Herr Vater und die Frau Mama verhindert sind, mich heute zu besuchen. Es verdirbt mir fast die Freude an meinem ganzen Fest,“ fügte er hinzu, indem er seine lächelnden Züge fast mit Gewalt zu einem trüben Ausdruck zwang, „Ihre Eltern heute nicht bei mir zu sehen.“

„Es thut meinen Eltern ebenfalls sehr leid,“ sagte Herr von Rantow mit leicht degagirten Ton, indem sein Blick über den Commerzienrath hinweg nach dem andern Salon hinschweifte, „daß sie Ihrer Einladung nicht haben Folge leisten können. Doch ist mein Vater stark erkältet und meine Mutter, wie Sie begreifen können, wollte ihn nicht allein lassen.“

„Nun,“ sagte der Commerzienrath, „ich freue mich wenigstens, daß Sie gekommen und daß ich doch ein Glied Ihrer verehrten Familie bei mir sehe. Eilen Sie, eilen Sie,“ fügte er hinzu, indem er den jungen Mann nach dem Tanzsaal hinführte — „der Tanz wird sogleich beginnen und die Damen werden schon sehr umlagert. Meine Tochter hat Ihnen gewiß noch einen Tanz aufgehoben,“ fügte er dem jungen Mann auf die Schulter klopfend hinzu und verließ denselben auf der Schwelle des Saals, sich zu der Eingangsthür zurückwendend, ohne den Lieutenant von Büchenfeld weiter zu beachten, welcher hinter Herrn von Rantow ebenfalls in den Tanzsaal eintrat.

Fräulein Cohnheim hatte während dieser Zeit neben ihrer Mutter gestanden, meist nur mit höflicher schweigender Verbeugung die Damen begrüßend und einzelne Worte mit den jungen Herren wechselnd, welche zu ihr herantraten, um sie um einen Tanz zu bitten.

Sie hatte einige Engagements angenommen, andere abgelehnt und blickte von Zeit zu Zeit wie fragend und suchend über die Gruppen hin, welche sich in dem Tanzsaal vor ihr bewegten. Als Herr von Rantow und Herr von Büchenfeld in den Saal eintraten, flog eine augenblickliche leichte Röthe über das Gesicht des jungen Mädchens. Ihr Blick leuchtete einen Moment auf — dann schlug sie die Augen nieder und gab einer Dame, welche sich soeben zu ihr wandte, eine Antwort, welche nicht ganz auf die Anrede zu passen schien und einen etwas erstaunten Ausdruck auf dem Gesicht der zu ihr Sprechenden hervorrief. Der Referendar von Rantow schritt rasch und sicher durch den dicht mit Menschen gefüllten Saal, indem er hier und dort einen Bekannten begrüßte und trat in das Zimmer, in welchem die Commerzienräthin mit ihrer Tochter sich befand.

Er machte der Dame des Hauses, welche ihn mit ausgezeichneter Liebenswürdigkeit empfing, seine Entschuldigungen in Betreff des Ausbleibens seiner Eltern und wandte sich dann zu dem Fräulein Cohnheim.

„Ich bin etwas spät gekommen, mein gnädiges Fräulein,“ sagte er. „Unaufschiebliche Arbeiten hielten mich noch ab. Darf ich hoffen, daß Sie noch einen Tanz für mich frei haben?“

„Ich bedauere sehr,“ erwiderte das junge Mädchen mit einem Blick auf die Tanzordnung, während ihre Mutter ziemlich kalt und oberflächlich die Begrüßung des Lieutenants von Büchenfeld erwiderte; „Alle meine Tänze sind besetzt.“

„Das ist ja ein wahres Unglück!“ rief der junge Herr von Rantow, während er versuchte, den gleichgültigen Ausdruck von seinem Gesicht verschwinden zu lassen. — „ein Unglück,“ fügte er hinzu, „auf das ich übrigens hätte gefaßt sein müssen, wenn ich nicht die leise Hoffnung gehabt hätte, daß Sie vielleicht die Güte haben würden mir einen Tanz zu reserviren.“

Die Commerzienräthin wandte sich ein wenig erstaunt zu ihrer Tochter.

„Soviel ich bemerkt,“ sagte sie, „hast Du noch kein Engagement für den Cotillon angenommen.“

„Ah“ rief Herr von Rantow freudig, „sollten Sie mir vielleicht diese glückliche Ueberraschung gemacht haben?“

„Ich bin für den Cotillon versagt,“ erwiderte Fräulein Cohnheim ernst und kalt, indem ihr Blick zu dem neben ihrer Mutter stehenden jungen Officier hinüberflog.

Dieser trat rasch heran und sprach:

„Darf ich hoffen, daß Sie sich des Versprechens noch erinnern, das Sie mir auf dem letzten Ball für den nächsten Cotillon gegeben?“

„Was ich versprochen halte ich stets,“ erwiderte die junge Dame mit freundlichem Lächeln den Gruß des Officiers erwidernd. „Sie sehen,“ fuhr sie fort, ihm ihre Tanzordnung hinreichend, „Ihr Name steht bereits beim Cotillon notirt.“

Ein strenger hochmütiger Blick der Commerzienräthin traf den Lieutenant von Büchenfeld. Wie mißbilligend schüttelte sie leicht den Kopf und wandte sich von ihrer Tochter ab, während der Referendarius von Rantow mit leichter Verbeugung zurücktrat.

Die Musik im Tanzsaal begann den ersten Walzer zu spielen. Die Paare traten an. Der Tänzer des Fräulein Cohnheim erschien und führte die junge Dame in die Reihen.

Herr von Rantow und der Lieutenant von Büchenfeld blieben einen Augenblick neben einander stehen.

„Du hast mir die Kleine weggekapert,“ sagte der Referendarius, indem sein Blick über den Saal hinschweifte. „Das ist nicht hübsch von Dir, nun habe ich heute gar keine Gelegenheit mich mit ihr zu unterhalten, und ich möchte doch gern einmal länger mit ihr sprechen, um zu sehen, was denn eigentlich hinter diesem hübschen Gesicht steckt. Sie ist sehr gut erzogen und hat auch gute Manieren, und wenn die commerzienräthlichen Eltern nicht wären, es wäre am Ende keine üble Partie.“

Er hob sein Lorgnon an's Auge und musterte einige in seiner Nähe stehende Paare.

Der Lieutenant von Büchenfeld war bei den Worten des Herrn von Rantow flüchtig erröthet, er sah ihn mit einem eigenthümlich prüfenden Blick seiner tiefen Augen an und folgte dann, ohne eine Antwort zu geben, den anmuthigen Bewegungen der Tochter des Hauses, welche soeben im Tanze an ihm vorbeischwebte.

Während der Ball im großen Mittelsaal seinen Fortgang nahm, während die ältern Damen theils an den Wänden des Tanzsaals, theils in den unmittelbar daran stoßenden Zimmern ihre Plätze einnahmen und sich in mehr oder weniger liebevollen Kritiken über die tanzenden Paare ergingen, bildeten sich in den entfernteren Räumen Gruppen der älteren Herren.

Ein ziemlich starker Mann von etwa fünfzig Jahren mit vollem rothen Gesicht und rückwärts gekämmtem Haar stand lebhaft sprechend und gesticulirend in einem Kreise von fünf bis sechs anderen Herren, welche ihm aufmerksam zuhörten.

„Ich sage Ihnen, meine Herren,“ rief er, „unser Norddeutscher Reichstag mag eine ganz gute Institution sein und wird gewiß viel zur Einheit und Verkehr im Handel und Wandel wie auch zur Gesetzgebung beitragen. Aber es ist doch immer nur ein halbes Werk und die Hauptsache liegt in der Vereinigung mit den Südstaaten. Und von dieser Vereinigung sind wir jetzt weiter entfernt als je vorher.“

„Warum das, Herr Director,“ fragte ein langer, fast ängstlich magerer Herr mit einem faltigen, leberkranken Gesicht, welcher eine Kette mit verschiedenen kleinen Decorationen im Knopfloch trug und jene eigenthümliche, halb geheimnißvolle, halb überlegene Miene hatte, welche ein besonderes Kennzeichen der höhern preußischen Bureaukratie bildet. „Die Verträge, welche in militairischen Beziehungen mit den süddeutschen Staaten abgeschlossen sind, bilden ja ein festes Band, welches sich in der Stunde der Gefahr gewiß bewähren würde. Und gerade in Bayern, dem mächtigsten der süddeutschen Staaten, macht sich eine sehr entschiedene deutsche Bewegung bemerkbar, welche von dem jungen Könige ganz besonders begünstigt wird. Wir haben darüber,“ fügte er mit einer etwas gedämpften Stimme im Ton einer vertraulichen Mittheilung hinzu, „sehr befriedigende Berichte.“

„Ihre Berichte mögen befriedigend sein, mein lieber Herr Geheimrath,“ erwiderte der Bankdirector Huber, „die Wirklichkeit ist es nicht, denn gerade in Bayern arbeitet in diesem Augenblick die ultramontane katholische Partei mit aller Kraft daran, den Anschluß an den Norddeutschen Bund zu verhindern und zu erschweren. Und man täuscht sich hier gewaltig, wenn man die Macht und Bedeutung dieser Partei gering anschlägt. Ich bin vor Kurzem in München gewesen und habe Gelegenheit gehabt, das sehr genau zu beobachten, weil vermiedene Personen, mit denen ich in Geschäftsbeziehung stehe, gerade zu den uns feindlichen Kreisen gehören. Der König, es ist wahr, soll ja, wie man sagt, sehr deutsch gesinnt sein, aber er hat auch sehr particularistische bayerische Gefühle, und die ultramontane Partei übt einen großen Einfluß auf ihn aus, da sie ihn bei der religiösen Seite zu fassen versteht.“

„Ich kann,“ sagte der Geheimrath Fintelmann, „kaum glauben, daß die ultramontane Partei in Bayern im Stande sein sollte, den Zug zur deutschen Einigkeit, welcher doch im Volke lebt, wirksam zu bekämpfen. Außerdem begreife ich eigentlich nicht, was sie dabei für ein Interesse haben sollte, die Katholiken werden doch wahrlich in Preußen nicht schlecht behandelt, im Gegentheil, sie stehen hier besser als in manchen katholischen Ländern, und sie würden sich selbst schaden, wenn sie sich im Gegensatz stellen wollten zu den nationalen Einigungsbestrebungen.“

„Die Stellung der Katholiken,“ erwiderte der Bankdirector, „ist eine vollkommen andere geworden, seitdem man in Rom an der Unfehlbarkeit des Papstes arbeitet. Die verschiedenen Parteigänger dieses Dogmas sprechen es ganz offen aus, daß sie einen Kampf mit der preußischen Staatsgewalt voraussehen und daß sie deshalb dieser protestantischen Macht gegenüber in Bayern einen Mittelpunkt für den deutschen Katholicismus bilden müssen.“

„Mein Gott,“ sagte der Geheimrath achselzuckend, „ich glaube, daß man dieser ganzen Unfehlbarkeitsangelegenheit zu viel Bedeutung beilegt. So viel mir bekannt, hat ja der Papst in der katholischen Kirche immer für unfehlbar gegolten, und schließlich ist ja jede oberste Instanz in jeder menschlichen Institution unfehlbar. Lasse man doch ruhig den Papst in Glaubenssachen seine unfehlbaren Decrete sprechen, die staatliche Nationalität wird darum ruhig ihren Weg weiter gehen und die Katholiken auch nach dieser neuen Façon selig werden lassen.“

„Sie legen der Sache umgekehrt zu wenig Bedeutung bei,“ erwiderte der Bankdirector. „Verzeihen Sie, das ist aber der gewöhnliche Fehler der Herren am grünen Tisch, daß sie die Folge der Dinge erst dann einsehen, wenn sie wirklich eingetreten sind. Ich bin Rheinländer,“ fuhr er fort, „ich bin Katholik und die Unfehlbarkeit des Papstes als oberste Autorität in Kirchenverwaltungen und Disciplinarsachen ist ja bei uns nie bestritten, obwohl es mir nicht so recht in den Sinn kommen will, daß eine fremde ausländische Autorität über die Angelegenheiten unserer deutschen Kirche zu bestimmen haben soll. Allein ganz etwas Anderes ist es, wenn nunmehr die Unfehlbarkeit des Papstes dogmatisch festgestellt wird, wenn Jeder verflucht und excommunicirt wird, der irgend einem Decret nicht sofort Folge leistet. Damit erwächst allerdings eine Macht, mit der der Staat auf die Dauer nicht im Frieden leben kann. Eine solche Unfehlbarkeit in Glaubenssachen könnten wir uns allenfalls gefallen lassen, wenn der oberste Leiter der deutschen Kirche ein deutscher Bischof wäre. Aber der Papst ist nun einmal ein fremder, ein italienischer Kirchenfürst, der nicht nur Priester ist, sondern auch seine Politik macht, und es könnten denn doch Verhältnisse eintreten, in welchen seine unfehlbaren Decrete der weltlichen Macht und im Besonderen Deutschland sehr wenig genehm sein möchten.“

„Nun,“ sagte der Geheimrath mit einem selbstzufriedenem Lächeln, „ich glaube, wir können es ruhig abwarten.“

„Ich wollte,“ rief der Bankdirector lebhaft, „Sie warteten es nicht ab, sondern träfen Vorkehrungen; wenn aus dieser Frage später ein Conflict entsteht, ohne daß man zur rechten Zeit Stellung genommen hat, so dürsten die Consequenzen sehr fatal werden.“

„Ich glaube, der Bankdirector hat ganz Recht,“ sagte der Professor Brandt, ein großer Mann von steifer Haltung, dessen von dunklem, glatt gescheiteltem Haar umgebenes Gesicht geistige Bewegung und scharfe Intelligenz ausdrückte, obwohl die Augen von einer großen gläsernen Brille bedeckt waren. „Ich glaube, der Bankdirektor hat ganz Recht und ich wundere mich, daß man sich in maßgebenden Kreisen so wenig mit solchen Fragen zu beschäftigen scheint, welche da am Horizont der Zukunft heraussteigen. Denn gerade in diesem Augenblick müßte man zugreifen, um die Unabhängigkeit von Rom, um welche die deutschen Bischöfe und die deutschen Kaiser so lange gestritten haben, endlich durchzusetzen. Alle deutschen Bischöfe, der so geistvolle und energische Kettler an der Spitze machten die größten Anstrengungen gegen die Proclamirung der Unfehlbarkeit. Der katholische Fürst von Hohenlohe hat die katholischen Mächte schon vor längerer Zeit aufgefordert, gegen das von Rom aus verbreitete Dogma Stellung zu nehmen. In diesem Augenblick müßte man eingreifen. Würde die staatliche Autorität jetzt den Bischöfen die Hand reichen, es ließe sich da vielleicht etwas Großes erreichen, und vielleicht ließe sich jetzt mit einem Male die durch das ganze Mittelalter erstrebte Unabhängigkeit der deutschen Kirche von Rom herstellen. Man sollte,“ fuhr er in etwas docirendem Tone, aber mit dem Ausdruck tiefer Ueberzeugung fort, „man sollte in dieser Angelegenheit energisch handeln. Die Herstellung eines vollständig geeinigten Deutschlands liegt ja doch im Zug der Zeit, und wie das alte deutsche Reich und die Autorität der Kaiser keinen gefährlicheren Feind gehabt hat als die römische Hierarchie, so wird auch das neue deutsche Reich, wenn ein solches, wie Gott geben mag, jemals ersteht, sogleich wieder den alten Gegner sich gegenüberstellen sehen. Wenn man die Bischöfe jetzt im Stich läßt, wenn ihnen die Staatsautorität nicht zu Hülfe kommt, so werden sie sich unterwerfen und es wird später sehr schwer sein, sie wieder von Rom zu trennen.“

„Mein lieber Professor,“ sagte der Geheimrath im Ton wohlwollender Belehrung, „Alles, was Sie da sagen, ist in der Theorie sehr schön. Wir haben uns aber bei Regelung des Staatslebens an die Praxis zu halten und viele Rücksichten zu nehmen, welche man außerhalb der eingeweihten Kreise nicht immer vollständig zu würdigen versteht.“

„Rücksichten? Rücksichten?“ rief der Bankdirector. „Mit Rücksichten ist noch niemals etwas Großes geschaffen worden. Ich bin ganz der Meinung des Professors, in diesem Augenblick sollte man eingreifen, in diesem Augenblick ist Uneinigkeit unter der Hierarchie, der Nationalinstinct ist lebendig in dem deutschen Episkopat. Warten wir ab, bis sie wieder Alle einig geworden sind, so wird es vielleicht zu spät sein.“

Freundlich lächelnd trat der Commerzienrath Cohnheim in den Kreis.

„Die Herren sprechen ja so ernsthaft,“ sagte er, „als wären sie im Reichstage. Ich bitte Sie, lassen Sie die Politik und die ernsten Fragen. Wollen Sie eine Cigarre rauchen?“ fügte er hinzu, „dort im letzten Zimmer habe ich ein kleines Rauchcabinet etablirt. Sie finden ganz vortreffliche Regalia's von der letzten Ernte, ich habe sie vor Kurzem aus Hamburg bekommen. Es ist entsetzlich,“ fügte er hinzu, „welche theuere Passion jetzt das Rauchen wird, man wird kaum noch eine gute Cigarre erschwingen können.“

„Wenn Sie das schon sagen, mein lieber Herr Commerzienrath,“ sprach der Geheimrath mit einem sauer-süßen Lächeln, „was sollen wir dann sagen, die wir mit den Herren von der Finanz gar nicht mehr Schritt halten können.“

„Dafür aber,“ erwiderte der Commerzienrath, „haben Sie die Hand an der Leitung der Ereignisse, die Ehre, den Einfluß!“

Der Geheimrath entfernte sich mit einer Miene, welche deutlich ausdrückte, daß Ehre und Einfluß ihm nicht vollwichtige Aequivalente für die mangelnden materiellen Mittel erschienen. Er begab sich in das Rauchcabinet, um eine von den gepriesenen Regalia's zu versuchen.

„Ich habe ein vortreffliches Project,“ sagte der Commerzienrath zu dem Bankdirector, während der Professor zu einem großen Tisch trat und eins der darauf ausgebreiteten Albums öffnete, „ein Freund von mir, der Baron von Rantow, Mitglied des Herrenhauses, hat auf seinen Besitzungen in Schlesien ein Zinklager entdeckt, zu dessen Ausbeutung große Capitalkräfte nöthig sind, die dann allerdings aber auch eine große Rentabilität verspricht. Ich beschäftige mich diesen Augenblick damit, ein Consortium zu bilden, um die Sache in die Hand zu nehmen. — Ich glaube, daß es ein vortreffliches Geschäft für Ihre Bank wäre, sich dabei zu betheiligen.“

Er ergriff den Arm des Bankdirectors, führte ihn zu einem in der Ecke des Zimmers stehenden Divan und vertiefte sich mit ihm in ein längeres und eingehenderes Gespräch.

Der Ball nahm seinen Fortgang, die Herren an den Whisttischen spielten feierlich und würdevoll einen Robber nach dem andern. Die junge Welt tanzte unermüdlich, die Locken der Damen begannen sich zu lösen, die Blumen begannen allmälig zu welken und die älteren Damen an den Wänden des Saals verstummten mehr und mehr und blickten nur noch trübe und theilnahmlos, oft mit Schlafanwandlungen kämpfend in das Treiben vor ihnen.

Der Referendarius von Rantow hatte wenig getanzt, sich der Reihe nach mit vielen älteren Damen unterhalten und sich dann neben die Commerzienräthin gesetzt, mit welcher er angelegentlich und eifrig sprach, und welche mit der liebenswürdigsten Aufmerksamkeit ihm zuhörte.

Der Lieutenant von Büchenfeld war still und ruhig an der Thür des Tanzsaals stehen geblieben, sinnend, mit einem wehmüthigen, fast traurigen Ausdruck blickte er über die bunte Gesellschaft hin, und nur zuweilen leuchtete sein Auge höher auf, wenn er dem Blick der Tochter des Hauses begegnete, welche in den Pausen des Tanzes stets von einem Kreise junger Herren umgeben war und oft wie fragend zu ihm hinüber sah.

Endlich trat die allgemein ersehnte Pause des Soupers ein, alle Welt nahm an kleinen Tischen Platz. Der Commerzienrath wurde nicht müde, hin- und herzugehen und bald diesen, bald jenen seiner Gäste auf irgend eine Schüssel des vortrefflich bestellten Büffets aufmerksam zu machen, oder einen Lakaien herbeizurufen, um den von ihm Bevorzugten ein Glas besonders empfohlenen Weins zu serviren.

Fräulein Cohnheim war auch hier wieder von einem großen Kreise junger Damen und Herren umringt. Abermals warf sie einen flüchtigen fragenden Blick auf den jungen Officier, aber dieser näherte sich ihr nicht, sondern blieb in der Nähe des Büffets und nahm nur mit wenigen kurzen Bemerkungen an der Unterhaltung einiger Kameraden Theil, welche keine Plätze mehr in dem Kreise der Damen gefunden.

Das Souper war beendet. Die Musik intonirte die Aufforderung zum Cotillon; die junge Welt erhob sich, die Paare fanden sich zusammen und begaben sich in den Tanzsalon.

Fräulein Cohnheim war aufgestanden, hatte sich langsam der Thüre des Speisezimmers genähert und blickte erwartungsvoll umher. Rasch trat der Lieutenant von Büchenfeld auf sie zu, reichte ihr mit stummer Verbeugung die Hand und führte sie zu zwei Stühlen, welche ein wenig abseits unter einer Decoration von grünen Gewächsen standen.

Die jungen Leute setzten sich nieder, der Cotillon begann.

„Sie sind so ernst, fast verstimmt heute Abend, Herr von Büchenfeld,“ sagte die junge Dame mit dem Ausdruck herzlicher Theilnahme. „Was fehlt Ihnen? Ist Ihnen etwas Unangenehmes widerfahren? Sie haben sich beim Souper von unserm Kreise zurückgezogen, oder haben Sie —“ fügte sie, die Augen niederschlagend, mit leicht zitternder Stimme hinzu, „mir irgend Etwas übel genommen?“

„Wie könnte ich das,“ erwiderte Herr von Büchenfeld, indem sein Blick tief und innig auf dem Antlitz des jungen Mädchens ruhte, welches die leichte Verwirrung, in der sie sich befand, nur noch schöner erscheinen ließ. „Aber Sie haben Recht,“ fuhr er seufzend fort, „ich bin verstimmt — und mehr als verstimmt — ich bin traurig, ernsthaft traurig — und fast wünschte ich, garnicht nach Berlin gekommen zu sein.“

„Und warum das?“ fragte Fräulein Cohnheim, ihre großen Augen treuherzig zu ihm aufschlagend. „Haben Sie hier keine Freunde, welche gern bereit sind, an Ihrem Kummer Theil zu nehmen und Sie zu trösten. Ich wüßte übrigens nichts,“ fuhr sie in scherzendem Ton fort, „was Sie traurig machen könnte.“

„Wenn Sie es nicht wissen,“ sagte Herr von Büchenfeld, indem er ihr fest und grade in die Augen sah, „so muß mich das eigentlich noch trauriger machen. Ich bin hierher gekommen,“ fuhr er fort, „mit leichtem fröhlichen Herzen, voll Muth und Vertrauen auf die Zukunft, und wenn ich von hier wieder fortgehe, so werde ich um viele Träume, um viele Hoffnungen ärmer sein, die vielleicht besser niemals in mein Herz eingezogen wären.“

Das junge Mädchen neigte erröthend den Kopf und schwieg einige Augenblicke. Dann richtete sie sich mit einer raschen Bewegung wieder hoch empor, blickte den jungen Mann voll und klar an und sprach mit einer festen, aber zugleich weichen und dabei zärtlichen Stimme.

„Warum sollten Träume, warum sollten Hoffnungen unglücklich machen? Wenn ein lieber Traum zur Wirklichkeit wird, wenn eine schöne Hoffnung sich erfüllt, das ist ja das beste Glück, das uns auf Erden zu Theil werden kann.“

Ein flammender Blitz zuckte aus den Augen des jungen Mannes.

„Diese Worte aus Ihrem Munde, Fräulein Anna,“ sagte er mit lebhafter Bewegung, „sollten mich überglücklich machen und dennoch — dennoch —“ fuhr er mit tief traurigem Tone fort, „kann ich an die Erfüllung meiner Hoffnungen, an die schöne Wirklichkeit meiner Träume nicht glauben.“

Sie sah ihn fragend und fast vorwurfsvoll an.

„Fräulein Anna,“ sprach er, wie einem schnellen Entschluß folgend, „es muß klar werden durch die trüben Nebel, welche mein Herz bedrücken, denn die schmerzlichste Klarheit ist immer noch besser als die dumpfe Dämmerung widersprechender Gefühle. Wollen Sie mir erlauben, Ihnen frei und ohne Rückhalt zu sagen, was mein Herz bedrückt?“

Abermals schlug sie erröthend die Augen nieder Ein leichtes Zittern flog durch ihre ganze Gestalt, dann machte sie eine Bewegung, als wolle sie dem jungen Officier die Hand reichen. Sie hielt sie jedoch zurück, ein rascher Blick glitt über den Saal über die Tanzenden hin, und sie sagte mit herzlichem Ton:

„Können Sie an meiner Theilnahme zweifeln?“

„Nun, Fräulein Anna,“ sprach er, sich ein wenig zu ihr hinüberneigend, „Sie müssen es bemerkt haben, daß, seit ich Sie kenne, meine ganze Seele Ihnen entgegengeflogen ist, daß mein Fühlen, mein Denken, mein ganzes Leben sich nur um Sie als leuchtenden Mittelpunkt dreht. Sie müssen bemerkt haben, daß ich Sie liebe, und daß diese Liebe immer mächtiger mich durchdringt und erfüllt, je länger ich mich in Ihrer Nähe bewegt habe.“

„Ich habe es bemerkt,“ flüsterte sie fast unhörbar, indem ein feucht schimmernder Blick ihrer großen Augen deutlich die unausgesprochene Frage ausdrückte, „und ist das denn ein so großes Unglück?“

Herr von Büchenfeld hörte die leise geflüsterten Worte. Er sah diesen Blick und verstand die stumme Frage.

„Sie haben Recht,“ sprach er, „eine solche Liebe wäre das höchste Glück, wenn sie die Hoffnung haben könnte, Erwiderung zu finden —“

Sie richtete wiederum ihre Augen mit wunderbarem Ausdruck auf ihn.

