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Inhaltsverzeichnis

Vorwort
Sprüche und Pfeile
Das Problem des Sokrates
Die "Vernunft" in der Philosophie
Wie die "wahre Welt" endlich zur Fabel wurde
Moral als Widernatur
Die vier grossen Irrthümer
Die "Verbesserer" der Menschheit
Was den Deutschen abgeht
Streifzüge eines Unzeitgemässen
Was ich den Alten verdanke
Der Hammer redet


Vorwort.

Inmitten einer düstern und über die Maassen verantwortlichen
Sache seine Heiterkeit aufrecht erhalten ist nichts Kleines von -
Kunststück: und doch, was wäre nöthiger als Heiterkeit? Kein Ding
geräth, an dem nicht der Übermuth seinen Theil hat. Das Zuviel von
Kraft erst ist der Beweis der Kraft. - Eine Umwerthung aller Werthe,
dies Fragezeichen so schwarz, so ungeheuer, dass es Schatten auf Den
wirft, der es setzt - ein solches Schicksal von Aufgabe zwingt jeden
Augenblick, in die Sonne zu laufen, einen schweren, allzuschwer
gewordnen Ernst von sich zu schütteln. Jedes Mittel ist dazu recht,
jeder "Fall" ein Glücksfall. Vor Allem der Krieg. Der Krieg war immer
die grosse Klugheit aller zu innerlich, zu tief gewordnen Geister;
selbst in der Verwundung liegt noch Heilkraft. Ein Spruch, dessen
Herkunft ich der gelehrten Neugierde vorenthalte, war seit langem mein
Wahlspruch:

increscunt animi, virescit volnere virtus.

Eine andere Genesung, unter Umständen mir noch erwünschter, ist Götzen
aushorchen... Es giebt mehr Götzen als Realitäten in der Welt: das ist
mein "böser Blick" für diese Welt, das ist auch mein "böses Ohr"...
Hier einmal mit dem Hammer Fragen stellen und, vielleicht, als Antwort
jenen berühmten hohlen Ton hören, der von geblähten Eingeweiden redet
- welches Entzücken für Einen, der Ohren noch hinter den Ohren hat, -
für mich alten Psychologen und Rattenfänger, vor dem gerade Das, was
still bleiben möchte, laut werden muss...

Auch diese Schrift - der Titel verräth es - ist vor Allem eine
Erholung, ein Sonnenfleck, ein Seitensprung in den Müssiggang eines
Psychologen. Vielleicht auch ein neuer Krieg? Und werden neue Götzen
ausgehorcht?... Diese kleine Schrift ist eine grosse Kriegserklärung;
und was das Aushorchen von Götzen anbetrifft, so sind es dies Mal
keine Zeitgötzen, sondern ewige Götzen, an die hier mit dem Hammer wie
mit einer Stimmgabel gerührt wird, - es giebt überhaupt keine älteren,
keine überzeugteren, keine aufgeblaseneren Götzen... Auch keine
hohleren... Das hindert nicht, dass sie die geglaubtesten sind; auch
sagt man, zumal im vornehmsten Falle, durchaus nicht Götze...

Turin, am 30. September 1888,
am Tage, da das Buch der Umwerthung
aller Werthe zu Ende kam.

FRIEDRICH NIETZSCHE.


Sprüche und Pfeile.

1.

Müssiggang ist aller Psychologie Anfang. Wie? wäre Psychologie ein -
Laster?


2.

Auch der Muthigste von uns hat nur selten den Muth zu dem, was er
eigentlich weiss...


3.

Um allein zu leben, muss man ein Thier oder ein Gott sein -
sagt Aristoteles. Fehlt der dritte Fall: man muss Beides sein -
Philosoph...


4.

"Alle Wahrheit ist einfach." - Ist das nicht zwiefach eine Lüge? -


5.

Ich will, ein für alle Mal, Vieles nicht wissen. - Die Weisheit zieht
auch der Erkenntniss Grenzen.


6.

Man erholt sich in seiner wilden Natur am besten von seiner Unnatur,
von seiner Geistigkeit...


7.

Wie? ist der Mensch nur ein Fehlgriff Gottes? Oder Gott nur ein
Fehlgriff des Menschen? -


8.

Aus der Kriegsschule des Lebens. - Was mich nicht umbringt, macht mich
stärker.


9.

Hilf dir selber: dann hilft dir noch Jedermann. Princip der
Nächstenliebe.


10.

Dass man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! dass man
sie nicht hinterdrein im Stiche lässt! - Der Gewissensbiss ist
unanständig.


11.

Kann ein Esel tragisch sein? - Dass man unter einer Last zu Grunde
geht, die man weder tragen, noch abwerfen kann?... Der Fall des
Philosophen.


12.

Hat man sein warum? des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem
wie? - Der Mensch strebt nicht nach Glück; nur der Engländer thut das.


13.

Der Mann hat das Weib geschaffen - woraus doch? Aus einer Rippe seines
Gottes, - seines "Ideals"...


14.

Was? du suchst? du möchtest dich verzehnfachen, verhundertfachen? du
suchst Anhänger? - Suche Nullen.


15.

Posthume Menschen - ich zum Beispiel - werden schlechter verstanden
als zeitgemässe, aber besser gehört. Strenger: wir werden nie
verstanden - und daher unsre Autorität...


16.

Unter Frauen. - "Die Wahrheit? Oh Sie kennen die Wahrheit nicht! Ist
sie nicht ein Attentat auf alle unsre pudeurs?" -


17.

Das ist ein Künstler, wie ich Künstler liebe, bescheiden in seinen
Bedürfnissen: er will eigentlich nur Zweierlei, sein Brod und seine
Kunst, - panem et Circen...


18.

Wer seinen Willen nicht in die Dinge zu legen weiss, der legt
wenigstens einen Sinn noch hinein: das heisst, er glaubt, dass ein
Wille bereits darin sei (Princip des "Glaubens").


19.

Wie? ihr wähltet die Tugend und den gehobenen Busen und seht zugleich
scheel nach den Vortheilen der Unbedenklichen? - Aber mit der Tugend
verzichtet man auf "Vortheile"... (einem Antisemiten an die Hausthür.)


20.

Das vollkommene Weib begeht Litteratur, wie es eine kleine Sünde
begeht: zum Versuch, im Vorübergehn, sich umblickend, ob es Jemand
bemerkt und dass es Jemand bemerkt...


21.

Sich in lauter Lagen begeben, wo man keine Scheintugenden haben darf,
wo man vielmehr, wie der Seiltänzer auf seinem Seile, entweder stürzt
oder steht - oder davon kommt...


22.

"Böse Menschen haben keine Lieder." - Wie kommt es, dass die Russen
Lieder haben?


23.

"Deutscher Geist": seit achtzehn Jahren eine contradictio in adjecto.


24.

Damit, dass man nach den Anfängen sucht, wird man Krebs. Der
Historiker sieht rückwärts; endlich glaubt er auch rückwärts.


25.

Zufriedenheit schützt selbst vor Erkältung. Hat je sich ein Weib, das
sich gut bekleidet wusste, erkältet? - Ich setze den Fall, das es kaum
bekleidet war.


26.

Ich misstraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der
Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.


27.

Man hält das Weib für tief - warum? weil man nie bei ihm auf den Grund
kommt. Das Weib ist noch nicht einmal flach.


28.

Wenn das Weib männliche Tugenden hat, so ist es zum Davonlaufen; und
wenn es keine männlichen Tugenden hat, so läuft es selbst davon.


29.

"Wie viel hatte ehemals das Gewissen zu beissen? welche guten Zähne
hatte es? - Und heute? woran fehlt es?" - Frage eines Zahnarztes.


30.

Man begeht selten eine Übereilung allein. In der ersten Übereilung
thut man immer zu viel. Eben darum begeht man gewöhnlich noch eine
zweite - und nunmehr thut man zu wenig...


31.

Der getretene Wurm krümmt sich. So ist es klug. Er verringert damit
die Wahrscheinlichkeit, von Neuem getreten zu werden. In der Sprache
der Moral: Demuth. -


32.

Es giebt einen Hass auf Lüge und Verstellung aus einem reizbaren
Ehrbegriff; es giebt einen ebensolchen Hass aus Feigheit, insofern
die Lüge, durch ein göttliches Gebot, verboten ist. Zu feige, um zu
lügen...


33.

Wie wenig gehört zum Glücke! Der Ton eines Dudelsacks. - Ohne Musik
wäre das Leben ein Irrthum. Der Deutsche denkt sich selbst Gott
liedersingend.


34.

On ne peut penser et écrire qu'assis (G. Flaubert). - Damit habe
ich dich, Nihilist! Das Sitzfleisch ist gerade die Sünde wider den
heiligen Geist. Nur die ergangenen Gedanken haben Werth.


35.

Es giebt Fälle, wo wir wie Pferde sind, wir Psychologen, und in
Unruhe gerathen: wir sehen unsren eignen Schatten vor uns auf und
niederschwanken. Der Psychologe muss von sich absehn, um überhaupt zu
sehn.


36.

Ob wir Immoralisten der Tugend Schaden thun? - Eben so wenig, als
die Anarchisten den Fürsten. Erst seitdem diese angeschossen werden,
sitzen sie wieder fest auf ihrem Thron. Moral: man muss die Moral
anschiessen.


37.

Du läufst voran? - Thust du das als Hirt? oder als Ausnahme? Ein
dritter Fall wäre der Entlaufene... Erste Gewissensfrage.


38.

Bist du echt? oder nur ein Schauspieler? Ein Vertreter? oder das
Vertretene selbst? - Zuletzt bist du gar bloss ein nachgemachter
Schauspieler... Zweite Gewissensfrage.


39.

Der Enttäuschte spricht. - Ich suchte nach grossen Menschen, ich fand
immer nur die Affen ihres Ideals.


40.

Bist du Einer, der zusieht? oder der Hand anlegt? - oder der wegsieht,
bei Seite geht?... Dritte Gewissensfrage.


41.

Willst du mitgehn? oder vorangehn? oder für dich gehn?... Man muss
wissen, was man will und dass man will. Vierte Gewissensfrage.


42.

Das waren Stufen für mich ich bin über sie hinaufgestiegen, - dazu
musste ich über sie hinweg. Aber sie meinten, ich wollte mich auf
ihnen zur Ruhe setzen...


43.

Was liegt daran, das ich Recht behalte! Ich habe zu viel Recht. - Und
wer heute am besten lacht, lacht auch zuletzt.


44.

Formel meines Glücks: ein Ja, ein Nein, eine gerade Linie ein Ziel...


Das Problem des Sokrates.

1.

Über das Leben haben zu allen Zeiten die Weisesten gleich geurtheilt:
es taugt nichts... Immer und überall hat man aus ihrem Munde denselben
Klang gehört, - einen Klang voll Zweifel, voll Schwermuth, voll
Müdigkeit am Leben, voll Widerstand gegen das Leben. Selbst Sokrates
sagte, als er starb: "leben - das heisst lange krank sein: ich bin
dem Heilande Asklepios einen Hahn schuldig." Selbst Sokrates hatte es
satt. - Was beweist das? Worauf weist das? - Ehemals hätte man gesagt
(- oh man hat es gesagt und laut genug und unsre Pessimisten voran!):
"Hier muss jedenfalls Etwas wahr sein! Der consensus sapientium
beweist die Wahrheit." - Werden wir heute noch so reden? Dürfen wir
das? "Hier muss jedenfalls Etwas krank sein" - geben wir zur Antwort:
diese Weisesten aller Zeiten, man sollte sie sich erst aus der Nähe
ansehn! Waren sie vielleicht allesammt auf den Beinen nicht mehr fest?
spät? wackelig? décadents? Erschiene die Weisheit vielleicht auf Erden
als Rabe, den ein kleiner Geruch von Aas begeistert?...


2.

Mir selbst ist diese Unehrerbietigkeit, dass die grossen Weisen
Niedergangs-Typen sind, zuerst gerade in einem Falle aufgegangen, wo
ihr am stärksten das gelehrte und ungelehrte Vorurtheil entgegensteht:
ich erkannte Sokrates und Plato als Verfalls-Symptome, als Werkzeuge
der griechischen Auflösung, als pseudogriechisch, als antigriechisch
("Geburt der Tragödie" 1872), jener consensus sapientium - das begriff
ich immer besser - beweist am wenigsten, dass sie Recht mit dem
hatten, worüber sie übereinstimmten: er beweist vielmehr, dass sie
selbst, diese Weisesten, irgend worin physiologisch übereinstimmten,
um auf gleiche Weise negativ zum Leben zu stehn, - stehn zu müssen.
Urtheile, Werthurtheile über das Leben, für oder wider, können zuletzt
niemals wahr sein: sie haben nur Werth als Symptome, sie kommen nur
als Symptome in Betracht, - an sich sind solche Urtheile Dummheiten.
Man muss durchaus seine Finger darnach ausstrecken und den Versuch
machen, diese erstaunliche finesse zu fassen, dass der Werth des
Lebens nicht abgeschätzt werden kann. Von einem Lebenden nicht, weil
ein solcher Partei, ja sogar Streitobjekt ist und nicht Richter;
von einem Todten nicht, aus einem andren Grunde. - Von Seiten eines
Philosophen im Werth des Lebens ein Problem sehn bleibt dergestalt
sogar ein Einwurf gegen ihn, ein Fragezeichen an seiner Weisheit, eine
Unweisheit. - Wie? und alle diese grossen Weisen - sie wären nicht nur
décadents, sie wären nicht einmal weise gewesen? - Aber ich komme auf
das Problem des Sokrates zurück.


3.

Sokrates gehörte, seiner Herkunft nach, zum niedersten Volk: Sokrates
war Pöbel. Man weiss, man sieht es selbst noch, wie hässlich er war.
Aber Hässlichkeit, an sich ein Einwand, ist unter Griechen beinahe
eine Widerlegung. War Sokrates überhaupt ein Grieche? Die Hässlichkeit
ist häufig genug der Ausdruck einer gekreuzten, durch Kreuzung
gehemmten Entwicklung. Im andren Falle erscheint sie als niedergehende
Entwicklung.

Die Anthropologen unter den Criminalisten sagen uns, dass der typische
Verbrecher hässlich ist: monstrum in fronte, monstrum in animo.
Aber der Verbrecher ist ein décadent. War Sokrates ein typischer
Verbrecher? - Zum Mindesten widerspräche dem jenes berühmte
Physiognomen-Urtheil nicht, das den Freunden des Sokrates so anstössig
klang. Ein Ausländer, der sich auf Gesichter verstand, sagte, als er
durch Athen kam, dem Sokrates in's Gesicht, er sei ein monstrum, -
er berge alle schlimmen Laster und Begierden in sich. Und Sokrates
antwortete bloss: "Sie kennen mich, mein Herr!" -


4.

Auf décadence bei Sokrates deutet nicht nur die zugestandne
Wüstheit und Anarchie in den Instinkten: eben dahin deutet auch die
Superfötation des Logischen und jene Rhachitiker-Bosheit, die ihn
auszeichnet. Vergessen wir auch jene Gehörs-Hallucinationen nicht,
die, als "Dämonion des Sokrates", in's Religiöse interpretirt worden
sind. Alles ist übertrieben, buffo, Karikatur an ihm, Alles ist
zugleich versteckt, hintergedanklich, unterirdisch. - Ich suche zu
begreifen, aus welcher Idiosynkrasie jene sokratische Gleichsetzung
von Vernunft = Tugend = Glück stammt: jene bizarrste Gleichsetzung,
die es giebt und die in Sonderheit alle Instinkte des älteren Hellenen
gegen sich hat.


5.

Mit Sokrates schlägt der griechische Geschmack zu Gunsten der
Dialektik um: was geschieht da eigentlich? Vor Allem wird damit
ein vornehmer Geschmack besiegt; der Pöbel kommt mit der Dialektik
obenauf. Vor Sokrates lehnte man in der guten Gesellschaft die
dialektischen Manieren ab: sie galten als schlechte Manieren, sie
stellten bloss. Man warnte die Jugend vor ihnen. Auch misstraute man
allein solchen Präsentiren seiner Gründe. Honnette Dinge tragen,
wie honnette Menschen, ihre Gründe nicht so in der Hand. Es ist
unanständig, alle fünf Finger zeigen. Was sich erst beweisen lassen
muss, ist wenig werth. Überall, wo noch die Autorität zur guten
Sitte gehört, wo man nicht "begründet", sondern befiehlt, ist der
Dialektiker eine Art Hanswurst: man lacht über ihn, man nimmt ihn
nicht ernst. - Sokrates war der Hanswurst, der sich ernst nehmen
machte: was geschah da eigentlich? -


6.

Man wählt die Dialektik nur, wenn man kein andres Mittel hat. Man
weiss, dass man Misstrauen mit ihr erregt, dass sie wenig überredet.
Nichts ist leichter wegzuwischen als ein Dialektiker-Effekt: die
Erfahrung jeder Versammlung, wo geredet wird, beweist das. Sie kann
nur Nothwehr sein, in den Händen Solcher, die keine andren Waffen mehr
haben. Man muss sein Recht zu erzwingen haben: eher macht man keinen
Gebrauch von ihr. Die Juden waren deshalb Dialektiker; Reinecke Fuchs
war es: wie? und Sokrates war es auch? -


7.

- Ist die Ironie des Sokrates ein Ausdruck von Revolte? von
Pöbel-Ressentiment? geniesst er als Unterdrückter seine eigne
Ferocität in den Messerstichen des Syllogismus? Rächt er sich an
den Vornehmen, die er fascinirt? - Man hat, als Dialektiker, ein
schonungsloses Werkzeug in der Hand; man kann mit ihm den Tyrannen
machen; man stellt bloss, indem man siegt. Der Dialektiker überlässt
seinem Gegner den Nachweis, kein Idiot zu sein: er macht wüthend, er
macht zugleich hülflos. Der Dialektiker depotenzirt den Intellekt
seines Gegners. - Wie? ist Dialektik nur eine Form der Rache bei
Sokrates?


8.

Ich habe zu verstehn gegeben, womit Sokrates abstossen konnte: es
bleibt um so mehr zu erklären, dass er fascinirte. - Dass er eine
neue Art Agon entdeckte, dass er der erste Fechtmeister davon für die
vornehmen Kreise Athen's war, ist das Eine. Er fascinirte, indem er an
den agonalen Trieb der Hellenen rührte, - er brachte eine Variante in
den Ringkampf zwischen jungen Männern und Jünglingen. Sokrates war
auch ein grosser Erotiker.


9.

Aber Sokrates errieth noch mehr. Er sah hinter seine vornehmen
Athener; er begriff, dass sein Fall, seine Idiosynkrasie von Fall
bereits kein Ausnahmefall war. Die gleiche Art von Degenerescenz
bereitete sich überall im Stillen vor: das alte Athen gieng zu Ende. -
Und Sokrates verstand, dass alle Welt ihn nöthig hatte, - sein Mittel,
seine Kur, seinen Personal-Kunstgriff der Selbst-Erhaltung... Überall
waren die Instinkte in Anarchie; überall war man fünf Schritt weit vom
Excess: das monstrum in animo war die allgemeine Gefahr. "Die Triebe
wollen den Tyrannen machen; man muss einen Gegentyrannen erfinden, der
stärker ist"... Als jener Physiognomiker dem Sokrates enthüllt hatte,
wer er war, eine Höhle aller schlimmen Begierden, liess der grosse
Ironiker noch ein Wort verlauten, das den Schlüssel zu ihm giebt.
"Dies ist wahr, sagte er, aber ich wurde über alle Herr." Wie wurde
Sokrates über sich Herr? - Sein Fall war im Grunde nur der extreme
Fall, nur der in die Augen springendste von dem, was damals die
allgemeine Noth zu werden anfieng: dass Niemand mehr über sich Herr
war, dass die Instinkte sich gegen einander wendeten. Er fascinirte
als dieser extreme Fall - seine furchteinflössende Hässlichkeit sprach
ihn für jedes Auge aus: er fascinirte, wie sich von selbst versteht,
noch stärker als Antwort, als Lösung, als Anschein der Kur dieses
Falls. -


10.

Wenn man nöthig hat, aus der Vernunft einen Tyrannen zu machen, wie
Sokrates es that, so muss die Gefahr nicht klein sein, dass etwas
Andres den Tyrannen macht. Die Vernünftigkeit wurde damals errathen
als Retterin, es stand weder Sokrates, noch seinen "Kranken" frei,
vernünftig zu sein, - es war de rigueur, es war ihr letztes Mittel.
Der Fanatismus, mit dem sich das ganze griechische Nachdenken
auf die Vernünftigkeit wirft, verräth eine Nothlage: man war in
Gefahr, man hatte nur Eine Wahl: entweder zu Grunde zu gehn oder
- absurd-vernünftig zu sein... Der Moralismus der griechischen
Philosophen von Plato ab ist pathologisch bedingt; ebenso ihre
Schätzung der Dialektik. Vernunft = Tugend = Glück heisst bloss: man
muss es dem Sokrates nachmachen und gegen die dunklen Begehrungen ein
Tageslicht in Permanenz herstellen - das Tageslicht der Vernunft. Man
muss klug, klar, hell um jeden Preis sein: jedes Nachgeben an die
Instinkte, an's Unbewusste führt hinab...


11.

Ich habe zu verstehn gegeben, womit Sokrates fascinirte: er schien
ein Arzt, ein Heiland zu sein. Ist es nöthig, noch den Irrthum
aufzuzeigen, der in seinem Glauben an die "Vernünftigkeit um jeden
Preis" lag? - Es ist ein Selbstbetrug seitens der Philosophen und
Moralisten, damit schon aus der décadence herauszutreten, dass sie
gegen dieselbe Krieg machen. Das Heraustreten steht ausserhalb ihrer
Kraft: was sie als Mittel, als Rettung wählen, ist selbst nur wieder
ein Ausdruck der décadence - sie verändern deren Ausdruck, sie
schaffen sie selbst nicht weg. Sokrates war ein Missverständniss;
die ganze Besserungs-Moral, auch die christliche, war ein
Missverständniss... Das grellste Tageslicht, die Vernünftigkeit um
jeden Preis, das Leben hell, kalt, vorsichtig, bewusst, ohne Instinkt,
im Widerstand gegen Instinkte war selbst nur eine Krankheit, eine
andre Krankheit - und durchaus kein Rückweg zur "Tugend", zur
"Gesundheit", zum Glück... Die Instinkte bekämpfen müssen - das ist
die Formel für décadence: so lange das Leben aufsteigt, ist Glück
gleich Instinkt. -


12.

- Hat er das selbst noch begriffen, dieser Klügste aller
Selbstüberlister? Sagte er sich das zuletzt, in der Weisheit seines
Muthes zum Tode?... Sokrates wollte sterben: - nicht Athen, er gab
sich den Giftbecher, er zwang Athen zum Giftbecher... Sokrates ist
kein Arzt sprach er leise zu sich: "der Tod allein ist hier Arzt...
Sokrates selbst war nur lange krank..."


Die "Vernunft" in der Philosophie.

1.

Sie fragen mich, was Alles Idiosynkrasie bei den Philosophen ist?...
Zum Beispiel ihr Mangel an historischem Sinn, ihr Hass gegen die
Vorstellung selbst des Werdens, ihr Ägypticismus. Sie glauben
einer Sache eine Ehre anzuthun, wenn sie dieselbe enthistorisiren,
sub specie aetemi, - wenn sie aus ihr eine Mumie machen. Alles,
was Philosophen seit Jahrtausenden gehandhabt haben, waren
Begriffs-Mumien; es kam nichts Wirkliches lebendig aus ihren Händen.
Sie tödten, sie stopfen aus, diese Herren Begriffs-Götzendiener, wenn
sie anbeten, - sie werden Allem lebensgefährlich, wenn sie anbeten.
Der Tod, der Wandel, das Alter ebensogut als Zeugung und Wachsthum
sind für sie Einwände, - Widerlegungen sogar. Was ist, wird nicht; was
wird ist nicht... Nun glauben sie Alle, mit Verzweiflung sogar, an's
Seiende. Da sie aber dessen nicht habhaft werden, suchen sie nach
Gründen, weshalb man's ihnen vorenthält. "Es muss ein Schein, eine
Betrügerei dabei sein, dass wir das Seiende nicht wahrnehmen: wo
steckt der Betrüger?" - "Wir haben ihn, schreien sie glückselig, die
Sinnlichkeit ist's! Diese Sinne, die auch sonst so unmoralisch sind,
sie betrügen uns über die wahre Welt. Moral: loskommen von dem
Sinnentrug, vom Werden, von der Historie, von der Lüge, - Historie ist
nichts als Glaube an die Sinne, Glaube an die Lüge. Moral: Neinsagen
zu Allem, was den Sinnen Glauben schenkt, zum ganzen Rest der
Menschheit: das ist Alles `Volk`. Philosoph sein, Mumie sein, den
Monotono-Theismus durch eine Todtengräber-Mimik darstellen! - Und
weg vor Allem mit dem Leibe, dieser erbarmungswürdigen idée fixe der
Sinne! behaftet mit allen Fehlern der Logik, die es giebt, widerlegt,
unmöglich sogar, ob er schon frech genug ist, sich als wirklich zu
gebärden!"...


2.

Ich nehme, mit hoher Ehrerbietung, den Namen Heraklit's bei Seite.
Wenn das andre Philosophen-Volk das Zeugniss der Sinne verwarf, weil
dieselben Vielheit und Veränderung zeigten, verwarf er deren Zeugniss,
weil sie die Dinge zeigten, als ob sie Dauer und Einheit hätten. Auch
Heraklit that den Sinnen Unrecht. Dieselben lügen weder in der Art,
wie die Eleaten es glauben, noch wie er es glaubte, - sie lügen
überhaupt nicht. Was wir aus ihrem Zeugniss machen, das legt erst
die Lüge hinein, zum Beispiel die Lüge der Einheit, die Lüge der
Dinglichkeit, der Substanz, der Dauer... Die "Vernunft" ist die
Ursache, dass wir das Zeugniss der Sinne fälschen. Sofern die Sinne
das Werden, das Vergehn, den Wechsel zeigen, lügen sie nicht... Aber
damit wird Heraklit ewig Recht behalten, dass das Sein eine leere
Fiktion ist. Die "scheinbare" Welt ist die einzige: die wahre Welt ist
nur hinzugelogen...


3.

- Und was für feine Werkzeuge der Beobachtung haben wir an unsren
Sinnen! Diese Nase zum Beispiel, von der noch kein Philosoph mit
Verehrung und Dankbarkeit gesprochen hat, ist sogar einstweilen das
delikateste Instrument, das uns zu Gebote steht: es vermag noch
Minimaldifferenzen der Bewegung zu constatiren, die selbst das
Spektroskop nicht constatirt. Wir besitzen heute genau so weit
Wissenschaft, als wir uns entschlossen haben, das Zeugniss der Sinne
anzunehmen, - als wir sie noch schärfen, bewaffnen, zu Ende denken
lernten. Der Rest ist Missgeburt und Noch-nicht-Wissenschaft: will
sagen Metaphysik, Theologie, Psychologie, Erkenntnisstheorie. Oder
Formal-Wissenschaft, Zeichenlehre: wie die Logik und jene angewandte
Logik, die Mathematik. In ihnen kommt die Wirklichkeit gar nicht vor,
nicht einmal als Problem; ebensowenig als die Frage, welchen Werth
überhaupt eine solche Zeichen-Convention, wie die Logik ist, hat. -


4.

Die andre Idiosynkrasie der Philosophen ist nicht weniger gefährlich:
sie besteht darin, das Letzte und das Erste zu verwechseln. Sie setzen
Das, was am Ende kommt - leider! denn es sollte gar nicht kommen! -
die "höchsten Begriffe", das heisst die allgemeinsten, die leersten
Begriffe, den letzten Rauch der verdunstenden Realität an den Anfang
als Anfang. Es ist dies wieder nur der Ausdruck ihrer Art zu verehren:
das Höhere darf nicht aus dem Niederen wachsen, darf überhaupt nicht
gewachsen sein... Moral: Alles, was ersten Ranges ist, muss causa
sui sein. Die Herkunft aus etwas Anderem gilt als Einwand, als
Werth-Anzweifelung. Alle obersten Werthe sind ersten Ranges, alle
höchsten Begriffe, das Seiende, das Unbedingte, das Gute, das Wahre,
das Vollkommne - das Alles kann nicht geworden sein, muss folglich
causa sui sein. Das Alles aber kann auch nicht einander ungleich, kann
nicht mit sich im Widerspruch sein... Damit haben sie ihren stupenden
Begriff "Gott"... Das Letzte, Dünnste, Leerste wird als Erstes
gesetzt, als Ursache an sich, als ens realissimum... Dass die
Menschheit die Gehirnleiden kranker Spinneweber hat ernst nehmen
müssen! - Und sie hat theuer dafür gezahlt!...


5.

- Stellen wir endlich dagegen, auf welche verschiedne Art wir (-
ich sage höflicher Weise wir... ) das Problem des Irrthums und der
Scheinbarkeit in's Auge fassen. Ehemals nahm man die Veränderung,
den Wechsel, das Werden überhaupt als Beweis für Scheinbarkeit, als
Zeichen dafür, dass Etwas da sein müsse, das uns irre führe. Heute
umgekehrt sehen wir, genau so weit als das Vernunft-Vorurtheil uns
zwingt, Einheit, Identität, Dauer, Substanz, Ursache, Dinglichkeit,
Sein anzusetzen, uns gewissermaassen verstrickt in den Irrthum,
necessitirt zum Irrthum; so sicher wir auf Grund einer strengen
Nachrechnung bei uns darüber sind, dass hier der Irrthum ist. Es steht
damit nicht anders als mit den Bewegungen des grossen Gestirns: bei
ihnen hat der Irrthum unser Auge, hier hat er unsre Sprache zum
beständigen Anwalt. Die Sprache gehört ihrer Entstehung nach in die
Zeit der rudimentärsten Form von Psychologie: wir kommen in ein
grobes Fetischwesen hinein, wenn wir uns die Grundvoraussetzungen der
Sprach-Metaphysik, auf deutsch: der Vernunft, zum Bewusstsein bringen.
Das sieht überall Thäter und Thun: das glaubt an Willen als Ursache
überhaupt; das glaubt an's "Ich", an's Ich als Sein, an's Ich als
Substanz und projicirt den Glauben an die Ich-Substanz auf alle Dinge
- es schafft erst damit den Begriff "Ding"... Das Sein wird überall
als Ursache hineingedacht, untergeschoben; aus der Conception "Ich"
folgt erst, als abgeleitet, der Begriff "Sein"... Am Anfang steht das
grosse Verhängniss von Irrthum, dass der Wille Etwas ist, das wirkt,
- dass Wille ein Vermögen ist... Heute wissen wir, dass er bloss ein
Wort ist... Sehr viel später, in einer tausendfach aufgeklärteren Welt
kam die Sicherheit, die subjektive Gewissheit in der Handhabung der
Vemunft-Kategorien den Philosophen mit Überraschung zum Bewusstsein:
sie schlossen, dass dieselben nicht aus der Empirie stammen könnten,
- die ganze Empirie stehe ja zu ihnen in Widerspruch. Woher also
stammen sie? - Und in Indien wie in Griechenland hat man den gleichen
Fehlgriff gemacht: "wir müssen schon einmal in einer höheren Welt
heimisch gewesen sein (- statt in einer sehr viel niederen: was die
Wahrheit gewesen wäre!), wir müssen göttlich gewesen sein, denn wir
haben die Vernunft!"... In der That, Nichts hat bisher eine naivere
Überredungskraft gehabt als der Irrthum vom Sein, wie er zum Beispiel
von den Eleaten formulirt wurde: er hat ja jedes Wort für sich,
jeden Satz für sich, den wir sprechen! - Auch die Gegner der Eleaten
unterlagen noch der Verführung ihres Seins-Begriffs: Demokrit unter
Anderen, als er sein Atom erfand... Die "Vernunft" in der Sprache: oh
was für eine alte betrügerische Weibsperson! Ich fürchte, wir werden
Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben...


6.

Man wird mir dankbar sein, wenn ich eine so wesentliche, so neue
Einsicht in vier Thesen zusammendränge: ich erleichtere damit das
Verstehen, ich fordere damit den Widerspruch heraus.

Erster Satz. Die Gründe, darauf hin "diese" Welt als scheinbar
bezeichnet worden ist, begründen vielmehr deren Realität, - eine andre
Art Realität ist absolut unnachweisbar.

Zweiter Satz. Die Kennzeichen, welche man dem "wahren Sein" der Dinge
gegeben hat, sind die Kennzeichen des Nicht Seins, des Nichts, -
man hat die "wahre Welt" aus dem Widerspruch zur wirklichen Welt
aufgebaut: eine scheinbare Welt in der That, insofern sie bloss eine
moralisch-optische Täuschung ist.

Dritter Satz. Von einer "andren" Welt als dieser zu fabeln hat gar
keinen Sinn, vorausgesetzt, dass nicht ein Instinkt der Verleumdung,
Verkleinerung, Verdächtigung des Lebens in uns mächtig ist: im
letzteren Falle rächen wir uns am Leben mit der Phantasmagorie eines
"anderen", eines "besseren" Lebens.

Vierter Satz. Die Welt scheiden in eine "wahre" und eine "scheinbare",
sei es in der Art des Christenthums, sei es in der Art Kant's (eines
hinterlistigen Christen zu guterletzt) ist nur eine Suggestion der
décadence, - ein Symptom niedergehenden Lebens... Dass der Künstler
den Schein höher schätzt als die Realität, ist kein Einwand gegen
diesen Satz. Denn "der Schein" bedeutet hier die Realität noch einmal,
nur in einer Auswahl, Verstärkung, Correctur... Der tragische Künstler
ist kein Pessimist, - er sagt gerade Ja zu allem Fragwürdigen und
Furchtbaren selbst, er ist dionysisch...


Wie die "wahre Welt" endlich zur Fabel wurde.

Geschichte eines Irrthums.

1. Die wahre Welt erreichbar für den Weisen, den Frommen, den
Tugendhaften, - er lebt in ihr, er ist sie.

(Älteste Form der Idee, relativ klug, simpel, überzeugend.
Umschreibung des Satzes "ich, Plato, bin die Wahrheit".)

2. Die wahre Welt, unerreichbar für jetzt, aber versprochen für den
Weisen, den Frommen, den Tugendhaften ("für den Sünder, der Busse
thut").

(Fortschritt der Idee: sie wird feiner, verfänglicher, unfasslicher, -
sie wird Weib, sie wird christlich... )

3. Die wahre Welt, unerreichbar, unbeweisbar, unversprechbar, aber
schon als gedacht ein Trost, eine Verpflichtung, ein Imperativ.

(Die alte Sonne im Grunde, aber durch Nebel und Skepsis hindurch; die
Idee sublim geworden, bleich, nordisch, königsbergisch.)