Wiederum verstand er die stumme Sprache dieser Augen. Es zitterte einen Augenblick wie ein Wonneschauer durch sein Gesicht, dann aber legte sich wieder der tiefe traurige Ernst auf seine Züge — er fuhr fort:

— „und wenn die Verhältnisse für diese Liebe eine glückliche Zukunft unmöglich machten, Fräulein Anna,“ — sie sah ihn ganz erstaunt an, als begriff sie seine Worte nicht — „ich bin ein armer Officier, meine Zukunft beruht auf meiner Arbeit und Thätigkeit, auf einer langjährigen mühevollen und angestrengten Arbeit. Nach Jahren kann ich erst in der Lage sein, an die Gründung einer Häuslichkeit zu denken, dem Wesen, das ich liebe, eine sichere Existenz zu bieten. Kann ich,“ fuhr er mit einem brennenden Blick fort, „von Ihnen, selbst wenn Sie einige Theilnahme für mich empfinden, selbst wenn Ihr Herz sich freundlich zu mir neigt, kann ich von Ihnen erwarten, daß Sie die Jahre der Jugend opfern, um den unsichern Erfolg meiner Thätigkeit, meines Ringens und Strebens zu erwarten. Und wenn dieser Erfolg ausbleibt — ich allein könnte eine zerstörte Carriere, ein verfehltes Leben ertragen, aber ich würde vernichtet zusammenbrechen, wenn ich auch die Hoffnungen eines andern Lebens zerstört sehen müßte, das so reich berechtigt ist zu Freude und Glück. Darum ist es besser,“ fuhr er nach einem kurzen Schweigen fort, während sie ihn fortwährend mit ihren großen Augen fest ansah, „darum ist es besser, ich reiße mich jetzt kraftvoll von allen jenen Träumen los und verfolge meinen eigenen Weg. — Sie werden mich vergessen,“ sprach er seufzend, „und mich wird die Erinnerung an Sie immer noch glücklich machen. Sie wird wie ein freundlicher Lichtschein, wie ein Stern, der unerreichbar hoch über uns schwebt, mein Leben verklären.“

Anna hatte ernst und unbeweglich zugehört; als er schwieg, leuchtete ihr Blick höher auf, ein Zug fester Energie und muthiger Entschlossenheit legte sich um ihre sonst so weichen kindlichen Lippen, indem sie sich ein wenig zu dem jungen Officier hinüberneigte, sprach sie mit leiser Stimme, aber jedes Wort scharf und klar betonend.

„Sie irren sich, Herr von Büchenfeld, ich werde Sie nicht vergessen — ich kann Sie nicht vergessen! Und von dem Augenblick an,“ fuhr sie, ihn fast befehlend anblickend, fort, „von dem Augenblick an, wo ich Ihnen dies gesagt habe, dürfen Sie sich nicht von mir wenden, Sie dürfen mich nicht allein lassen. Und wenn Sie Ihren Weg einsam durch das Leben verfolgen, so wird das Licht des Sternes, von dem Sie eben gesprochen haben, Ihnen nicht mehr leuchten, denn dieser Stern selbst wird sein Licht und seinen Glanz verloren haben.“

„Fräulein Anna,“ sagte er, mühsam seine Erregung unterdrückend, „solche Worte sollten mich auf die höchste Höhe der Glückseligkeit erheben. Aber mein Gott,“ sagte er, die Hände in einander faltend, „es ist ja nicht möglich.“

„Nicht möglich,“ sagte sie sanft, „warum nicht möglich? Haben wir nöthig, auf die Vollendung Ihrer Carriere zu warten? Ich schwöre Ihnen,“ fuhr sie fort, „aller Reichthum und Glanz, mit welchem mein Leben umgeben ist, ist mir immer gleichgültig gewesen. — Aber in diesem Augenblick danke ich Gott, daß mein Vater reich ist, denn dadurch sind wir über die traurige Nothwendigkeit erhoben, das Glück unserer Liebe abhängig von den Zufälligkeiten dieses Lebens zu machen.“

Herr von Büchenfeld richtete sich hoch empor. Er sah das junge Mädchen mit einem Blick voll hohen, fast kalten Stolzes an.

„Und würden Sie,“ sprach er in heftiger Bewegung mit mühsam gedämpfter Stimme, „würden Sie, Fräulein Anna, einen Mann lieben können, würden Sie einem Mann Ihr Leben anvertrauen können, der seine Existenz, seine Stellung in der Welt auf das Vermögen seiner Frau begründet? — Ich,“ fuhr er, die Lippen zusammenpressend fort, — „ich würde eine solche Stellung nicht annehmen, nicht um den Preis des höchsten Glückes.“

„Soll die Liebe,“ fragte sie leise, „welche die Herzen und die Seelen
vereinigt , jenen elenden Besitz der äußeren Güter des Lebens
theilen ? Wenn liebende Herzen das Höchste und Göttlichste im Menschenleben gemeinsam umfassen, sollen sie fragen, ob die untergeordneten Elemente des materiellen Lebens dem Einen oder dem Andern gehören? Muß ich Sie bitten,“ fügte sie mit einem wunderbar weichen, fast demüthig zu ihm empor gerichteten Blick hinzu, „muß ich Sie bitten, mir zu verzeihen, daß mein Vater reich ist?“

„Mein Gott, Fräulein Anna,“ rief er, „welche Qual macht mir das sonnige Glück, das Sie mir zeigen, und nach welchem ich doch,“ fügte er dumpf hinzu, — — „nach welchem ich doch die Hand nicht ausstrecken darf. — Glauben Sie,“ fuhr er nach einem augenblicklichen Stillschweigen fort, „daß, wenn mein Stolz sich Ihnen gegenüber beugen könnte, glauben Sie, daß Ihr Vater jemals einen armen aussichtslosen Officier, den er,“ sagte er bitter, „wohl als Staffage für seine Gesellschaftssalons benutzt — als Bewerber um seine Tochter annehmen würde?“

„Und glauben Sie,“ erwiderte sie schnell, indem ihr sonst so weicher Blick hell aufleuchtete, „daß ich nicht die Kraft und den Muth haben würde, auch für meinen Willen und mein Glück zu kämpfen?“

Der Cotillon hatte seinen Fortgang genommen. Ein kleiner Tisch mit reizenden frischen Bouquets stand in der Mitte des Saales. Die Herren vertheilten dieselben an die Damen. Der Ball befand sich auf dem Höhepunkt seines Interesses für die junge Welt, während die älteren Herren nur noch mühsam und gezwungen ihre Gespräche fortsetzten, und die Mütter an den Wänden des Tanzsaals nur noch in lethargischer Unbeweglichkeit gleichgültig und starr auf die Touren des Cotillons hinblickten.

Der Referendarius von Rantow, welcher an dem Tanz nicht Theil genommen, trat zu dem Blumenkorb, nahm ein kleines zierliches Bouquet von Veilchen und Rosenknospen und brachte es der schönen Tochter des Hauses.

Als Fräulein Cohnheim nach der Tour zu ihrem Platz zurückkehrte, sprach der Lieutenant von Büchenfeld, welcher mit finstern Blicken die tanzenden Paare verfolgt hatte:

„Sehen Sie, Fräulein Anna, von allen Seiten werden sich die Bewerber um Sie drängen, und zwar Bewerber, welche in den Augen Ihres Vaters so unendlich weit über mir stehen müssen. Und auch Sie,“ fuhr er leise fort, „werden endlich unter allen diesen glänzenden jungen Leuten, welche Sie umschwärmen, mich vergessen müssen, da ich ja mit jenen Allen den Vergleich nicht aushalten kann.“

Sie blickte ihn einen Augenblick groß und sinnend an, dann schüttelte sie langsam den Kopf und mit einer raschen Bewegung reichte sie ihm das kleine Bouquet, welches Herr von Rantow ihr soeben gebracht hatte.

„Wie schlecht kennen Sie mich,“ sagte sie, „wie ich Ihnen diese Blumen gebe, so möchte ich Alles, was mir das Leben an Blüthen bietet, nur dazu benutzen, um Ihnen Freude zu machen.“

Er nahm die kleinen Blumen und drückte sie wie begeistert an seine Lippen. Ehe er antworten konnte, traten andere Herren heran, und in den folgenden Touren des Cotillon wurde Fräulein Cohnheim als die gefeierte Tochter des Hauses so sehr in Anspruch genommen, daß ein ruhiges Gespräch nicht mehr möglich war.

Der Tanz war zu Ende. Langsam führte Herr von Büchenfeld Fräulein Cohnheim zu ihrer Mutter zurück. Als sie am Ende des Saales angekommen waren, hielt das junge Mädchen ihn durch einen festen und energischen Druck ihrer Hand zurück.

Er blieb einen Augenblick stehen. Sie neigte sich zu ihm hinüber, und indem sie auf ihrem Gesicht den harmlos lächelnden Ausdruck leichter Conversation festhielt, sprach sie, indem ihre Augen sich tief in die seinigen tauchten.

„Ich will nicht, daß unser Gespräch zu Ende sei, Herr von Büchenfeld. Ich bitte Sie die Blumen zu bewahren, die ich Ihnen gegeben; ich bitte Sie dieselben täglich zu betrachten und sich dabei zu erinnern, daß Sie nicht nur Pflichten gegen Ihren Stolz haben, sondern auch heilige Pflichten gegen Ihre Liebe, nachdem Sie einmal das Wort Liebe ausgesprochen haben, — nach Dem, was ich Ihnen gesagt, wäre es nicht ritterlich, mich zu verlassen, und etwas Unritterliches zu thun ist Ihnen unmöglich. Ich habe Ihnen das höchste Vertrauen bewiesen, das man einem Manne zeigen kann. Jetzt ist es an Ihnen, Vertrauen zu mir und der Zukunft zu haben.“

Rasch schritt sie weiter und verneigte sich, an der Seite ihrer Mutter angelangt, stumm gegen ihren Tänzer, der sich, ohne eines Wortes mächtig zu sein, zurückzog, seinen Helm und Degen nahm und schweigend, in tiefe Gedanken versunken, die Gesellschaftsräume verließ.

Allmälig empfahlen sich die Gäste. Der junge Herr von Rantow unterhielt sich noch längere Zeit mit der Commerzienräthin und ihrer Tochter. Und als er endlich Abschied nahm, führte der Commerzienrath ihn vertraulich bis zur äußeren Thür und flüsterte ihm zu:

„Sagen Sie Ihrem Herrn Vater, daß ich für unsere Unternehmung thätig gewesen bin, und daß ich bestimmte Hoffnung habe, in Kurzem die Angelegenheit in Ordnung zu bringen. Wir werden gute Geschäfte machen,“ fügte er schmunzelnd hinzu, „und Ihr künftiges Erbe, mein lieber Baron, wird sich um das Dreißig- und Vierzigfache vermehren.“

Als die Räume sich geleert hatten, trat der Commerzienrath zu seiner Frau und zu seiner Tochter.

„Ein sehr gelungenes Fest,“ sagte er, sich vergnügt die Hände reibend, „sehr gute Gesellschaft, Alles war sehr animirt. Und ich habe,“ fügte er vergnügt lächelnd hinzu, „ein gutes Geschäft gemacht. — Der Baron von Rantow wird ein sehr reicher Mann werden — ein feiner Mann, eine sehr gute Familie, es freut mich sehr, daß wir mit ihnen in diesem Hause zusammen wohnen — ich hoffe, wir werden immer näher mit einander bekannt werden,“ fügte er mit einem Seitenblick auf seine Tochter hinzu.

„Ich begreife nicht, Anna,“ sagte die Commerzienräthin, indem sie die schweren Falten ihrer seidenen Robe mit der Hand glättete, „ich begreife nicht, daß Du dem jungen Rantow den Cotillon hast abschlagen können, um ihn mit diesem Officier zu tanzen, der nicht einmal von der Garde ist, mit diesem Herrn — ich habe seinen Namen vergessen,“ sagte sie im zerstreuten Ton.

„Herr von Büchenfeld,“ sagte ihre Tochter fest und bestimmt. „Ich hatte ihm den Cotillon auf dem letzten Ball versprochen,“ fügte sie in demselben Ton hinzu.

„Du hättest eine kleine Ausrede machen können,“ sagte ihre Mutter. „Du hast wirklich nicht nöthig, mit so unbedeutenden kleinen Officieren zu tanzen. Ich wünsche, daß Du künftig mehr Rücksicht auf unsere Stellung und unsere Beziehungen nimmst.“

Anna's Augen flammten auf, ihre Lippen öffneten sich, als wolle sie Etwas erwidern, doch unterdrückte sie ihre Antwort, sie wünschte ihren Eltern kurz gute Nacht und zog sich zurück.

Der Commerzienrath setzte sich neben seine Frau, zündete eine jener Regaliacigarren an, die er seinen Gästen vorhin so dringend empfohlen hatte, und Beide unterhielten sich noch längere Zeit über die verschiedenen Beobachtungen in der Gesellschaft, während die Lakaien in den übrigen Zimmern die Gasflammen auslöschten.


Fünftes Capitel.


Der Reichskanzler von Oesterreich-Ungarn, Graf Beust, schritt langsam und nachdenklich in seinem Cabinet des Palais am Ballhausplatz zu Wien auf und nieder. Sein sorgfältig frisirtes Haar war ein wenig dünner und ein wenig grauer geworden; doch die Haltung seiner großen schlanken Gestalt zeigte noch immer jugendliche Elasticität und Frische. Sein bleiches, geistdurchleuchtetes Gesicht, seine klaren, scharfen Augen schienen von dem Fortschritt der Zeit nicht berührt worden zu sein; nur das leicht ironische Lächeln seines seinen, etwas seitwärts gezogenen Mundes war nicht mehr so heiter und siegesgewiß als früher.

Er hielt einen ziemlich umfangreichen Bericht in Quartformat in der Hand und blickte von Zeit zu Zeit kopfschüttelnd auf die große und deutliche Schrift welche das Papier bedeckte.

„Die Katastrophe,“ sagte er, an einem der großen Fenster stehen bleibend und sinnend in die trübe Nebelluft hinausblickend, in welcher einzelne Schneeflocken umherwirbelten, „die Katastrophe, welche seit fast vier Jahren wie eine Wetterwolke über Europa hängt, scheint sich dem entscheidenden Ausbruch nahen zu wollen. — Merkwürdig,“ fuhr er fort, „alle meine Feinde in Deutschland und auch in Preußen, sie betrachten mich fortwährend als den geheimen Ruhestörer des europäischen Friedens, und doch ist in all dieser Zeit mein ganzes Bestreben darauf gerichtet, überall wo sich die schwebenden Differenzen zu acuten Conflicten zuspitzen, Alles wieder auszugleichen und um jeden Preis die Ruhe zu erhalten. Von der Luxemburger Affaire bis zu dieser Stunde bin ich der unermüdlichste und eifrigste Wächter des Friedens in Europa, denn ich bedarf den Frieden für mein Werk, das ich in Oesterreich begonnen. Dies arme, so schwer geschlagene Oesterreich kann noch lange keinen kriegerischen Anstoß ertragen. Alles was im Innern angebaut ist, würde zusammenbrechen. Mein Werk — meine Stellung“ — fügte er seufzend hinzu, „würde in demselben Augenblick zu Ende sein, in welchem die innere Entwickelung dessen, was ich begonnen, von außen her gestört würde, und selbst im Fall des Sieges würde nicht ich es sein, der die Früchte desselben pflückte. Jeder Krieg, der in Europa ausbräche, würde die Leitung der österreichischen Angelegenheiten vorzugsweise in die Hände Ungarns legen, denn die militairische Kraft Oesterreichs liegt in Ungarn, und um einer großen politischen Action diese Kraft zu sichern, würden die Forderungen dort sehr weit gehen. — Es bereitet sich Etwas in Frankreich vor, Napoleon wird alt und schwach, er scheint die Zügel aus den Händen zu verlieren und die verschiedenartigsten und unberechenbaren Factoren treiben dort ihr Spiel —

— „da ist wieder,“ fuhr er, den Bericht, welchen er in der Hand hielt, durchblätternd fort, „dieser General Türr mit seiner Coalitionsidee im Gange, und es scheint in der That, daß Napoleon oder Diejenigen, welche seinen schwachen Willen in diesem Augenblick lenken, hinter der unruhigen Thätigkeit dieses Generals steht. — Diese unzünftigen Politiker,“ sagte er, tief aufseufzend, „welche es nicht unterlassen können, von Zeit zu Zeit mit übereifrigen Händen in das seine Gewebe der politischen Fäden einzugreifen, sind in der That ein Kreuz für die wahre Staatskunst, welche nach vernünftigen Plänen ihre Ziele verfolgt. Sie können es niemals abwarten, die Dinge reif werden zu lassen und wollen vorzeitige Früchte von den halb angewachsen Bäumen pflücken.“

Er ging langsam zu seinem Schreibtisch zurück und setzte sich in den einfachen Lehnstuhl, welcher vor demselben stand.

„Die Idee einer innigen Annäherung zwischen Frankreich, Oesterreich und Italien ist ja gut und vortrefflich, und ich habe stets die Nothwendigkeit betont, in eine französische Alliance, wenn sie wirksam sein soll, Italien mit aufzunehmen. — Oesterreich könnte einer solchen Combination, welche uns eine feste Stellung in Europa wieder geben würde, Opfer bringen. Ich arbeite mit Eifer daran, die guten Beziehungen mit Italien zu pflegen und Vergessenheit alles Geschehenen zur Grundlage für die Verhältnisse der Zukunft zu machen. Aber man muß nur nicht glauben, daß die Herstellung einer Alliance aus so heterogenen Mitteln, mit so verschiedenartigen Elementen ein Werk des Augenblicks ist. Da fällt dieser General Türr mit dem Säbel in die Diplomatie hinein und will alle diese so schwierigen Fragen in drei oder vier Punkten eines Vertrages zusammenfassen, und dann sofort mit vereinten Kräften in's Feld rücken, um vielleicht von Neuem in einer übereilten Action Alles das auf's Spiel zu setzen, was uns aus den schweren Unfällen von 1866 noch übrig geblieben ist.“

Er blickte abermals auf den Bericht.

„Wohlwollende Neutralität Italiens,“ sprach er, „militairische Hülfeleistung für den Fall, daß Rußland activ in die Ereignisse eingreifen sollte. — Und dafür die italienisch redenden Districte Tyrols. — Das klingt sehr schön. Das Opfer wäre nicht zu schwer für die Wiedererlangung der alten Machtstellung Oesterreichs, nachdem ja nun einmal Italien gegenüber das nationale Princip anerkannt worden ist. Aber das Alles bietet doch nur eine sehr unsichere und zweifelhafte Basis für eine Politik, bei welcher die Existenz Oesterreichs eingesetzt werden würde. Der König Victor Emanuel billigt den Plan. — Aber was bedeutet die Billigung des Königs bei den gegenwärtigen Zuständen in Italien. Würde ein solcher Vertrag in der Stille der Cabinette wirklich unterzeichnet — wer bürgt dafür, daß im Augenblick des Handelns das italienische Volk die Abmachung seines Königs gut heißt. Wer bürgt dafür, daß nicht ein neues Ministerium dort Alles desavouirt, was seine Vorgänger abgemacht haben, daß im Augenblick einer besonders gefährlichen Entscheidung das kaum zu neuer Kraft erstarkte Oesterreich sich unter gewaltigen und mächtigen Feinden isolirt sieht —“

„Nein,“ rief er, „niemals werde ich die Wege einer so unsicheren und gewagten Politik betreten. Ich will Oesterreich zur Größe und zur Macht zurückführen, aber ich muß es erst innerlich gesund machen und darf es in die Gefahren auswärtiger Verwickelungen erst dann stürzen, wenn seine innere eigene Kraft vollständig wieder hergestellt ist, — wenn ich des Erfolges sicher bin, denn jeder unglückliche Ausgang einer militairischen Action würde das Ende des heutigen Oesterreichs — das Ende meines Werkes sein.“

Er warf den Bericht auf den Tisch.

„Ich habe den Ausgleich mit Ungarn hergestellt,“ fuhr er fort — „ich habe es unternommen, die kaiserliche Autorität an die Zunge der Wage zu stellen zwischen dem deutschen und dem magyarischen Theil des Kaiserstaats. Jeder Kampf in Europa, bei welchem Deutschland betheiligt wäre, würde das Schwergewicht auf die Seite Ungarns bringen müssen, denn niemals wird Oesterreich in einer feindlichen Action gegen Preußen oder Deutschland sich auf seine deutschen Elemente stützen können. Wie man aber in Ungarn ein solches Verhältniß benutzen und ausbeuten würde, dafür spricht am deutlichsten wieder dieser Brief Kossuth's an die achtundvierziger Partei, welche ihm ihre Präsidentschaft angetragen.“

Er ergriff ein anderes Papier, welches auf seinem Schreibtisch lag, durchflog es schweigend und las dann mit halb lauter Stimme die Schlußworte:

„Und doch spreche ich es aus, daß ich für den Fall, daß noch vor der Zeit, wo die Logik der Geschichte die monarchische Institution in die Rumpelkammer des überlebten Entwickelungsstadiums verweisen wird, wenn in meinem Leben das Ereigniß eintreten sollte, daß ein europäischer Sturm vom Haupte des Kaiser-Königs Franz Joseph die österreichische Krone herunterblasen sollte, ich im selben Augenblick nach Hause gehen und gegenüber dem plötzlich zum König von Ungarn reducirten Franz Joseph das Band der Unterthanentreue annehmen würde.“

„Diese Zeilen Kossuth's,“ sagte Graf Beust, das Haupt in die Hand stützend, „sind eine deutliche Mahnung für mich, ein deutliches Zeichen für das, was in Ungarn geschehen würde, wenn Oesterreich vorzeitig und unvorsichtig sich in eine europäische Action verwickeln sollte. Für den König von Ungarn würden sie kämpfen, diese Magyaren, aber nicht für den Kaiser von Oesterreich! — — Für den Augenblick beherrscht die Partei des Ausgleichs das öffentliche Leben in Ungarn. Sie haben gern angenommen, was ihnen geboten wurde. Aber diese Partei, welche dort mit Oesterreich pactirt, würde in demselben Augenblick verschwinden, in welchem der Kaiser auf die Kraft Ungarns sich stützen müßte. Die große Mehrzahl des Volkes jenseits der Leitha denkt wie Ludwig Kossuth und würde in einem solchen Augenblick sprechen, wie er heute spricht. — Und diese russische Macht, die schweigend an unsern Grenzen steht, den Moment erwartend, in welchem wir ihr Gelegenheit geben möchten, Rache zu nehmen für die Vergangenheit — für eine Vergangenheit, an der ich und das heutige Oesterreich unschuldig sind! — Darf ich den furchtbaren Ueberfall dieser Macht heraufbeschwören ohne eine andere Deckung, als den so unsichern Beistand Italiens? — Nein!“ rief er mit entschlossenem Ton, „niemals werde ich ein so unsicheres Hazardspiel mit diesem alten, ehrwürdigen österreichischen Staat spielen, dessen Schicksal man mir anvertraut hat. Ich bedarf des Friedens, um das Werk zu erfüllen, und ich werde alle meine Kraft aufbieten, um den Frieden zu erhalten.

„Wenn dann,“ fuhr er mit einem wie in weite Fernen gerichteten Blick fort, „wenn dann Oesterreich innerlich einig, kräftig und schlagfertig ist, wenn die reichen Hülfsquellen seines öconomischen Lebens sich geöffnet haben werden, wenn die Institutionen der neuen Verfassung feste Wurzel im Leben des Volkes geschlagen haben, dann mag der Kaiser es versuchen, wieder in die Arena der großen Kämpfe der europäischen Mächte hinabzusteigen, und den alten Glanz, die alte Macht Habsburgs wieder zu erringen, dann mag er das Spiel um sein Haus und sein Reich wagen. Aber von mir soll man nicht sagen, daß ich das Land, welches mir, dem Fremden so vertrauungsvoll die Leitung seiner Geschicke übergeben hat, in die unheilvollen Zufälligkeiten einer unreifen Action gestürzt hätte.“

Er blieb einige Augenblicke in tiefen Gedanken versunken sitzen.

Der Bureaudiener, welcher im Vorzimmer den Dienst hatte, meldete den Sectionschef, Baron Hoffmann.

Herr von Beust neigte zustimmend den Kopf.

Wenige Augenblicke darauf trat die magere, etwas eckige Gestalt des Herrn von Hoffmann in das Cabinet. Herr von Beust reichte ihm verbindlichst die Hand und der vortragende Rath des auswärtigen Ministeriums nahm in dem Lehnstuhl neben dem Schreibtisch des Reichskanzlers Platz.

Graf Beust reichte ihm den Bericht, den er vorher auf seinen Schreibtisch gelegt und sagte.