4. Die wahre Welt - unerreichbar? jedenfalls unerreicht. Und als
unerreicht auch unbekannt. Folglich auch nicht tröstend, erlösend,
verpflichtend: wozu könnte uns etwas Unbekanntes verpflichten?...

(Grauer Morgen. Erstes Gähnen der Vernunft. Hahnenschrei des
Positivismus.)

5. Die "wahre Welt" - eine Idee, die zu Nichts mehr nütz ist, nicht
einmal mehr verpflichtend, - eine unnütz, eine überflüssig gewordene
Idee, folglich eine widerlegte Idee: schaffen wir sie ab!

(Heller Tag; Frühstück; Rückkehr des bon sens und der Heiterkeit;
Schamröthe Plato's; Teufelslärm aller freien Geister.)

6. Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die
scheinbare vielleicht?... Aber nein! mit der wahren Welt haben wir
auch die scheinbare abgeschafft!

(Mittag; Augenblick des kürzesten Schattens; Ende des längsten
Irrthums; Höhepunkt der Menschheit; INCIPIT ZARATHUSTRA.)


Moral als Widernatur.

1.

Alle Passionen haben eine Zeit, wo sie bloss verhängnissvoll sind, wo
sie mit der Schwere der Dummheit ihr Opfer hinunterziehen - und eine
spätere, sehr viel spätere, wo sie sich mit dem Geist verheirathen,
sich "vergeistigen". Ehemals machte man, wegen der Dummheit in der
Passion, der Passion selbst den Krieg: man verschwor sich zu deren
Vernichtung, - alle alten Moral-Unthiere sind einmüthig darüber "il
faut tuer les passions." Die berühmteste Formel dafür steht im neuen
Testament, in jener Bergpredigt, wo, anbei gesagt, die Dinge durchaus
nicht aus der Höhe betrachtet werden. Es wird daselbst zum Beispiel
mit Nutzanwendung auf die Geschlechtlichkeit gesagt "wenn dich dein
Auge ärgert, so reisse es aus": zum Glück handelt kein Christ nach
dieser Vorschrift. Die Leidenschaften und Begierden vernichten,
bloss um ihrer Dummheit und den unangenehmen Folgen ihrer Dummheit
vorzubeugen, erscheint uns heute selbst bloss als eine akute Form der
Dummheit. Wir bewundern die Zahnärzte nicht mehr, welche die Zähne
ausreissen, damit sie nicht mehr weh thun... Mit einiger Billigkeit
werde andrerseits zugestanden, dass auf dem Boden, aus dem das
Christenthum gewachsen ist, der Begriff "Vergeistigung der Passion"
gar nicht concipirt werden konnte. Die erste Kirche kämpfte ja, wie
bekannt, gegen die "Intelligenten" zu Gunsten der "Armen des Geistes":
wie dürfte man von ihr einen intelligenten Krieg gegen die Passion
erwarten? - Die Kirche bekämpft die Leidenschaft mit Ausschneidung in
jedem Sinne: ihre Praktik, ihre "Kur" ist der Castratismus. Sie fragt
nie: "wie vergeistigt, verschönt, vergöttlicht man eine Begierde?" -
sie hat zu allen Zeiten den Nachdruck der Disciplin auf die Ausrottung
(der Sinnlichkeit, des Stolzes, der Herrschsucht, der Habsucht, der
Rachsucht) gelegt. - Aber die Leidenschaften an der Wurzel angreifen
heisst das Leben an der Wurzel angreifen: die Praxis der Kirche ist
lebensfeindlich...


2.

Dasselbe Mittel, Verschneidung, Ausrottung, wird instinktiv im Kampfe
mit einer Begierde von Denen gewählt, welche zu willensschwach,
zu degenerirt sind, um sich ein Maass in ihr auflegen zu können:
von jenen Naturen, die la Trappe nöthig haben, im Gleidiniss
gesprochen (und ohne Gleichniss -), irgend eine endgültige
Feindschafts-Erklärung, eine Kluft zwischen sich und einer Passion.
Die radikalen Mittel sind nur den Degenerirten unentbehrlich; die
Schwäche des Willens, bestinunter geredet, die Unfähigkeit, auf
einen Reiz nicht zu reagiren, ist selbst bloss eine andre Form der
Degenerescenz. Die radikale Feindschaft, die Todfeindschaft gegen
die Sinnlichkeit bleibt ein nachdenkliches Symptom: man ist damit zu
Vermuthungen über den Gesammt-Zustand eines dergestalt Excessiven
berechtigt. - Jene Feindschaft, jener Hass kommt übrigens erst auf
seine Spitze, wenn solche Naturen selbst zur Radikal-Kur, zur Absage
von ihrem "Teufel" nicht mehr Festigkeit genug haben. Man überschaue
die ganze Geschichte der Priester und Philosophen, der Künstler
hinzugenommen: das Giftigste gegen die Sinne ist nicht von den
Impotenten gesagt, auch nicht von den Asketen, sondern von den
unmöglichen Asketen, von Solchen, die es nöthig gehabt hätten, Asketen
zu sein...


3.

Die Vergeistigung der Sinnlichkeit heisst Liebe: sie ist ein
grosser Triumph über das Christenthum. Ein andrer Triumph ist unsre
Vergeistigung der Feindschaft. Sie besteht darin, dass man tief den
Werth begreift, den es hat, Feinde zu haben: kurz, dass man umgekehrt
thut und schliesst als man ehedem that und schloss. Die Kirche wollte
zu allen Zeiten die Vernichtung ihrer Feinde: wir, wir Immoralisten
und Antichristen, sehen unsern Vortheil darin, dass die Kirche
besteht... Auch im Politischen ist die Feindschaft jetzt geistiger
geworden, - viel klüger, viel nachdenklicher, viel schonender. Fast
jede Partei begreift ihr Selbsterhaltungs-Interesse darin, dass die
Gegenpartei nicht von Kräften kommt; dasselbe gilt von der grossen
Politik. Eine neue Schöpfung zumal, etwa das neue Reich, hat Feinde
nöthiger als Freunde: im Gegensatz erst fühlt es sich nothwendig,
im Gegensatz wird es erst nothwendig... Nicht anders verhalten wir
uns gegen den "inneren Feind": auch da haben wir die Feindschaft
vergeistigt, auch da haben wir ihren Werth begriffen. Man ist nur
fruchtbar um den Preis, an Gegensätzen reich zu sein; man bleibt nur
jung unter der Voraussetzung, dass die Seele nicht sich streckt, nicht
nach Frieden begehrt... Nichts ist uns fremder geworden als jene
Wünschbarkeit von Ehedem, die vom "Frieden der Seele", die christliche
Wünschbarkeit; Nichts macht uns weniger Neid als die Moral-Kuh und
das fette Glück des guten Gewissens. Man hat auf das grosse Leben
verzichtet, wenn man auf den Krieg verzichtet... In vielen Fällen
freilich ist der "Frieden der Seele" bloss ein Missverständniss, -
etwas Anderes, das sich nur nicht ehrlicher zu benennen weiss. Ohne
Umschweif und Vorurtheil ein paar Fälle. "Frieden der Seele" kann
zum Beispiel die sanfte Ausstrahlung einer reichen Animalität in's
Moralische (oder Religiöse) sein. Oder der Anfang der Müdigkeit,
der erste Schatten, den der Abend, jede Art Abend wirft. Oder ein
Zeichen davon, dass die Luft feucht ist, dass Südwinde herankommen.
Oder die Dankbarkeit wider Wissen für eine glückliche Verdauung
("Menschenliebe" mitunter genannt). Oder das Stille-werden des
Genesenden, dem alle Dinge neu schmecken und der wartet... Oder
der Zustand, der einer starken Befriedigung unsrer herrschenden
Leidenschaft folgt, das Wohlgefühl einer seltnen Sattheit. Oder die
Altersschwäche unsres Willens, unsrer Begehrungen, unsrer Laster. Oder
die Faulheit, von der Eitelkeit überredet, sich moralisch aufzuputzen.
Oder der Eintritt einer Gewissheit, selbst furchtbaren Gewissheit,
nach einer langen Spannung und Marterung durch die Ungewissheit. Oder
der Ausdruck der Reife und Meisterschaft mitten im Thun, Schaffen,
Wirken, Wollen, das ruhige Athmen, die erreichte "Freiheit des
Willens"... Götzen-Dämmerung: wer weiss? vielleicht auch nur eine Art
"Frieden der Seele"...


4.

- Ich bringe ein Princip in Formel. Jeder Naturalismus in der Moral,
das heisst jede gesunde Moral ist von einem Instinkte des Lebens
beherrscht, - irgend ein Gebot des Lebens wird mit einem bestimmten
Kanon von "Soll" und "Soll nicht" erfüllt, irgend eine Hemmung und
Feindseligkeit auf dem Wege des Lebens wird damit bei Seite geschafft.
Die widernatürliche Moral, das heisst fast jede Moral, die bisher
gelehrt, verehrt und gepredigt worden ist, wendet sich umgekehrt
gerade gegen die Instinkte des Lebens, - sie ist eine bald heimliche,
bald laute und freche Verurtheilung dieser Instinkte. Indem sie sagt
"Gott sieht das Herz an", sagt sie Nein zu den untersten und obersten
Begehrungen des Lebens und nimmt Gott als Feind des Lebens... Der
Heilige, an dem Gott sein Wohlgefallen hat, ist der ideale Castrat...
Das Leben ist zu Ende, wo das "Reich Gottes" anfängt...


5.

Gesetzt, dass man das Frevelhafte einer solchen Auflehnung gegen
das Leben begriffen hat, wie sie in der christlichen Moral beinahe
sakrosankt geworden ist, so hat man damit, zum Glück, auch Etwas
Andres begriffen: das Nutzlose, Scheinbare, Absurde, Lügnerische einer
solchen Auflehnung. Eine Verurtheilung des Lebens von Seiten des
Lebenden bleibt zuletzt doch nur das Symptom einer bestimmten Art von
Leben: die Frage, ob mit Recht, ob mit Unrecht, ist gar nicht damit
aufgeworfen. Man müsste eine Stellung ausserhalb des Lebens haben, und
andrerseits es so gut kennen, wie Einer, wie Viele, wie Alle, die es
gelebt haben, um das Problem vom Werth des Lebens überhaupt anrühren
zu dürfen: Gründe genug, um zu begreifen, dass das Problem ein für
uns unzugängliches Problem ist. Wenn wir von Werthen reden, reden wir
unter der Inspiration, unter der Optik des Lebens: das Leben selbst
zwingt uns Werthe anzusetzen, das Leben selbst werthet durch uns, wenn
wir Werthe ansetzen... Daraus folgt, dass auch jene Widernatur von
Moral, welche Gott als Gegenbegriff und Verurtheilung des Lebens
fasst, nur ein Werthurtheil des Lebens ist - welches Lebens? Welcher
Art von Leben? - Aber ich gab schon die Antwort: des niedergehenden,
des geschwächten, des müden, des verurtheilten Lebens. Moral, wie sie
bisher verstanden worden ist - wie sie zuletzt noch von Schopenhauer
formulirt wurde als "Verneinung des Willens zum Leben" - ist der
décadence-Instinkt selbst, der aus sich einen Imperativ macht: sie
sagt: "geh zu Grunde" sie ist das Urtheil Verurtheilter...


6.

Erwägen wir endlich noch, welche Naivetät es überhaupt ist, zu sagen
"so und so sollte der Mensch sein!" Die Wirklichkeit zeigt uns
einen entzückenden Reichthum der Typen, die Üppigkeit eines
verschwenderischen Formenspiels und -Wechsels: und irgend ein
armseliger Eckensteher von Moralist sagt dazu: "nein! der Mensch
sollte anders sein"?... Er weiss es sogar, wie er sein sollte, dieser
Schlucker und Mucker, er malt sich an die Wand und sagt dazu "ecce
homo!"... Aber selbst wenn der Moralist sich bloss an den Einzelnen
wendet und zu ihm sagt: "so und so solltest du sein!" hört er nicht
auf, sich lächerlich zu machen. Der Einzelne ist ein Stück fatum, von
Vorne und von Hinten, ein Gesetz mehr, eine Nothwendigkeit mehr für
Alles, was kommt und sein wird. Zu ihm sagen "ändere dich" heisst
verlangen, dass Alles sich ändert, sogar rückwärts noch... Und
wirklich, es gab consequente Moralisten, sie wollten den Menschen
anders, nämlich tugendhaft, sie wollten ihn nach ihrem Bilde, nämlich
als Mucker: dazu verneinten sie die Welt! Keine kleine Tollheit!
Keine bescheidne Art der Unbescheidenheit!... Die Moral, insofern sie
verurtheilt, an sich, nicht aus Hinsichten, Rücksichten, Absichten des
Lebens, ist ein spezifischer Irrthum, mit dem man kein Mitleiden haben
soll, eine Degenerirten-Idiosynkrasie, die unsäglich viel Schaden
gestiftet hat!... Wir Anderen, wir Immoralisten, haben umgekehrt unser
Herz weit gemacht für alle Art Verstehn, Begreifen, Gutheissen. Wir
verneinen nicht leicht, wir suchen unsre Ehre darin, Bejahende zu
sein. Immer mehr ist uns das Auge für jene Ökonomie aufgegangen,
welche alles Das noch braucht und auszunützen weiss, was der heilige
Aberwitz des Priesters, der kranken Vernunft im Priester verwirft, für
jene Ökonomie im Gesetz des Lebens, die selbst aus der widerlichen
species des Muckers, des Priesters, des Tugendhaften ihren Vortheil
zieht, - welchen Vortheil? - Aber wir selbst, wir Immoralisten sind
hier die Antwort... -


Die vier grossen Irrthümer.

1.

Irrthum der Verwechslung von Ursache und Folge. - Es giebt keinen
gefährlicheren Irrthum als die Folge mit der Ursache zu verwechseln:
ich heisse ihn die eigentliche Verderbniss der Vernunft. Trotzdem
gehört dieser Irrthum zu den ältesten und jüngsten Gewohnheiten der
Menschheit: er ist selbst unter uns geheiligt, er trägt den Namen
"Religion", "Moral". Jeder Satz, den die Religion und die Moral
formulirt, enthält ihn; Priester und Moral-Gesetzgeber sind die
Urheber jener Verderbniss der Vernunft. - Ich nehme ein Beispiel:
Jedermann kennt das Buch des berühmten Cornaro, in dem er seine
schmale Diät als Recept zu einem langen und glücklichen Leben - auch
tugendhaften - anräth. Wenige Bücher sind so viel gelesen worden, noch
jetzt wird es in England jährlich in vielen Tausenden von Exemplaren
gedruckt. Ich zweifle nicht daran, dass kaum ein Buch (die Bibel, wie
billig, ausgenommen) so viel Unheil gestiftet, so viele Leben verkürzt
hat wie dies so wohlgemeinte Curiosum. Grund dafür: die Verwechslung
der Folge mit der Ursache. Der biedere Italiäner sah in seiner Diät
die Ursache seines langen Lebens: während die Vorbedingung zum langen
Leben, die ausserordentliche Langsamkeit des Stoffwechsels, der
geringe Verbrauch, die Ursache seiner schmalen Diät war. Es stand
ihm nicht frei, wenig oder viel zu essen, seine Frugalität war nicht
ein "freier Wille": er wurde krank, wenn er mehr ass. Wer aber kein
Karpfen ist, thut nicht nur gut, sondern hat es nöthig, ordentlich
zu essen. Ein Gelehrter unsrer Tage, mit seinem rapiden Verbrauch an
Nervenkraft, würde sich mit dem régime Cornaro's zu Grunde richten.
Crede experto. -


2.

Die allgemeinste Formel, die jeder Religion und Moral zu Grunde liegt,
heisst: "Thue das und das, lass das und das - so wirst du glücklich!
Im andern Falle..." Jede Moral, jede Religion ist dieser Imperativ,
- ich nenne ihn die grosse Erbsünde der Vernunft, die unsterbliche
Unvernunft. In meinem Munde verwandelt sich jene Formel in ihre
Umkehrung - erstes Beispiel meiner "Umwerthung aller Werthe": ein
wohlgerathener Mensch, ein "Glücklicher", muss gewisse Handlungen
thun und scheut sich instinktiv vor anderen Handlungen, er trägt die
Ordnung, die er physiologisch darstellt, in seine Beziehungen zu
Menschen und Dingen hinein. In Formel: seine Tugend ist die Folge
seines Glücks... Langes Leben, eine reiche Nachkommenschaft ist nicht
der Lohn der Tugend, die Tugend ist vielmehr selbst jene Verlangsamung
des Stoffwechsels, die, unter Anderem, auch ein langes Leben, eine
reiche Nachkommenschaft, kurz den Cornarismus im Gefolge hat. - Die
Kirche und die Moral sagen: "ein Geschlecht, ein Volk wird durch
Laster und Luxus zu Grunde gerichtet." Meine wiederhergestellte
Vernunft sagt: wenn ein Volk zu Grunde geht, physiologisch degenerirt,
so folgen daraus Laster und Luxus (das heisst das Bedürfniss nach
immer stärkeren und häufigeren Reizen, wie sie jede erschöpfte Natur
kennt). Dieser junge Mann wird frühzeitig blass und welk. Seine
Freunde sagen: daran ist die und die Krankheit schuld. Ich sage: dass
er krank wurde, dass er der Krankheit nicht widerstand, war bereits
die Folge eines verarmten Lebens, einer hereditären Erschöpfung. Der
Zeitungsleser sagt: diese Partei richtet sich mit einem solchen Fehler
zu Grunde. Meine höhere Politik sagt: eine Partei, die solche Fehler
macht, ist am Ende - sie hat ihre Instinkt-Sicherheit nicht mehr.
Jeder Fehler in jedem Sinne ist die Folge von Instinkt-Entartung, von
Disgregation des Willens: man definirt beinahe damit das Schlechte.
Alles Gute ist Instinkt - und, folglich, leicht, nothwendig, frei. Die
Mühsal ist ein Einwand, der Gott ist typisch vom Helden unterschieden
(in meiner Sprache: die leichten Füsse das erste Attribut der
Göttlichkeit).