„Ich bitte Sie, sogleich an Metternich zu schreiben, daß er der unruhigen und unklaren Thätigkeit des Generals Türr gegenüber die äußerste Zurückhaltung beobachten möge, ohne indessen irgend wie die Idee einer immer enger zu knüpfenden Coalition zwischen Frankreich, Oesterreich und Italien zurückzuweisen. Es wäre mir sogar lieb,“ fuhr er fort, „wenn diese Negotiation — doch in möglichst unbestimmter Form sich lange hinzöge. — Sie gäbe uns immerhin eine zweckmäßige Handhabe für unsere Diplomatie. Und wenn auch eine so bestimmt formulirte Allianz, wie der General sie herstellen möchte, mir unerreichbar scheint, auch für uns ihre sehr erheblichen und ernsthaften Bedenken hat, so könnte doch diese ganze Verhandlung, wenn sie mit Geschick geleitet würde, dahin führen, daß die freundschaftliche Annäherung an Italien, welche ich so sehr wünsche, und welche schon mehrmals ohne eigentlichen Erfolg versucht wurde, jetzt wenigstens hergestellt würde. — Der Fürst Metternich soll sich besonders hüten, über die von dem General Türr formulirten Punkte irgend wie eine bindende Aeußerung zu machen. Erst muß die allgemeine Annäherung und Verständigung kommen, später wird es dann vielleicht möglich sein auf die Discussion bestimmt formulirter Allianceverträge einzugehen. Vor Allem aber wird es dann nöthig sein, zunächst Fühlung in Italien zu nehmen, und sich zu vergewissern, wie weit unsere Allianceverträge die Zustimmung der dort herrschenden Parteien finden könnten. Denn wir dürfen nicht vergessen, daß Victor Emanuel kein Selbstherrscher wie Napoleon ist und daß ein mit ihm persönlich geschlossener Vertrag leicht illusorisch bleiben könnte.“

„Ich glaube kaum,“ sagte Baron Hoffmann, „daß eine wirklich aktive Alliance mit Italien auf die Zustimmung der Majorität der dortigen Parteien jemals zu rechnen habe. Man fühlt in Italien ganz genau, daß man das bisher Errungene nur durch die Alliance mit Preußen erreicht hat, und man sagt sich vom dortigen Standpunkt mit vollem Recht, daß man nur unter dem ferneren Beistand Preußens an das Endziel des betretenen Weges gelangen, das heißt von Florenz nach Rom würde gehen können. Die Stimme der öffentlichen Meinung,“ fuhr er fort, „läßt darüber keinen Zweifel, und ich glaube, daß trotz aller Verträge, welche das italienische Cabinet etwa schließen könnte, im Augenblick einer europäischen Verwickelung das italienische Volk die Regierung zwingen wird, die letzte Hand an die nationale Einigung Italiens zu legen, wie ja bisher jeder Schritt auf diesem Wege immer unter dem Druck des Volkswillens gegen die von der Regierung geschlossenen Verträge geschehen ist.“

„Ich bedaure,“ sagte Herr von Beust nach einem augenblicklichen Nachdenken, „daß die verschiedenen Projekte, um mit Italien zu einer freundlichen Verständigung und einem nähern Verhältniß zu gelangen, niemals zur Ausführung gekommen sind. Wir bedürfen der Freundschaft Italiens, wir bedürfen auch der diplomatischen Coalition mit Italien und Frankreich, aber in diesem Augenblick auf die unglücklichen Actionspläne des Generals Türr einzugehen, das wäre unverzeihlich für einen österreichischen Minister. In Paris mag man jene Ideen in diesem Augenblick den stets heranwachsenden innern Verlegenheiten gegenüber acceptiren; doch glaube ich nicht, daß Kaiser Napoleon ernstlich daran denkt, gerade jetzt einen Conflict heraufzubeschwören, nachdem er viel passendere Momente, Momente, in welchen ihm viel größere Chancen des Erfolges zur Seite standen, hat vorübergehen lassen. Ich bitte Sie also noch einmal, Metternich in dieser Beziehung meinen Willen mitzutheilen. — Doch muß die ganze Sache mit großer Vorsicht und mit unendlicher Schonung aller persönlichen Empfindlichkeiten behandelt werden. Man darf weder in Paris, noch in Florenz verletzt werden, und auch der General Türr darf in keiner Weise unangenehm berührt werden. Er ist uns in Ungarn sehr nützlich gewesen, und könnte uns jedenfalls unter Umständen viel schaden.“

Herr von Hoffmann verneigte sich.

„Ich werde sogleich die Depesche nach Eurer Excellenz Befehl abfassen.“

Er zog ein Zeitungsblatt aus seiner Mappe und fuhr fort.

„Ich muß um Eure Excellenz auf einen Artikel aufmerksam machen, welcher sich in verschiedenen Blättern findet und über einen Vorfall in München berichtet, welcher, wie ich glaube, nicht unbeachtet bleiben darf. Graf Ingelheim,“ fuhr er fort, „hat gerade an dem Tage, an welchem der König Ludwig die Minister und ministeriellen Reichsräthe zur Hoftafel befohlen, ein Diner gegeben, bei welchem er alle Mitglieder der großdeutschen und ultramontanen Opposition im Reichsrath, die für die Mißtrauensadresse gegen das Ministerium gestimmt hatten, bei sich versammelte, und es sollen bei diesem Diner, wie die Zeitungen berichten, eigentümliche Unterhaltungen stattgefunden haben. Man soll Fürst Hohenlohe bereits als beseitigt betrachten, und die Herstellung des Ministeriums unter Herrn von Bomhardt mit den Herren von Schrenk und von Thüngen lebhaft besprochen haben.“

„Unterhaltungen bei einem Diner können nun allerdings nicht gerade auf die Goldwage gelegt werden. Indessen hat doch dieser ganze Vorfall etwas Demonstratives. — Die Presse faßt ihn in diesem Sinne auf und setzt ihn in Verbindung mit dem allgemeinen Verhalten des Grafen Ingelheim, der mit den erbittertsten und entschiedensten Gegnern des Ministeriums Hohenlohe die innigsten Beziehungen unterhält. —

„Ich glaube nicht, daß es im Sinne der von Eurer Excellenz befolgten, so vorsichtig zurückhaltenden Politik liegen kann, wenn der Gesandte Oesterreichs in Baiern offen gegen das dortige Ministerium demonstrirt, im Augenblick, in welchem der König demselben einen Beweis seines Vertrauens giebt.“

Ueber das Gesicht des Herrn von Beust legte sich der Ausdruck finstern Unmuths.

„Wie schwer,“ rief er, „wie unendlich schwer ist es doch, Oesterreich in den neuen Bahnen einer wohl durchdachten Politik zu lenken. Ueberall fehlt die Organisation der innern Verwaltung, in der Diplomatie stößt man fortwährend auf die unerwarteten Hindernisse, und wenn ich mit der äußersten Mühe die Wolken des Mißtrauens vom politischen Horizont verscheucht habe, so werden sie bald hier, bald dort immer wieder hervorgerufen durch die Organe, welche meine Absichten und Pläne nicht verstehen oder nicht verstehen wollen. Da wird nun durch eine rein persönliche Demonstration des Grafen Ingelheim wieder das mühsam aufrecht erhaltene gute Verhältniß mit Preußen getrübt, und man wird in Berlin nicht ganz Unrecht haben, denn für eine solche Handlung des offiziellen Vertreters Oesterreichs hat man eine gewisse Berechtigung, mich verantwortlich zu machen. — Ich habe lange Bedenken gehabt,“ fuhr er fort, „Ingelheim wieder in Aktivität zu setzen. Er ist ein braver Mann, aber das genügt nicht, um ein guter Diplomat zu sein, und vor Allem ist er vollständig in den Händen der Ultramontanen. — Doch,“ fuhr er fort, „die Sache ist mir nach Preußen hin noch weniger unangenehm, als für die Beziehungen zu Baiern selbst. Der König Ludwig wird auf's Tiefste verletzt sein, und doch ist es für uns von größter Wichtigkeit, gerade in München festen Fuß zu behalten, und das Vertrauen des Königs nicht zu verlieren; — bei seinem Charakter kann eine Demonstration wie die des Grafen Ingelheim ihn gerade in plötzlicher Aufwallung von uns völlig entfremden, und wenn man diese Verhältnisse und Stimmungen von Berlin aus richtig benutzt, ihn ganz und gar der norddeutschen Politik in die Arme treiben.

„Die Sache ist um so unangenehmer,“ fuhr er fort, indem er einen kleinen eng betriebenen Bericht von seinem Schreibtisch nahm und den Blick über denselben gleiten ließ, „als — — ich habe da eine merkwürdige Mittheilung auf privatem Wege erhalten über Vorgänge in der königlichen Familie. —

„Sie wissen,“ sagte er, daß die klerikale Partei ganz besondere Hoffnungen auf den Prinzen Luitpold setzt und stets bemüht ist, demselben einen möglichst großen Einfluß auf die Staatsgeschäfte zu sichern. Es soll nun im Schooß der königlichen Familie ein Project ernstlich ventilirt sein, den König Ludwig durch einen Regierungsbeschluß unfähig erklären zu lassen. Prinz Otto, der ohne politischen Ehrgeiz ist, soll gegen entsprechende persönliche Vortheile bereit gewesen sein, schon jetzt auf das Thronrecht ausdrücklich zu verzichten. Im entscheidenden Augenblick habe aber dieser junge Prinz von Gewissensbissen bewegt, der verwittweten Königin die ganze Sache eingestanden, und es sei in Folge dessen zu sehr stürmischen Scenen gekommen, welche zur öffentlichen Kenntniß freilich nur durch eine königliche Botschaft gelangt sind, die den Prinzen Luitpold mit seinen Söhnen Ludwig und Leopold bis auf Weiteres vom Erscheinen bei Hofe dispensirt. —

„Die ganze Sache ist etwas mysteriös und fabelhaft,“ sprach er weiter, „auch die Quelle, aus welcher die Mittheilung an mich gelangt ist, ist nicht absolut zuverlässig. Dennoch aber ist so viel gewiß, daß die Prinzen mit den Führern der klerikalen particularistischen Opposition in intimen Verbindungen stehen, und daß der König über diese Opposition sehr gereizt ist. Wenn gerade in einem solchen Augenblick der Vertreter Oesterreichs in solcher Weise demonstrativ handelt, wie es der Graf Ingelheim gethan hat, so ist das allerdings sehr bedenklich. Wir müssen darauf denken,“ fuhr er fort, „die Sache unter jeder Bedingung wieder gut zu machen —

„Zunächst bitte ich Sie, Graf Ingelheim in vertraulicher Weise auf das Bedenkliche seines Verfahrens aufmerksam zu machen. Ich werde weiter darüber nachdenken. — Ich glaube, daß ein anderer Vertreter in München nothwendig werden wird. Wir können doch wahrlich nicht am Münchener Hof klerikale Politik machen, während wir hier in Oesterreich damit beschäftigt sind, den Einfluß der römischen Hierarchie auf die Entwickelung des Staatslebens zu brechen.“

Der Bureaudiener trat ein und meldete den Herzog von Grammont.

Graf Beust erhob sich.

„Sie bleiben noch hier im Hause, nicht wahr, lieber Hoffmann?“ sagte er. „Vielleicht können Sie mir nachher die Depesche an Metternich vorlegen, nachdem ich mit Grammont gesprochen habe.“

Herr von Hoffmann verneigte sich. Unmittelbar, nachdem er das Cabinet verlassen, trat der französische Botschafter ein.

Der Herzog von Grammont war ruhig und lächelnd wie immer. Sein feines, fast zierlich geschnittenes Gesicht mit den dunklen, vornehm gleichgültig blickenden Augen, dem kleinen Mund und dem auswärts gedrehten Schnurrbart trug den Ausdruck unzerstörbarer Freundlichkeit und Höflichkeit. — In etwas steif-militairischer Haltung, welche dessen ungeachtet nicht ohne Anmuth war, näherte er sich dem Reichskanzler, der ihm mit offener Herzlichkeit die Hand reichte, und ließ sich neben dem Schreibtisch nieder.

„Erlauben Sie zunächst, mein lieber Herzog,“ sagte Graf Beust, „daß ich Ihnen mein aufrichtiges Bedauern ausspreche über die unruhigen Bewegungen, welche in Paris stattgefunden haben, und welche jedenfalls den Kaiser schmerzlich berührt haben müssen. Ich darf zugleich meiner Freude darüber Ausdruck geben, daß jene Bewegungen, — wie ich allerdings schon bei der ersten Nachricht nicht bezweifelte — schnell wieder vollständig beendet sind. Fürst Metternich hat mir berichtet, mit welcher Sicherheit, Würde und Mäßigung die Regierung verfahren ist, und ganz Europa muß dem Kaiser Dank wissen, daß er mit so fester und geschickter Hand die gährenden Elemente niederzuhalten versteht.“

„Diese kleinen Bewegungen,“ erwiderte der Herzog von Grammont mit leichter Neigung des Kopfes, „haben nicht viel zu sagen. Es sind Scenen, die man arrangirt hat, um die Verhaftung Rocheforts zu einem Ereigniß von Bedeutung zu stempeln. Der Kaiser,“ fuhr er fort, „ist vollkommen Herr der Lage, und Frankreich ist stark und kräftig genug, um ohne Erschütterung den Uebergang zu den neuen Institutionen zu ertragen, welche der Kaiser in richtiger Erkenntniß der Zeitbedürfnisse in's Leben gerufen hat.“

Herr von Beust schwieg einen Augenblick.

„Sie werden unterrichtet sein,“ sprach er dann, indem er den Herzog grade anblickte, — „daß in diesem Augenblick in Paris Besprechungen — mehr persönlicher als eigentlich diplomatischer Natur stattgefunden haben, um dem Gedanken an eine nähere Verbindung mit Italien eine bestimmte Form zu geben. Vor einiger Zeit machte mir der General Türr darüber eine Andeutung, über welche ich damals allerdings nur oberflächlich mit ihm gesprochen habe. Es scheint jedoch jetzt, daß jene Sache an Consistenz gewonnen hat, und daß man namentlich von Florenz aus geneigter scheint als früher, in bestimmt formulierte Beziehungen mit uns zu treten. Sie wissen,“ fuhr er fort, „wie sehr ich ein gutes Verhältniß mit Italien wünsche und welchen Werth ich demselben für eine diplomatische Kooperation von Frankreich und Oesterreich beilege. Allein das, was ich gegenwärtig über die Unterhandlungen höre, die in Paris über diesen Gegenstand stattgefunden haben, scheint mir noch sehr vage und unklar zu sein, und ich würde, um eingehender darüber nachdenken zu können, dringend wünschen von Ihnen zu hören, wie Ihre Regierung und der Kaiser zu diesen Ideen stehen, über welche man mir Privatmittheilungen gemacht hat.“

Der Herzog von Grammont hielt unbeweglich, mit dem ruhigsten und freundlichen Gesichtsausdruck den fortwährend forschenden auf ihn gerichteten Blick des Grafen Beust aus.

„Ich habe,“ erwiderte er, „ebenfalls Privatmittheilungen aus Paris über die Gedanken erhalten, welche durch den General Türr dort mehrfach angeregt worden sind, und welche, wie ich kaum bezweifeln darf, die Billigung des Königs Victor Emanuel gefunden haben. Sie beziehen sich, soviel mir darüber mitgetheilt worden, auf den Fall, daß Italien in die Lage kommen könnte, bei einer gemeinsamen militairischen Action Oesterreichs und Frankreichs mitzuwirken, und nach Dem, was ich darüber gehört, scheint mir jener Gedanke wohl der Beachtung werth zu sein, da in ihm, wenn der in's Auge gefaßte Fall eintreten sollte, jedenfalls die Grundlage zu bestimmten Verträgen gefunden werden könnte, die sowohl im Interesse Frankreichs, als in demjenigen Oesterreichs wünschenswerth erscheinen möchten.“

Graf Beust blickte einen Augenblick schweigend vor sich nieder und spielte leicht mit den Fingern seiner seinen und schlanken Hand auf der Decke des Schreibtisches.

„Wie mir der Fürst Metternich mittheilt,“ sagte er dann im ruhigen Conversationston, „beobachtet Herr Nigra dieser ganzen Sache gegenüber eine sehr vorsichtige, fast kalte Zurückhaltung, und vom hiesigen Vertreter Italiens ist mir noch nicht die leiseste Andeutung darüber geworden.“

„Bei den eigentümlichen Verhältnissen,“ erwiderte der Herzog, „welche zwischen Oesterreich und Italien bestehen und bei den peinlichen Erinnerungen aus nicht zu langer vergangener Zeit scheint es mir, daß eine Annäherung zwischen beiden Mächten, namentlich eine Annäherung mit bestimmten Zielen, mit formulirten Alliancebedingungen schwer durch direkten Verkehr hergestellt werden könne. — Auch giebt es Propositionen, die man auf direktem Wege nicht eher machen kann, als bis man sicher ist, daß sie angenommen werden. Unter solchen Verhältnissen scheint mir eine vorläufige, nicht officielle und zunächst nur sondirende Verhandlung durch die Natur der Dinge angezeigt zu sein, und für eine solche Verhandlung könnte dann auch der neutrale Boden eines den beiden Mächten befreundeten Hofes das richtige Terrain werden. — Jedenfalls glaube ich annehmen zu dürfen, daß der General Türr in eine solche Negotiation nicht eintreten würde, wenn er nicht der vollen persönlichen Zustimmung des Königs Victor Emanuel sicher wäre.“ —

„Und wie denkt der Kaiser Napoleon über die ganze Sache,“ fragte Graf Beust rasch und bestimmt.

„Sie können natürlich nicht voraussetzen, mein lieber Graf,“ erwiderte der Herzog mit vollkommener Ruhe, „daß ich Instructionen habe, mich über die Absichten auszusprechen, welche Seine Majestät in Betreff einer Sache hegt, die das Gebiet officieller Unterhandlungen noch nicht berührt hat. — Wenn ich also Ihre Frage beantworte, so kann ich selbstverständlich nur eine ganz persönliche Meinung äußern, welche sich auf die Kenntniß stützt, die ich von den Anschauungen meines Souverains über die politischen Fragen gewonnen zu haben glaube.“

Graf Beust verneigte sich leicht. Ein feines Lächeln spielte eine Secunde um seine Lippen, dann richtete er den Blick mit erwartungsvoller Aufmerksamkeit auf den Herzog.

„Sie wissen, mein lieber Graf,“ sagte dieser, „daß die Verhältnisse in Europa sich fortwährend in einer Spannung befinden, welche eine energische Action von einem Augenblick zum andern möglich erscheinen läßt. Wir haben uns früher bereits mehrfach über derartige Eventualitäten unterhalten, und seit der Zusammenkunft in Salzburg sind wir stets darin übereingekommen, daß die Interessen Frankreichs und Oesterreichs allen schwebenden politischen Fragen gegenüber die gleichen sind. — Wir sind ferner, wie Sie auch vorhin betonten, darin übereingekommen, daß Italien das notwendige Mittel- und Verbindungsglied für das Zusammenwirken Frankreichs und Oesterreichs bildet. — Von diesen Prämissen ausgehend,“ fuhr er fort, während Herr von Beust schweigend zuhörte, „würde ich nun den Abschluß eines Vertrages, welcher für mögliche Fälle die Cooperation Italiens sichert und regelt, als einen großen Gewinn betrachten müssen. — Der König Victor Emanuel ist zu einer solchen Cooperation durchaus geneigt, doch ist er nicht in der Lage, dieselbe eintreten zu lassen, wenn er nicht zu gleicher Zeit dem italienischen Volk einen nationalen Gewinn dafür versprechen kann. Die vollständige Arrondirung in den nationalen Grenzen nach dem Norden hin würde ein solcher Gewinn sein — um dieses Gewinns willen würde das italienische Volk sich bestimmen lassen, auf Rom zu verzichten, wenigstens so lange zu verzichten, bis vielleicht unter einem künftigen Pontificat ein Modus gefunden werden kann, welcher die heute sich noch unversöhnlich gegenüber stehenden Interessen vereinigt. Mit einem Wort, Italien hat noch zwei Forderungen zu stellen, die eine ist Rom, welche man von uns verlangt, die andere das italienische Tyrol, welches
Oesterreich zu gewähren im Stande ist. — Wir können in diesem Augenblick Rom nicht Preis geben. — Ihre Sache ist es, zu beurtheilen, ob das Opfer eines nicht bedeutenden Gebiets, welches nur die weitere ergänzende Ausführung eines einmal anerkannten Princips bildet, Ihnen der Wichtigkeit einer festen italienischen Alliance entsprechend erscheint. — Nach meiner persönlichen Auffassung,“ fuhr er fort, „würde dieses Opfer nicht groß sein und es würde sich im Falle einer erfolgreichen Action, an deren glücklichen Ausgang nicht zu zweifeln sein möchte, durch weit größere und weit bedeutendere Vortheile und durch die Wiedergewinnung der ganzen alten österreichischen Macht nach anderer Richtung hin ersetzen lassen. — Frankreich hat dasselbe Interesse wie Oesterreich, daß die Coalition mit Italien zu Stande komme; wenn Sie sich also zu jenem Opfer würden entschließen können, so würden Sie, wie ich glaube, nicht nur in Ihrem eigenen Interesse handeln, sondern auch Frankreich einen sehr großen und sehr wichtigen Dienst leisten, für den eine richtige französische Politik, eine Politik, wie sie den Ideen des Kaisers so vollkommen entspricht, ihre Dankbarkeit zu bethätigen nicht unterlassen könnte.“

„Eine Coalition auf der Basis,“ erwiderte Herr von Beust in einem beinahe gleichgültigen Ton, „wie sie in diesem Augenblick in Paris discutirt wird mit so bestimmt formulirten Bedingungen, würde ihre Bedeutung doch immer wesentlich nur im Augenblick einer wirklich kriegerischen Action haben. Ganz abgesehen von der Frage,“ fuhr er fort, „ob in einem solchen Augenblick das italienische Volk geneigt sein würde, die Abmachungen des königlichen Cabinets gut zu heißen, müßte man sich doch, bevor man auf die Discutirung der Details ernstlich einginge, klar machen, ob denn eine militairische Action zweckmäßig und nothwendig — und ob sie mit Aussicht auf Erfolg ausführbar sei. Ich meines Orts sehe die Nothwendigkeit nicht, denn es ist in diesem Augenblick keine Veränderung der seit Jahren bestehenden europäischen Verhältnisse eingetreten. — Ich vermag die Zweckmäßigkeit nicht anzuerkennen, denn ich sehe keinen vorbereiteten — oder möglicher Weise zu schaffenden — vernünftigen Kriegsfall, und endlich kann ich die Aussicht auf einen siegreichen Erfolg mit meiner Anschauung der Verhältnisse nicht vereinen. Die Macht des Norddeutschen Bundes ist ungeheuer stark und scharf concentrirt und auf alle Eventualitäten täglich und stündlich vorbereite. Die süddeutschen Staaten sind schwankend und haltlos, dabei militairisch kaum gerüstet und bei uns in Oesterreich — Sie wissen, Herr Herzog, mit welchen innern Schwierigkeiten wir zu kämpfen haben, und wie unendlich langsam aus financiellen Gründen schon die Reorganisation unserer Armee vorschreitet. Wir haben neben uns Rußland, dem wir nicht gewachsen sind —“

„Dem Sie aber doch,“ fiel der Herzog von Grammont ein, „zweifellos die Spitze zu bieten im Stande wären, wenn nicht nur Ihre italienischen Grenzen vollkommen frei würden, sondern wenn wie der proponirte Tractat bestimmt, Italien für den Fall der russischen Intervention seine active militairische Hülfe verspricht.“

„Wenn ich auch,“ sprach Herr von Beust in einem Ton, als discutire er eine ihm der Zeit und dem Inhalt nach völlig fern liegende Frage, „wenn ich auch annehme, daß jene Versprechen im entscheidenden Augenblick wirklich gehalten würden, wofür — ich muß es wiederholen — immer schwer eine Garantie gefunden werden zu können scheint, so glaube ich doch nicht, daß Oesterreich im Stande ist, selbst mit der Hülfe Italiens einen Kampf mit Rußland und die Aussicht auf eine spätere unversöhnliche Feindschaft Preußens und Deutschlands auf sich zu nehmen. Für den Fall, daß diese neu erstandene gewaltige Militairmacht aus diesem Conflict siegreich hervorgehen sollte —“

„Siegreich hervorgehen?“ rief der Herzog von Grammont mit dem Ton eines naiven Erstaunens, indem er seinen kleinen Schnurrbart emporkräuselte, — „siegreich hervorgehen aus einem Kampf mit Frankreich!? — ich bin zu sehr Franzose,“ fuhr er fort, „um an eine solche Möglichkeit auch nur einen Augenblick zu glauben.“

„Sie müssen mir verzeihen,“ sagte Graf Beust mit einer seinen Nuance kaum bemerkbarer Ironie in seiner Stimme, „wenn ich mich in diesem Augenblick mehr an den Geist des Staatsmanns und Diplomaten als an das Nationalgefühl des französischen Edelmanns wende. — Eine kluge Politik muß sich stets auch durch Erwägung der möglich ungünstigen Chancen bestimmen lassen. — Doch,“ fuhr er abbrechend fort, „diese Discussion führt uns auf ein Gebiet, das ich, wie ich glaube, heute zu betreten noch keinen Grund habe. Ich bitte Sie, mir zunächst mit derselben Aufrichtigkeit, mit welcher ich mich Ihnen gegenüber ausgesprochen habe, eine Frage zu beantworten: — Glauben Sie, daß es aus irgend welchem Grunde in den Absichten des Kaisers liegen könne, wirklich in kurzer Zeit zu einer ernsten Action überzugehen?“

Der Herzog zögerte einen Augenblick mit der Antwort auf diese directe und bestimmte Frage.

„Ich glaube,“ sagte er, „daß der Kaiser von dem eifrigsten Wunsch erfüllt ist, den europäischen Frieden zu erhalten. — Indessen hat er auch die Verpflichtung, Frankreich nicht ohne Widerstand allmälig zu einer bedeutungslosen Passivität in Europa herabdrücken zu lassen. Der Kaiser hat durch die freisinnigen Institutionen, welche er in die neue französische Verfassung eingeführt hat, die Gründung seines Gebäudes im Innern vollendet. Und wenn diese neuen Institutionen, wie ich es wünsche und wie ich es hoffe, durch ein neues Plebiscit die Sanction des freien Volkswillens erhalten haben werden —“

Graf Beust zuckte ein wenig zusammen und blickte erstaunt den Herzog an, dann nahmen seine einen Augenblick ernst und nachdenklich gewordenen Züge wieder den Ausdruck gleichgültig ruhiger Höflichkeit an, mit welchem er das ganze Gespräch bisher geführt hatte.

„— dann wird es,“ fuhr der Herzog fort, „nach meiner Ueberzeugung die Aufgabe des Kaisers sein, auch nach Außen hin der Stimme Frankreichs wieder den alten Nachdruck zu verschaffen und zu zeigen, daß es auf die Dauer nicht möglich ist, die Schicksale der europäischen Völker ohne Frankreichs Genehmigung zu lenken.“

„Aber,“ sprach Graf Beust, „dazu würde immer ein stichhaltiger und völkerrechtlich möglicher Kriegsfall erforderlich sein, und ich sehe nicht ein —“

„Mein Gott,“ rief der Herzog, „der Prager Frieden wird ja täglich verletzt und giebt Ihnen die verschiedensten und völkerrechtlich begründetsten Handhaben, um in jedem Augenblick den begründetsten Kriegsfall zu finden —“

„So,“ fragte Herr von Beust, den Herzog groß anblickend, „so sollte also Oesterreich nach Ihrer Ansicht den Conflict hervorrufen?“

„Sie werden nicht verkennen,“ sagte der Herzog, — „ich spreche hier natürlich nur meine ganz persönlichen Ansichten aus, — daß der mächtigste Verbündete des Herrn von Bismarck in einem Krieg gegen Frankreich das deutsche Nationalgefühl sein würde, und daß es wesentlich darauf ankäme, uns in Deutschland selbst Verbündete zu schaffen. Das scheint mir am sichersten erreicht zu werden, wenn der eventuelle Kriegsfall aus deutschen Angelegenheiten und aus dem Prager Frieden genommen wird, welcher Oesterreich das Recht giebt, für die Unabhängigkeit der süddeutschen Staaten einzutreten.“

„Herr Herzog,“ sagte Graf Beust mit ernstem Nachdruck, indem er den leichten Conversationston, in dem das Gespräch bisher geführt war, vollständig aufgab — „da die Unterhaltung, welche wir in diesem Augenblick über theoretische Hypothesen führen und in welcher wir unsere persönlichen Meinungen austauschen, vielleicht in irgend einem früheren oder späteren Moment eine Bedeutung für concrete Verhältnisse gewinnen könnte, so liegt mir daran, genau und klar die Anschauungen auszusprechen, welche auch bei einer solchen Möglichkeit für mich immer maßgebend sein und bleiben würden. Oesterreich,“ fuhr er fort, „bedarf absolut der Ruhe, es bedarf der friedlichen Entwickelung von mindestens zehn Jahren, um seine inneren Kräfte wieder zu stärken und seine inneren Verfassungszustände zu consolidiren. Oesterreich kann und wird niemals, so lange ich seine Regierung zu leiten habe, die Initiative zu einer Action übernehmen, welche Europa in gefahrvolle Unruhe stürzen und die Zukunft des Kaiserstaats vor Allem gefährden würde. Wenn — wie Sie vorauszusetzen scheinen, an Frankreich die Aufgabe herantreten sollte, sein Prestige und seine Stellung unter den europäischen Mächten nöthigenfalls mit den Waffen in der Hand wieder auf die alte Höhe zu erheben, so wird, davon können Sie überzeugt sein, keine Regierung mit größeren Sympathien auf ein solches Streben der französischen Nation blicken, als die österreichische, welche, wie ich früher constatirt habe, und wie ich heute wiederhole, in fast allen europäischen Fragen mit Frankreich gleiche Interessen hat. Die Phasen eines solchen Conflicts und seiner Consequenzen lassen sich nicht vorher bestimmen. Es läßt sich deshalb auch nicht mit Sicherheit sagen, ob nicht im Verlauf solcher Ereignisse ein Augenblick kommen könnte, welcher Oesterreich trotz seines Friedensbedürfnisses die Pflicht auferlegt, activ in die Verhältnisse einzugreifen. — Ich vermöchte mir heute keine Eventualität zu denken, welche ein solches mögliches Eingreifen Oesterreichs im
Gegensatz zu Frankreich rechtfertigen könnte. — In dieser Anschauung liegt die Haltung bezeichnet, welche mir für Oesterreich vorgeschrieben scheint. Weiter zu gehen, ohne die äußerste Notwendigkeit aus der gebotenen Reserve herauszutreten, wäre für einen österreichischen Staatsmann ein Verbrechen — und vor Allem würde ich wenigstens niemals die Verantwortlichkeit auf mich nehmen, durch Oesterreich aus dem von ihm abgeschlossenen Vertrage einen Kriegsfall zu provociren. Würde der Kaiser eine Action für nothwendig halten, so muß der Grund dafür aus irgend welcher Frankreich interessirenden Frage genommen werden. Niemals aber kann und wird Oesterreich seinerseits die Initiative übernehmen. Dies bestimmt und rückhaltslos auszusprechen, halte ich für meine Pflicht, damit bei Erwägung einer so wichtigen Frage, welche natürlich in Paris ausschließlich nur mit Rücksicht auf das Interesse Frankreichs entschieden werden kann, keinen Falls irgend ein Zweifel über die Haltung bestehe, welche für Oesterreich unabänderlich geboten erscheint.“

„Sie müssen natürlich,“ sagte der Herzog mit einem Anklang von Kälte in dem höflichen Ton seiner Stimme, „Sie müssen dies natürlich besser beurtheilen können als ich. Jedenfalls sind Sie zu dem Urtheil, welche Haltung Oesterreich zu beobachten habe, berufener als ich. Doch kann ich die Bemerkung nicht unterdrücken, daß eine Zurückhaltung, wie Sie dieselbe so eben als die Aufgabe der österreichischen Politik dargestellt haben, nach meiner Ueberzeugung leicht dahin führen könnte, daß Oesterreich sich eines Tages isolirt sähe, und diese Isolirung könnte unter Umständen gefährlich werden. Da, wie Sie selbst constatirt haben, die Interessen Frankreichs und Oesterreichs sich in den politischen Fragen fast überall decken, so möchte es mir nicht ganz unbedenklich für Oesterreich erscheinen, sich gerade von der Macht zu trennen, mit welcher Sie die gemeinsamen Interessen verbinden.“

„Ich habe,“ erwiderte Herr von Beust, „nicht im Entferntesten an die Möglichkeit gedacht oder dieselbe aussprechen wollen, daß Frankreich sich jemals von Oesterreich trennen könne. — Eine solche Trennung,“ fuhr er mit feiner und scharfer Betonung fort, „könnte jedenfalls nur dann möglich werden, wenn die französische Politik jemals Wege betreten sollte, in welchen die gegenwärtig zu meiner so innigen Genugthuung bestehende Gemeinsamkeit der Anschauungen und Interessen alterirt würde — ein solcher Fall scheint mir undenkbar und jedenfalls,“ fügte er im leichten Ton mit einem flüchtigen Lächeln hinzu, „tauschen wir ja in diesem Augenblick auch nur unsere ganz persönlichen Ansichten über Fälle aus, deren Eintritt kaum zu erwarten sein dürfte.“

Der Herzog erhob sich.

„Es scheint,“ sagte er, das bisherige Gespräch abbrechend, „daß der König von Hannover die Legion auflösen will, die er bisher in Paris gehalten hat. Graf Platen hat mir Etwas davon gesagt. Ich muß aufrichtig bekennen, daß ich eigentlich recht damit zufrieden bin. Ich habe große Sympathien für den unglücklichen König und hohe Verehrung vor seinen persönlichen Eigenschaften. Doch glaube ich nicht, daß er auf dem bisher befolgten Wege etwas Anderes erreichen kann, als seine schon ohnehin beschränkten Mittel immer mehr zu vermindern und sich dadurch die Möglichkeit später Etwas für seine Sache und sein Haus zu thun, immer schwieriger zu machen.“

„Man schien früher in Paris der Ansicht zu sein,“ sagte Graf Beust, „daß diese hannöversche Emigration unter Umständen eine nützliche Handhabe werden könne, um einem möglichen Conflict mit Preußen den nationalen Charakter zu nehmen.“

„Ich bin dieser Ansicht nicht,“ sagte der Herzog, „die wenigen Emigranten in Frankreich würden weder der Sache des Königs, noch uns nützen können; ob für den Fall des Zusammenbrechens der Schöpfung von 1866 Etwas für den König geschehen könne, das wird immer davon abhängen, wie sich das ganze Volk in Hannover und wie sich das übrige Deutschland zu seiner Sache verhalten wird. — Was Frankreich betrifft, so stehe ich auf dem Standpunkt, daß wenn wir uns jemals zu einer ernsten Action entschließen, wir auf alle kleinen Hülfsmittel verzichten und uns ganz ausschließlich auf unsere eigene nationale Kraft und auf diejenigen Alliirten verlassen müssen, welche wir, wie ich hoffe, in einem solchen Fall unter den mit uns befreundeten europäischen Mächten dennoch finden werden,“ fügte er mit einem lächelnden Blick auf den Grafen Beust hinzu, indem er ihm die Hand zum Abschied drückte.

Der Reichskanzler begleitete ihn bis zur Thür und kehrte dann nachdenklich zu seinem Schreibtisch zurück.

„Es geht Etwas vor,“ sagte er. „Der Kaiser Napoleon ist für den Frieden, schon weil er alle Unruhe und körperliche Anstrengungen scheut. Metternich schreibt mir dies ganz bestimmt, und Metternich täuscht sich darin nicht. Aber dieser alternde Imperator befindet sich mehr als je unter der Herrschaft seiner Umgebung. Und die Kaiserin Eugenie möchte für sich die Rolle der Maria von Medicis vorbereiten. Nun,“ rief er, „wenn man dort Abenteuer in der Politik machen will, so mag man es auf eigene Gefahr thun. Ich werde meine Schöpfungen in Oesterreich nicht den Zufälligkeiten einer unüberlegten und unvorbereiteten Action aussetzen.“

Der Bureaudiener meldete den Staatsrath Klindworth.

Etwas erstaunt blickte Herr von Beust auf.

„Klindworth hier?“ rief er, „sollte er sich hier wieder für möglich halten? — Lassen Sie den Staatsrath eintreten,“ sprach er nach kurzem Besinnen.

Wenige Augenblicke darauf trat der Staatsrath Klindworth in das Cabinet. Er war ein Mann von weit über sechzig Jahren; sein dichtes, beinahe weißes Haar war kurz geschnitten, — sein eckiger Kopf, mit den großen abstehenden Ohren, den kleinen, scharfen, umherspähenden Augen, der großen, breiten Nase und dem ausdruckvollen häßlichen Mund, steckte zwischen den breiten Schultern, welche durch den hohen Kragen des weiten dunklen Ueberrocks noch höher erschienen.

Graf Beust begrüßte den viel gewandten, geheimen Agenten verschiedener europäischer Höfe mit einer freundlichen Vertraulichkeit, in welche sich doch ein wenig abwehrende Kälte mischte.

„Was führt Sie her, mein lieber Staatsrath,“ sagte er, indem er Herrn Klindworth einen Stuhl neben seinem Schreibtisch bezeichnete. „Ich glaubte, Sie wollten für einige Zeit in Paris bleiben und vielleicht,“ fuhr er mit einem scharfen Blick auf das unbewegliche Gesicht des Staatsraths fort, „vielleicht wäre das besser gewesen. — Sie wissen, daß nach den Vorgängen mit der Wiener Bank und dem König von Hannover hier Rücksichten zu nehmen sind —“

„Ich bin,“ sagte der Staatsrath ruhig, „nur auf einen Augenblick herübergekommen und denke nicht, hier acte de présence zu machen. Doch habe ich nicht unterlassen können, hier Mittheilungen von dem zu machen, was ich gesehen und gehört, und was so Viele nicht sehen und nicht hören wollen.“

„Ich weiß, wie scharf Sie sehen und wie scharf Sie hören,“ sagte Graf Beust lächelnd — „und es wird mir, wie es das stets gewesen ist, von besonderem Interesse sein zu hören, was Sie dort wahrgenommen haben.“

„Ich habe wahrgenommen,“ sagte der Staatsrath Klindworth, indem er die Hände über der Brust faltete, und seinen Kopf so tief zwischen dem Kragen seines Rockes zurückzog, daß das Kinn fast ganz in seiner weißen Binde verschwand, „ich habe wahrgenommen, daß ein großer Sturm im Anzuge ist, welcher Europa noch tiefer erschüttern wird, als die Ereignisse von 1866. Und ich bin gekommen, um zu warnen, und um zu rathen, wenn man meinen Rath hören, wenn man meine Warnung beachten will.“

Graf Beust wurde ernst und blickte erwartungsvoll auf den Staatsrath.

„Der Herzog von Grammont geht soeben von Ihnen fort,“ sagte dieser, „was hat er Ihnen gesagt?“ fragte er, — mit seinen kleinen Augen scharf von unten heraufblickend, — „ich hoffe, Sie werden ihn ein wenig über diese eigenthümliche neben der regulairen Diplomatie herlaufende Negotiation des General Türr befragt haben, welcher da plötzlich in Paris erschienen ist, um europäische Coalitionen zu bilden, wie man Bataillone aufstellt und exerciren läßt. — Eine eigenthümliche Zeit,“ sprach er, sich unterbrechend, indem er mit den Fingern der rechten Hand auf der Oberfläche der linken trommelte, „eine eigenthümliche Zeit, Alles wird auf irregulairem Wege gemacht. Es ist keine Ordnung in der Politik mehr, kein System! Kein Wunder, daß sich da die Fäden zu einem gordischen Knoten verschlingen, und daß Demjenigen der Erfolg zur Seite steht, der kühn — oder plump genug ist,“ fügte er achselzuckend hinzu, „das unlösbare Gewirr mit dem Säbel zu zerhauen. — Was würde der große Metternich sagen,“ sprach er seufzend, „wenn er diesen Wirrwarr in der politischen Maschinerie Europa's sehen könnte, in welcher zu seiner Zeit so vortrefflich jedes Rad in einander griff, und welche nach seinem Willen so richtig und exact spielte!“

„Nun,“ sprach Herr von Beust lächelnd, „die Aufgabe eines Staatsmannes ist es immer, mit der Zeit fertig zu werden, in welcher er lebt. Wir müssen versuchen, auch in diesem Wirrwarr kaltes Blut und Ruhe zu behaupten. Grammont,“ fuhr er dann fort, „hat mir allerdings nur — ganz persönlich — die Nothwendigkeit einer Alliance mit Italien sehr scharf betont. Ich glaube allerdings, daß man in Paris etwas energisch auftreten möchte, und daß man dazu Alliancen sucht. — Findet man sie nicht, so wird man sich beruhigen, wie man sich schon öfter beruhigt hat.“

Ein fast mitleidiges Lächeln zuckte über den breiten Mund des Staatsraths.

„Daß man Alliancen sucht, ist richtig,“ sagte er, „daß man sich beruhigen wird, wenn man sie nicht findet, ist eine Ansicht, die ich nicht theile.“

„Aber der Kaiser ist krank, sein Gesundheitszustand flößt ernste Bedenken ein; die Aerzte empfehlen ihm die höchste Ruhe und Schonung, wie sollte da eine ernste, gar eine kriegerische Action möglich sein, da doch trotz der neuen parlamentarischen Institution wenigstens für die auswärtige Politik in Frankreich noch Alles von der Initiative des Kaisers abhängt.“

„Der Kaiser ist krank,“ sagte Klindworth, „das ist richtig. Die auswärtige Politik hängt von seiner Initiative ab, das ist auch richtig. Aber von wem hängt wieder diese Initiative dieses kranken, zuweilen fast willenlosen Mannes ab? — Von der Kaiserin,“ sagte er, „welche keinen andern Gedanken hat, als ihrem lieben kleinen Louis ein wenig Lorbeer um das jugendliche Haupt zu winden, — und während dieser Lorbeer an den Grenzen gepflückt wird, beabsichtigt man, eine große Generalprobe für die künftige Regentschaft abzuhalten. Die Toilettenangelegenheiten fangen an, Ihre Majestät zu langweilen,“ sprach er im höhnischen Ton, „die Unterhaltung mit ihrem erhabenen Gemahl ist auch gerade nicht zerstreuend. Die erhabene Kaiserin der Franzosen ist in eminenter Weise ehrgeizig geworden. Und glauben Sie mir,“ fuhr er fort, „im Geheimen Rath Ihrer Majestät ist der Krieg beschlossen, und täglich werden dort die Vorbereitungen dazu discutirt, während dieser allmälig absterbende Kaiser unter den Händen seiner Aerzte mit seinen Schmerzen und seiner Schwäche kämpft.“

„Glauben Sie,“ fuhr Graf Beust, der sehr aufmerksam zugehört hatte, mit dichtem Kopfschütteln fort, „glauben Sie, daß es der Kaiserin, wenn sie wirklich die Absicht hegt, welche Sie bei ihr voraussetzen, gelingen werde, den Kaiser, der schon in seinen früheren Jahren so schwer zu den äußersten Entschlüssen zu bringen war, jetzt zu einer so gefährlichen Unternehmung zu bestimmen? Jetzt, da er doch kaum den Schein der persönlichen Leitung zu einer solchen Unternehmung wird erhalten können. Und,“ fuhr er fort, „welche Organe würde die Kaiserin finden, um die Verantwortlichkeit dafür zu tragen. Glauben Sie, daß Graf Daru —“

„Graf Daru,“ sagte Klindworth achselzuckend mit wegwerfendem Ton, „ist ein todter Mann, seine Existenz im Ministerium ist beendet. Das Plebiscit, dem er sich widersetzt, wird über ihn dahinschreiten.“

„Ein Plebiscit,“ rief Graf Beust, indem er sich rasch emporrichtete und den Staatsrath Klindworth groß ansah, „ein Plebiscit und warum das?“ —

„Um die neue Verfassung, welche der Senat und der gesetzgebende Körper angenommen, durch den Volkswillen sanctioniren zu lassen!“ sagte der Staatsrath mit leiser Stimme, indem er seinen Blick fest und stechend auf den Reichskanzler richtete. „Ein Plebiscit, das ist das persönliche Regiment und das persönliche Regiment soll ungebunden und frei über allem constitutionellen Kram stehen, den man der öffentlichen Meinung als Spielwerk hinwirft.“

„Sind Sie sicher,“ fragte Graf Beust, „daß das Plebiscit eine beschlossene Sache ist?“

„Vollkommen,“ erwiderte der Staatsrath, und Eure Excellenz wissen, daß ich nur dann mit Bestimmtheit Etwas ausspreche, wenn ich meiner Sache vollkommen gewiß bin.“

„Ein Plebiscit,“ sagte Graf Beust nachsinnend, „das ist allerdings ernst, das deutet darauf hin, daß man Etwas wie einen Staatsstreich vor hat, nicht nach Innen kann er sich richten —“

„Le coup d'Etat européen,“ fiel der Staatsrath ein, „das ist der Name, den man in dem geheimen Comité, in welchem die Politik Ihrer Majestät der Kaiserin Eugenie vorbereitet wird, der Sache gegeben hat. Wie dem Staatsstreich des 2. December das Plebiscit folgte , so wird es diesmal dem großen europäischen Staatsstreich vorhergehen .“

„Wer aber,“ sagte Graf Beust, — „ich muß meine Frage von vorhin wiederholen, — wer wird ein so bedenkliches und gewagtes Unternehmen ausführen wollen?“

„Ihre Majestät,“ erwiderte der Staatsrath, „ist sehr geschickt darin, Werkzeuge für ihre Pläne zu finden. Sie besitzt viel Menschenkenntniß und versteht, die Leute bei ihrer schwachen Seite zu fassen. Da ist Herr Ollivier —“

„Ollivier,“ rief Graf Beust, „der Freund der Gothaer — der Mann des Frieden? Doch, allerdings,“ fuhr er fort, „bei dem ist jede Wandlung möglich.“

„Dann,“ fuhr Klindworth fort, „ist da dieser Herzog von Grammont, der soeben noch auf dem Platze saß, den ich jetzt einzunehmen die Ehre habe.“

Graf Beust neigte sinnend das Haupt.

„Grammont,“ fragte er. „Sie glauben wirklich, daß man Grammont einer solchen Aufgabe gewachsen hält?“

„Der Kaiser will ihn nicht,“ sagte der Staatsrath, „dennoch wird er zur Ausführung der Ideen der Kaiserin bestimmt werden. Und man hat die Wahl richtig getroffen, denn er besitzt das vollkommen genügende Maß jenes altfranzösischen Leichtsinns, welcher schon in früheren Phasen der Geschicke Frankreichs die unmöglichsten Dinge unternommen, und,“ fügte er hinzu, „dieselben allerdings auch oft durchgeführt hat.“

Graf Beust blieb einige Augenblicke in schweigendem Nachdenken versunken.

„Aber,“ fuhr er dann fort, „wenn ich annehme, daß sich Personen finden, welche in einer mehr als gewagten Action das Schicksal des Kaiserreichs auf's Spiel setzen, so gehört doch dazu immer noch ein Kriegsfall. — In Berlin scheint man nicht geneigt, die Veranlassung zu einem solchen zu bieten. Woher sollte denn der casus belli kommen?“ —

„Man wird ihn nehmen, wo man ihn eben findet,“ erwiderte der Staatsrath kaltblütig. „Uebrigens bereitet sich da schon eine kleine Intrigue vor, deren Fäden ganz zufällig in meine Hände gekommen sind, und welche man demnächst gehörig aufgestutzt vielleicht verwerthen wird.“

Graf Beust blickte ihn fragend, mit gespannter Aufmerksamkeit an.

„Eure Excellenz wissen,“ sagte der Staatsrath, „daß die spanischen Angelegenheiten dem Kaiser sehr große Sorgen machen. Die Agitationen des Herzogs von Montpensier erfüllen ihn mit ernsten Besorgnissen. Er haßt und fürchtet Nichts mehr, als die Orleans, und ein orleanistisches Königthum an der andern Seite der Pyrenäen würde ihn keinen Augenblick ruhig schlafen lassen. Da hat man ihm nun eine ganz hübsche Idee suppeditirt. Sie erinnern sich, daß Madame Cornu, des Kaisers geistvolle Milchschwester, welche die Prinzen von Hohenzollern erzogen hat, bereits den jetzigen Fürsten von Rumänien auf seinen so wenig sichern und erfreulichen Thron gebracht hat. Es scheint nun, daß diese Dame gegenwärtig daran denkt, einen Erbprinzen von Hohenzollern zum Nachfolger Philipp II. zu machen. Der Kaiser, der die Idee zurückgewiesen, scheint ihr jetzt weniger abgeneigt, — der Prinz ist ein Verwandter seines Hauses, er ist ihm persönlich sehr geneigt und würde ihn am Ende noch lieber als einen Montpensier auf dem Thron von Spanien sehen, der freilich ein wenig größer und glänzender, aber darum weder sicherer, noch erfreulicher, als der kleine Fürstenstuhl von Rumänien ist.“

Graf Beust lachte.

„Ich habe früher von diesem Gedanken gehört,“ sagte er, „man hat darüber gesprochen. Ich habe aber das Alles immer für eine von jenen Blasen gehalten, welche von Zeit zu Zeit auf die Oberfläche der Conjecturalpolitik steigen, aber ebenso schnell wieder platzen und verschwinden.“

„Es ist möglich,“ erwiderte der Staatsrath, „daß diese Blase auch diesmal wieder platzen und verschwinden wird, für den Augenblick jedoch ist sie sehr ernst gemeint, und zwar wird man, wenn die Sache von Seiten des Fürsten Hohenzollern angenommen und in Berlin approbirt werden sollte, sich daraus einen hübschen Kriegsfall zurecht machen.“

„Einen Kriegsfall?“ fragte Graf Beust ganz erstaunt.

„Ganz gewiß,“ sagte der Staatsrath, „Seine arme, kranke Majestät Napoleon III. wird die Idee haben, daß er, indem er diese kleine Negociation gewähren läßt, eine Gegenintrigue gegen die Orleans und den Herzog von Montpensier spielt. Er wird glauben, daß er sich da einen kleinen befreundeten König von Spanien schafft, wenn er überhaupt an den definitiven Erfolg der ganzen Sache glaubt. — Vielleicht wird er auch gar nicht darüber nachdenken und wird die Sache gehen lassen, wie er so Vieles gehen läßt. Dann aber wird man ihm eines schönen Tages klar machen, daß ein preußischer Prinz auf dem spanischen Thron —“

„Aber der Prinz von Hohenzollern ist ja gar kein preußischer Prinz,“ warf Graf Beust ein.

„Er trägt preußische Uniform, er heißt Hohenzollern, man wird ihn im nöthigen Augenblick für einen preußischen Prinzen halten und von ganz Frankreich dafür halten lassen. — Man wird also,“ fuhr er fort, „dem Kaiser auseinandersetzen, daß ein preußischer Prinz auf dem spanischen Thron die Anbahnung zur Wiederherstellung des Reichs Karl V. unter den Hohenzollern sei. Man wird dasselbe die ganze französische Nation glauben machen, und plötzlich, ganz plötzlich, ehe Jemand sich dessen versehen wird, wird man einen sehr hübschen und sehr nationalen Kriegsfall haben.“

Herr von Beust lächelte abermals.

„Mein lieber Staatsrath,“ sagte er, „Sie wissen, daß ich das größte Vertrauen zu Ihrem klaren Blick und zu den Quellen habe, aus welchen Sie Ihre Nachrichten zu schöpfen pflegen. Sie müssen mir aber verzeihen, daß ich das, was Sie mir da eben sagen, unmöglich für Ernst nehmen kann. Die Sache ist doch in der That zu abenteuerlich und zu unglaublich. Und wenn ich den Politikern, welche jetzt zuweilen in Frankreich in die Diplomatie hineingreifen, auch sehr kühne und sehr wunderbare Combinationen zutraue, so würde dies doch nach meiner Ueberzeugung die Grenzen des Möglichen überschreiten.“

Der Staatsrath Klindworth drückte fest seine Lippen auf einander, richtete einen stechenden Blick auf den Reichskanzler und sprach mit scharfer Betonung:

„Ich würde nicht hierher gekommen sein, um Eurer Excellenz das zu sagen, was ich Ihnen soeben gesagt habe, wenn ich nicht die feste Ueberzeugung von der Richtigkeit meiner Beobachtung und von der Wahrheit meiner Mittheilung hätte. Die Sache ist sogar schon ziemlich weit gediehen. Der Marschall Prim ist in die Combinationen eingeweiht und geht im besten Glauben, für das unglückliche Spanien einen aller Welt convenirenden König gefunden zu haben, in die Falle, die man ihm stellt.“

Graf Beust dachte einige Augenblicke schweigend nach, er schien durch die Worte des Staatsraths nicht überzeugt, doch bemerkte er Nichts weiter über den Gegenstand und sprach nach einiger Zeit.