3.

Irrthum einer falschen Ursächlichkeit. - Man hat zu allen Zeiten
geglaubt, zu wissen, was eine Ursache ist: aber woher nahmen wir unser
Wissen, genauer, unsern Glauben, hier zu wissen? Aus dem Bereich
der berühmten "inneren Thatsachen", von denen bisher keine sich als
thatsächlich erwiesen hat. Wir glaubten uns selbst im Akt des Willens
ursächlich; wir meinten da wenigstens die Ursächlichkeit auf der
That zu ertappen. Man zweifelte insgleichen nicht daran, dass alle
antecedentia einer Handlung, ihre Ursachen, im Bewusstsein zu suchen
seien und darin sich wiederfänden, wenn man sie suche - als "Motive":
man wäre ja sonst zu ihr nicht frei, für sie nicht verantwortlich
gewesen. Endlich, wer hätte bestritten, dass ein Gedanke verursacht
wird? dass das Ich den Gedanken verursacht?... Von diesen drei
"inneren Thatsachen", mit denen sich die Ursächlichkeit zu verbürgen
schien, ist die erste und überzeugendste die vom Willen als Ursache;
die Conception eines Bewusstseins ("Geistes") als Ursache und später
noch die des Ich (des "Subjekts") als Ursache sind bloss nachgeboren,
nachdem vom Willen die Ursächlichkeit als gegeben feststand, als
Empirie... Inzwischen haben wir uns besser besonnen. Wir glauben heute
kein Wort mehr von dem Allen. Die "innere Welt" ist voller Trugbilder
und Irrlichter: der Wille ist eins von ihnen. Der Wille bewegt nichts
mehr, erklärt folglich auch nichts mehr - er begleitet bloss Vorgänge,
er kann auch fehlen. Das sogenannte "Motiv": ein andrer Irrthum. Bloss
ein Oberflächenphänomen des Bewusstseins, ein Nebenher der That,
das eher noch die antecedentia einer That verdeckt, als dass es sie
darstellt. Und gar das Ich! Das ist zur Fabel geworden, zur Fiktion,
zum Wortspiel: das hat ganz und gar aufgehört, zu denken, zu fühlen
und zu wollen!... Was folgt daraus? Es giebt gar keine geistigen
Ursachen! Die ganze angebliche Empirie dafür gieng zum Teufel! Das
folgt daraus! - Und wir hatten einen artigen Missbrauch mit jener
"Empirie" getrieben, wir hatten die Welt daraufhin geschaffen als
eine Ursachen-Welt, als eine Willens-Welt, als eine Geister-Welt. Die
älteste und längste Psychologie war hier am Werk, sie hat gar nichts
Anderes gethan: alles Geschehen war ihr ein Thun, alles Thun Folge
eines Willens, die Welt wurde ihr eine Vielheit von Thätern, ein
Thäter (ein "Subjekt") schob sich allem Geschehen unter. Der Mensch
hat seine drei "inneren Thatsachen", Das, woran er am festesten
glaubte, den Willen, den Geist, das Ich, aus sich herausprojicirt, -
er nahm erst den Begriff Sein aus dem Begriff Ich heraus, er hat die
"Dinge" als seiend gesetzt nach seinem Bilde, nach seinem Begriff des
Ichs als Ursache. Was Wunder, dass er später in den Dingen immer nur
wiederfand, was er in sie gesteckt hatte?- Das Ding selbst, nochmals
gesagt, der Begriff Ding, ein Reflex bloss vom Glauben an's Ich als
Ursache... Und selbst noch Ihr Atom, meine Herren Mechanisten und
Physiker, wie viel Irrthum, wie viel rudimentäre Psychologie ist noch
in Ihrem Atom rückständig! - Gar nicht zu reden vom "Ding an sich",
vom horrendum pudendum der Metaphysiker! Der Irrthum vom Geist als
Ursache mit der Realität verwechselt! Und zum Maass der Realität
gemacht! Und Gott genannt! -


4.

Irrthum der imaginären Ursachen. - Vom Traume auszugehn: einer
bestimmten Empfindung, zum Beispiel in Folge eines fernen
Kanonenschusses, wird nachträglich eine Ursache untergeschoben (oft
ein ganzer kleiner Roman, in dem gerade der Träumende die Hauptperson
ist). Die Empfindung dauert inzwischen fort, in einer Art von
Resonanz: sie wartet gleichsam, bis der Ursachentrieb ihr erlaubt, in
den Vordergrund zu treten, - nunmehr nicht mehr als Zufall, sondern
als "Sinn". Der Kanonenschuss tritt in einer causalen Weise auf, in
einer anscheinenden Umkehrung der Zeit. Das Spätere, die Motivirung,
wird zuerst erlebt, oft mit hundert Einzelnheiten, die wie im Blitz
vorübergehn, der Schuss folgt... Was ist geschehen? Die Vorstellungen,
welche ein gewisses Befinden erzeugte, wurden als Ursache desselben
missverstanden. - Thatsächlich machen wir es im Wachen ebenso.
Unsre meisten Allgemeingefühle - jede Art Hemmung, Druck, Spannung,
Explosion im Spiel und Gegenspiel der Organe, wie in Sonderheit der
Zustand des nervus sympathicus - erregen unsern Ursachentrieb: wir
wollen einen Grund haben, uns so und so zu befinden, - uns schlecht zu
befinden oder gut zu befinden. Es genügt uns niemals, einfach bloss
die Thatsache, dass wir uns so und so befinden, festzustellen: wir
lassen diese Thatsache erst zu, - werden ihrer bewusst -, wenn wir ihr
eine Art Motivirung gegeben haben. - Die Erinnerung, die in solchem
Falle, ohne unser Wissen, in Thätigkeit tritt, führt frühere Zustände
gleicher Art und die damit verwachsenen Causal-Interpretationen
herauf, - nicht deren Ursächlichkeit. Der Glaube freilich, dass die
Vorstellungen, die begleitenden Bewusstseins-Vorgänge die Ursachen
gewesen seien, wird durch die Erinnerung auch mit heraufgebracht. So
entsteht eine Gewöhnung an eine bestimmte Ursachen-Interpretation,
die in Wahrheit eine Erforschung der Ursache hemmt und selbst
ausschliesst.


5.

Psychologische Erklärung dazu. - Etwas Unbekanntes auf etwas Bekanntes
zurückführen, erleichtert, beruhigt, befriedigt, giebt ausserdem ein
Gefühl von Macht. Mit dem Unbekannten ist die Gefahr, die Unruhe,
die Sorge gegeben, - der erste Instinkt geht dahin, diese peinlichen
Zustände wegzuschaffen. Erster Grundsatz: irgend eine Erklärung ist
besser als keine. Weil es sich im Grunde nur um ein Loswerdenwollen
drückender Vorstellungen handelt, nimmt man es nicht gerade streng mit
den Mitteln, sie loszuwerden: die erste Vorstellung, mit der sich das
Unbekannte als bekannt erklärt, thut so wohl, dass man sie "für wahr
hält". Beweis der Lust ("der Kraft") als Criterium der Wahrheit. - Der
Ursachen-Trieb ist also bedingt und erregt durch das Furchtgefühl.
Das "Warum?" soll, wenn irgend möglich, nicht sowohl die Ursache um
ihrer selber willen geben, als vielmehr eine Art von Ursache - eine
beruhigende, befreiende, erleichternde Ursache. Dass etwas schon
Bekanntes, Erlebtes, in die Erinnerung Eingeschriebenes als Ursache
angesetzt wird, ist die erste Folge dieses Bedürfnisses. Das Neue, das
Unerlebte, das Fremde wird als Ursache ausgeschlossen. - Es wird also
nicht nur eine Art von Erklärungen als Ursache gesucht, sondern eine
ausgesuchte und bevorzugte Art von Erklärungen, die, bei denen am
schnellsten, am häufigsten das Gefühl des Fremden, Neuen, Unerlebten
weggeschafft worden ist, - die gewöhnlichsten Erklärungen. - Folge:
eine Art von Ursachen-Setzung überwiegt immer mehr, concentrirt sich
zum System und tritt endlich dominirend hervor, das heisst andere
Ursachen und Erklärungen einfach ausschliessend. - Der Banquier denkt
sofort an's "Geschäft", der Christ an die "Sünde", das Mädchen an
seine Liebe.


6.

Der ganze Bereich der Moral und Religion gehört unter diesen
Begriff der imaginären Ursachen. - "Erklärung" der unangenehmen
Allgemeingefühle. Dieselben sind bedingt durch Wesen, die uns
feind sind (böse Geister: berühmtester Fall - Missverständniss der
Hysterischen als Hexen). Dieselben sind bedingt durch Handlungen, die
nicht zu billigen sind (das Gefühl der "Sünde", der "Sündhaftigkeit"
einem physiologischen Missbehagen untergeschoben - man findet immer
Gründe, mit sich unzufrieden zu sein). Dieselben sind bedingt als
Strafen, als eine Abzahlung für Etwas, das wir nicht hätten thun, das
wir nicht hätten sein sollen (in impudenter Form von Schopenhauer zu
einem Satze verallgemeinert, in dem die Moral als Das erscheint, was
sie ist, als eigentliche Giftmischerin und Verleumderin des Lebens:
"jeder grosse Schmerz, sei er leiblich, sei er geistig, sagt aus, was
wir verdienen; denn er könnte nicht an uns kommen, wenn wir ihn nicht
verdienten." Welt als Wille und Vorstellung, 2, 666). Dieselben sind
bedingt als Folgen unbedachter, schlimm auslaufender Handlungen (die
Affekte, die Sinne als Ursache, als "schuld" angesetzt; physiologische
Nothstände mit Hülfe anderer Nothstände als "verdient" ausgelegt). -
"Erklärung" der angenehmen Allgemeingefühle. Dieselben sind bedingt
durch Gottvertrauen. Dieselben sind bedingt durch das Bewusstsein
guter Handlungen (das sogenannte "gute Gewissen", ein physiologischer
Zustand, der mitunter einer glücklichen Verdauung zum Verwechseln
ähnlich sieht). Dieselben sind bedingt durch den glücklichen Ausgang
von Unternehmungen (- naiver Fehlschluss: der glückliche Ausgang einer
Unternehmung schafft einem Hypochonder oder: einem Pascal durchaus
keine angenehmen Allgemeingefühle). Dieselben sind bedingt durch
Glaube, Liebe, Hoffnung - die christlichen Tugenden. - In Wahrheit
sind alle diese vermeintlichen Erklärungen Folgezustände und gleichsam
Übersetzungen von Lust oder Unlust-Gefühlen in einen falschen Dialekt:
man ist im Zustande zu hoffen, weil das physiologische Grundgefühl
wieder stark und reich ist; man vertraut Gott, weil das Gefühl der
Fülle und Stärke Einem Ruhe giebt. - Die Moral und Religion gehört
ganz und gar unter die Psychologie des Irrthums: in jedem einzelnen
Falle wird Ursache und Wirkung verwechselt; oder die Wahrheit mit der
Wirkung des als wahr Geglaubten verwechselt; oder ein Zustand des
Bewusstseins mit der Ursächlichkeit dieses Zustands verwechselt.


7.

Irrthum vom freien Willen. - Wir haben heute kein Mitleid mehr mit
dem Begriff "freier Wille": wir wissen nur zu gut, was er ist -
das anrüchigste Theologen-Kunststück, das es giebt, zum Zweck, die
Menschheit in ihrem Sinne "verantwortlich" zu machen, das heisst sie
von sich abhängig zu machen... Ich gebe hier nur die Psychologie alles
Verantwortlichmachens. - überall, wo Verantwortlichkeiten gesucht
werden, pflegt es der Instinkt des Strafen- und Richten-Wollens zu
sein, der da sucht. Man hat das Werden seiner Unschuld entkleidet,
wenn irgend ein So-und-so Sein auf Wille, auf Absichten, auf Akte
der Verantwortlichkeit zurückgeführt wird: die Lehre vom Willen
ist wesentlich erfunden zum Zweck der Strafe, das heisst des
Schuldig-finden-wollens. Die ganze alte Psychologie, die
Willens-Psychiologie hat ihre Voraussetzung darin, dass deren Urheber,
die Priester an der Spitze alter Gemeinwesen, sich ein Recht schaffen
wollten, Strafen zu verhängen - oder Gott dazu ein Recht schaffen
wollten... Die Menschen wurden "frei" gedacht, um gerichtet, um
gestraft werden zu können, - um schuldig werden zu können: folglich
musste jede Handlung als gewollt, der Ursprung jeder Handlung im
Bewusstsein liegend gedacht werden (- womit die grundsätzlichste
Falschmünzerei in psychologicis zum Princip der Psychologie selbst
gemacht war... ) Heute, wo wir in die umgekehrte Bewegung eingetreten
sind, wo wir Immoralisten zumal mit aller Kraft den Schuldbegriff und
den Strafbegriff aus der Welt wieder herauszunehmen und Psychologie,
Geschichte, Natur, die gesellschaftlichen Institutionen und Sanktionen
von ihnen zu reinigen suchen, giebt es in unsern Augen keine
radikalere Gegnerschaft als die der Theologen, welche fortfahren, mit
dem Begriff der "sittlichen Weltordnung" die Unschuld des Werdens
durch "Strafe" und "Schuld" zu durchseuchen. Das Christenthum ist eine
Metaphysik des Henkers...


8.

Was kann allein unsre Lehre sein? - Dass Niemand dem Menschen seine
Eigenschaften giebt, weder Gott, noch die Gesellschaft, noch seine
Eltern und Vorfahren, noch er selbst (- der Unsinn der hier zuletzt
abgelehnten Vorstellung ist als "intelligible Freiheit" von Kant,
vielleicht auch schon von Plato gelehrt worden). Niemand ist dafür
verantwortlich, dass er überhaupt da ist, dass er so und so beschaffen
ist, dass er unter diesen Umständen, in dieser Umgebung ist. Die
Fatalität seines Wesens ist nicht herauszulösen aus der Fatalität
alles dessen, was war und was sein wird. Er ist nicht die Folge einer
eignen Absicht, eines Willens, eines Zwecks, mit ihm wird nicht der
Versuch gemacht, ein "Ideal von Mensch" oder ein "Ideal von Glück"
oder ein "Ideal von Moralität" zu erreichen, - es ist absurd, sein
Wesen in irgend einen Zweck hin abwälzen zu wollen. Wir haben den
Begriff "Zweck" erfunden: in der Realität fehlt der Zweck... Man ist
nothwendig, man ist ein Stück Verhängniss, man gehört zum Ganzen, man
ist im Ganzen, - es giebt Nichts, was unser Sein richten, messen,
vergleichen, verurtheilen könnte, denn das hiesse das Ganze richten,
messen, vergleichen, verurtheilen... Aber es giebt Nichts ausser dem
Ganzen! - Dass Niemand mehr verantwortlich gemacht wird, dass die Art
des Seins nicht auf eine causa prima zurückgeführt werden darf, dass
die Welt weder als Sensorium, noch als "Geist" eine Einheit ist, dies
erst ist die grosse Befreiung, - damit erst ist die Unschuld des
Werdens wieder hergestellt... Der Begriff "Gott" war bisher der
grösste Einwand gegen das Dasein... Wir leugnen Gott, wir leugnen die
Verantwortlichkeit in Gott: damit erst erlösen wir die Welt. -


Die "Verbesserer" der Menschheit.

1.

Man kennt meine Forderung an den Philosophen, sich jenseits von Gut
und Böse zu stellen, - die Illusion des moralischen Urtheils unter
sich zu haben. Diese Forderung folgt aus einer Einsicht, die von mir
zum ersten Male formulirt worden ist: dass es gar keine moralischen
Thatsachen giebt. Das moralische Urtheil hat Das mit dem religiösen
gemein, dass es an Realitäten glaubt, die keine sind. Moral ist
nur eine Ausdeutung gewisser Phänomene, bestimmter geredet, eine
Missdeutung. Das moralische Urtheil gehört, wie das religiöse, einer
Stufe der Unwissenheit zu, auf der selbst der Begriff des Realen,
die Unterscheidung des Realen und Imaginären noch fehlt: so dass
"Wahrheit" auf solcher Stufe lauter Dinge bezeichnet, die wir heute
"Einbildungen" nennen. Das moralische Urtheil ist insofern nie
wörtlich zu nehmen: als solches enthält es immer nur Widersinn. Aber
es bleibt als Semiotik unschätzbar: es offenbart, für den Wissenden
wenigstens, die werthvollsten Realitäten von Culturen und
Innerlichkeiten, die nicht genug wussten, um sich selbst zu
"verstehn". Moral ist bloss Zeichenrede, bloss Symptomatologie: man
muss bereits wissen, worum es sich handelt, um von ihr Nutzen zu
ziehen.


2.

Ein erstes Beispiel und ganz vorläufig. Zu allen Zeiten hat man die
Menschen "verbessern" wollen: dies vor Allem hiess Moral. Aber unter
dem gleichen Wort ist das Allerverschiedenste von Tendenz versteckt.
Sowohl die Zähmung der Bestie Mensch als die Züchtung einer bestimmten
Gattung Mensch ist "Besserung" genannt worden: erst diese zoologischen
termini drücken Realitäten aus - Realitäten freilich, von denen der
typische "Verbesserer", der Priester, Nichts weiss - Nichts wissen
will... Die Zähmung eines Thieres seine "Besserung" nennen ist
in unsren Ohren beinahe ein Scherz. Wer weiss, was in Menagerien
geschieht, zweifelt daran, dass die Bestie daselbst "verbessert" wird.
Sie wird geschwächt, sie wird weniger schädlich gemacht, sie wird
durch den depressiven Affekt der Furcht, durch Schmerz, durch Wunden,
durch Hunger zur krankhaften Bestie. - Nicht anders steht es mit dem
gezähmten Menschen, den der Priester "verbessert" hat. Im frühen
Mittelalter, wo in der That die Kirche vor Allem eine Menagerie war,
machte man allerwärts auf die schönsten Exemplare der "blonden Bestie"
Jagd, - man "verbesserte" zum Beispiel die vornehmen Germanen.
Aber wie sah hinterdrein ein solcher "verbesserter", in's Kloster
verführter Germane aus? Wie eine Caricatur des Menschen, wie eine
Missgeburt: er war zum "Sünder" geworden, er stak im Käfig, man hatte
ihn zwischen lauter schreckliche Begriffe eingesperrt... Da lag er
nun, krank, kümmerlich, gegen sich selbst böswillig; voller Hass gegen
die Antriebe zum Leben, voller Verdacht gegen Alles, was noch stark
und glücklich war. Kurz, ein "Christ"... Physiologisch geredet: im
Kampf mit der Bestie kann Krank machen das einzige Mittel sein, sie
schwach zu machen. Das verstand die Kirche: sie verdarb den Menschen,
sie schwächte ihn, - aber sie nahm in Anspruch, ihn "verbessert" zu
haben...


3.

Nehmen wir den andern Fall der sogenannten Moral, den Fall der
Züchtung einer bestimmten Rasse und Art. Das grossartigste Beispiel
dafür giebt die indische Moral, als "Gesetz des Manu" zur Religion
sanktionirt. Hier ist die Aufgabe gestellt, nicht weniger als vier
Rassen auf einmal zu züchten: eine priesterliche, eine kriegerische,
eine händler- und ackerbauerische, endlich eine Dienstboten-Rasse, die
Sudras. Ersichtlich sind wir hier nicht mehr unter Thierbändigern:
eine hundert Mal mildere und vernünftigere Art Mensch ist die
Voraussetzung, um auch nur den Plan einer solchen Züchtung zu
concipiren. Man athmet auf, aus der christlichen Kranken- und
Kerkerluft in diese gesündere, höhere, weitere Welt einzutreten. Wie
armselig ist das "neue Testament" gegen Manu, wie schlecht riecht
es! - Aber auch diese Organisation hatte nöthig, furchtbar zu
sein, - nicht dies Mal im Kampf mit der Bestie, sondern mit ihrem
Gegensatz-Begriff, dem Nicht-Zucht-Menschen, dem Mischmasch-Menschen,
dem Tschandala. Und wieder hatte sie kein andres Mittel, ihn
ungefährlich, ihn schwach zu machen, als ihn krank zu machen, - es war
der Kampf mit der "grossen Zahl". Vielleicht giebt es nichts unserm
Gefühle Widersprechenderes als diese Schutzmaassregeln der indischen
Moral. Das dritte Edikt zum Beispiel (Avadana-Sastra 1), das "von
den unreinen Gemüsen", ordnet an, dass die einzige Nahrung, die
den Tschandala erlaubt ist, Knoblauch und Zwiebeln sein sollen, in
Anbetracht, dass die heilige Schrift verbietet, ihnen Korn oder
Früchte, die Körner tragen, oder Wasser oder Feuer zu geben. Dasselbe
Edikt setzt fest, dass das Wasser, welches sie nöthig haben, weder
aus den Flüssen, noch aus den Quellen, noch aus den Teichen genommen
werden dürfe, sondern nur aus den Zugängen zu Sümpfen und aus Löchern,
welche durch die Fusstapfen der Thiere entstanden sind. Insgleichen
wird ihnen verboten, ihre Wäsche zu waschen und sich selbst zu
waschen, da das Wasser, das ihnen aus Gnade zugestanden wird, nur
benutzt werden darf, den Durst zu löschen. Endlich ein Verbot an
die Sudra-Frauen, den Tschandala-Frauen bei der Geburt beizustehen,
insgleichen noch eins für die letzteren, einander dabei beizustehen...
- Der Erfolg einer solchen Sanitäts-Polizei blieb nicht aus:
mörderische Seuchen, scheussliche Geschlechtskrankheiten und darauf
hin wieder "das Gesetz des Messers", die Beschneidung für die
männlichen, die Abtragung der kleinen Schamlippen für die weiblichen
Kinder anordnend. - Manu selbst sagt: "die Tschandala sind die Frucht
von Ehebruch, Incest und Verbrechen (- dies die nothwendige Consequenz
des Begriffs Züchtung). Sie sollen zu Kleidern nur die Lumpen von
Leichnamen haben, zum Geschirr zerbrochne Töpfe, zum Schmuck altes
Eisen, zum Gottesdienst nur die bösen Geister; sie sollen ohne Ruhe
von einem Ort zum andern schweifen. Es ist ihnen verboten, von links
nach rechts zu schreiben und sich der rechten Hand zum Schreiben zu
bedienen: der Gebrauch der rechten Hand und des von Links nach Rechts
ist bloss den Tugendhaften vorbehalten, den Leuten von Rasse." -


4.

Diese Verfügungen sind lehrreich genug: in ihnen haben wir einmal die
arische Humanität, ganz rein, ganz ursprünglich, - wir lernen, dass
der Begriff "reines Blut" der Gegensatz eines harmlosen Begriffs
ist. Andrerseits wird klar, in welchem Volk sich der Hass, der
Tschandala-Hass gegen diese "Humanität" verewigt hat, wo er Religion,
wo er Genie geworden ist...Unter diesem Gesichtspunkte sind die
Evangelien eine Urkunde ersten Ranges; noch mehr das Buch Henoch.
- Das Christenthum, aus jüdischer Wurzel und nur verständlich als
Gewächs dieses Bodens, stellt die Gegenbewegung gegen jede Moral der
Züchtung, der Rasse, des Privilegiums dar: - es ist die antiarische
Religion par excellence: das Christenthum die Umwerthung aller
arischen Werthe, der Sieg der Tschandala Werthe, das Evangelium
den Armen, den Niedrigen gepredigt, der Gesammt-Aufstand alles
Niedergetretenen, Elenden, Missrathenen, Schlechtweggekommenen gegen
die "Rasse", - die unsterbliche Tschandala-Rache als Religion der
Liebe...


5.

Die Moral der Züchtung und die Moral der Zähmung sind in den Mitteln,
sich durchzusetzen, vollkommen einander würdig: wir dürfen als
obersten Satz hinstellen, dass, um Moral zu machen, man den
unbedingten Willen zum Gegentheil haben muss. Dies ist das grosse,
das unheimliche Problem, dem ich am längsten nachgegangen bin: die
Psychologie der "Verbesserer" der Menschheit. Eine kleine und im
Grunde bescheidne Thatsache, die der sogenannten pia fraus, gab mir
den ersten Zugang zu diesem Problem: die pia fraus, das Erbgut aller
Philosophen und Priester, die die Menschheit "verbesserten". Weder
Manu, noch Plato, noch Confucius, noch die jüdischen und christlichen
Lehrer haben je an ihrem Recht zur Lüge gezweifelt. Sie haben an ganz
andren Rechten nicht gezweifelt... In Formel ausgedrückt dürfte man
sagen: alle Mittel, wodurch bisher die Menschheit moralisch gemacht
werden sollte, waren von Grund aus unmoralisch. -


Was den Deutschen abgeht.

1.

Unter Deutschen ist es heute nicht genug, Geist zu haben: man muss ihn
noch sich nehmen, sich Geist herausnehmen...

Vielleicht kenne ich die Deutschen, vielleicht darf ich selbst ihnen
ein paar Wahrheiten sagen. Das neue Deutschland stellt ein grosses
Quantum vererbter und angeschulter Tüchtigkeit dar, so dass es den
aufgehäuften Schatz von Kraft eine Zeit lang selbst verschwenderisch
ausgeben darf. Es ist nicht eine hohe Cultur, die mit ihm Herr
geworden, noch weniger ein delikater Geschmack, eine vornehme
"Schönheit" der Instinkte; aber männlichere Tugenden, als sonst ein
Land Europa's aufweisen kann. Viel guther Muth und Achtung vor sich
selber, viel Sicherheit im Verkehr, in der Gegenseitigkeit der
Pflichten, viel Arbeitsamkeit, viel Ausdauer - und eine angeerbte
Mässigung, welche eher des Stachels als des Hemmschuhs bedarf. Ich
füge hinzu, dass hier noch gehorcht wird, ohne dass das Gehorchen
demüthigt... Und Niemand verachtet seinen Gegner...

Man sieht, es ist mein Wunsch, den Deutschen gerecht zu sein: ich
möchte mir darin nicht untreu werden, - ich muss ihnen also auch
meinen Einwand machen. Es zahlt sich theuer, zur Macht zu kommen: die
Macht verdummt... Die Deutschen - man hiess sie einst das Volk der
Denker: denken sie heute überhaupt noch? - Die Deutschen langweilen
sich jetzt am Geiste, die Deutschen misstrauen jetzt dem Geiste,
die Politik verschlingt allen Ernst für wirklich geistige Dinge -
"Deutschland, Deutschland über Alles", ich fürchte, das war das Ende
der deutschen Philosophie... "Giebt es deutsche Philosophen? giebt
es deutsche Dichter? giebt es gute deutsche Bücher?" fragt man mich
im Ausland. Ich erröthe, aber mit der Tapferkeit, die mir auch in
verzweifelten Fällen zu eigen ist, antworte ich: "Ja, Bismarck!" -
Dürfte ich auch nur eingestehn, welche Bücher man heute liest?...
Vermaledeiter Instinkt der Mittelmässigkeit! -


2.

- Was der deutsche Geist sein könnte, wer hätte nicht schon darüber
seine schwermüthigen Gedanken gehabt! Aber dies Volk hat sich
willkürlich verdummt, seit einem Jahrtausend beinahe: nirgendswo sind
die zwei grossen europäischen Narcotica, Alkohol und Christenthum,
lasterhafter gemissbraucht worden. Neuerdings kam sogar noch
ein drittes hinzu, mit dem allein schon aller feinen und kühnen
Beweglichkeit des Geistes der Garaus gemacht werden kann, die
Musik, unsre verstopfte verstopfende deutsche Musik. - Wie viel
verdriessliche Schwere, Lahmheit, Feuchtigkeit, Schlafrock, wie viel
Bier ist in der deutschen Intelligenz! Wie ist es eigentlich möglich,
dass junge Männer, die den geistigsten Zielen ihr Dasein weihn, nicht
den ersten Instinkt der Geistigkeit, den Selbsterhaltungs-Instinkt des
Geistes in sich fühlen - und Bier trinken?... Der Alkoholismus der
gelehrten Jugend ist vielleicht noch kein Fragezeichen in Absicht
ihrer Gelehrsamkeit - man kann ohne Geist sogar ein grosser Gelehrter
sein -, aber in jedem andren Betracht bleibt er ein Problem. - Wo
fände man sie nicht, die sanfte Entartung, die das Bier im Geiste
hervorbringt! Ich habe einmal in einem beinahe berühmt gewordnen Fall
den Finger auf eine solche Entartung gelegt - die Entartung unsres
ersten deutschen Freigeistes, des klugen David Strauss, zum Verfasser
eines Bierbank-Evangeliums und "neuen Glaubens"... Nicht umsonst hatte
er der "holden Braunen" sein Gelöbniss in Versen gemacht - Treue bis
zum Tod...


3.

- Ich sprach vom deutschen Geiste: dass er gröber wird, dass er sich
verflacht. Ist das genug? - Im Grunde ist es etwas ganz Anderes, das
mich erschreckt: wie es immer mehr mit dem deutschen Ernste, der
deutschen Tiefe, der deutschen Leidenschaft in geistigen Dingen
abwärts geht. Das Pathos hat sich verändert, nicht bloss die
Intellektualität. - Ich berühre hier und da deutsche Universitäten:
was für eine Luft herrscht unter deren Gelehrten, welche öde,
welche genügsam und lau gewordne Geistigkeit! Es wäre ein tiefes
Missverständniss, wenn man mir hier die deutsche Wissenschaft
einwenden wollte - und ausserdem ein Beweis dafür, dass man nicht
ein Wort von mir gelesen hat. Ich bin seit siebzehn Jahren nicht
müde geworden, den entgeistigenden Einfluss unsres jetzigen
Wissenschafts-Betriebs an's Licht zu stellen. Das harte Helotenthum,
zu dem der ungeheure Umfang der Wissenschaften heute jeden Einzelnen
verurtheilt, ist ein Hauptgrund dafür, dass voller, reicher, tiefer
angelegte Naturen keine ihnen gemässe Erziehung und Erzieher mehr
vorfinden. Unsre Cultur leidet an Nichts mehr, als an dem Überfluss
anmaasslicher Eckensteher und Bruchstück-Humanitäten; unsre
Universitäten sind, wider Willen, die eigentlichen Treibhäuser für
diese Art Instinkt-Verkümmerung des Geistes. Und ganz Europa hat
bereits einen Begriff davon - die grosse Politik täuscht Niemanden...
Deutschland gilt immer mehr als Europa's Flachland. - Ich suche noch
nach einem Deutschen, mit dem ich auf meine Weise ernst sein könnte,
- um wie viel mehr nach einem, mit dem ich heiter sein dürfte!
Götzen-Dämmerung: ah wer begriffe es heute, von was für einem Ernste
sich hier ein Einsiedler erholt! - Die Heiterkeit ist an uns das
Unverständlichste...


4.

Man mache einen Überschlag: es liegt nicht nur auf der Hand, dass die
deutsche Cultur niedergeht, es fehlt auch nicht am zureichenden Grund
dafür. Niemand kann zuletzt mehr ausgeben als er hat - das gilt
von Einzelnen, das gilt von Völkern. Giebt man sich für Macht, für
grosse Politik, für Wirthschaft, Weltverkehr, Parlamentarismus,
Militär-Interessen aus, - giebt man das Quantum Verstand, Ernst,
Wille, Selbstüberwindung, das man ist, nach dieser Seite weg, so fehlt
es auf der andern Seite. Die Cultur und der Staat - man betrüge sich
hierüber nicht - sind Antagonisten: "Cultur-Staat" ist bloss eine
moderne Idee. Das Eine lebt vom Andern, das Eine gedeiht auf
Unkosten des Anderen. Alle grossen Zeiten der Cultur sind politische
Niedergangs-Zeiten: was gross ist im Sinn der Cultur war unpolitisch,
selbst antipolitisch. - Goethen gieng das Herz auf bei dem Phänomen
Napoleon, - es gieng ihm zu beiden "Freiheits-Kriegen"... In demselben
Augenblick, wo Deutschland als Grossmacht heraufkommt, gewinnt
Frankreich als Culturmacht eine veränderte Wichtigkeit. Schon heute
ist viel neuer Ernst, viel neue Leidenschaft des Geistes nach Paris
übergesiedelt; die Frage des Pessimismus zum Beispiel, die Frage
Wagner, fast alle psychologischen und artistischen Fragen werden dort
unvergleichlich feiner und gründlicher erwogen als in Deutschland,
- die Deutschen sind selbst unfähig zu dieser Art Ernst. - In der
Geschichte der europäischen Cultur bedeutet die Heraufkunft des
"Reichs" vor allem Eins: eine Verlegung des Schwergewichts. Man weiss
es überall bereits: in der Hauptsache - und das bleibt die Cultur -
kommen die Deutschen nicht mehr in Betracht. Man fragt: habt ihr auch
nur Einen für Europa mitzählenden Geist aufzuweisen? wie euer Goethe,
euer Hegel, euer Heinrich Heine, euer Schopenhauer mitzählte? - Dass
es nicht einen einzigen deutschen Philosophen mehr giebt, darüber ist
des Erstaunens kein Ende. -


5.