„Sie haben mir vorhin gesagt, daß Sie gekommen wären, zu warnen und zu rathen. — Ich habe Ihre Warnungen gehört, darf ich Sie nun um Ihren Rath bitten?“

„Darf ich,“ sagte Klindworth, „eine kleine Erinnerung aus vergangener Zeit wachrufen? Eure Excellenz erinnern sich, daß ich kurz vor Ausbruch des Krieges im Jahre 1866, als Sie noch sächsischer Minister waren, Sie in Dresden besuchte. Sie erzeigten mir die Ehre, über die damalige Lage mit mir zu sprechen, mir Ihre Meinung über die unausbleibliche Nothwendigkeit des Conflicts mitzutheilen, und mir zugleich auseinanderzusetzen, wie gut die sächsischen Rüstungen vorbereitet seien. Ich erlaubte mir damals, nachdem ich Alles angehört, als einzige Gegenäußerung nur die Frage, ob Eure Excellenz ein festes, für alle Zeit bindendes, die Existenz Sachsens garantierendes Schutz- und Trutzbündniß mit Oesterreich geschlossen hätten. Sie verneinten das, ich sprach mein großes Bedauern darüber aus und ertheilte Ihnen den Rath, das Versäumte, wenn es irgend möglich sei, noch nachzuholen. — Es war nicht mehr möglich, die Katastrophe brach herein, Sachsen gerieth unter die kämpfenden Parteien, that nach allen Seiten seine Schuldigkeit, wurde aber ebenso wie die übrigen, gegen Preußen im Kampf stehenden deutschen Staaten von Oesterreich abandonnirt und ohne Widerspruch der Willkür des Siegers Preis gegeben. Sie wissen selbst, wie unmittelbar nahe die bereits beschlossene Annectirung über dem Haupte Ihres früheren Vaterlandes dahin gegangen ist. Sie wissen es am besten, wie und durch wen die Existenz Sachsens gerettet wurde, denn Sie sind es, dessen schnellem Entschluß, dessen Energie und Beredsamkeit jene Rettung zu danken ist. Eine ähnliche, nur gewaltigere und welterschütterndere Katastrophe, wie diejenige von 1866 bereitet sich heute vor, und nach der Beendigung des Kampfes, der nach meiner Ueberzeugung entbrennen wird, werden die Verhältnisse Europa's tiefe Erschütterungen und Veränderungen erfahren. Solchen Ereignnissen gegenüber muß Oesterreich nach meiner Ueberzeugung den Fehler vermeiden, welchen unter kleinern Verhältnissen damals Sachsen und die übrigen deutschen Staaten begangen haben — den Fehler nämlich, sich ohne festen Entschluß und feste Haltung in die Ereignisse hineintreiben zu lassen.“

„Sie meinen also?“ fragte Graf Beust. —

„Ich meine,“ sagte der Staatsrath, „daß der Augenblick gekommen ist, um einen entschiedenen Entschluß zu fassen, und sich entweder in fester Allianz an Frankreich anzuschließen oder rückhaltlos und frei Preußen und damit zugleich Rußland die Hand zu reichen, wodurch dann — allerdings unter veränderten Verhältnissen — jene alte Tripelallianz wieder hergestellt werden würde, welche so lange die Schicksale von Europa beherrschte. Für die eine, wie für die andere Seite spricht Manches; wenn Oesterreich mit Frankreich zusammengeht, wenn Italien hinzugezogen wird, so wird im Fall des Sieges Alles wieder gewonnen werden, was 1866 verloren wurde, und bei so mächtig vereinten Kräften wird eine vernichtende Niederlage beinahe unmöglich gemacht, so daß also auch im ungünstigsten Falle Oesterreich nicht viel zu verlieren haben würde. Eine feste und rückhaltslose Allianz mit Preußen, damit auch zugleich mit Rußland würde auf der andern Seite Frankreich vollkommen isoliren. Die norddeutschen Mächte würden Oesterreich mit offenen Armen aufnehmen; vielleicht würden einer so mächtigen Coalition gegenüber selbst die unternehmungslustigen Politiker der Coterie der Kaiserin nachdenken — vielleicht würde der Krieg verhindert werden, wenn Oesterreich im entscheidenden Moment erklärte, daß es unter allen Umständen auf der Seite Preußens stehen würde. Für die europäische Stellung Oesterreichs ließe sich dadurch viel gewinnen. Allerdings aber würden auch die deutschen Traditionen dadurch vollständig und für immer aufgegeben werden müssen.“

Graf Beust hatte aufmerksam zugehört. Ein ganz leiser, fast unmerklicher Zug seiner Ironie erschien im Winkel seines Auges.

„Und zu welcher Seite dieser Alternative würden Sie rathen?“ fragte er.

„Die Erinnerungen an die große Zeit,“ erwiderte der Staatsrath, „in welche meine reichste Thätigkeit fällt, die Erinnerungen an die Zeit des großen Fürsten Metternich machen mich geneigt, zur Wiederherstellung jener alten Coalition der heiligen Allianz zu rathen, dieser weisesten Schöpfung, welche jemals die Diplomatie in's Leben gerufen. Außerdem spricht in diesem Fall die größere Sicherheit für den Anschluß an Preußen; auf der andern Seite ist viel zu gewinnen, hier aber ist
Alles zu erhalten , was man schon besitzt. Ich habe wenig Vertrauen,“ fuhr er fort, „auf die französische Macht. Ich verstehe Nichts von der Kriegsverwaltung, aber nach Allem, was ich gehört und gesehen, ist dort seit dem Tode Niels unter dem kranken Kaiser Alles in Verfall gerathen. Außerdem giebt man sich zu großen Illusionen über die Unbesiegbarkeit der französischen Armee hin, und ich fürchte, daß dem so wohl geschulten preußischen Heer gegenüber der französische Elan wenig ausrichten wird. Doch,“ fuhr er fort, „das sind Alles Erwägungen, die ich Eurer Excellenz reiflichem Nachdenken überlassen will. Mein dringender Rath geht nur dahin, festen Entschluß zu fassen und bestimmt Partei zu nehmen. Ist dieser Krieg einmal ausgebrochen und Oesterreich demselben unthätig fern geblieben, so wird doch nichts Anderes mehr möglich sein, als sich vollständig an Preußen und Rußland anzuschließen. Dann aber wird dieser Entschluß keinen Werth mehr haben, während heute noch für denselben ein hoher Preis zu erlangen wäre. Vor Allem aber,“ fügte er hinzu, indem sein stechender Blick scharf und durchdringend zu dem Grafen hinüberblitzte, „vor Allem aber wird dann dieser Anschluß vielleicht nicht mehr von Eurer Excellenz gemacht werden.“

„Und von wem denn,“ fragte Graf Beust in etwas verändertem Ton.

„Von Demjenigen,“ sagte der Staatsrath aufstehend, „der bereits hinter Ihnen steht und jeden Augenblick bereit ist, Ihre Erbschaft anzutreten, wenn die Vollendung des Werkes, das Sie begonnen, von außen und von innen her verhindert würde — wenn Oesterreich gezwungen werden sollte, dem Rathe des Grafen Bismarck folgend seinen Schwerpunkt vollständig nach Pesth zu verlegen — vom Grafen Andrassy, Ihrem ungarischen Collegen.“

Graf Beust war ernst geworden, doch zuckte er leichthin die Achsel und sprach:

„Ich kann Ihnen nur wiederholen, mein lieber Staatsrath, daß ich Ihnen für Ihre Mittheilungen, so wie für Ihren Rath herzlich dankbar bin. Ich hoffe — Sie werden, wenn Sie wieder nach Paris zurückgehen — ?“ fügte er mit einem fragenden Blick hinzu.

„Ich werde morgen Wien wieder verlassen,“ sagte der Staatsrath, „und mich über Stuttgart nach Paris zurückbegeben, ich möchte mir dort die Politik des Herrn von Varnbüler an Ort und Stelle betrachten.“

„Ich bitte Sie also,“ fuhr Graf Beust fort, „mich dann über Ihre Beobachtungen weiter au courant zu halten.“

Er verneigte sich leicht gegen den Staatsrath, welcher in seiner eigenthümlichen gebückten, fast demüthigen Haltung das Cabinet verließ.

„Der alte Klindworth,“ sagte der Reichskanzler, sich bequem in seinen Stuhl zurücklehnend, „scheint mir diesmal dupirt worden zu sein. Die Sache ist zu abenteuerlich, zu unmöglich! — Er ist zwar sonst gut unterrichtet und combinirt vortrefflich die kleinsten Thatsachen, die zu seiner Kenntniß kommen. — Ich will immerhin noch auf anderem Wege darüber nachforschen lassen. — Sollte man aber auch in Frankreich wahnsinnig genug sein, um sich auf so unerhörte Weise in einen unübersehbaren Krieg zu stürzen, ich kann dennoch den Rath des alten viel gewandten Beobachters diesmal ebenso wenig für richtig, als seine Mittheilungen für zweifellos halten. — Ich habe es übernommen,“ sprach er ernst, den Blick gedankenvoll emporrichtend, „das kranke und gebrochene Oesterreich zu heilen, und um das zu erfüllen, was ich versprochen und was ich mir vorgestellt, bedarf ich des Friedens, des Friedens unter jeder Bedingung noch auf Jahre hinaus. Keine Lockung, keine Hoffnung auf glückliche Zufälle wird mich von dem Wege abweichen lassen, den ich für den einzig richtigen erkannt habe. Und wenn wirklich der gewaltige Kampf, der im Schooß der Zukunft liegt, ausbrechen sollte, bevor Oesterreich an innerer Kraft den übrigen Mächten Europa's wieder gleich steht, so werde ich unbeirrt mein Ziel verfolgen und weder rechts, noch links blickend, den Frieden erhalten, selbst um den Preis,“ fügte er leise hinzu, „daß diese Zurückhaltung mir selbst verhängnißvoll werden sollte. Lieber möge mein Werk von andern Händen vollendet werden, als daß ich es durch unüberlegtes Handeln gefährde.“

Er beugte sich über seinen Schreibtisch und begann die auf demselben aufgehäuften Depeschen zu durchlesen.


Sechstes Capitel.


In dem schottischen Cabinet der Villa Braunschweig in Hietzing saß der König Georg V. in seinem Lehnstuhl vor dem großen, mit golddurchwirkter rother Decke überhangenen Tisch.

Der König trug den weiten Ueberrock seiner österreichischen Uniform und rauchte aus einer langen hölzernen Cigarrenspitze.

Er war soeben aus dem großen Garten der Villa von seinem Morgenspaziergang zurückgekehrt, und seine älteste Tochter, die Prinzessin Friederike, welche ihn begleitet hatte, stand neben ihm.

Der König war in den letzten Jahren seines Exils merklich älter geworden, und ein schmerzlich leidender Zug lag auf seinem Gesicht, wenn auch in der Unterhaltung zuweilen noch seine alte Heiterkeit und sein alter Humor hervortrat. Sein dünnes Haar begann grau zu werden, die scharfen classischen Formen seines schönen Profils traten markirter als sonst hervor und gaben seinem früher so weichen und jugendlichen Gesicht einen Zug von Härte und Strenge, die ihm sonst fern gewesen war.

Die Prinzessin Friederike im dunklen Morgenanzug, einem kleinen mit pelzbesetzten Mantel von schwarzem Sammet und einem Hut von gleichem Stoff, vereinigte in ihrer Erscheinung den Eindruck fürstlicher Würde und Hoheit mit jugendlicher Anmuth und einer fast schüchternen Bescheidenheit. Die Prinzessin war groß und schlank gewachsen, ihr einfach frisirtes, natürlich gelocktes goldblondes Haar ließ die edle Wölbung der reinen und weißen Stirn fast ganz frei. Ihre großen blauen, durch die Tiefe des Blickes dunkel leuchtenden Augen drückten muthigen Stolz und sanfte Bescheidenheit zu gleicher Zeit aus. Ihr leicht aufgeworfener, schön gezeichneter Mund vereinigte eine gewisse trotzige Zurückhaltung mit kindlicher Naivetät.

Die Prinzessin blickte mit inniger Theilnahme auf ihren Vater herab, welcher mit widersprechenden Gedanken und Gefühlen zu kämpfen schien, und mit heftiger Bewegung der Lippen große Wolken bläulichen Dampfes vor sich hinblies.

„Von allen schweren Schicksalsschlägen,“ sagte der König, „die mich in diesen letzten Jahren betroffen haben, hat Nichts so schmerzlich mich berührt, als die Erfahrungen, die ich in diesen Tagen machen muß — daß Diejenigen, welche mir und meiner Sache bisher in allem Unglück so treu geblieben, jetzt sich gegen mich richten und von mir abfallen; und,“ fuhr er fort, „daß diese das Vertrauen an den Sieg meines Rechts vollkommen verloren haben, daß sie es wagen, so gegen mich aufzutreten.“

„Aber Papa,“ sagte die Prinzessin mit sanfter Stimme, „weißt Du denn gewiß, ob auch Alles so richtig ist, wie es Dir aus der Ferne erscheint — und wie vielleicht Manche,“ fügte sie ein wenig zögernd hinzu, „ein Interesse haben, es Dir darzustellen. Ich kenne nur Wenige von den Officieren in Paris, aber ich kenne Herrn von Düring, und von ihm kann ich doch unmöglich annehmen, daß er irgend Etwas gegen das Interesse unserer Sache oder gegen Dich sollte thun wollen.“

„Ich auch nicht,“ rief der König lebhaft, mit zwei Fingern seiner rechten Hand auf den Tisch schlagend. „Ich kann es auch nicht glauben, ich stehe vor einem unlösbaren Räthsel. Doch liegen die Thatsachen vor mir, meine Officiere und Düring an ihrer Spitze widersetzen sich der Ausführung meiner Befehle. Ich habe Düring das Commando über die Emigranten abgenommen und ihn der Führung der Geschäfte meines General-Adjutanten enthoben. Ich habe beides an Herrn von Tschirschnitz übertragen. Die erste Nachricht, die ich von diesem sonst so treuen und vortrefflichen Officier erhalte, ist die Erklärung, daß er es mit seiner Ehre und seinem Gewissen nicht vereinigen könne, die Befehle auszuführen, die ich ihm in Betreff der Auflösung der Emigration gegeben habe. Ist das nicht offene Auflehnung, ist das nicht Subordination — das höchste Vergehen, dessen ein Officier sich schuldig machen kann?“

„Aber,“ sagte die Prinzessin, „Herr von Düring, wie auch Herr von Tschirschnitz haben ja ebenso wie alle übrigen Officiere freiwillig unser Unglück und unser Exil getheilt. Sie haben Alle die Carrière aufgegeben, welche sich ihnen in Sachsen öffnete, und welche sie auch, wie so viele andere Officiere der hannöverschen Armee, in Preußen hätten finden können. Wenn solche Leute den Befehlen, die Du ja doch,“ fügte sie mit sanfter schmeichelnder Stimme hinzu, „selbst nur nach langem Kampf gegeben hast — wenn sie diesen Befehlen widerstreben, wenn sie nicht müde werden, ihre Vorstellungen dagegen zu erheben — sollte man dann nicht annehmen, daß sie irgend einen ehrenwerthen und verständigen Grund dazu haben, daß irgend ein Mißverständniß vorliegt, welches man aufklären müßte.“

„Oh mein Gott, mein Gott ja!“ rief der König, schmerzlich aufseufzend, indem er den Kopf in die Hand stützte. „Das habe ich mir auch schon oft gesagt, es ist ja doch unmöglich, daß eine Anzahl von Männern, die bisher so treu waren, mit einem Male darauf arbeiten sollten, mir und meiner Sache zu schaden.“

„Und der Regierungsrath Meding steht doch auch auf der Seite der Officiere,“ sagte die Prinzessin, „auch er warnt vor der Auflösung der Legion in der Art und Weise, wie sie begonnen wurde. Es ist doch unmöglich anzunehmen, daß alle diese Herren nicht irgend einen Grund für ihre übereinstimmende Ueberzeugung haben sollten. Ich bitte Dich, Papa,“ fuhr sie mit dringendem Ton fort, „die Sache doch recht genau zu prüfen und nicht nach einseitigen Berichten und Vorträgen zu entscheiden.“

„Gott weiß es,“ rief der König, „wie schwer es mir wird, überhaupt die Legion aufzulösen und alle diese treuen Soldaten, die meinem Schicksal gefolgt sind, sich selbst zu überlassen. Aber es kann ja nicht anders sein, je schwerer ich mich dazu entschlossen habe, um so schmerzlicher berührt mich der Widerstand, dem ich begegne. — Ich werde,“ rief er nach kurzem Nachdenken, „sie Alle noch einmal hören, — ich will die ganze Frage nochmals reiflich überlegen, denn ich stehe vor einer für mich und die Zukunft meines Hauses hoch wichtigen Entscheidung.“

„Und wenn die Legion aufgelöst wird,“ sagte die Prinzessin, „würde es dann nicht nöthig sein, für die armen Emigrirten die freie und straflose Rückkehr in die Heimath vom König von Preußen zu erwirken? — Windthorst hat sich ja erboten, Verhandlungen zu diesem Zweck einzuleiten.“

„Niemals,“ rief der König lebhaft, „niemals werde ich meine Autorisation zu solchen Verhandlungen geben! Das hieße die Annection meines Königreichs anerkennen, das hieße zugestehen, daß der König ein Recht habe, meine treuen Soldaten wegen ihrer Anhänglichkeit und Ergebenheit zu bestrafen. — Und das werde ich nie zugestehen.“

Nach einem kurzen Schlag an der Thür trat des Königs Kammerdiener Thoms in das Cabinet und meldete, der Staatsminister Graf Platen stehe zu Seiner Majestät Befehl.

„Er soll kommen,“ rief der König lebhaft. „Auf Wiedersehen, mein Töchterchen,“ sagte er, indem er aufstand und die Hand nach der Prinzessin ausstreckte, welche dicht zu ihm herantrat und ihm ihre Stirn reichte, auf die er zärtlich seine Lippen drückte.

„Rufen Sie den Kronprinzen und den Geheimen Cabinetsrath,“ sagte er dann zu dem Kammerdiener, welcher den Grafen Platen in das Cabinet geführt hatte und nun die beiden Flügel der Thür für die Prinzessin öffnete. Prinzessin Friederike verließ mit leichtem freundlichen Gruß gegen den sich tief verneigenden Minister das Zimmer ihres Vaters.

Der Graf von Platen-Hallermund, Minister der auswärtigen Angelegenheiten des früheren Königreichs Hannover und jetziger alleiniger Rathgeber des verbannten Königs, war damals sechsundfünfzig Jahre alt. Die letzten Jahre hatten seine früher noch jugendliche und kräftige Erscheinung wesentlich älter und gebrechlicher gemacht. Zwar zeigten seine Bewegungen noch die frühere Elasticität, auch trug sein volles, etwas langes und gelocktes Haar noch eine gleichmäßig schwarze Farbe, doch war sein Schnurrbart stark ergraut, seine Gesichtszüge waren welk und abgespannt.

Der Graf, welcher einen Morgenanzug von einfacher Eleganz trug, küßte die Hand, welche der König ihm reichte und setzte sich dann in einen der großen, mit schottischem Seidenstoff überzogenen Lehnstuhl neben seinem Herrn.

„Ich bin erfreut, Eurer Majestät mitzutheilen,“ sagte er, „daß die Abwicklung der Liquidation der Wiener Bank sich noch günstiger für unsere Kasse stellen wird, als es anfänglich den Anschein gehabt hat. Es haben sich einige günstige Verkäufe realisiren lassen, so daß, wenn Alles ferner gut geht, Eure Majestät mit einem Verlust von nicht ganz zwei Millionen Gulden davonkommen werden.“

Der König seufzte tief auf.

„Sie wissen, mein lieber Graf,“ sagte er, „wie geringen Werth das Geld an sich für mich hat. Es ist für mich immer nur Mittel zum Zweck. In diesem Augenblick muß es mir dienen, um den heiligsten und höchsten Zweck zu verfolgen, den ich kenne — die Wiedererlangung meines Rechts und die Zukunft meines Hauses. Und in dieser Beziehung berührt mich dieser an sich nicht bedeutende Verlust sehr schmerzlich, denn meine Mittel sind ja ohnehin schon beschränkt genug.“

„Dank der vortrefflichen Verwaltung des Commerzienraths Simon, in dessen Händen nunmehr wieder Eurer Majestät Vermögen gelegt ist,“ sagte Graf Platen, „werden sich ja die Verluste verschmerzen lassen. Doch,“ fuhr er fort, „wird es nunmehr auch dringend nothwendig, mit dieser unglücklichen Emigration in Frankreich ein Ende zu machen, welche bereits so viel verschlungen hat und Eurer Majestät in jedem Jahr dreihundertfünfzigtausend Thaler kostet. Wenn man diese Summe nicht so schnell als möglich aus Eurer Majestät Ausgabenbudget verschwinden läßt, so werden wir von Deficit zu Deficit fortschreiten, und eine successive Capitalsverzehrung wird Eure Majestät endlich in die Lage bringen, Nichts mehr zu besitzen und sich aus materieller Noth Preußen auf Gnade oder Ungnade zu ergeben.“

„Traurig, traurig!“ rief der König, „daß es dahin gekommen ist! Mein Gott,“ fuhr er fort, „wenn man die nach England geretteten Papiere damals vor der Amortisation verkauft hätte, was Herr von Malortie verhinderte, — oder wenn die in Hannover befindlichen Bestände vor der letzten Beschlaglegung auf mein Vermögen in Sicherheit gebracht wären, was wiederum Herr von Malortie nicht that, dann wäre ich niemals in die traurige Lage gekommen, so viele treue und ergebene Menschen einem ungewissen Schicksal überlassen zu müssen.“

Rasch öffnete sich die Thür. Der Kronprinz Ernst August trat in's Zimmer, ihm folgte der Geheime Cabinetsrath Lex.

Der Prinz Ernst August war eine lang und hoch aufgeschossene Gestalt, fast noch höher, als sein Vater, doch während die Gestalt des Königs in ihrer Proportion einen harmonischen Eindruck von Würde und Majestät machte, hatten die Glieder des jungen Prinzen noch keine rechte Festigkeit und seinen Bewegungen fehlte die anmuthige Leichtigkeit und Sicherheit. Das schöne glänzende Haar des Prinzen war kurz geschnitten und von der schmalen zurücktretenden Stirn aufwärts emporgekämmt. Der Blick seiner Augen, den er oft durch eine Lorgnette mit großen Gläsern verhüllte, war freundlich und gutmüthig. Seine platte, eingedrückte Nase und sein breiter etwas vorstehender Mund, mit schönen frischen Zähnen, war von jeder Aehnlichkeit mit dem edlen Schnitt der Gesichtszüge seines Vaters weit entfernt und das freundliche Lächeln, welches gewöhnlich seinen Mund umspielte, berührte nicht so sympathisch als die liebenswürdige Heiterkeit, welche das Gesicht des Königs erhellte.

Der Geheime Cabinetsrath, welcher hinter dem Kronprinzen in das Zimmer trat, mochte etwa zwei- bis dreiundsechzig Jahre alt sein. Seine auffallend kleine, magere Gestalt war gebückt und in sich zusammengefallen, sein faltiges, bartloses Gesicht mit dem kurzen grauen Haar zeigte einen stets mürrischen, kalt abwehrenden Ausdruck, und seine kleinen, scharfen und geistvollen Augen blickten mit einem leisen Anflug von kritischer Ironie durch die Gläser seiner feinen Brille.

Der Kronprinz schritt schnell zu seinem Vater hin, beugte sich zu demselben herab, und der König küßte ihn herzlich auf die Stirn. Dann setzte sich der Prinz zu dem König und dem Grafen Platen, während der Cabinetsrath auf der andern Seite des Tisches Platz nahm.

„Darf ich Sie bitten, mein lieber Graf,“ sagte Georg V., sich an den Minister wendend, „mir nunmehr Ihre Meinungen über die Maßregeln auszusprechen, welche nothwendig werden, um die Auflösung der Emigration, welche ich leider unabänderlich habe beschließen müssen, durchzuführen.“

„Majestät,“ sagte der Graf Platen, indem er sich in sich zusammenschmiegte, „ich muß zunächst noch einmal darauf zurückkommen, genau zu constatiren, daß mit den Allerhöchst Ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln der königliche Hofhalt und die zur Geltendmachung Ihrer Rechte nothwendigen Ausgaben auf die Dauer nicht bestritten werden können, wenn die zur Erhaltung der Emigration notwendige sehr hohe Summe von nahezu vierhunderttausend Thalern jährlich nicht aus dem Ausgabebudget verschwindet. Um diese Ersparniß zu machen, um zu gleicher Zeit die Emigrirten, welche, um der königlichen Sache zu dienen, ihre Heimath verlassen haben, nicht dem Elend Preis zu geben, habe ich mir erlaubt, Eurer Majestät vorzuschlagen, noch eine einmalige bedeutende Ausgabe nicht zu scheuen und jedem Mitglied der Emigration die Summe von vierhundert Francs auszuzahlen, damit derselbe sich, sei es durch Auswanderung, sei es auf irgend eine andere Weise, eine neue Existenz schaffen kann.“

„Es wird eine große Summe werden,“ sagte der Kronprinz, indem er mit den Zähnen an den Nägeln seiner Finger biß.

„Diese einmalige Ausgabe,“ sagte Graf Platen, sich halb gegen den Prinzen wendend, „ist nothwendig, um den König vor dem Vorwurf zu schützen, daß Seine Majestät die ihm treu gebliebenen Soldaten einfach verläßt.“

„Und ich hoffe,“ rief der König lebhaft, „daß die Summe genügend bemessen ist.“

„Vollkommen genügend, Majestät,“ sagte Graf Platen, „um so mehr, da für Diejenigen, welche nach Amerika auswandern wollen, noch außerdem das freie Reisegeld gewährt wird. Nun aber,“ fuhr er fort, „hat sich herausgestellt, daß die Officiere der Emigration aus Gründen, die ich nicht begreifen kann,“ fügte er achselzuckend hinzu, „sich der Auslösung der Emigration in einer dem dienstlichen Gehorsam sehr wenig entsprechenden Weise widersetzen.“

Der König biß schweigend auf seinen Schnurrbart.