Dem ganzen höheren Erziehungswesen in Deutschland ist die Hauptsache
abhanden gekommen: Zweck sowohl als Mittel zum Zweck. Dass Erziehung,
Bildung selbst Zweck ist - und nicht das "Reich" -, dass es zu
diesem Zweck der Erzieherbedarf - und nicht der Gymnasiallehrer und
Universitäts-Gelehrten - man vergass das... Erzieher thun noth, die
selbst erzogen sind, überlegene, vornehme Geister, in jedem Augenblick
bewiesen, durch Wort und Schweigen bewiesen, reife, süss gewordene
Culturen, - nicht die gelehrten Rüpel, welche Gymnasium und
Universität der Jugend heute als "höhere Ammen" entgegenbringt. Die
Erzieherfehlen, die Ausnahmen der Ausnahmen abgerechnet, die erste
Vorbedingung der Erziehung: daher der Niedergang der deutschen Cultur.
- Eine jener allerseltensten Ausnahmen ist mein verehrungswürdiger
Freund Jakob Burckhardt in Basel: ihm zuerst verdankt Basel seinen
Vorrang von Humanität. - Was die "höheren Schulen" Deutschlands
thatsächlich erreichen, das ist eine brutale Abrichtung, um, mit
möglichst geringem Zeitverlust, eine Unzahl junger Männer für den
Staatsdienst nutzbar, ausnutzbar zu machen. "Höhere Erziehung" und
Unzahl - das widerspricht sich von vornherein. Jede höhere Erziehung
gehört nur der Ausnahme: man muss privilegirt sein, um ein Recht auf
ein so hohes Privilegium zu haben. Alle grossen, alle schönen Dinge
können nie Gemeingut sein: pulchrum est paucorum hominum. - Was
bedingt den Niedergang der deutschen Cultur? Dass "höhere Erziehung"
kein Vorrecht mehr ist - der Demokratismus der "allgemeinen", der
gemein gewordnen "Bildung"... Nicht zu vergessen, dass militärische
Privilegien den Zu-Viel-Besuch der höheren Schulen, das heisst ihren
Untergang, förmlich erzwingen. - Es steht Niemandem mehr frei, im
jetzigen Deutschland seinen Kindern eine vornehme Erziehung zu
geben: unsre "höheren" Schulen sind allesammt auf die zweideutigste
Mittelmässigkeit eingerichtet, mit Lehrern, mit Lehrplänen, mit
Lehrzielen. Und überall herrscht eine unanständige Hast, wie als ob
Etwas versäumt wäre, wenn der junge Mann Mit 23 Jahren noch nicht
"fertig" ist, noch nicht Antwort weiss auf die "Hauptfrage": welchen
Beruf? - Eine höhere Art Mensch, mit Verlaub gesagt, liebt nicht
"Berufe", genau deshalb, weil sie sich berufen weiss... Sie hat Zeit,
sie nimmt sich Zeit, sie denkt gar nicht daran, "fertig" zu werden,
- mit dreissig Jahren ist man, im Sinne hoher Cultur, ein Anfänger,
ein Kind. - Unsre überfüllten Gymnasien, unsre überhäuften, stupid
gemachten Gymnasiallehrer sind ein Skandal: um diese Zustände in
Schutz zu nehmen, wie es jüngst die Professoren von Heidelberg gethan
haben, dazu hat man vielleicht Ursachen, - Gründe dafür giebt es
nicht.


6.

- Ich stelle, um nicht aus meiner Art zu fallen, die ja-sagend ist und
mit Widerspruch und Kritik nur mittelbar, nur unfreiwillig zu thun
hat, sofort die drei Aufgaben hin, derentwegen man Erzieher braucht.
Man hat sehen zu lernen, man hat denken zu lernen, man hat sprechen
und schreiben zu lernen: das Ziel in allen Dreien ist eine vornehme
Cultur. - Sehen lernen - dem Auge die Ruhe, die Geduld, das
An-sich-herankommen-lassen angewöhnen; das Urtheil hinausschieben,
den Einzelfall von allen Seiten umgehn und umfassen lernen. Das ist
die erste Vorschulung zur Geistigkeit: auf einen Reiz nicht sofort
reagiren, sondern die hemmenden, die abschliessenden Instinkte in die
Hand bekommen. Sehen lernen, so wie ich es verstehe, ist beinahe Das,
was die unphilosophische Sprechweise den starken Willen nennt: das
Wesentliche daran ist gerade, nicht "wollen", die Entscheidung
aussetzen können. Alle Ungeistigkeit, alle Gemeinheit beruht auf dem
Unvermögen, einem Reize Widerstand zu leisten - man muss reagiren, man
folgt jedem Impulse. In vielen Fällen ist ein solches Müssen bereits
Krankhaftigkeit, Niedergang, Symptom der Erschöpfung, - fast Alles,
was die unphilosophische Rohheit mit dem Namen "Laster" bezeichnet,
ist bloss jenes physiologische Unvermögen, nicht zu reagiren. -
Eine Nutzanwendung vom Sehen-gelernt-haben: man wird als Lernender
überhaupt langsam, misstrauisch, widerstrebend geworden sein. Man wird
Fremdes, Neues jeder Art zunächst mit feindseliger Ruhe herankommen
lassen, - man wird seine Hand davor zurückziehn. Das Offenstehn
mit allen Thüren, das unterthänige Auf-dem-Bauch-Liegen vor jeder
kleinen Thatsache, das allzeit sprungbereite Sich-hinein-Setzen,
Sich-hinein-Stürzen in Andere und Anderes, kurz die berühmte
moderne "Objektivität" ist schlechter Geschmack, ist unvornehm par
excellence. -


7.

Denken lernen: man hat auf unsren Schulen keinen Begriff mehr davon.
Selbst auf den Universitäten, sogar unter den eigentlichen Gelehrten
der Philosophie beginnt Logik als Theorie, als Praktik, als Handwerk,
auszusterben. Man lese deutsche Bücher: nicht mehr die entfernteste
Erinnerung daran, dass es zum Denken einer Technik, eines Lehrplans,
eines Willens zur Meisterschaft bedarf, - dass Denken gelernt sein
will, wie Tanzen gelernt sein will, als eine Art Tanzen... Wer kennt
unter Deutschen jenen feinen Schauder aus Erfahrung noch, den die
leichten Füsse im Geistigen in alle Muskeln überströmen! - Die steife
Tölpelei der geistigen Gebärde, die plumpe Hand beim Fassen - das ist
in dem Grade deutsch, dass man es im Auslande mit dem deutschen Wesen
überhaupt verwechselt. Der Deutsche hat keine Finger für nuances...
Dass die Deutschen ihre Philosophen auch nur ausgehalten haben, vor
Allen jenen verwachsensten Begriffs-Krüppel, den es je gegeben hat,
den grossen Kant, giebt keinen kleinen Begriff von der deutschen
Anmuth. - Man kann nämlich das Tanzen in jeder Form nicht von der
vornehmen Erziehung abrechnen, Tanzen können mit den Füssen, mit den
Begriffen, mit den Worten; habe ich noch zu sagen, dass man es auch
mit der Feder können muss, - dass man schreiben lernen muss? - Aber
an dieser Stelle würde ich deutschen Lesern vollkommen zum Räthsel
werden...


Streifzüge eines Unzeitgemässen.

1.

Meine Unmöglichen. - Seneca: oder der Toreador der Tugend. - Rousseau:
oder die Rückkehr zur Natur in impuris naturalibus. - Schiller: oder
der Moral-Trompeter von Säckingen. - Dante: oder die Hyäne, die in
Gräbern dichtet. - Kant: oder cant als intelligibler Charakter.
-Victor Hugo: oder der Pharus am Meere des Unsinns. - Liszt: oder die
Schule der Geläufigkeit - nach Weibern. - George Sand: oder lactea
ubertas, auf deutsch: die Milchkuh mit "schönem Stil". - Michelet:
oder die Begeisterung, die den Rock auszieht...Carlyle: oder
Pessimismus als zurückgetretenes Mittagessen. - John Stuart Mill: oder
die beleidigende Klarheit. - Les fréres de Goncourt: oder die beiden
Ajaxe im Kampf mit Homer. Musik von Offenbach. - Zola: oder die Freude
zu stinken. -


2.

Renan. - Theologie, oder die Verderbniss der Vernunft durch die
"Erbsünde" (das Christenthum). Zeugniss Renan, der, sobald er
einmal ein Ja oder Nein allgemeinerer Art risquirt, mit peinlicher
Regelmässigkeit daneben greift. Er möchte zum Beispiel la science und
la noblesse in Eins verknüpfen: aber la science gehört zur Demokratie,
das greift sich doch mit Händen. Er wünscht, mit keinem kleinen
Ehrgeize, einen Aristokratismus des Geistes darzustellen: aber
zugleich liegt er vor dessen Gegenlehre, dem évangile des humbles auf
den Knien und nicht nur auf den Knien... Was hilft alle Freigeisterei,
Modernität, Spötterei und Wendehals-Geschmeidigkeit, wenn man mit
seinen Eingeweiden Christ, Katholik und sogar Priester geblieben ist!
Renan hat seine Erfindsamkeit, ganz wie ein Jesuit und Beichtvater,
in der Verführung; seiner Geistigkeit fehlt das breite
Pfaffen-Geschmunzel nicht, - er wird, wie alle Priester, gefährlich
erst, wenn er liebt. Niemand kommt ihm darin gleich, auf eine
lebensgefährliche Weise anzubeten... Dieser Geist Renan's, ein
Geist, der entnervt, ist ein Verhängniss mehr für das arme, kranke,
willenskranke Frankreich. -


3.

Sainte-Beuve. - Nichts von Mann; voll eines kleinen Ingrimms gegen
alle Mannsgeister. Schweift umher, fein, neugierig, gelangweilt,
aushorcherisch, - eine Weibsperson im Grunde, mit einer
Weibs-Rachsucht und Weibs-Sinnlichkeit. Als Psycholog ein Genie der
médisance; unerschöpflich reich an Mitteln dazu; Niemand versteht
besser, mit einem Lob Gift zu mischen. Plebejisch in den untersten
Instinkten und mit dem ressentiment Rousseau's verwandt: folglich
Romantiker - denn unter allem romantisme grunzt und giert der Instinkt
Rousseau's nach Rache. Revolutionär, aber durch die Furcht leidlich
noch im Zaum gehalten. Ohne Freiheit vor Allem, was Stärke hat
(öffentliche Meinung, Akademie, Hof, selbst Port Royal). Erbittert
gegen alles Grosse an Mensch und Ding, gegen Alles, was an sich
glaubt. Dichter und Halbweib genug, um das Grosse noch als Macht zu
fühlen; gekrümmt beständig, wie jener berühmte Wurm, weil er sich
beständig getreten fühlt. Als Kritiker ohne Maassstab, Halt und
Rückgrat, mit der Zunge des kosmopolitischen libertin für Vielerlei,
aber ohne den Muth selbst zum Eingeständniss der libertinage. Als
Historiker ohne Philosophie, ohne die Macht des philosophischen
Blicks, - deshalb die Aufgabe des Richtens in allen Hauptsachen
ablehnend, die "Objektivität" als Maske vorhaltend. Anders verhält er
sich zu allen Dingen, wo ein feiner, vernutzter Geschmack die höchste
Instanz ist: da hat er wirklich den Muth zu sich, die Lust an sich, -
da ist er Meister. - Nach einigen Seiten eine Vorform Baudelaire's. -


4.

Die imitatio Christi gehört zu den Büchern, die ich nicht ohne einen
physiologischen Widerstand in den Händen halte: sie haucht einen
parfum des Ewig-Weiblichen aus, zu dem man bereits Franzose sein muss
- oder Wagnerianer... Dieser Heilige hat eine Art von der Liebe zu
reden, dass sogar die Pariserinnen neugierig werden. - Man sagt mir,
dass jener klügste Jesuit, A. Comte, der seine Franzosen auf dem
Umweg der Wissenschaft nach Rom führen wollte, sich an diesem Buche
inspirirt habe. Ich glaube es: "die Religion des Herzens"...


5.

G. Eliot. - Sie sind den christlichen Gott los und glauben nun um,
so mehr die christliche Moral festhalten zu müssen: das ist eine
englische Folgerichtigkeit, wir wollen sie den Moral Weiblein á
la Eliot nicht verübeln. In England muss man sich für jede kleine
Emancipation von der Theologie in furchteinflössender Weise als
Moral-Fanatiker wieder zu Ehren bringen. Das ist dort die Busse, die
man zahlt. - Für uns Andre steht es anders. Wenn man den christlichen
Glauben aufgiebt, zieht man sich damit das Recht zur christlichen
Moral unter den Füssen weg. Diese versteht sich schlechterdings nicht
von selbst: man muss diesen Punkt, den englischen Flachköpfen zum
Trotz, immer wieder an's Licht stellen. Das Christenthum ist ein
System, eine zusammengedachte und ganze Ansicht der Dinge. Bricht man
aus ihm einen Hauptbegriff, den Glauben an Gott, heraus, so zerbricht
man damit auch das Ganze: man hat nichts Nothwendiges mehr zwischen
den Fingern. Das Christenthum setzt voraus, dass der Mensch nicht
wisse, nicht wissen könne, was für ihn gut, was böse ist: er glaubt an
Gott, der allein es weiss. Die christliche Moral ist ein Befehl; ihr
Ursprung ist transscendent; sie ist jenseits aller Kritik, alles
Rechts auf Kritik; sie hat nur Wahrheit, falls Gott die Wahrheit ist,
- sie steht und fällt mit dem Glauben an Gott. - Wenn thatsächlich die
Engländer glauben, sie wüssten von sich aus, "intuitiv", was gut und
böse ist, wenn sie folglich vermeinen, das Christenthum als Garantie
der Moral nicht mehr nöthig zu haben, so ist dies selbst bloss die
Folge der Herrschaft des christlichen Werthurtheils und ein Ausdruck
von der Stärke und Tiefe dieser Herrschaft: so dass der Ursprung der
englischen Moral vergessen worden ist, so dass das Sehr-Bedingte ihres
Rechts auf Dasein nicht mehr empfunden wird. Für den Engländer ist die
Moral noch kein Problem...


6.

George Sand. - Ich las die ersten lettres d'un voyageur: wie Alles,
was von Rousseau stammt, falsch, gemacht, Blasebalg, übertrieben.
Ich halte diesen bunten Tapeten-Stil nicht aus; ebensowenig als die
Pöbel-Ambition nach generösen Gefühlen. Das Schlimmste freilich bleibt
die Weibskoketterie mit Männlichkeiten, mit Manieren ungezogener
Jungen. - Wie kalt muss sie bei alledem gewesen sein, diese
unausstehliche Künstlerin! Sie zog sich auf wie eine Uhr - und
schrieb... Kalt, wie Hugo wie Balzac, wie alle Romantiker, sobald sie
dichteten! Und wie selbstgefällig sie dabei dagelegen haben mag, diese
fruchtbare Schreibe-Kuh, die etwas Deutsches im schlimmen Sinne an
sich hatte, gleich Rousseau selbst, ihrem Meister, und jedenfalls erst
beim Niedergang des französischen Geschmacks möglich war! - Aber Renan
verehrt sie...


7.

Moral für Psychologen. - Keine Colportage-Psychologie treiben! Nie
beobachten, um zu beobachten! Das giebt eine falsche Optik, ein
Schielen, etwas Erzwungenes und Übertreibendes. Erleben als
Erleben-Wollen - das geräth nicht. Man darf nicht im Erlebniss nach
sich hinblicken, jeder Blick wird da zum "bösen Blick". Ein geborner
Psycholog hütet sich aus Instinkt, zu sehn, um zu sehn; dasselbe gilt
vom gebornen Maler. Er arbeitet nie "nach der Natur", - er überlässt
seinem Instinkte, seiner camera obscura das Durchsieben und Ausdrücken
des "Falls", der "Natur", des "Erlebten"... Das Allgemeine erst kommt
ihm zum Bewusstsein, der Schluss, das Ergebniss: er kennt jenes
willkürliche Abstrahiren vom einzelnen Falle nicht. - Was wird daraus,
wenn man es anders macht? Zum Beispiel nach Art der Pariser romanciers
gross und klein Colportage-Psychologie treibt? Das lauert gleichsam
der Wirklichkeit auf, das bringt jeden Abend eine Handvoll
Curiositäten mit nach Hause... Aber man sehe nur, was zuletzt
herauskommt - ein Haufen von Klecksen, ein Mosaik besten Falls, in
jedem Falle etwas Zusammen-Addirtes, Unruhiges, Farbenschreiendes. Das
Schlimmste darin erreichen die Goncourt: sie setzen nicht drei Sätze
zusammen, die nicht dem Auge, dem Psychologen-Auge einfach weh thun. -
Die Natur, künstlerisch abgeschätzt, ist kein Modell. Sie übertreibt,
sie verzerrt, sie lässt Lücken. Die Natur ist der Zufall. Das Studium
"nach der Natur" scheint mir ein schlechtes Zeichen: es verräth
Unterwerfung, Schwäche, Fatalismus, - dies Im-Staube-Liegen vor petits
faits ist eines ganzen Künstlers unwürdig. Sehen, was ist - das gehört
einer andern Gattung von Geistern. zu, den antiartistischen, den
Thatsächlichen. Man muss wissen, wer man ist...


8.

Zur Psychologie des Künstlers. - Damit es Kunst giebt, damit es irgend
ein ästhetisches Thun und Schauen giebt, dazu ist eine physiologische
Vorbedingung unumgänglich: der Rausch. Der Rausch muss erst die
Erregbarkeit der ganzen Maschine gesteigert haben: eher kommt es zu
keiner Kunst. Alle noch so verschieden bedingten Arten des Rausches
haben dazu die Kraft: vor Allem der Rausch der Geschlechtserregung,
diese älteste und ursprünglichste Form des Rausches. Insgleichen der
Rausch, der im Gefolge aller grossen Begierden, aller starken Affekte
kommt; der Rausch des Festes, des Wettkampfs, des Bravourstücks,
des Siegs, aller extremen Bewegung; der Rausch der Grausamkeit; der
Rausch in der Zerstörung; der Rausch unter gewissen meteorologischen
Einflüssen, zum Beispiel der Frühlingsrausch; oder unter dem Einfluss
der Narcotica; endlich der Rausch des Willens, der Rausch eines
überhäuften und geschwellten Willens. - Das Wesentliche am Rausch ist
das Gefühl der Kraftsteigerung und Fülle. Aus diesem Gefühle giebt man
an die Dinge ab, man zwingt sie von uns zu nehmen, man vergewaltigt
sie, - man heisst diesen Vorgang Idealisiren. Machen wir uns hier von
einem Vorurtheil los: das Idealisiren besteht nicht, wie gemeinhin
geglaubt wird, in einem Abziehn oder Abrechnen des Kleinen, des
Nebensächlichen. Ein ungeheures Heraustreibender Hauptzüge ist
vielmehr das Entscheidende, so dass die andern darüber verschwinden.


9.

Man bereichert in diesem Zustande Alles aus seiner eignen Fülle: was
man sieht, was man will, man sieht es geschwellt, gedrängt, stark,
überladen mit Kraft. Der Mensch dieses Zustandes verwandelt die
Dinge, bis sie seine Macht wiederspiegeln, - bis sie Reflexe seiner
Vollkommenheit sind. Dies Verwandeln müssen in's Vollkommne ist -
Kunst. Alles selbst, was er nicht ist, wird trotzdem ihm zur Lust an
sich; in der Kunst geniesst sich der Mensch als Vollkommenheit. - Es
wäre erlaubt, sich einen gegensätzlichen Zustand auszudenken, ein
spezifisches Antikünstlerthum des Instinks, - eine Art zu sein, welche
alle Dinge verarmte, verdünnte, schwindsüchtig machte. Und in der
That, die Geschichte ist reich an solchen Anti-Artisten, an solchen
Ausgehungerten des Lebens: welche mit Nothwendigkeit die Dinge noch an
sich nehmen, sie auszehren, sie magerer machen müssen. Dies ist zum
Beispiel der Fall des echten Christen, Pascal's zum Beispiel: ein
Christ, der zugleich Künstler wäre, kommt nicht vor... Man sei nicht
kindlich und wende mir Raffael ein oder irgend welche homöopathische
Christen des neunzehnten Jahrhunderts: Raffael sagte Ja, Raffael
machte Ja, folglich war Raffael kein Christ...


10.

Was bedeutet der von mir in die Ästhetik eingeführte Gegensatz-Begriff
apollinisch und dionysisch, beide als Arten des Rausches begriffen? -
Der apollinische Rausch hält vor Allem das Auge erregt, so dass es die
Kraft der Vision bekommt. Der Maler, der Plastiker, der Epiker sind
Visionäre par excellence. Im dionysischen Zustande ist dagegen das
gesammte Affekt-System erregt und gesteigert: so dass es alle seine
Mittel des Ausdrucks mit einem Male entladet und die Kraft des
Darstellens, Nachbildens, Transfigurirens, Verwandelns, alle Art Mimik
und Schauspielerei zugleich heraustreibt. Das Wesentliche bleibt die
Leichtigkeit der Metamorphose, die Unfähigkeit, nicht zu reagiren (-
ähnlich wie bei gewissen Hysterischen, die auch auf jeden Wink hin in
je de Rolle eintreten). Es ist dem dionysischen Menschen unmöglich,
irgend eine Suggestion nicht zu verstehn, er übersieht kein Zeichen
des Affekts, er hat den höchsten Grad des verstehenden und errathenden
Instinkts, wie er den höchsten Grad von Mittheilungs-Kunst besitzt.
Er geht in jede Haut, in jeden Affekt ein: er verwandelt sich
beständig. - Musik, wie wir sie heute verstehn, ist gleichfalls eine
Gesammt-Erregung und -Entladung der Affekte, aber dennoch nur das
Überbleibsel von einer viel volleren Ausdrucks-Welt des Affekts,
ein blosses residuum des dionysischen Histrionismus. Man hat, zur
Ermöglichung der Musik als Sonderkunst, eine Anzahl Sinne, vor Allem
den Muskelsinn still gestellt (relativ wenigstens: denn in einem
gewissen Grade redet noch aller Rhythmus zu unsern Muskeln): so dass
der Mensch nicht mehr Alles, was er fühlt, sofort leibhaft nachahmt
und darstellt. Trotzdem ist Das der eigentlich dionysische
Normalzustand, jedenfalls der Urzustand; die Musik ist die langsam
erreichte Spezifikation desselben auf Unkosten der nächstverwandten
Vermögen.


11.

Der Schauspieler, der Mime, der Tänzer, der Musiker, der Lyriker sind
in ihren Instinkten grundverwandt und an sich Eins, aber allmählich
spezialisirt und von einander abgetrennt - bis selbst zum Widerspruch.
Der Lyriker blieb am längsten mit dem Musiker geeint; der Schauspieler
mit dem Tänzer. - Der Architekt stellt weder einen dionysischen, noch
einen apollinischen Zustand dar: hier ist es der grosse Willensakt,
der Wille, der Berge versetzt, der Rausch des grossen Willens, der zur
Kunst verlangt. Die mächtigsten Menschen haben immer die Architekten
inspirirt; der Architekt war stets unter der Suggestion der Macht. Im
Bauwerk soll sich der Stolz, der Sieg über die Schwere, der Wille zur
Macht versichtbaren; Architektur ist eine Art Macht-Beredsamkeit in
Formen, bald überredend, selbst schmeichelnd, bald bloss befehlend.
Das höchste Gefühl von Macht und Sicherheit kommt in dem zum Ausdruck,
was grossen Stil hat. Die Macht, die keinen Beweis mehr nöthig hat;
die es verschmäht, zu gefallen; die schwer antwortet; die keinen
Zeugen um sich fühlt; die ohne Bewusstsein davon lebt, dass es
Widerspruch gegen sie giebt; die in sich ruht, fatalistisch, ein
Gesetz unter Gesetzen: Das redet als grosser Stil von sich. -


12.

Ich las das Leben Thomas Carlyle's, diese farce wider Wissen und
Willen, diese heroisch-moralische Interpretation dyspeptischer
Zustände. - Carlyle, ein Mann der starken Worte und Attitüden, ein
Rhetor aus Noth, den beständig das Verlangen nach einem starken
Glauben agaçirt und das Gefühl der Unfähigkeit dazu (- darin ein
typischer Romantiker!). Das Verlangen nach einem starken Glauben ist
nicht der Beweis eines starken Glaubens, vielmehr das Gegentheil. Hat
man ihn, so darf man sich den schönen Luxus der Skepsis gestatten: man
ist sicher genug, fest genug, gebunden genug dazu. Carlyle betäubt
Etwas in sich durch das fortissimo seiner Verehrung für Menschen
starken Glaubens und durch seine Wuth gegen die weniger Einfältigen:
er bedarf des Lärms. Eine beständige leidenschaftliche Unredlichkeit
gegen sich - das ist sein proprium, damit ist und bleibt er
interessant. - Freilich, in England wird er gerade wegen seiner
Redlichkeit bewundert... Nun, das ist englisch; und in Anbetracht,
dass die Engländer das Volk des vollkommnen cant sind, sogar billig,
und nicht nur, begreiflich. Im Grunde ist Carlyle ein englischer
Atheist, der seine Ehre darin sucht, es nicht zu sein.


13.

Emerson. - Viel aufgeklärter, schweifender, vielfacher, raffinirter
als Carlyle, vor Allem glücklicher... Ein Solcher, der sich instinktiv
bloss von Ambrosia nährt, der das Unverdauliche in den Dingen
zurücklässt. Gegen Carlyle gehalten ein Mann des Geschmacks. -
Carlyle, der ihn sehr liebte, sagte trotzdem von ihm: "er giebt uns
nicht genug zu beissen": was mit Recht gesagt sein mag, aber nicht
zu Ungunsten Emerson's. - Emerson hat jene gütige und geistreiche
Heiterkeit, welche allen Ernst entmuthigt; er weiss es schlechterdings
nicht, wie alt er schon ist und wie jung er noch sein wird, - er
könnte von sich mit einem Wort Lope de Vega's sagen: "yo me sucedo
a mi mismo". Sein Geist findet immer Gründe, zufrieden und selbst
dankbar zu sein; und bisweilen streift er die heitere Transscendenz
jenes Biedermanns, der von einem verliebten Stelldichein tamquam re
bene gesta zurückkam. "Ut desint vires, sprach er dankbar, tamen est
laudanda voluptas." -


14.

Anti-Darwin. - Was den berühmten Kampf um's Leben betrifft, so scheint
er mir einstweilen mehr behauptet als bewiesen. Er kommt vor, aber als
Ausnahme; der Gesammt-Aspekt des Lebens ist nicht die Nothlage, die
Hungerlage, vielmehr der Reichthum, die Üppigkeit, selbst die absurde
Verschwendung, - wo gekämpft wird, kämpft man um Macht... Man soll
nicht Malthus mit der Natur verwechseln. - Gesetzt aber, es giebt
diesen Kampf - und in der That, er kommt vor -, so läuft er leider
umgekehrt aus als die Schule Darwin's wünscht, als man vielleicht
mit ihr wünschen dürfte: nämlich zu Ungunsten der Starken, der
Bevorrechtigten, der glücklichen Ausnahmen. Die Gattungen wachsen
nicht in der Vollkommenheit: die Schwachen werden immer wieder über
die Starken Herr, - das macht, sie sind die grosse Zahl, sie sind auch
klüger... Darwin hat den Geist vergessen (- das ist englisch!), die
Schwachen haben mehr Geist... Man muss Geist nöthig haben, um Geist zu
bekommen, - man verliert ihn, wenn man ihn nicht mehr nöthig hat. Wer
die Stärke hat, entschlägt sich des Geistes (- "lass fahren dahin!
denkt man heute in Deutschland - das Reich muss uns doch bleiben"...).
Ich verstehe unter Geist, wie man sieht, die Vorsicht, die Geduld, die
List, die Verstellung, die grosse Selbstbeherrschung und Alles, was
mimicry ist (zu letzterem gehört ein grosser Theil der sogenannten
Tugend).


15.

Psychologen-Casuistik. - Das ist ein Menschenkenner: wozu studirt
er eigentlich die Menschen? Er will kleine Vortheile über sie
erschnappen, oder auch grosse, - er ist ein Politikus!... Jener da
ist auch ein Menschenkenner: und ihr sagt, der wolle Nichts damit
für sich, das sei ein grosser "Unpersönlicher". Seht schärfer zu!
Vielleicht will er sogar noch einen schlimmeren Vortheil: sich den
Menschen überlegen fühlen, auf sie herabsehn dürfen, sich nicht
mehr mit ihnen verwechseln. Dieser "Unpersönliche" ist ein
Menschen-Verächter: und jener Erstere ist die humanere Species, was
auch der Augenschein sagen mag. Er stellt sich wenigstens gleich, er
stellt sich hinein...


16.

Der psychologische Takt der Deutschen scheint mir durch eine ganze
Reihe von Fällen in Frage gestellt, deren Verzeichniss vorzulegen mich
meine Bescheidenheit hindert. In Einem Falle wird es mir nicht an
einem grossen Anlasse fehlen, meine These zu begründen: ich trage
es den Deutschen nach, sich über Kant und seine "Philosophie der
Hinterthüren", wie ich sie nenne, vergriffen zu haben, - das war nicht
der Typus der intellektuellen Rechtschaffenheit. - Das Andre, was ich
nicht hören mag, ist ein berüchtigtes "und": die Deutschen sagen,
"Goethe und Schiller", - ich fürchte, sie sagen "Schiller und
Goethe"... Kennt man noch nicht diesen Schiller? - Es giebt noch
schlimmere "und"; ich habe mit meinen eigenen Ohren, allerdings nur
unter Universitäts-Professoren, gehört "Schopenhauer und Hartmann"


17.

Die geistigsten Menschen, vorausgesetzt, dass sie die muthigsten sind,
erleben auch bei weitem die schmerzhaftesten Tragödien: aber eben
deshalb ehren sie das Leben, weil es ihnen seine grösste Gegnerschaft
entgegenstellt.


18.

Zum "intellektuellen Gewissen". - Nichts scheint mir heute seltner als
die echte Heuchelei. Mein Verdacht ist gross, dass diesem Gewächs die
sanfte Luft unsrer Cultur nicht zuträglich ist. Die Heuchelei gehört
in die Zeitalter des starken Glaubens: wo man selbst nicht bei der
Nöthigung, einen andern Glauben zur Schau zu tragen, von dem Glauben
losliess, den man hatte. Heute lässt man ihn los; oder, was noch
gewöhnlicher, man legt sich noch einen zweiten Glauben zu, - ehrlich
bleibt man in jedem Falle. Ohne Zweifel ist heute eine sehr viel
grössere Anzahl von Überzeugungen möglich als ehemals: möglich, das
heisst erlaubt, das heisst unschädlich. Daraus entsteht die Toleranz
gegen sich selbst. - Die Toleranz gegen sich selbst gestattet mehrere
Überzeugungen: diese selbst leben verträglich beisammen, - sie hüten
sich, wie alle Welt heute, sich zu compromittiren. Womit compromittirt
man sich heute? Wenn man Consequenz hat. Wenn man in gerader Linie
geht. Wenn man weniger als fünfdeutig ist. Wenn man echt ist... Meine
Furcht ist gross, dass der moderne Mensch für einige Laster einfach
zu bequem ist: so dass diese geradezu aussterben. Alles Böse, das vom
starken Willen bedingt ist - und vielleicht giebt es nichts Böses ohne
Willensstärke - entartet, in unsrer lauen Luft, zur Tugend... Die
wenigen Heuchler, die ich kennen lernte, machten die Heuchelei nach:
sie waren, wie heutzutage fast jeder zehnte Mensch, Schauspieler. -


19.

Schön und hässlich. - Nichts ist bedingter, sagen wir beschränkter,
als unser Gefühl des Schönen. Wer es losgelöst von der Lust des
Menschen am Menschen denken wollte, verlöre sofort Grund und Boden
unter den Füssen. Das "Schöne an sich" ist bloss ein Wort, nicht
einmal ein Begriff. Im Schönen setzt sich der Mensch als Maass der
Vollkommenheit; in. ausgesuchten Fällen betet er sich darin an. Eine
Gattung kann gar nicht anders als dergestalt zu sich allein ja sagen.
Ihr unterster Instinkt, der der Selbsterhaltung und Selbsterweiterung,
strahlt noch in solchen Sublimitäten aus. Der Mensch glaubt die Welt
selbst mit Schönheit überhäuft, - er vergisst sich als deren Ursache.
Er allein hat sie mit Schönheit beschenkt, ach! nur mit einer sehr
menschlich-allzumenschlichen Schönheit.... Im Grunde spiegelt sich
der Mensch in den Dingen, er hält Alles für schön, was ihm sein Bild
zurückwirft: das Urtheil "schön" ist seine Gattungs-Eitelkeit....
Dem Skeptiker nämlich darf ein kleiner Argwohn die Frage in's Ohr
flüstern: ist wirklich damit die Welt verschönt, dass gerade der
Mensch sie für schön nimmt? Er hat sie vermenschlicht: das ist Alles.
Aber Nichts, gar Nichts verbürgt uns, dass gerade der Mensch das
Modell des Schönen abgäbe. Wer weiss, wie er sich in den Augen eines
höheren Geschmacksrichters ausnimmt? Vielleicht gewagt? vielleicht
selbst erheiternd? vielleicht ein wenig arbiträr?... "Oh Dionysos,
Göttlicher, warum ziehst du mich an den Ohren?" fragte Ariadne
einmal bei einem jener berühmten Zwiegespräche auf Naxos ihren
philosophischen Liebhaber. "Ich finde eine Art Humor in deinen Ohren,
Ariadne: warum sind sie nicht noch länger?"


20.

Nichts ist schön, nur der Mensch ist schön: auf dieser Naivetät ruht
alle Ästhetik, sie ist deren erste Wahrheit. Fügen wir sofort noch
deren zweite hinzu: Nichts ist hässlich als der entartende Mensch,
- damit ist das Reich des ästhetischen Urtheils umgrenzt. -
Physiologisch nachgerechnet, schwächt und betrübt alles Hässliche
den Menschen. Es erinnert ihn an Verfall, Gefahr, Ohnmacht; er büsst
thatsächlich dabei Kraft ein. Man kann die Wirkung des Hässlichen mit
dem Dynamometer messen. Wo der Mensch überhaupt niedergedrückt wird,
da wittert er die Nähe von etwas "Hässlichem". Sein Gefühl der Macht,
sein Wille zur Macht, sein Muth, sein Stolz - das fällt mit dem
Hässlichen, das steigt mit dem Schönen... Im einen wie im andern Falle
machen wir einen Schluss: die Prämissen dazu sind in ungeheurer Fülle
im Instinkte aufgehäuft. Das Hässliche wird verstanden als ein Wink
und Symptom der Degenerescenz: was im Entferntesten an Degenerescenz
erinnert, das wirkt in uns das Urtheil "hässlich". Jedes Anzeichen
von Erschöpfung, von Schwere, von Alter, von Müdigkeit, jede Art
Unfreiheit, als Krampf, als Lähmung, vor Allem der Geruch, die Farbe,
die Form der Auflösung, der Verwesung, und sei es auch in der letzten
Verdünnung zum Symbol - das Alles ruft die gleiche Reaktion hervor,
das Werthurtheil "hässlich". Ein Hass springt da hervor: wen hasst da
der Mensch? Aber es ist kein Zweifel: den Niedergang seines Typus. Er
hasst da aus dem tiefsten Instinkte der Gattung heraus; in diesem Hass
ist Schauder, Vorsicht, Tiefe, Fernblick, - es ist der tiefste Hass,
den es giebt. Um seinetwillen ist die Kunst tief...


21.