„Eure Majestät,“ fuhr Graf Platen fort, „haben das Commando an Herrn von Tschirschnitz übertragen, aber auch dieser scheint nicht geneigt zu sein, die Maßregeln Eurer Majestät rücksichtslos durchzuführen. Ich halte es deshalb für nothwendig, daß Eure Majestät Allerhöchst Ihren Ordonnanzofficier, den Major von Adelebsen, nach Paris entsenden und ihm nicht nur die Geschäfte Ihres General-Adjutanten, sondern auch das Commando der Legion übertragen, damit die nothwendige und befohlene Auflösung der Legion schleunigst und ohne Weitläufigkeit vollzogen werde. Es scheint,“ sprach er weiter, „daß die Officiere die Absicht haben, einen Verband unter den Emigrirten zu gegenseitiger Unterstützung herzustellen und auf diese Weise vielleicht noch eine Colonisation in Algerien auszuführen, für welche sie sehr große Neigung hatten.“

„Die Idee wäre durchaus nicht übel,“ sagte der König. „Nach den Versprechungen der französischen Regierung hätte den armen Emigrirten dort ein gutes Loos bereitet werden können, und ich habe den Gedanken nur aufgegeben, weil er im ganzen Land Hannover einen so lebhaften Widerspruch fand, und weil Deputationen auf Deputationen zu mir gekommen sind, um mich zu bitten, die algerische Colonisation nicht zu erlauben. Die Leute haben dort in Hannover gar keinen Begriff gehabt, um was es sich handelt. Sie glaubten, die Emigranten sollten in die Fremdenlegion verkauft werden, wie sie sich ausdrückten. Sie haben zuweilen sehr unklare Ideen, diese Hannoveraner, und bleiben dann sehr hartnäckig in ihrem Ideenkreis stecken. Aber ich mußte ja auf eine so allgemein im Lande verbreitete Ansicht Rücksicht nehmen.“

„Es möchte ja vielleicht,“ fiel der Kronprinz ein, „eine Colonisation in Algerien ganz angenehm und vortheilhaft für die Leute gewesen sein können. Aber — so lange sie zusammen bleiben, werden wir sie nie ganz von der Tasche los werden können, wenn es der Colonie irgend einmal schlecht gegangen wäre, so hätte man immer auf uns recurrirt, und die ganze Geschichte wäre eine ewige Veranlassung zu neuen Ausgaben gewesen. Die Hauptsache ist, daß die Leute Alle auseinander gebracht werden, und je weiter fort, um so besser, denn um so schwerer wird es ihnen werden, uns wieder zur Last zu fallen.“

„Das ist nicht mein Gesichtspunkt,“ rief der König, das Haupt erhebend. „Mir kommt es nur darauf an, so gut ich es unter meinen jetzigen Verhältnissen kann, für das Wohl meiner Leute zu sorgen, und außerdem habe ich die politische Rücksicht zu nehmen, Ansichten und Wünsche der Bevölkerung meines Königreichs so viel als möglich zu schonen.“

„Jedenfalls,“ sagte Graf Platen, „werden Eure Majestät nach reiflicher Erwägung beschließen, die Legion definitiv aufzulösen und eine Auswanderung der Leute nach Algerien möglichst zu inhibiren. Es ist aber nöthig, diesen Beschluß schleunigst auszuführen, damit vor dem 1. April Alles beendet sei und mit dem neuen Rechnungsjahr die Belastung unserer Kasse fortfalle. Wenn also Eure Majestät befehlen, den Major von Adelebsen dorthin zu senden, so —“

Der König hatte das Haupt in die Hand gestützt und dachte längere Zeit schweigend nach.

„Wäre es nicht,“ sagte Georg V. endlich, indem er den Kopf emporrichtete, und das Gesicht nach der Seite des Grafen Platen und dem Kronprinzen hinwandte, „wäre es nicht am besten, um die Sache am einfachsten in Ordnung zu bringen und alle weiteren Schwierigkeiten zu vermeiden, wenn ich nach Paris telegraphirte und den Regierungsrath Meding, den Major von Düring und vielleicht noch einige der Officiere hierherkommen ließ, um ihnen persönlich meine Befehle zu ertheilen und die Mißverständnisse aufzuklären, welche doch wohl in der ganzen Sache bestehen müssen, da ich mir anders den eigenthümlichen Widerstand nicht erklären kann, den man mir entgegensetzt.“

Graf Platen bog den Oberkörper zusammen, warf einen schnellen Seitenblick auf den Kronprinzen und sagte:

„Ich fürchte, Majestät, daß eine solche Maßregel, wie Allerhöchstdieselben sie hier andeuten, nur eine erneute Discussion über die ganze Frage hervorrufen und die schleunige Ausführung der von Eurer Majestät gefaßten Beschlüsse noch weiter hinausschieben würde. Eure Majestät haben bereits den Befehl an die Officiere gesandt, daß dieselben sich jeder Theilnahme an Verbindungen der Soldaten zu gegenseitiger Unterstützung fern halten sollen. Damit ist also ausgeschlossen, daß irgend Etwas geschehen könne, was die dortige Sachlage ändert; wenn Eure Majestät nunmehr den Major von Adelebsen mit bestimmten Vollmachten nach Paris entsenden, so wird die ganze Angelegenheit sehr bald erledigt sein. Es ist übrigens,“ fuhr er mit einem abermaligen schnellen Seitenblick nach dem Kronprinzen hinüber, „der Feldwebel Stürmann von der Emigration hierher gekommen, um sich im Auftrage seiner Kameraden persönlich zu erkundigen, was denn eigentlich der Wille und Befehl Eurer Majestät sei.“

„Sie haben den Feldwebel gesprochen?“ fragte der König schnell.

„Nur flüchtig, einen Augenblick,“ erwiderte der Graf Platen mit einem leichten Anflug von Verlegenheit. „Ich wollte Eurer Majestät nicht vorgreifen. Vielleicht wäre es zweckmäßig, wenn Höchstdieselben ihn selbst anhörten.“

„Einen Feldwebel anhören, ohne daß ich meine Officiere gehört habe,“ rief der König lebhaft, „das geht nicht. Ich glaube,“ sagte er nach einem augenblicklichen Nachsinnen, „daß es am besten sein wird, vor Allen Meding und Düring hierher kommen zu lassen, um zu hören, wie die Sache dort liegt und was sie denn eigentlich für Gründe gegen die von mir beschlossene Art der Auflösung der Emigration haben.“

Graf Platen rieb sich die Hände und neigte den Kopf hin und her, ohne indeß etwas zu sagen.

„Aber Papa,“ sagte der Kronprinz, mit einer gewissen Schwierigkeit die Worte hervorbringend, „Du wirst doch nicht von dem einmal gefaßten Beschluß wieder abgehen? Es scheint mir doch —“

Ein Schlag an der Thür ertönte.

„Wer ist da?“ fragte der König mit seiner lauten hellen Stimme.

Der Kammerdiener trat ein und sprach:

„Der Ordonnanzofficier Major von Adelebsen bittet um die Erlaubniß, Eurer Majestät eine Meldung machen zu dürfen.“

„Er soll kommen,“ rief der König etwas verwundert.

Major von Adelebsen trat ein. Er war ein Mann von einundvierzig Jahren, etwas über Mittelgröße, von magerer Gestalt und eckigen, wenig eleganten Bewegungen. Sein Gesicht war bleich, von einer etwas gelblichen Farbe und unregelmäßigen Zügen, welche wenig sympathisch berührten, obgleich in ihnen mehr zurückhaltende Abgeschlossenheit lag, als jene eigenthümlich-charakteristische Häßlichkeit, welche auf die Dauer zu gewinnen oder wenigstens zu imponiren vermag. Seine Blicke waren unstät und unruhig bewegt und richteten sich bei seinem Eintritt forschend auf den Kronprinzen, der ihm erwartungsvoll entgegensah.

Der Major von Adelebsen, welcher die kleine Uniform des frühern hannöverschen Garderegiments trug, näherte sich dem König und sprach im Ton dienstlicher Meldung:

„Majestät, der Lieutenant von Mengersen und der Lieutenant Heyse sind von Paris hier angekommen und bitten Eure Majestät im Auftrage ihrer sämmtlichen Kameraden in dringenden Angelegenheiten um Audienz.“

Der König richtete den Kopf mit fragendem Ausdruck empor. Ein leichter freudiger Schimmer flog über seine Züge.

„Und was haben sie mir zu melden?“ fragte er.

„Sie haben ein Schriftstück mitgebracht, welches sie mir mitgetheilt und welches ihren Auftrag enthält. Der Inhalt dieses Schriftstücks jedoch hat mich in so hohem Grade befremdet, daß ich fast Anstand nehmen muß, denselben Eurer Majestät mitzutheilen.“

„Sprechen Sie,“ sagte der König im ernsten Ton, während der Kronprinz und Graf Platen einen raschen Blick miteinander wechselten.

„Eure Majestät,“ fuhr der Major von Adelebsen fort, „haben durch Ihren letzten Befehl den Officieren in Paris verboten, sich irgendwie bei Verbindungen der Emigration zu gegenseitiger Unterstützung zu betheiligen und sich überhaupt jedes Einflusses auf die Entschließungen der Soldaten über ihr künftiges Leben zu enthalten.“

„Ganz Recht,“ sagte der König.

„Die Officiere erklären nun,“ sagte Herr von Adelebsen, „daß sie es für ein Gebot ihrer Ehre hielten, die Emigranten, welche sie so lange Zeit unter ihrem Befehl gehabt und welche sich ihnen voll Vertrauen angeschlossen hätten, ja, welche sie in dem kritischen Augenblick des Jahres 1867 zum Theil selbst zur Emigration veranlaßt hätten, nicht schutz- und rathlos im fremden Lande zu verlassen. Sie hielten sich für verpflichtet, denselben in jeder Weise auch ferner ihren Rath und Beistand zu Theil werden zu lassen. Vor Allem aber könnten sie nicht glauben,“ fuhr er mit lebhafterem Ton fort, „daß der Befehl, welcher ihnen allerdings mit Eurer Majestät Unterschrift vorgelegt worden sei, von Allerhöchstdenselben wirklich in voller Kenntniß des Inhalts unterschrieben sei, da eine Bestätigung der Allerhöchsten Unterschrift auf dem Papier sich nicht vorfindet. Sie hätten deßhalb die Lieutenants von Mengersen und Heyse abgesandt, um Eure Majestät ihre Bedenken vorzutragen und Allerhöchstdieselben zu bitten, wenn Sie wirklich jenen Befehl gegeben, denselben in Gegenwart der genannten Officiere Allerhöchsteigenhändig zu unterzeichnen.“

Der König sprang empor, eine flammende Röthe flog über sein Gesicht, er biß die Zähne aufeinander und stieß mit einem zischenden Laut mehrmals den Athem aus seinen Lippen.

Der Kronprinz lächelte still vor sich hin, Graf Platen ließ den Kopf auf die Brust sinken und schlug die Augen zu Boden nieder.

„Dahin ist es also gekommen,“ rief der König mir lauter Stimme, „daß die Officiere meiner Armee es wagen, an einem Befehl zu zweifeln, der meine königliche Unterschrift trägt, daß sie von mir, ihrem obersten Kriegsherrn, die Erfüllung jener constitutionellen Form verlangen, welche für die Civilverwaltung des Königreichs gesetzlich vorgeschrieben war. Welcher Geist,“ sprach er in dumpfem Ton, „muß in jenen Kreisen herrschen, wenn so Etwas möglich ist. Welcher Dämon muß seine Gewalt über diese Officiere üben, daß sie es wagen, mir so gegenüber zu treten.“

„Es ist allerdings,“ sagte der Major von Adelebsen, „ein höchst unmilitairisches und vermessenes Vorgehen. Ich habe den Herren Vorstellungen gemacht, ich habe versucht, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Aber,“ fügte er achselzuckend hinzu, „es ist vergeblich gewesen. Sie bestehen mit Entschiedenheit darauf, den Befehl in ihrer Gegenwart von Eurer Majestät vollzogen zu sehen, da sie denselben anders nicht für gültig erkennen können.“

„Sagen Sie den Herren,“ rief der König mit zitternder Stimme, „daß ich sie nicht empfangen wolle, daß ich ihnen befehlen lasse, augenblicklich nach Paris zurückzureisen. Ich werde ihnen,“ fügte er mit mühsam unterdrückter Erregung hinzu, „meinen Willen in einer Form kundgeben, an welcher sie keinen Zweifel werden hegen können.“

Herr von Adelebsen verneigte sich, indem ein leichtes Lächeln der Befriedigung um seine Lippen spielte und verließ das Zimmer.

„Graf Platen,“ rief der König, indem er sich wieder in seinen Lehnstuhl niedersetzte, „Sie werden mir eine zweite Ausfertigung des Befehls vorlegen, ich werde meine Unterschrift unter demselben beglaubigen lassen. Zugleich lassen Sie Vollmachten für den Major von Adelebsen ausfertigen, damit er alle Functionen des Majors von Düring sofort übernehmen könne. Er soll auf der Stelle nach Paris reisen, um die Auflösung der Legion durchzuführen.“

„Wäre es nicht zweckmäßig, Majestät,“ sagte Graf Platen, „bei dem Geist des Widerspruchs, der unter den Officieren in Paris zu herrschen scheint, die hauptsächlichsten Führer derselben von dort zu entfernen. Ich meine insbesondere den Major von Düring und den Premierlieutenant von Tschirschnitz, durch welche sich doch die Uebrigen mehr oder weniger bestimmen lassen.“

„Gewiß,“ sagte der König, „lassen Sie sogleich die Befehle ausfertigen. Düring soll nach Bern, Tschirschnitz nach Basel sich begeben und dort meine weiteren Bestimmungen abwarten.“

Er lehnte sich wie erschöpft in seinen Stuhl zurück und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

„Würde es aber nicht zweckmäßig sein,“ sagte der Geheime Cabinetsrath mit seiner feinen und hohen Stimme, „da nun die Auflösung der Legion in Frankreich durchgeführt werden soll und werden wird, dafür Sorge zu tragen, daß diese Maßregel, welche man ohne Zweifel viel besprechen wird, in den Augen der Welt und namentlich in den Augen der französischen Regierung nicht so ausgelegt werde, als ob Eure Majestät auf Ihr Recht verzichten und jede Thätigkeit für die Wiedererlangung desselben für immer aufgeben?“

„Ich glaube kaum,“ sagte Graf Platen, „daß man die Sache so ansehen könnte. Jedermann weiß, daß die Mittel Eurer Majestät beschränkt sind, und Jedermann wird begreifen, daß Allerhöchstdieselben auf die Dauer solche Ausgaben nicht durchzusetzen vermögen.“

„Doch, doch,“ rief Georg V., „der Cabinetsrath hat vollkommen Recht. Lassen Sie durch Lumé de Luine ein Schreiben an den Kaiser Napoleon aufsetzen, worin ich ihm die Gründe meiner Maßregeln auseinandersetze, ihm für den Schutz, den er bisher den hannöverschen Emigranten gewährt hat, danke und zugleich erkläre, daß die Auflösung der Legion lediglich durch finanzielle Rücksichten geboten sei und daß ich trotzdem niemals aufhören würde, jede Gelegenheit zu ergreifen, um für mein verletztes Recht zu kämpfen.“

Der Kronprinz wollte Etwas bemerken, rasch aber stand der König auf und sagte:

„Ich danke Ihnen, meine Herren, ich will allein sein.“

Flüchtig berührte er mit den Lippen die Stirn des Kronprinzen, welcher sich ihm näherte und dann das Cabinet verließ. Graf Platen und der Geheime Cabinetsrath folgten und der König blieb allein.

Er ließ den Kopf auf die Brust niedersinken. Längere Zeit hörte man in dem stillen Zimmer Nichts als die tiefen, unruhigen Athemzüge, welche seine Brust bewegten.

„Welch ein hartes, schweres Schicksal,“ rief er dann. — „Ich habe meinen Thron und mein Königreich verloren! Ich bin von meinem Volk getrennt, dessen Glück die ganze Kraft und Arbeit meines Lebens gewidmet war, und nun muß ich es erleben, daß auch Diejenigen, welche mein Unglück theilten, und welche in der Verbannung mir treu geblieben, sich von mir wenden. So hat,“ rief er schmerzlich aus, „diese Zeit alle Begriffe verwirrt, alle sonst so heiligen Bande gelockert, daß sogar die Officiere meiner Armee, dieser Armee, welche so heldenmüthig und opferfreudig sich für mich geschlagen, mir nicht mehr vertrauen und sich gegen mich auflehnen!“

Er stand auf und blieb vor seinem Stuhle stehen. Schmerzlich zuckte sein edles Gesicht und die blicklosen Augen wandten sich umher, als wollten sie mit gewaltiger Willensanstrengung das Dunkel durchbrechen, welches ihn umgab.

„Wer zeigt mir,“ rief er, „wo die Wahrheit liegt, wo der rechte Weg ist, den ich zu gehen habe! Ich habe nach bestem Wissen und Gewissen meine Beschlüsse gefaßt, ich habe gethan, was ich für meine Pflicht hielt, — und nun finde ich mich einsam und verlassen, verlassen von Denen, welche ich für die Treuesten hielt! Fast möchte ich irre werden an dem, was ich für recht erkannt, denn Diejenigen, welche jetzt meinem Willen widerstreben, habe ich stets als fest und muthig erkannt. Und die mich hier mit Rath umgeben —“

Er seufzte tief auf.

„Ich weiß, wie viel dem Grafen Platen zu den Eigenschaften fehlt, welche den großen Staatsmann machen, ich weiß, wie leicht er zu beeinflussen ist. — Und doch, doch kann ich nicht anders handeln, ich habe die Mittel nicht mehr, den Kampf in der Weise fortzusetzen wie bisher. Und jene Emigranten, die ich ferner nicht unterstützen kann, werden ja, wenn sie von derselben Begeisterung für ihre Sache erfüllt sind, welche einst ihre Väter auf allen Schlachtfeldern Europa's für ihren König kämpfen ließ, Mittel finden, sich mir dennoch zu erhalten und vielleicht —

„Oh, wer giebt mir Licht in diesem Dunkel — oh, daß ich nur einmal die Blicke und Mienen Derjenigen sehen könnte, die zu mir sprechen. Ich würde leichter erkennen können, wo die Wahrheit liegt.“

Er sank wieder auf seinen Stuhl nieder, stützte den Kopf in die Hände und blieb lange in tiefem Sinnen versunken.

Dann plötzlich schien ein Gedanke in ihm aufzusteigen, rasch bewegte er die goldene Glocke, welche auf einem schön ciselirten Teller vor ihm stand. Der Kammerdiener trat ein.

„Ist Graf Platen noch im Hause,“ fragte der König rasch.

„Zu Befehl, Majestät, der Graf ist bei Seiner königlichen Hoheit dem Kronprinzen.“

„Rufen Sie ihn und den Kronprinzen.“

Wenige Augenblicke darauf erschienen der Prinz Ernst August und der Graf Platen abermals in dem Cabinet des Königs.

„Sie sprachen mir vorhin,“ sagte Georg V., „von dem Feldwebel Stürmann. Ist er hier? Ich will ihn sprechen.“

Graf Platen wechselte einen Blick mit dem Kronprinzen und erwiderte dann:

„Der Feldwebel ist hier, Majestät, er hat soeben noch Seiner Königlichen Hoheit Bericht über die Verhältnisse und Stimmungen unter den Emigranten erstattet.“

„Bringen Sie ihn her,“ sagte der König kurz.

Graf Platen ging hinaus und kehrte nach kurzer Zeit mit einem Mann von etwa vier- bis fünfundfünfzig Jahren, dem man trotz seiner bürgerlichen Tracht in seiner ganzen Haltung den alten Soldaten ansah, zurück.

Der Feldwebel Stürmann war eine hagere dürre Gestalt von Mittelgröße, sein kurzes graues Haar war militairisch geschnitten; sein langes Gesicht von graugelber Farbe drückte Verschlossenheit und eigensinnige Beschränktheit aus. In seinen kleinen, etwas starr blickenden Augen lag jene listige Verschlagenheit, welche man häufig in dem niedersächsischen Stamme findet. Er trug die Medaille von Langensalza in dem Knopfloch seines einfachen grauen Rockes, trat einige Schritte vor und blieb dann in militairisch dienstlicher Haltung stehen.

„Ich freue mich, Sie hier zu wissen, mein lieber Feldwebel,“ sagte der König in kurzem, fast strengem Ton. „Ihre Kameraden haben Sie hierher gesendet, sagen Sie mir, was dieselben denken und was in Paris unter denselben vorgeht.“

Der Feldwebel warf einen Blick auf den Grafen Platen, welcher leicht mit dem Kopf nickte und sprach mit einer etwas schwerfälligen Stimme, indem er mit einer gewissen Mühe langsam die Worte hervorbrachte.

„Ich bin hierher gekommen, Königliche Majestät, um genau zu erfahren, was denn eigentlich Eurer Majestät Willen und Befehl ist, da weder ich, noch meine Kameraden uns vollkommen klar darüber sind.“

„Und warum nicht,“ fragte der König kurz.

„Die Herren Officiere,“ sagte der Feldwebel, „welche mit uns nach Holland gegangen sind, welche uns in der Schweiz und in Frankreich commandirt haben, und zu welchen wir Alle das größte Vertrauen hatten, haben uns vor einiger Zeit gesagt, daß es der Wille Eurer Majestät sei, für uns eine Colonie in Algerien zu gründen, damit wir dort uns eine neue Heimath schaffen und abwarten können, bis der Moment gekommen wäre, für das Recht Eurer Majestät in den Kampf zu gehen.

„Weiter,“ sprach der König.

„Wir haben uns Alle bereit erklärt,“ fuhr der Feldwebel fort, „dorthin zu gehen, obgleich uns viel Schlimmes von dem Lande erzählt wurde. Aber für Eure Majestät und für unsere heilige Sache,“ fuhr er fort, indem er die Hand auf die Brust legte, „würden wir ja bis an's Ende der Welt gehen.

„Nun aber,“ sagte er nach einem augenblicklichen Schweigen, indem er abermals zum Grafen Platen hinüberblickte, „hat uns vor vier Wochen der Herr Major von Adelebsen und der Herr von Münchhausen, welche die Standquartiere der Emigranten bereisten, mitgetheilt, daß Eure Majestät die Colonie in Algerien nicht wollten, daß Sie vielmehr die Legionaire entlassen würden und Jeden auffordern ließen, zu erklären, wohin er zu gehen beabsichtigte. Die Herren Officiere,“ sagte er dann, „haben uns nun zwar bestätigt, daß von Eurer Majestät eine Colonie in Algerien nicht mehr gegründet werden würde. Dennoch aber haben sie uns aufgefordert, zusammen zu bleiben und einen Verband zu bilden und uns gegenseitig zu unterstützen, wollen auch versuchen, ob es nicht möglich sei, ohne Betheiligung Eurer Majestät von der französischen Regierung die Herstellung einer Colonie zu erreichen, auf welcher wir eine gemeinschaftliche Existenz uns beschaffen könnten. Es ist darüber viel hin- und hergesprochen, einzelne von den jungen Leuten wollen gern ihr Glück in Algerien versuchen. Wir aber, die älteren und namentlich die Unterofficiere würden uns einem solchen Unternehmen nur anschließen wollen, wenn wir bestimmt wüßten, daß wir darin dem Willen Eurer Majestät gemäß handelten. Und deßwegen bin ich hierher gekommen, um womöglich Eure Majestät zu fragen, was wir thun sollen.“

„Der Unterofficier Stürmann, Majestät,“ fiel Graf Platen ein, „und seine Kameraden möchten es besonders Allerhöchstdenselben zur Beherzigung empfehlen, daß sie durch langjährige Dienstzeit eine Pensionsberechtigung erworben haben, welche sie durch ihre Auswanderung aus Hannover der preußischen Regierung gegenüber verwirkten, sie glauben deßhalb, daß Eure Majestät Gerechtigkeit anerkennen werden, wie sie in andern Verhältnissen sich befinden, als die jüngern in der Emigration befindlichen Soldaten.“

„Ich glaube,“ sagte der Kronprinz, „daß Du das gewiß anerkennen wirst, Papa, und daß die Unterofficiere jedenfalls anders gestellt werden müssen, als die große Masse der Emigranten.“

„Gewiß,“ rief der König lebhaft, „diejenigen gedienten Soldaten, welche eine Pensionsberechtigung erworben haben, sollen keinen Schaden leiden. Meine Kasse,“ sagte er mit etwas leiser Stimme, das Gesicht mit fragendem Ausdruck auf den Grafen Platen hinwendend, „wird diese Verpflichtung erfüllen können?“

„Ganz gewiß, Majestät,“ erwiderte der Minister.

„Dann,“ sagte der Feldwebel Stürmann, „kann ich Eurer Majestät versichern, daß alle meine alten Kameraden höchst zufrieden und Eurer Majestät besonders dankbar sein werden. Ich werde sehr glücklich sein, ihnen das gnädige Versprechen Eurer Majestät mittheilen zu können, und wir werden unser Möglichstes thun, um die jüngern Soldaten von abenteuerlichen Unternehmungen abzuhalten.“

„Am besten wäre es,“ sagte der Kronprinz ein wenig zögernd, „wenn sie nach Amerika auswanderten. Dort können sie ja doch noch am ersten ein Unterkommen finden.“

„Zu Befehl, Königliche Hoheit,“ sagte der Feldwebel.

„Dann wären sie aber für mich für immer verloren,“ sprach der König halb leise zu sich. „Nein, nein,“ rief er dann laut, „man soll keinen Einfluß in dieser Beziehung auf ihre Entschließungen üben. Doch,“ fuhr er abbrechend fort, indem er sich an den Feldwebel wandte, „haben denn die Leute eine so große Neigung gehabt, nach Algerien zu gehen, daß meine Officiere so sehr auf diesen Plan bestehen? Sie wissen vielleicht, daß im Lande Hannover die ganze Bevölkerung eine große Abneigung gegen dieses Project hat und befürchtet, die Leute könnten dort zu Grunde gehen?“

Der Feldwebel blickte fragend auf den Kronprinzen und Graf Platen; dann sprach er:

„Die Leute sind durch die Officiere fortwährend in dem Gedanken bestärkt worden, daß eine Colonie in Algerien für sie das Beste sei, — ich habe,“ fuhr er fort, „immer meine Bedenken dagegen gehabt. Und ich habe wohl so Manches gehört — daß die französische Regierung eine solche Colonie sehr wünsche, um die unbebauten Gegenden in Algerien fruchtbar zu machen. Man hat sich so Manches erzählt.“

Er schwieg abbrechend.

„Was hat man sich erzählt?“ fragte der König.

„Nun,“ sagte der Feldwebel, „man spricht so Allerlei, was ich Eurer Majestät aber gar nicht erst wiedererzählen möchte.“

„Ich will Alles wissen,“ sagte der König. „Was spricht man?“

„Majestät,“ sagte der Feldwebel, „das Algerien soll ein schönes und fruchtbares Land sein, es hat aber ungesundes Klima und es ist Niemand da, um es zu bebauen. — Die Franzosen sind sehr schlechte Landarbeiter, da wäre es denn der französischen Regierung wohl sehr angenehm, wenn kräftige deutsche Einwanderer ihnen helfen würden, das Land zu cultiviren. Man hat schon verschiedene solche Colonien gemacht, wie man mir in Paris erzählt hat. Es sind Unternehmer zusammengetreten, um Leute anzuwerben und dort hinzuführen. Den Colonisten soll es schlecht gegangen sein, sie sind von Krankheiten dahingerafft, nachdem sie die ersten Arbeiten gethan und das Land fruchtbar gemacht hatten. Aber die Unternehmer haben große Besitzungen von der Regierung erhalten, sehr einträgliche Herrschaften, und sie sind große, reiche Herren geworden. Nun, das könnte wohl Manchen ja schon locken, um etwas Aehnliches zu unternehmen. Ich kann mir so Etwas von unseren Officieren nicht denken; aber man wird doch etwas stutzig, wenn man Dergleichen so von verschiedenen Seiten hört.“

Der König zuckte zusammen, in schmerzlicher Erregung zitterte sein Gesicht, er streckte den Arm aus und legte die Hand auf die Schulter des Kronprinzen.

„Ernst,“ rief er, „Ernst, jetzt sehe ich klar. — Darum also dieser Plan, darum dieser Widerstand gegen meinen Willen.“

Ein fast unwillkürliches Lächeln glitt über die Lippen des Kronprinzen. Graf Platen neigte leicht den Kopf gegen den Feldwebel und sprach dann zum König gewendet:

„Es ist doch gut, daß Eure Majestät die Gnade gehabt haben, den Feldwebel Stürmann anzuhören. In unklaren Verhältnissen führt es immer zur richtigen Erkenntniß, wenn man die Sache von allen Seiten hin beleuchten läßt. — Und es wird gewiß von großem Nutzen sein, wenn der Feldwebel seine Kameraden über den wahren Willen Eurer Majestät aufklärt.“

„Ich danke Ihnen, mein lieber Feldwebel,“ sagte der König, „ich gebe Ihnen noch einmal das Versprechen, daß die Pensionsberechtigung der Unterofficiere ihre Anerkennung finden soll.“

Der Feldwebel wandte sich kurz und militairisch um und ging hinaus.

„Ich erwarte also,“ sagte Georg V. mit matter Stimme, „daß Sie sogleich die Vollmachten für den Major von Adelebsen ausfertigen. Er soll so schnell als möglich abreisen. Senden Sie sogleich an Meding den Befehl, daß er die Unterstützungen der französischen Behörden in den Stationsorten der Emigration für die Auflösung der Legion bewirke. — Ernst,“ fuhr er fort, „Du sollst mich begleiten, ich will einen Spaziergang machen. Ich bedarf der freien weiten Luft, der enge Raum dieses Zimmers erdrückt mich mit all den traurigen Gedanken, mit denen diese bittern Erfahrungen mich erfüllen.“

Er klingelte, der Kammerdiener brachte ihm auf seinen Befehl die kleine österreichische Mütze und die Handschuhe, und, auf den Arm des Prinzen gestützt, schritt er in den Park hinaus.


Siebentes Capitel.


Die unruhige Bewegung auf den Straßen von Paris hatte ein wenig nachgelassen, dennoch sah man in den Abendstunden eine größere Menge als sonst auf den hell erleuchteten Boulevards hin und herziehen. Man sah noch einzelne von jenen Gestalten, welche man sonst nicht zu bemerken pflegte und welche einzeln oder zu Zweien oder Dreien ruhig einhergingen, finstern Blickes die Spaziergänger betrachtend und zahlreich genug, um im gegebenen Moment und auf ein gegebenes Signal eine Zusammenrottung zu bilden.

Die sergeants de ville standen in verstärkter Zahl an den Straßenecken, und so wie irgend eine Stockung des Verkehrs eintreten zu wollen schien, ersuchten sie das Publikum höflich, aber bestimmt, weiter zu gehen.

Die Gruppen vor den Kaffeehäusern, welche dort bei ihrem Glas Bier von Dreher, bei ihrem Grog américain oder bei ihrem Glase Cognac trotz der noch kalten frischen Luft im Freien saßen, sprachen lebhaft, doch ohne daß man eine besonders bedenkliche Aufregung hätte bemerken können.

Der allgemeine Eindruck war, daß die Bewegung, welche durch die Verhaftung Rocheforts hervorgerufen worden, vorüber sei, und daß dieselbe weiter keine Consequenzen haben werde. Man war allgemein zufrieden mit dem Verfahren des Kaisers, welcher nur im Falle des äußersten Widerstandes das Militair hatte einschreiten lassen, und die Popularität Napoleon III. war durch seine persönliche Fahrt über die Boulevards und durch die unruhigsten Stadttheile sehr bedeutend gestiegen. Man hatte von Neuem gesehen, daß der Kaiser sich nicht fürchte, und nur der Souverain kann Frankreich beherrschen, über welchen die Furcht keine Macht hat.

Vor einem der Cafés auf dem Boulevard des Italiens saßen an einem kleinen Tische mehrere Officiere der hannöverschen Legion und suchten den unangenehmen Einfluß des nebelhaften feuchten Wetters durch einige Gläser norddeutschen Punsches zu bekämpfen, den sie sich nach ihrer Anweisung von dem Garçon hatten bereiten lassen, der ein gewisses Erstaunen über die sehr unbedeutende Rolle nicht unterdrücken konnte, die dem heißen Wasser gegenüber dem Arac in diesem Getränk zugewiesen war.

An der Mitte des Tisches saß ein wenig zusammengebückt auf einem hölzernen Stuhl der Major von Düring, eine kleine schmächtige, aber nervöse und muskelkräftige Gestalt. Das schmale, scharf markirte und bleiche Gesicht mit dem starken, spitz gedrehten, blonden Schnurbart und den lebhaften, graublauen Augen drückte muthige Entschlossenheit und feine Intelligenz aus. Der hohe schwarze Hut war ein wenig in den Nacken gedrückt und ließ die stark gewölbte Stirn zur Hälfte frei.

Er hüllte sich ein wenig fröstelnd in seinen Ueberrock und trank in kleinen Zügen das heiße dampfende Getränk, welches vor ihm stand.

„Ich sage,“ sprach Herr von Düring, nachdem er längere Zeit schweigend in das Treiben der Vorübergehenden geblickt und, indem er sich zu dem neben ihm sitzenden Premierlieutenant von Tschirschnitz wandte, einem großen, schlanken, jungen Manne, dessen Gesicht mit starkem vollem Bart freimüthige Offenheit ausdrückte, „ich sage Euch, die Sache wird sehr schlimm werden und unsere Aussicht auf die Zukunft ist wahrlich nicht rosig.“

„Das bemerkte schon jener Unterofficier,“ erwiderte Herr von Tschirschnitz mit einem gewissen trockenen Humor, „welcher bei einer Zusammenkunft unserer Leute die kurze und schlagende Rede hielt: Nummer Eins, — Zweitens — ad Drei — um kurz von der Sache zu sein — wir sehen einer schaudervollen Zukunft entgegen.“

Alle lachten.

„Ich begreife nicht,“ sagte Herr von Düring, schnell wieder ernst werdend, „wie Ihr noch Lust zu scherzen haben könnt! Die Lage ist doch wahrhaftig ernst genug. — Ich will von uns gar nicht sprechen, aber alle diese armen Leute, für die wir doch mit verantwortlich sind, sie können noch weniger wie wir sich eine andere Existenz und eine andere Lebensstellung schaffen, wenn man sie einfach mit einer kleinen Summe in der Tasche in die Welt hinaus schickt.“

„Warum sollte ich den Humor verlieren,“ erwiderte Herr von Tschirschnitz mit heiterm Ton, durch welchen jedoch eine gewisse tiefe Bitterkeit hindurchklang, „ich bin ja jetzt Generaladjutant geworden und habe die Legion zu commandiren — ich habe den panache. — Es ist wahrhaftig ganz wie in der ‚Großherzogin von Gerolstein‘; ich glaube nicht, daß meine Herrschaft lange dauern wird und dann kann ich mit Euch zusammen Schulmeister werden. Jetzt aber“ — er schlug die Arme untereinander, blickte Herrn von Düring mit komischem Blinzeln der Augen an und sagte, die Worte des Fritz aus der grande-duchesse citirend —

„Mauvais général.“

„Wenn der panache an mich kommt,“ sagte der Lieutenant Götz von Ohlenhusen, ein noch ganz junger Mann mit hübschem, etwas phlegmatischem Gesicht, indem er einen langen Zug aus seinem Glase that, „wenn der panache an mich kommt, ich werde ihn nicht annehmen.“

„Seid ruhig,“ erwiderte Herr von Tschirschnitz, „bis er an Euch kommt, wird er schon so zerpflückt sein, daß keine Feder mehr daran ist, doch nun,“ fuhr er ernst fort, „ganz aufrichtig gesprochen, ich glaube wirklich nicht, daß die Sache so schlimm ist. Es ist ja ganz richtig, daß alle möglichen Intriguen den König umlagern, aber Er ist doch ein Herr von edelster Gesinnung und hohen ritterlichen Gefühlen; wenn er unsere Vorstellungen hört, so wird er jedenfalls noch einmal über die Sache nachdenken. — Wir wollen ja durchaus dasselbe, wie er, wir wollen ja, daß seine schon so belastete Kasse von dieser großen Ausgabe für die Legion befreit werde, nur wollen wir das in einer Weise machen, daß die armen Leute nicht rath- und hilflos ihrem Schicksal preisgegeben werden, sondern daß sie im Zusammenhang untereinander der Sache des Königs erhalten bleiben. Will der König die Vertheidigung seines Rechtes fortsetzen, so muß er sich doch Diejenigen, welche sich ihm dazu zur Verfügung gestellt haben, auf irgend eine Weise erhalten, und daß kann nur hier auf neutralem Boden geschehen, wo sie Schutz finden. Will er aber sein Recht aufgeben — nun das ist ja seine Sache. Und vielleicht,“ fügte er seufzend hinzu, „wäre es bei der Art und Weise, wie sie gehandhabt wird, das Beste. Dann soll man wenigstens für die Emigranten straffreie Rückkehr nach ihrer Heimath erwirken. Das Alles muß doch dem König einleuchten, er muß sich ja doch überzeugen, daß wir, die wir ihm unsere Treue durch die That bewiesen haben, wahrlich nicht ohne Grund gegen seine Befehle demonstriren.“

„Glaubt Ihr denn,“ fragte Herr von Götz, „daß dem Könige unsere Vorstellungen zur Kenntniß kommen? — Glaubt Ihr denn, daß er Mengersen und Heyse empfangen und hören wird?“

„Das glaube ich gewiß!“ rief Herr von Tschirschnitz mit festem Ton. „Ich glaube nicht, daß Jemand es wagen würde, dem Könige Etwas zu verheimlichen oder etwas Unrichtiges vorzutragen. Das wäre doch in der That eine zu große Nichtswürdigkeit.“

Herr von Düring schüttelte langsam den Kopf.

„Mir sind in der letzten Zeit,“ sagte er, „in dieser Beziehung sehr erhebliche Zweifel aufgestiegen. Schon seit längerer Zeit erhalte ich auf verschiedene Berichte, die ich über die Verhältnisse der Legion nach Hietzing gesandt, Antworten, die durchaus nicht auf das passen, was ich geschrieben habe und welche nur dann einen Sinn haben, wenn meine Berichte vollständig mißverstanden wären, was doch bei der klaren Fassung derselben und bei dem seinen Verständniß des Königs kaum möglich ist.“

„So haltet Ihr es für möglich,“ rief der Lieutenant von Harling, ein junger, dunkel brünetter Mann mit feurigen, schwarzen Augen, „so haltet Ihr es für möglich, daß dem Könige Etwas falsch vorgelesen oder Etwas verschwiegen würde?“

„Ich will keine bestimmte Meinung aussprechen,“ sagte Herr von Düring, „ich constatire nur die Thatsache, daß die Antworten, welche ich aus Hietzing erhalte, absolut auf meine Berichte nicht passen, daß sogar in einigen dieser Antworten mir ausdrücklich Aeußerungen untergelegt werden, die ich niemals gemacht habe.“

„Es wäre doch vielleicht besser gewesen,“ sagte Herr von Harling, gegen den Major von Düring gewendet, „wenn Sie oder Herr von Tschirschnitz nach Hietzing gegangen wären. Ich weiß nicht, ob Mengersen und Heyse unsere Sache richtig führen werden. Mengersen spricht etwas viel und Heyse ist etwas bescheiden und zurückhaltend.“

„Ich sollte nach Hietzing gehen,“ rief Herr von Düring lebhaft, „nach der Behandlung, die man mir hat widerfahren lassen, nachdem man mich ungehört auf die schnödeste und rücksichtsloseste Weise meiner Funktionen enthoben hat, deren Führung doch wahrlich unter diesen Verhältnissen ein Act besonderer Hingebung gegen den König war, niemals!“ rief er. „Ich will nur noch meine Geschäfte ordnungsmäßig übergeben, will so viel ich kann für das künftige Schicksal der Leute sorgen, und dann wende ich unserer verlorenen Sache, welche ein so trauriges Ende nimmt, für immer den Rücken. Ich werde keine Mühe und Arbeit scheuen, um mir eine Stellung zu erwerben, und ich hoffe auch, daß mir das gelingen wird. In der Türkei braucht man Officiere, der Vicekönig von Aegypten sucht Instructeure für seine Armee. Ich kenne die orientalischen Verhältnisse einigermaßen durch meine Dienstzeit in Algier, und ich hoffe, dort meinen Platz zu finden.“

„Oh, warum habe ich meine Compagnie in Sachsen im Stich gelassen,“ rief Herr von Tschirschnitz seufzend, „die man mir ganz fertig anbot, gerade in dem Augenblick, als die Emigration nach Holland in's Werk gesetzt wurde. Ich lebte dann heute ruhig und friedlich, hätte die Aussicht auf eine vortreffliche Carrière und hätte nicht nöthig, diese traurige Erfahrung über die Undankbarkeit der Fürsten zu machen.“

Ein rasch vorüberschreitender kleiner Mann von etwa vierzig Jahren in einem dunklen Paletot und einen etwas in die Stirn gedrückten Hut auf dem Kopf, blieb plötzlich stehen und näherte sich den Officieren. Sein Gesicht von Intelligenz und Schlauheit und von beweglichem Mienenspiel hatte jene helle, weiß und rothe Färbung der nordländischen Race. Ein Gürtel von dichten Sommersprossen, welche in dieser Jahreszeit weniger scharf hervortraten, lief über seine spitze, etwas hervorspringende Nase hin, seine kleinen, hellblauen, scharfen Augen blickten scharf und beobachtend umher.

Freundlich erwiderten die Officiere seinen Gruß, als er an ihren Tisch trat.

„Ich begreife nicht, meine Herren,“ sagte er, „wie Sie es aushalten können, in dieser Kälte hier auf der Straße zu sitzen, dazu muß man ein geborner Pariser sein, welcher gar kein Maß und keine Empfindung für die Grade der Kälte hat. Ich für meine Person friere hier mehr, als ich es je in meinem nordischen Vaterlande gethan habe und kann mich nicht dazu verstehen, mich im Winter in's Freie zu setzen.“

„Sie sehen so vergnügt aus,“ sagte Herr von Tschirschnitz zu dem bekannten dänischen Journalisten und Agitator für die Sache Dänemarks, Herrn Hansen, „haben Sie Aussicht, daß der Artikel V. des Prager Friedens endlich ausgeführt wird?“

Herr Hansen wehrte mit der Hand ab.

„Sprechen Sie mir nicht davon,“ sagte er halb lächelnd, halb mißmuthig, „dieser Artikel V. ist eine Schraube ohne Ende, an welcher man fortwährend dreht, welche aber niemals weiter kommt. Was habe ich mir für Mühe gegeben, daß dieser Artikel in den Prager Frieden aufgenommen werden möchte. Nun ist es geschehen, und meine Landsleute sind so weit wie sie waren. Man hat ja hier nicht einmal die Courage, ein lautes Wort für unser Recht zu sprechen, geschweige denn wird man jemals Etwas dafür thun.“

„Glauben Sie denn, daß die Schwachheit und Unthätigkeit,“ fragte Herr von Düring, „mit welcher die Regierung hier gegenwärtig zu verfahren scheint, ewig dauern wird? Ich sehe,“ fuhr er fort, „daß in militärischen Kreisen eine große Thätigkeit herrscht, und man thut dort überall so, als ob eine mächtige Action unmittelbar vor der Thüre steht.“

„Bah,“ sagte Herr Hansen, „das weiß ich nicht, danach müssen Sie Nélaton fragen.“

„Nélaton?“ fragte Herr von Tschirschnitz etwas erstaunt, „macht der Doctor Nélaton jetzt die Politik?“

„Er kann wenigstens allein wissen,“ erwiderte Herr Hansen, „ob und wann der Kaiser im Stande sein wird, überhaupt wieder Politik zu machen. Wenn man jetzt wissen will, was geschehen wird, so muß man nicht die Minister, sondern die Leibärzte fragen. Sehen Sie doch die Zeitungen an,“ sprach er weiter, „die wichtigsten Mittheilungen darin sind die Nachrichten über das Befinden des Kaisers. Das ist das Zeichen der Zeit. Die öffentliche Meinung fühlt sehr gut, wo der Schwerpunkt des politischen Lebens liegt, und wo jede thätige Action den Stein des Anstoßes findet.“

„Doch,“ fuhr abbrechend fort, „sagen Sie mir, ist es wahr, daß der König von Hannover seine Legion auseinander schicken und seine Sache aufgeben wird?“

Die Officiere blickten mit einer gewissen Verlegenheit zu Boden.

„Die Unterhaltung der Legion wird auf die Dauer zu kostspielig,“ sagte Herr von Düring, „in der bisherigen Weise wird sie kaum weiter gehalten werden können. Sie wissen ja, daß man das Vermögen des Königs confiscirt hat, und daß ihm nur wenig übrig bleibt.“

Herr Hansen schüttelte den Kopf.

„Die einfache Auslösung der Legion,“ sagte er, „nachdem sie so lange gehalten ist und so viel Geld gekostet hat, wäre ein großer Fehler. Früher oder später wird ja doch die große europäische Katastrophe zum Ausbruch kommen. Wenn der König überhaupt noch handeln will, so muß er die Mittel dazu in Händen behalten.“

„Nun,“ sagte er, „wir sehen uns ja wohl heute Abend noch bei Herrn Meding, ich will jetzt einen Augenblick den Salon von Herrn Thiers besuchen, dessen Empfangstag heute ist. Au revoir, meine Herren.“

Rasch schritt der kleine, lebhafte Mann weiter, durchschnitt mit großer Geschicklichkeit die dichte Menschenmasse auf den Boulevards, wandte sich dann in die Rue du Faubourg Montmartre und erreichte nach kurzer Zeit den Platz St. George mit der kleinen Fontaine in der Mitte. An der einen Eckseite desselben, durch ein hohes, eisernes Gitter von der Straße getrennt, lag das von Bäumen umgebene kleine Hotel des Herrn Thiers. Im Garten desselben dehnte sich der sprichwörtlich gewordene, wunderbar schöne und sorgfältig gepflegte Rasen aus, auf dessen grüner Fläche das Auge des berühmten Geschichtsschreibers der Revolution und des Kaiserreichs während seiner Arbeiten mit besonderem Wohlgefallen zu ruhen pflegte.

Einige Coupés hielten vor dem Eingangsthor. Herr Hansen schritt durch den etwas auswärts führenden breiten Weg zu der innern Hausthür hin, trat in einen kleinen, matt erleuchteten Vorplatz, wo ein Kammerdiener im schwarzen Anzug ihm den Ueberrock abnahm und dann die Thür des Salons öffnete, indem er mit lauter Stimme den Namen des Eintretenden hineinrief.

Die beiden, nicht großen Salons des früheren Ministers Louis Philipp's waren mit einer anspruchslosen Einfachheit möblirt. Der einzige Schmuck derselben bestand in äußerst werthvollen antiken Kunstwerken, welche auf kleinen Consolen und Tischen in den Ecken standen und in wenigen Oelgemälden vorzüglicher Meister.

Es waren nur erst wenige Personen in diesen Salons. In dem ersten Zimmer standen einige Herren in eifrigem, aber etwas leise geführtem Gespräch beisammen. In dem zweiten, etwas matter erleuchtetem Salon saß auf einem Canapee vor einem kleinen Tisch Madame Thiers, eine schlanke, magere und etwas steife Gestalt mit einem fein geschnittenen blassen Gesicht von kaltem, beinahe strengem Ausdruck, der jedoch in der Unterhaltung durch eine angenehme, herzliche und gewinnende Freundlichkeit gemildert wurde. Sie war das Bild einer einfachen bürgerlichen Hausfrau, nicht nur in ihrer Haltung und ihren Bewegungen, sondern auch in ihrer Gesprächsweise, obgleich sie es zuweilen verstand, mit großer Feinheit und scharfem, geistvollem Urtheil an der Unterhaltung über die ernstesten Gegenstände der Politik oder der Wissenschaft Theil zu nehmen.

Neben ihr saß Fräulein Dosne, ihre Schwester, nicht viel jünger als sie und ihr unverkennbar ähnlich, obwohl ihre ganze Erscheinung weniger bedeutend, weniger sicher und noch mehr kalt und zurückhaltend war.

Beide Damen trugen einfache Toiletten von schwarzer Seide und kleine hellblaue Bandschleifen und waren mit einer Tapisseriearbeit beschäftigt.

In einiger Entfernung von dem Tisch, vor welchem sie saßen und auf dem eine große Moderateurlampe mit dunkelblauem, flachem Glasschirm brannte, saß in einem großen Lehnstuhl fast verschwindend, der berühmte Staatsmann, welcher lange Zeit das parlamentarische Leben Frankreichs beherrscht hatte und dessen constitutionelles Wechselspiel mit Herrn Guizot einst den Mittelpunkt des Interesses Europa's bildete.

Seine kleine, fast zwerghafte Gestalt war grade aufgerichtet gegen die hohe Rücklehne seines Sessels gestützt; die beiden Arme lagen auf den Seitenlehnen, der Kopf war ein wenig herabgesunken, und das Kinn begrub sich fast in den Falten seiner hohen, blendend weißen Halsbinde. Das runde, sonst so bewegliche Gesicht mit der unter den abwärts gekämmten, weißen Haaren scharf hervortretenden, hoch gewölbten Stirn, der feinen Nase und dem breiten, fast immer halb gutmüthig, halb sarkastisch lächelnden Munde, — dies Gesicht, welches sonst den reichen Redestrom des gelehrten Doctrinärs mit so ausdrucksvollem, bewegtem Mienenspiel begleitete, — war unbeweglich und still. Die Augen, welche sonst so scharf und fein und so wohlwollend freundlich zugleich blickten, waren geschlossen. — Herr Thiers schlief, wie er stets nach Tische zu thun pflegte, und es war ein still schweigendes Uebereinkommen unter allen Besuchern dieses einst so glänzenden, in der Kaiserzeit mehr und mehr vereinsamten Salons, den Schlaf des alten Herrn nicht zu stören.

Herr Hansen trat mit leisem Schritt in den zweiten Salon, grüßte Madame Thiers und Fräulein Dosne mit schweigender Verbeugung, welche die Damen ebenfalls schweigend mit liebenswürdiger Artigkeit, aber mit einem leichten Seitenblick nach dem Lehnstuhl des Herrn Thiers erwiderten und zog sich dann wieder in das erste Zimmer zurück.

Er näherte sich einer Gruppe von Herren, welche sich in der Nähe des Fensters mit einander unterhielten.

In der Mitte derselben befand sich Herr Weiß, der frühere Redacteur des Journals de Paris, jetzt Staatsrath und Generalsecretair in dem neu errichteten Ministerium der schönen Künste, welches Herr Ollivier für seinen Freund Maurice Richard geschaffen hatte, und für welches man sich bemühte, aus verschiedenen Ressorts einen Geschäftskreis herzustellen.

Herr Weiß, ein mittelgroßer, schmächtiger Mann mit blassem, geistig belebtem Gesicht von mehr feinen, als männlich kräftigen Zügen, in seiner ganzen Haltung ein wenig an einen deutschen Professor erinnernd, sprach mit dem Herzog Audiffret-Pasquier und dem Historiker Mignet über die neue Entwicklung des Kaiserreichs.

„Ich fürchte,“ sagte Herr Mignet, „daß die Ueberführung der so ausschließlich persönlichen Regierung, welche wir bis jetzt gehabt haben, in die constitutionelle Form nicht ohne ernste Erschütterung vorübergehen kann, — nicht nur, daß der ganze Constitutionalismus den Traditionen und den Grundprincipien des Napoleonischen Kaiserreichs wesentlich widerspricht — es ist auch eine Erfahrung, welche unsere Geschichte deutlich zeigt, daß die französische Nation nicht besonders geeignet ist für allmälige und vermittelnde Uebergänge. Das System, welches man jetzt inaugurirt, beruht in der Vertretung des öffentlichen Willens durch Repräsentanten, welche nach bestimmten, gesetzlich geregelten Grundsätzen aus den verschiedenen Klassen des Volkes hervorgehen, und unter denen natürlich die Vertreter der Intelligenz und des Besitzes den bedeutendsten Einfluß für sich in Anspruch nehmen. Dadurch bildet sich das Leben der Parteien aus. Die Aufgabe der Regierung ist es, durch die Herstellung des Gleichgewichts zwischen den Parteien die öffentlichen Angelegenheiten zu führen. Das Kaiserreich aber basirt wesentlich auf dem Volkswillen ohne eine gesichtete Vertretung, auf der noch unklaren, aus wechselnden Gefühlen und Stimmungen sich bildenden Majorität der Massen. Hier stehen sich nur die Autorität und die Masse gegenüber, welche entweder vereint herrschen oder sich mit Gewalt gegen Gewalt bekämpfen müssen. Es ist eine schwere Arbeit, welche das jetzige Ministerium übernommen hat, diese beiden, so weit aus einander liegenden, ja sich fast scharf gegenüber stehenden Prinzipien mit einander zu versöhnen, und auf dem Boden des Cäsarismus ein constitutionelles Staatsleben erwachsen zu lassen.“

„Eine Aufgabe,“ rief der Herzog Audiffret, „bei welcher das Ministerium sicher auf den Beistand jedes guten Franzosen, jedes freisinnigen und klar denkenden Mannes rechnen kann —“

„Und eine Aufgabe,“ fiel Herr Weiß mit seiner leisen und etwas monotonen Stimme ein, „an deren Erfüllung ich glaube und zu der jedenfalls die Regierung und Alle, die ihr angehören, den besten und redlichsten Willen mitbringen. Auch glaube ich nicht,“ fuhr er fort, „daß die Schwierigkeit derselben so groß ist, als sie Herrn Mignet erscheint. Ich glaube, daß gerade das constitutionelle System das einzige ist, nach welchem Frankreich auf die Dauer regiert werden kann. Der Kampf der Parteien in der Arena der Kammern giebt allen Ansichten Raum, um sich geltend zu machen, und dadurch wird am sichersten ein gefährlicher Ausbruch der einen oder der andern extremen Richtung vermieden. Außerdem soll das constitutionelle System das Land vor unüberlegten und gefährlichen Actionen nach Außen bewahren, zu dem Cäsarismus und der Demokratie am Meisten neigen, denn sowohl die Massen des Volkes, als ein allmächtiger Selbstherrscher sind von persönlichen und augenblicklichen Eindrücken in besonders hohem Grade abhängig. Beide neigen zur Tyrannei, bei Beiden liegt die Gefahr eines gefährlichen Spieles mit der nationalen Kraft und dem Nationalwohlstand. — Ich glaube nicht, daß unter einer constitutionellen Regierung, wie wir sie jetzt anbahnen, eine mexikanische Expedition möglich sein würde. Was übrigens die Verbindung der Napoleonischen Tradition mit dem constitutionellen System betrifft, so macht sich dieselbe nach meiner Ueberzeugung sehr leicht, so bald nur eben von Seiten des Kaisers, wie das jetzt der Fall ist, offen und frei die Verständigung mit den verfassungsmäßigen Repräsentanten der Nation erstrebt und gesucht wird.“

„General Changarnier und der Herzog von Broglie,“ rief der Kammerdiener in den Salon und neben einander traten der Repräsentant des alten französischen Adelsgeschlechts in seiner vornehmen, eleganten Haltung und der greise General des Julikönigthums herein.

General Changarnier war trotz seiner vom Alter gebrochenen Haltung eine etwas noch militairisch kräftige Erscheinung. Der Ausdruck seines ernsten würdevollen Gesichts mit dem weißen Bart und Haar war einfache natürliche Offenheit, — seine klaren, etwas tief liegenden Augen blickten ruhig und nachdenklich, seine Bewegungen waren von schlichtester und ungesuchtester Natürlichkeit.

Die beiden Eintretenden wandten sich nach dem zweiten Salon.

Herr Thiers hatte bei der Nennung ihrer Namen leicht mit den Augen geblinzelt, dann dieselben ganz geöffnet und sich von seinem Stuhl erhoben. Sein Gesicht nahm sofort die demselben eigentümliche ausdrucksvolle Beweglichkeit an, — mit schnellen Schritten näherte er sich der Eingangsthür und begrüßte mit vertraulicher Herzlichkeit den Herzog und den General, welche darauf den Damen des Hauses ihre Complimente machten.

Der Herzog von Broglie setzte sich neben Madame Thiers, während deren Gemahl seine Hand leicht auf den Arm des Generals Changarnier legte, und indem er von unten zu demselben hinaussah, mit seiner ausdrucksvollen, etwas scharfen Stimme sprach:

„Ich habe Sie lange nicht gesehen, mein alter Freund, Sie machen sich selten, das ist nicht gut. Man wird alt, wenn man sich von der Gesellschaft zurückzieht.“

„Ich habe nicht nöthig, alt zu werden,“ sagte der General einfach, „ich bin es schon und habe kaum eine Gemeinschaft mit der heutigen Welt mehr. Mein Leben liegt in der Erinnerung an die Vergangenheit.“

„Sie haben Unrecht, mein Freund,“ erwiderte Herr Thiers, „man gehört immer dem Leben und der Gegenwart an, so lange man athmet. Die Erinnerungen sind nur dazu da, um uns die Gegenwart besser verstehen zu lassen. Darin liegt das Uebergewicht, welches ein alter Kopf über die gegenwärtige Generation hat, wenn er eben nur durch die Jugendfrische des Herzens und der Empfindungen unterstützt ist.“

„Dazu gehören aber auch,“ sagte der General seufzend, „gesunde Nerven und ein gesunder Magen. Beides habe ich nicht in dem Maße wie Sie.“ —

„Weil Sie daran denken,“ rief Herr Thiers, „wenn man nie an die Krankheit denkt, so räumt man ihr keine Macht über uns ein. Unser schlimmster Feind ist die Unthätigkeit. — Ich habe mich immer durch die Thätigkeit jung und frisch erhalten; nachdem ich aufgehört habe Staatsmann zu sein, bin ich wieder Schriftsteller geworden. Und dadurch halte ich mich im Stande,“ fügte er lächelnd hinzu, „wenn es einmal nöthig sein sollte, wieder Staatsmann zu werden.“

„Ein Militair,“ sagte der General achselzuckend, „kann sich seine Thätigkeit nicht willkürlich suchen. Wir stehen auf einem exclusiv abgeschlossenen Gebiet, und wenn uns dies Gebiet verschlossen wird, so bleibt uns nichts übrig als die Reflexion und die Erinnerung.“

„Ein Gebiet, das eine Zeit lang verschlossen war, kann sich aber wieder öffnen. Es scheint ja, daß Frankreich jetzt zu besseren Zuständen übergeht und daß eine Reihe seiner besten Söhne nicht mehr von aller patriotischen Thätigkeit ausgeschlossen werden sollen. Es kann ja auch — und ich hoffe es — die Zeit wieder kommen, in welcher Ihr Degen noch einmal dem Vaterlande große Dienste zu leisten berufen sein wird.“

Der General lächelte bitter.

„Unter der Herrschaft dieses Kaisers Napoleon III.? sagte er — Sie scherzen.“

„Warum?“ fragte Herr Thiers, „man muß in der Politik niemals die Person in Betracht ziehen, sondern immer nur die Dinge und die Verhältnisse; und dem Vaterlande zu dienen ist immer edel und gut, welche Person dasselbe auch an seine Spitze gestellt haben mag. Wenn der Kaiser Napoleon nach gesunden und richtigen Prinzipien zu regieren sich entschließen kann, so würde ich keinen Augenblick Bedenken tragen, seine Regierung zu unterstützen, obwohl ich doch wahrlich auch — nicht dafür bezahlt bin, ihn zu lieben — ,“ sagte er lächelnd.

„Kann dieser Kaiser überhaupt nach gesunden Prinzipien regieren?“ fragte Changarnier, indem ein bitterer Ausdruck auf seinem sonst so freundlich wohlwollenden Gesicht erschien. „Kann man das Vertrauen zu ihm haben, daß er die Principien, welche er ausspricht, auch wirklich zur Richtschnur seiner Handlungen macht?

„Nun,“ sagte Herr Thiers, „er hat uns Beide schlecht genug behandelt, aber ich muß gestehen, daß ich auf dem Wege, den er jetzt eingeschlagen hat, gern bereit bin ihn zu unterstützen.“

„Er hat,“ sprach der General, „Ihr Vertrauen nicht in dem Maße getäuscht wie das meinige. Ich werde es nie vergessen und ihm nie verzeihen, wie er vor dem Staatsstreich meine Arglosigkeit benutzt hat, um jeden Widerstand gegen jenes Attentat unmöglich zu machen. —

„Er ließ mich,“ fuhr er fort, während Herr Thiers ihn fragend und erwartungsvoll anblickte, „wenige Tage vor dem 2. December in sein Cabinet in dem Palais Elysée rufen und unterhielt sich eingehend und anscheinend mit großer Offenheit mit mir über die damalige Lage Frankreichs. Er betonte die Notwendigkeit, in die unmittelbare Nähe von Paris diejenigen Truppen zu bringen, welche der Republik am sichersten und ergebenden seien, da möglicher Weise Unruhen entstehen könnten, welche im Stande sein möchten, die Freiheit der Verhandlungen der Nationalversammlung zu beeinträchtigen. — Auf einem Tische in der Mitte seines Zimmers lag eine große Karte von Frankreich ausgebreitet, auf welcher mit langen Nadeln, welche die Bezeichnungen der verschiedenen Regimenter auf kleinen Tafeln trugen, die Standquartiere der einzelnen Truppentheile angegeben waren. Der Präsident ersuchte mich, durch diese Nadeln die Truppendislocationen anzugeben, welche ich für erforderlich und zweckmäßig hielt. Ich that dies und stellte die Zeichen aller derjenigen Regimenter, deren Führer und deren Soldaten ich als der Verfassung und der Republik am meisten ergeben kannte, in die Garnisonen in der unmittelbaren Umgebung von Paris. — Der Präsident, welcher aufmerksam zugesehen hatte, sagte mir, daß er die erforderlichen Befehle zu diesen Dislocationen sofort ertheilen lassen wolle, und wir trennten uns in der freundlichen Weise. Er hatte auf diese Weise,“ fuhr der General fort, „nur die der Republik ergebenen Regimenter erkennen wollen, denn unmittelbar, nachdem ich ihn verlassen, ließ er diejenigen Truppentheile, deren Zeichen ich um Paris gesteckt hatte, durch heimliche und schnelle Befehle nach den entferntesten Grenzen von Frankreich abmarschiren und umgab Paris mit lauter Generalen und Truppen, die ihm blind ergeben waren. — Wenige Tage darauf wurde ich dann in meinem Bett verhaftet und der Staatsstreich ohne Widerstand durchgeführt.“

Herr Thiers lächelte.

„Ich muß gestehen,“ sagte er, „daß dies nicht eins der ungeschicktesten Manöver dieses Herrn Napoleon war. — Man hat sich überhaupt in ihm getäuscht. — Nun mag dem sein, wie ihm wolle, will er sich bekehren, will er in Frankreich gut regieren — und ich werde mich nicht nach den Worten, sondern nach den Thaten richten — so muß man ihn doch unterstützen. Für Sie würde das übrigens viel leichter sein,“ fuhr er fort, „ein General kann bei den Diensten, die er seinem Vaterlande leistet, viel mehr von der Person des zeitweiligen Herrschers absehen, als ein Minister. Auf dem Schlachtfelde handelt es sich doch immer mehr um die Ehre und um den Ruhm Frankreichs, als um dieses oder jenes politische System.“

„Auf dem Schlachtfelde,“ sagte der General achselzuckend, „davon wird wohl lange nicht bei uns die Rede sein. Wir haben unsere Kräfte in wahnsinnigen und fruchtlosen Expeditionen vergeudet, und da, wo unsere Interessen und unsere Ehre uns wirklich geboten zu schlagen, haben wir in muthloser und schwankender Unthätigkeit zugesehen, wie man ohne uns das europäische Gleichgewicht veränderte.“

„Das ist richtig,“ sagte Herr Thiers ernst, „aber der Fehler, den die Regierung begangen hat, wird sich rächen, und zwar rächen durch einen Krieg, der um so gewaltiger und erschütternder sein wird, je mehr man ihn zur Zeit, da er vernünftiger Weise geboten war, unterlassen hat. Die Regierung des Kaisers,“ fuhr er fort, indem er die Arme unter einander schlug und ein wenig in dem Ton eines politischen Vortrages weiter sprach, „die Regierung des Kaisers hat uns in einen sehr bedenklichen Zustand versetzt. Es war eine Regierung ohne Regel und ohne Ordnung. Der Brief des Kaisers an den Herzog von Augustenburg hat Dänemark, unsern Alliirten, getödtet und Europa zu gleicher Zeit der Willkür der Gewalt Preis gegeben. Von jener Epoche an datirt all unser Unglück. Der Krieg ist unvermeidlich. Zwei große Kräfte wie Frankreich und Preußen können nicht immer, bis an die Zähne bewaffnet, mit unter einander geschlagenen Armen einer der andern gegenüber stehen, das muß einmal zum Ausbruch kommen. — Wann aber? — Ich weiß es nicht und Niemand weiß es. — Preußen wird nichts nachgeben, gar nichts, es wird keine Concessionen machen, glauben Sie es ja, und dann wird endlich der Augenblick kommen, in welchem die französische Regierung, sie möge heißen, wie sie wolle, durch Aufwallen des Nationalzorns zum Handeln gedrängt werden wird. — Die einzige Macht, welche durch eine kräftige Vermittlung den Conflict zu verhindern im Stande sein könnte, ist England; doch glaube ich nicht an solch eine Vermittlung. Lord Clarendon wird einzelne Versuche machen, aber er wird nichts Ernstes thun und namentlich seinen Worten keinen thätigen Nachdruck geben. Er ist sehr vorsichtig und sehr wenig geneigt zu energischen Maßregeln.

„Freilich,“ sprach er weiter, „wird es in einem solchen Augenblicke nicht allein auf tüchtige Generale, sondern auch auf Staatsmänner ankommen, welche Kraft und Energie besitzen und zugleich durch ihren Charakter der Nation Vertrauen einflößen.

„Unser guter Freund Daru, den ich sehr hoch schätze, würde vielleicht kaum einer so großartigen Action gewachsen sein, wie die Zukunft sie uns auferlegen muß. Ich sehe überhaupt nach dem Tode von Walewsky, welcher ein ehrlicher Mann war, unter Denen, welche dem Kaiser näher stehen, nur Drouyn de L'huys, der einer solchen Aufgabe gewachsen sein könnte. — Ich glaube auch, daß er noch in sehr nahen Beziehungen zum Kaiser steht, aber er muß sehr unzufrieden sein mit dem Gang der auswärtigen Politik, welche nach seinen Ideen im Jahre 1866 eine ganz andere Richtung hätte nehmen müssen.“

Herr Thiers hatte die letzten Worte mehr zu sich selber, als zum General Changarnier gesprochen. Seine Stimme war immer leiser geworden, er blickte, wie seinen Gedanken folgend, einige Augenblicke schweigend zu Boden.

Die übrige Gesellschaft hatte sich allmälig ebenfalls mehr und mehr nach dem zweiten Salon hingezogen, nachdem Herr Thiers seinen Schlummer beendet und wieder an der Unterhaltung Theil zu nehmen begonnen.

Herr Mignet trat heran und begrüßte den Hausherrn mit ehrerbietiger Herzlichkeit.

„Man erzählt mir,“ sagte er, „daß Sie sich mit einem großen Werk über die Philosophie der Geschichte beschäftigen — der Inhalt wird für jeden Historiker von großem Interesse sein. Wird die literarische Welt bald Etwas davon zu sehen bekommen?“

„Das wird davon abhängen,“ sagte Herr Thiers lächelnd, „wie bald ich mein Leben und damit meine Thätigkeit beenden werde, denn ich bin entschlossen, die Kritik dieses Werkes, das bald beendet ist, nicht lebend über mich ergehen zu lassen, und dasselbe erst dann dem Publikum zu übergeben, wenn ich selbst der Beurtheilung der irdischen Welt entzogen sein werde. Denn,“ fuhr er fort, „ich will in diesem Werk über sehr viele Dinge ganz ohne alle Rücksicht die Wahrheit sagen, und das könnte mir vielleicht viele Feinde machen, mit denen ich mich in der friedlichen Muße meines Lebensabends nicht mehr zu streiten Neigung habe. Ich glaube,“ fuhr er fort, „daß die gegenwärtige Welt einen gewissen Mangel an gesundem Menschenverstand besitzt. Da ich nun sehr lange gelebt und sehr Vieles gesehen und gelernt habe, so will ich über Alles das meine Meinung sagen, gerade so, als ob ich einen Sohn hätte, dem ich in einem Testament meine letzten Rathschläge ertheile, um die reichen Erfahrungen meines Lebens für ihn nützlich zu machen. Der Himmel hat mir Kinder versagt,“ sagte er mit einem wehmüthig freundlichen Lächeln, — „so will ich denn ganz Frankreich und die ganze gebildete Welt als meinen Sohn betrachten. Vielleicht kann ich dadurch noch nach meinem Tode ein wenig nützlich sein. Gedulden Sie also Ihre Neugier noch kurze Zeit, denn ich werde ja wahrscheinlich nur noch kurze Zeit zu leben haben.“

„Herr Graf Daru!“ rief der Kammerdiener.

Herr Thiers ging seinem alten Bekannten, welcher jetzt das Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten inne hatte, mit kurzen, raschen Schritten bis an die Schwelle des ersten Salons entgegen, indem er ihm freundlich die Hand hinstreckte.

Der Graf Napoleon Daru, der Sohn des bekannten Großwürdenträgers des ersten Kaisers, welcher später mit der Julimonarchie innig liirt gewesen und lange Zeit von jeder politischen Thätigkeit fern geblieben war, mochte damals fast sechzig Jahre alt sein. Er war eine kalte, vornehme Erscheinung von würdevoller, etwas steifer Haltung, sein ernstes Gesicht mit dem grauen Haar trug den Ausdruck höflicher Zurückhaltung, in seinen Zügen verband sich eine gewisse militairische Steifheit mit der selbstständigen Abgeschlossenheit des Gelehrten, der durch strenge theoretische Studien sich über alle ihm vorkommenden Dinge ein philosophisches Urtheil zu bilden gewohnt ist.

Nachdem Graf Daru mit den Damen eine kurze Unterhaltung geführt hatte, bei welcher eine gewisse Préoccupation auf seinem Gesichte bemerkbar war, wandte er sich wieder zu Herrn Thiers, der ihn lächelnd fragte.

„Darf man, ohne indiscret zu sein, sich erkundigen, wie die auswärtigen Angelegenheiten unseres Kaiserreichs sich befinden?“

„Die auswärtigen Angelegenheiten befinden sich vortrefflich,“ erwiderte der Minister mit seiner klaren, etwas scharfen Stimme. „Ich wollte,“ fügte er hinzu, „daß ich dasselbe von den innern Angelegenheiten sagen könnte.“

Ein wenig erstaunt blickte Herr Thiers auf.

„Nun,“ sagte er, „wir haben soeben noch über die innern Angelegenheiten gesprochen, und ich bin zu dem Resultat gekommen, daß, obwohl ich keine persönliche Sympathie für dieses zweite Kaiserreich haben kann, ich dennoch anerkennen muß, wie die neue Aera der innern Politik allen Anforderungen entspricht, die man vernünftiger Weise machen kann, und der beste Beweis scheint mir darin zu liegen, daß Sie, mein verehrter Freund, gegenwärtig Mitglied des Ministeriums des Kaisers sind. Ist der Weg, auf dem man sich befindet, ein richtiger, so wird man ja über einzelne kleine Schwierigkeiten leicht hinwegkommen.“

„Vorausgesetzt, daß man diesen Weg verfolgt“, erwiderte der Graf, „und daß man nicht ebenso viele Schritte zurückthut, als man voran gegangen ist.“

„Wie so?“ fragte Herr Thiers, der aufmerksam zu werden begann.

„Es wird ja doch morgen bekannt werden,“ sagte der Graf Daru, — „also begehe ich kaum eine Indiscretion, wenn ich Ihnen mittheile, daß der Kaiser soeben einen Brief an Ollivier geschrieben hat, in welchem er ihm sagt, daß er ein Plebiscit für nöthig halte, um die von dem Senat und Gesetzgebenden Körper genehmigte Veränderung der Verfassung des Kaiserreichs nunmehr zu sanctioniren. Die frühere Verfassung sei durch den allgemeinen Volkswillen festgestellt und es müsse derselbe daher auch den gegenwärtigen Abänderungen derselben seine definitive Zustimmung geben.“

„Und was sagt Ollivier?“ fragte Herr Thiers sehr ernst, während die übrige Gesellschaft näher herantrat und mit Spannung dem Gespräch folgte.

„Ollivier,“ erwiderte Graf Daru, „hat sich vollkommen die Ideen des Kaisers angeeignet und findet die Berufung auf das Plebiscit vollkommen natürlich. Ich meinerseits,“ fuhr er mit einer gewissen Bitterkeit fort, „sehe darin nur die Rückkehr zu dem Grundsatz, daß das persönliche Regiment, auf den Willen der Masse gestützt, sich von Neuem über die Verfassung und über das Votum der legalen Repräsentanten der Nation zu stellen beabsichtigt. Wo ist überhaupt noch eine Sicherheit für die öffentlichen Zustände, wenn Alles, was geschieht, jedesmal von einem solchen Plebiscit abhängig gemacht werden soll, das ja im Grunde doch nur eine Komödie ist und gegenüber einer starken Regierung immer nach deren Ansichten ausfallen wird, da ja Diejenigen, welche nicht zustimmen mögen, sich nicht den bedenklichen Folgen eines negativen Votums auszusetzen Lust haben werden.“

„Das ist ein eigenthümlicher Schachzug,“ sagte Herr Thiers nachdenklich. „Aber ich möchte Sie doch noch einmal fragen, mein lieber Freund, wie steht es mit der auswärtigen Politik, denn dieses Plebiscit scheint mir mehr im Zusammenhang damit zu stehen, als mit den innern Verhältnissen. Wie stehen Sie mit Preußen?“

„Kalt und mißtrauisch,“ erwiderte Graf Daru, „aber es liegt auch durchaus keine Veranlassung zu irgend einer Differenz vor, da von beiden Seiten die Erörterung aller Punkte, welche dahin führen könnten, sorgfältig vermieden wird. Man hat von englischer Seite versucht, auf eine gegenseitige Verminderung der militairischen Rüstungen hin zu wirken, doch natürlich vergeblich — in Berlin hat man selbst die bloße Erörterung dieses Punktes ziemlich kurz zurückgewiesen.“

„Und Sie,“ fragte Herr Thiers, indem er mit einem listigen Blick zu Graf Daru hinaussah, „werden doch wahrscheinlich auch nicht geneigt sein, die Militairmacht Frankreichs ernstlich zu vermindern?“

„Wir können es nicht,“ erwiderte Graf Daru, „so lange von anderer Seite nicht der Anfang gemacht wird.“

„Das alte Wechselspiel,“ sagte Herr Thiers, „Jeder will, daß der Andere zuerst abrüsten soll. Ich muß Ihnen sagen,“ fuhr er fort, „daß mir das Alles sehr bedenklich erscheint. Sehen Sie die Geschichte an, namentlich die neuere und neueste Geschichte, so werden Sie immer finden, daß, sobald die Frage der militairischen Abrüstung zwischen zwei Mächten ernsthaft discutirt wird, jedesmal bald darauf ein Krieg folgt. Halte ich dies mit dem in Aussicht genommenen Plebiscit zusammen, so muß ich darauf zurückkommen, was ich vorhin sagte —“

Er wandte sich zu dem General Changarnier — „Daß nämlich unser tapfrer Freund hier doch noch Gelegenheit finden könnte, seinen Degen im Dienste Frankreichs zu ziehen. Glauben Sie mir,“ fuhr er fort, „ich habe für so Etwas einen gewissen Scharfblick, — dies Plebiscit ist der Vorläufer einer auswärtigen Action. Der nächste Schritt,“ sprach er weiter, „den England thun muß, wenn seine Vermittlung wegen der Abrüstung keinen Erfolg hat — den Schritt, dem sich schließlich ganz Europa wird anschließen müssen, muß der sein, dem Kaiser zu sagen: 'Sie haben nicht das Recht, die Welt in ewiger Unruhe zu erhalten, Sie haben den Krieg fortwährend wie eine unausgesetzte Drohung in der Hand gehalten, und doch keine Gelegenheit benutzt, die sich darbot, um eine energische Klärung der Situation herbeizuführen. Das Alles muß endigen, entscheiden Sie sich Krieg zu führen, oder erklären Sie offen, daß Sie rückhaltslos den Frieden wollen, und handeln Sie danach; die gegenwärtige Situation ist für ganz Europa unerträglich —‘“

Er hielt inne und fragte abbrechend:

„Und welche Haltung wollen Sie diesem Plebiscit gegenüber einnehmen, welches Ollivier bereits acceptirt hat?“

„Ich habe erst flüchtig darüber mit den mir gleich gesinnten Collegen sprechen können,“ erwiderte Graf Daru, „es ist eine schwierige Situation, die man uns da geschaffen. Das Plebiscit hat eine große Popularität bei den Massen, und sich demselben widersetzen, würde uns fast als die Vertreter reactionairer Grundsätze vor den Augen der öffentlichen Meinung hinstellen! Doch müssen wir nach meiner Ueberzeugung auf der andern Seite auch einer fortwährenden Appellation von den gewählten Repräsentanten an das Volk selbst ernstlich entgegentreten.“

„So machen Sie doch,“ sagte Herr Thiers, „die Bedingung, daß das Plebiscit nur von der Regierung in Gemeinschaft mit dem Senat und dem Gesetzgeben-Körper ausgeschrieben werden dürfe. Dann hat die Sache doch wenigstens einen gewissen Sinn und stellt die Kammern nicht als Nullen zwischen den Kaiser und die Volksmasse.“

„Das ist eine vortreffliche Idee!“ rief Graf Daru, und, indem er den Arm des Herrn Thiers nahm, zog er sich mit diesem in eine Ecke des Salons zurück und vertiefte sich mit ihm in ein langes und eifriges Gespräch.

Die Unterhaltungen der übrigen Gruppen waren ebenfalls eifriger und lebhafter geworden. Man besprach die Idee des Plebiscits von allen Seiten, und im Ganzen fand dasselbe bei allen hier Anwesenden nur Mißbilligung. — Sie Alle waren Vertreter der constitutionellen Doctrin und fühlten sehr wohl, daß derselben vollständig die Spitze abgebrochen würde, wenn die Regierung der Kammermajorität gegenüber fortwährend die Waffe der Appellation an das allgemeine Volksstimmrecht in der Hand behielt.

Nach einiger Zeit hatte Herr Thiers sein Gespräch mit dem Grafen Daru beendigt, — er näherte sich seiner Gemahlin, — diese gab Fräulein Dosne einen Wink.

Beide Damen standen auf und legten ihre Arbeit zusammen. Dies war das Zeichen für die Gesellschaft, daß der Empfang beendet und daß für Herrn Thiers, welcher seine Gesundheit und Rüstigkeit durch eine ungemein strenge Zeiteinteilung so vortrefflich zu conserviren verstanden, nunmehr die Stunde gekommen sei, zu welcher er gewohnt war, sich zurückzuziehen, um nach einem kurzen Ueberblick über die Arbeit und die Ereignisse des Tages den Schlaf zu suchen, welcher ihm bis in sein hohes Alter hinein ein treuer Freund geblieben war.

Die Gesellschaft empfahl sich und bald erlöschten die Lichter in dem kleinen Hotel an der Place de St. George.


Ende des ersten Bandes.

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Tag der Veröffentlichung: 28.05.2008

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