Schopenhauer. Schopenhauer, der letzte Deutsche, der in Betracht kommt
(der ein europäisches Ereigniss gleich Goethe, gleich Hegel, gleich
Heinrich Heine ist, und nicht bloss ein lokales, ein "nationales"),
ist für einen Psychologen ein Fall ersten Ranges: nämlich als bösartig
genialer Versuch, zu Gunsten einer nihilistischen Gesammt-Abwerthung
des Lebens gerade die Gegen-Instanzen, die grossen Selbstbejahungen
des "Willens zum Leben", die Exuberanz-Formen des Lebens in's Feld zu
führen. Er hat, der Reihe nach, die Kunst, den Heroismus, das Genie,
die Schönheit, das grosse Mitgefühl, die Erkenntniss, den Willen zur
Wahrheit, die Tragödie als Folgeerscheinungen der "Verneinung" oder
der Verneinungs-Bedürftigkeit des "Willens" interpretirt - die grösste
psychologische Falschmünzerei, die es, das Christenthum abgerechnet,
in der Geschichte giebt. Genauer zugesehn ist er darin bloss der Erbe
der christlichen Interpretation: nur dass er auch das vom Christenthum
Abgelehnte, die grossen Cultur-Thatsachen der Menschheit noch in einem
christlichen, das heisst nihilistischen Sinne gut zu heissen wusste
(- nämlich als Wege zur "Erlösung", als Vorformen der "Erlösung", als
Stimulantia des Bedürfnisses nach "Erlösung"... )


22.

Ich nehme einen einzelnen Fall. Schopenhauer spricht von der Schönheit
mit einer schwermüthigen Gluth, - warum letzten Grundes? Weil er in
ihr eine Brücke sieht, auf der man weiter gelangt, oder Durst bekommt,
weiter zu gelangen... Sie ist ihm die Erlösung vom "Willen" auf
Augenblicke - sie lockt zur Erlösung für immer... Insbesondere
preist er sie als Erlöserin vom "Brennpunkte des Willens", von der
Geschlechtlichkeit, - in der Schönheit sieht er den Zeugetrieb
verneint... Wunderlicher Heiliger! Irgend Jemand widerspricht dir, ich
fürchte, es ist die Natur. Wozu giebt es überhaupt Schönheit in Ton,
Farbe, Duft, rhythmischer Bewegung in der Natur? Was treibt die
Schönheit heraus?- Glücklicherweise widerspricht ihm auch ein
Philosoph. Keine geringere Autorität als die des göttlichen Plato (-
so nennt ihn Schopenhauer selbst) hält einen andern Satz aufrecht:
dass alle Schönheit zur Zeugung reize, - dass dies gerade das proprium
ihrer Wirkung sei, vom Sinnlichsten bis hinauf in's Geistigste...


23.

Plato geht weiter. Er sagt mit einer Unschuld, zu der man Grieche sein
muss und nicht "Christ", dass es gar keine platonische Philosophie
geben würde, wenn es nicht so schöne Jünglinge in Athen gäbe: deren
Anblick sei es erst, was die Seele des Philosophen in einen erotischen
Taumel versetze und ihr keine Ruhe lasse, bis sie den Samen aller
hohen Dinge in ein so schönes Erdreich hinabgesenkt habe. Auch ein
wunderlicher Heiliger! - man traut seinen Ohren nicht, gesetzt
selbst, dass man Plato traut. Zum Mindesten erräth man, dass in Athen
anders philosophirt wurde, vor Allem öffentlich. Nichts ist weniger
griechisch als die Begriffs-Spinneweberei eines Einsiedlers, amor
intellectualis dei nach Art des Spinoza. Philosophie nach Art des
Plato wäre eher als ein erotischer Wettbewerb zu definiren, als eine
Fortbildung und Verinnerlichung der alten agonalen Gymnastik und
deren Voraussetzungen... Was wuchs zuletzt aus dieser philosophischen
Erotik Plato's heraus? Eine neue Kunstform des griechischen Agon,
die Dialektik. - Ich erinnere noch, gegen Schopenhauer und zu Ehren
Plato's, daran, dass auch die ganze höhere Cultur und Litteratur des
klassischen Frankreichs auf dem Boden des geschlechtlichen Interesses
aufgewachsen ist. Man darf überall bei ihr die Galanterie, die Sinne,
den Geschlechts-Wettbewerb, das "Weib" suchen, - man wird nie umsonst
suchen...


24.

L'art pour l'art. - Der Kampf gegen den Zweck in der Kunst ist immer
der Kampf gegen die moralisirende Tendenz in der Kunst, gegen ihre
Unterordnung unter die Moral. L'art pour l'art heisst: "der Teufel
hole die Moral!" - Aber selbst noch diese Feindschaft verräth die
Übergewalt des Vorurtheils. Wenn man den Zweck des Moralpredigens und
Menschen-Verbesserns von der Kunst ausgeschlossen hat, so folgt daraus
noch lange nicht, dass die Kunst überhaupt zwecklos, ziellos, sinnlos,
kurz l'art pour l'art - ein Wurm, der sich in den Schwanz beisst -
ist. "Lieber gar keinen Zweck als einen moralischen Zweck!" - so redet
die blosse Leidenschaft. Ein Psycholog fragt dagegen: was thut alle
Kunst? lobt sie nicht? verherrlicht sie nicht? wählt sie nicht aus?
zieht sie nicht hervor? Mit dem Allen stärkt oder schwächt sie gewisse
Werthschätzungen... Ist dies nur ein Nebenbei? ein Zufall? Etwas, bei
dem der Instinkt des Künstlers gar nicht betheiligt wäre? Oder aber:
ist es nicht die Voraussetzung dazu, dass der Künstler kann...? Geht
dessen unterster Instinkt auf die Kunst oder nicht vielmehr auf den
Sinn der Kunst, das Leben? auf eine Wünschbarkeit von Leben?- Die
Kunst ist das grosse Stimulans zum Leben: wie könnte man sie als
zwecklos, als ziellos, als l'art pour l'art verstehn? - Eine Frage
bleibt zurück: die Kunst bringt auch vieles Hässliche, Harte,
Fragwürdige des Lebens zur Erscheinung, - scheint sie nicht damit vom
Leben zu entleiden? - Und in der That, es gab Philosophen, die ihr
diesen Sinn liehn: "loskommen vom Willen" lehrte Schopenhauer als
Gesammt-Absicht der Kunst, "zur Resignation stimmen" verehrte er als
die grosse Nützlichkeit der Tragödie. - Aber dies - ich gab es schon
zu verstehn - ist Pessimisten-Optik und "böser Blick" -: man muss an
die Künstler selbst appelliren. Was theilt der tragische Künstler
von sich mit? Ist es nicht gerade der Zustand ohne Furcht vor dem
Furchtbaren und Fragwürdigen, das er zeigt? - Dieser Zustand selbst
ist eine hohe Wünschbarkeit; wer ihn kennt, ehrt ihn mit den höchsten
Ehren. Er theilt ihn mit, er muss ihn mittheilen, vorausgesetzt, dass
er ein Künstler ist, ein Genie der Mittheilung. Die Tapferkeit und
Freiheit des Gefühls vor einem mächtigen Feinde, vor einem erhabenen
Ungemach, vor einem Problem, das Grauen erweckt - dieser siegreiche
Zustand ist es, den der tragische Künstler auswählt, den er
verherrlicht. Vor der Tragödie feiert das Kriegerische in unserer
Seele seine Saturnalien; wer Leid gewohnt ist, wer Leid aufsucht, der
heroische Mensch preist mit der Tragödie sein Dasein, - ihm allein
kredenzt der Tragiker den Trunk dieser süssesten Grausamkeit. -


25.

Mit Menschen fürlieb nehmen, mit seinem Herzen offen Haus halten, das
ist liberal, das ist aber bloss liberal. Man erkennt die Herzen, die
der vornehmen Gastfreundschaft fähig sind, an den vielen verhängten
Fenstern und geschlossenen Läden: ihre besten Räume halten sie leer.
Warum doch? - Weil sie Gäste erwarten, mit denen man nicht "fürlieb
nimmt"


26.

Wir schätzen uns nicht genug mehr, wenn wir uns mittheilen. Unsre
eigentlichen Erlebnisse sind ganz und gar nicht geschwätzig. Sie
könnten sich selbst nicht mittheilen, wenn sie wollten. Das macht, es
fehlt ihnen das Wort. Wofür wir Worte haben, darüber sind wir auch
schon hinaus. In allem Reden liegt ein Gran Verachtung. Die Sprache,
scheint es, ist nur für Durchschnittliches, Mittleres, Mittheilsames
erfunden. Mit der Sprache vulgarisirt sich bereits der Sprechende. -
Aus einer Moral für Taubstumme und andere Philosophen.


27.

"Dies Bildniss ist bezaubernd schön!"... Das Litteratur-Weib,
unbefriedigt, aufgeregt, öde in Herz und Eingeweide, mit schmerzhafter
Neugierde jederzeit auf den Imperativ hinhorchend, der aus den
Tiefen seiner Organisation "aut liberi aut libri" flüstert: das
Litteratur-Weib, gebildet genug, die Stimme der Natur zu verstehn,
selbst wenn sie Latein redet und andrerseits eitel und Gans genug, um
im Geheimen auch noch französisch mit sich zu sprechen "je me verrai,
je me lirai, je m'extasierai et je dirai: Possible, que j'aie eu tant
d'esprit?"


28.

Die "Unpersönlichen" kommen zu Wort. - "Nichts fällt uns leichter, als
weise, geduldig, überlegen zu sein. Wir triefen vom Öl der Nachsicht
und des Mitgefühls, wir sind auf eine absurde Weise gerecht, wir
verzeihen Alles. Eben darum sollten wir uns etwas strenger halten;
eben darum sollten wir uns, von Zeit zu Zeit, einen kleinen Affekt,
ein kleines Laster von Affect züchten. Es mag uns sauer angehn;
und unter uns lachen wir vielleicht über den Aspekt, den wir damit
geben. Aber was hilft es! Wir haben keine andre Art mehr übrig von
Selbstüberwindung: dies ist unsre Asketik, unser Büsserthum"...
Persönlich werden - die Tugend des "Unpersönlichen"...


29.

Aus einer Doctor-Promotion. - "Was ist die Aufgabe alles höheren
Schulwesens?" - Aus dem Menschen eine Maschine zu machen. - "Was ist
das Mittel dazu?" - Er muss lernen, sich langweilen. - "Wie erreicht
man das?" - Durch den Begriff der Pflicht. - "Wer ist sein Vorbild
dafür?" - Der Philolog: der lehrt ochsen. - "Wer ist der vollkommene
Mensch?" - Der Staats-Beamte. - "Welche Philosophie giebt die höchste
Formel für den Staats-Beamten?" - Die Kant's: der Staats-Beamte
als Ding an sich zum Richter gesetzt über den Staats-Beamten als
Erscheinung. -


30.

Das Recht auf Dummheit. - Der ermüdete und langsam athmende Arbeiter,
der gutmüthig blickt, der die Dinge gehen lässt, wie sie gehn: diese
typische Figur, der man jetzt, im Zeitalter der Arbeit (und des
"Reichs"! -) in allen Klassen der Gesellschaft begegnet, nimmt heute
gerade die Kunst für sich in Anspruch, eingerechnet das Buch, vor
Allem das Journal, - um wie viel mehr die schöne Natur, Italien... Der
Mensch des Abends, mit den "entschlafenen wilden Trieben", von denen
Faust redet, bedarf der Sommerfrische, des Seebads, der Gletscher,
Bayreuth's... In solchen Zeitaltern hat die Kunst ein Recht auf reine
Thorheit, - als eine Art Ferien für Geist, Witz und Gemüth. Das
verstand Wagner. Die reine Thorheit stellt wieder her...


31.

Noch ein Problem der Diät. - Die Mittel, mit denen Julius Cäsar sich
gegen Kränklichkeiten und Kopfschmerz vertheidigte: ungeheure Märsche,
einfachste Lebensweise, ununterbrochner Aufenthalt im Freien,
beständige Strapazen - das sind, in's Grosse gerechnet, die
Erhaltungs- und Schutz-Maassregeln überhaupt gegen die extreme
Verletzlichkeit jener subtilen und unter höchstem Druck arbeitenden
Maschine, welche Genie heisst. -


32.

Der Immoralist redet. - Einem Philosophen geht Nichts mehr wider
den Geschmack als der Mensch, sofern er wünscht... Sieht er den
Menschen nur in seinem Thun, sieht er dieses tapferste, listigste,
ausdauerndste Thier verirrt selbst in labyrinthische Nothlagen, wie
bewunderungswürdig erscheint ihm der Mensch! Er spricht ihm noch
zu... Aber der Philosoph verachtet den wünschenden Menschen, auch den
"wünschbaren" Menschen - und überhaupt alle Wünschbarkeiten, alle
Ideale des Menschen. Wenn ein Philosoph Nihilist sein könnte, so würde
er es sein, weil er das Nichts hinter allen Idealen des Menschen
findet. Oder noch nicht einmal das Nichts, - sondern nur das
Nichtswürdige, das Absurde, das Kranke, das Feige, das Müde, alle Art
Hefen aus dem ausgetrunkenen Becher seines Lebens... Der Mensch, der
als Realität so verehrungswürdig ist, wie kommt es, dass er keine
Achtung verdient, sofern er wünscht? Muss er es büssen, so tüchtig als
Realität zu sein? Muss er sein Thun, die Kopf- und Willensanspannung
in allem Thun, mit einem Gliederstrecken im Imaginären und Absurden
ausgleichen? - Die Geschichte seiner Wünschbarkeiten war bisher die
partie honteuse des Menschen: man soll sich hüten, zu lange in ihr zu
lesen. Was den Menschen rechtfertigt, ist seine Realität, - sie wird
ihn ewig rechtfertigen. Um wie viel mehr werth ist der wirkliche
Mensch, verglichen mit irgend einem bloss gewünschten, erträumten,
erstunkenen und erlogenen Menschen? mit irgend einem idealen
Menschen?... Und nur der ideale Mensch geht dem Philosophen wider den
Geschmack.


33.

Naturwerth des Egoismus. - Die Selbstsucht ist so viel werth, als Der
physiologisch werth ist, der sie hat: sie kann sehr viel werth sein,
sie kann nichtswürdig und verächtlich sein. Jeder Einzelne darf darauf
hin angesehen werden, ob er die aufsteigende oder die absteigende
Linie des Lebens darstellt. Mit einer Entscheidung darüber hat man
auch einen Kanon dafür, was seine Selbstsucht werth ist. Stellt
er das Aufsteigen der Linie dar, so ist in der That sein Werth
ausserordentlich, - und um des Gesammt-Lebens willen, das mit ihm
einen Schritt weiter thut, darf die Sorge um Erhaltung, um Schaffung
seines optimum von Bedingungen selbst extrem sein. Der Einzelne, das
"Individuum", wie Volk und Philosoph das bisher verstand, ist ja ein
Irrthum: er ist nichts für sich, kein Atom, kein "Ring der Kette",
nichts bloss Vererbtes von Ehedem, - er ist die ganze Eine Linie
Mensch bis zu ihm hin selber noch... Stellt er die absteigende
Entwicklung, den Verfall, die chronische Entartung, Erkrankung dar (-
Krankheiten sind, in's Grosse gerechnet, bereits Folgeerscheinungen
des Verfalls, nicht dessen Ursachen), so kommt ihm wenig Werth zu, und
die erste Billigkeit will, dass er den Wohlgerathenen so wenig als
möglich wegnimmt. Er ist bloss noch deren Parasit...


34.

Christ und Anarchist. - Wenn der Anarchist, als Mundstück
niedergehender Schichten der Gesellschaft, mit einer schönen
Entrüstung "Recht", "Gerechtigkeit", "gleiche Rechte" verlangt, so
steht er damit nur unter dem Drucke seiner Unkultur, welche nicht zu
begreifen weiss, warum er eigentlich leidet, - woran er arm ist, an
Leben... Ein Ursachen-Trieb ist in ihm mächtig: Jemand muss schuld
daran sein, dass er sich schlecht befindet... Auch thut ihm die
"schöne Entrüstung" selber schon wohl, es ist ein Vergnügen für alle
armen Teufel, zu schimpfen, - es giebt einen kleinen Rausch von Macht.
Schon die Klage, das Sich-Beklagen, kann dem Leben einen Reiz geben,
um dessentwillen man es aushält: eine feinere Dosis Rache ist in jeder
Klage, man wirft sein Schlechtbefinden, unter Umständen selbst seine
Schlechtigkeit Denen, die anders sind, wie ein Unrecht, wie ein
unerlaubtes Vorrecht vor. "Bin ich eine canaille, so solltest du
es auch sein": auf diese Logik hin macht man Revolution. - Das
Sich-Beklagen taugt in keinem Falle etwas: es stammt aus der Schwäche.
Ob man sein Schlecht-Befinden Andern oder sich selber zu misst -.
Ersteres thut der Socialist, Letzteres zum Beispiel der Christ -,
macht keinen eigentlichen Unterschied. Das Gemeinsame, sagen wir auch
das Unwürdige daran ist, dass jemand schuld daran sein soll, dass man
leidet - kurz, dass der Leidende sich gegen sein Leiden den Honig
der Rache verordnet. Die Objekte dieses Rach-Bedürfnisses als eines
Lust-Bedürfnisses sind Gelegenheits-Ursachen: der Leidende findet
überall Ursachen, seine kleine Rache zu kühlen, - ist er Christ,
nochmals gesagt, so findet er sie in sich... Der Christ und der
Anarchist - Beide sind décadents. - Aber auch wenn der Christ die
"Welt" verurtheilt, verleumdet, beschmutzt, so thut er es aus
dem gleichen Instinkte, aus dem der socialistische Arbeiter die
Gesellschaft verurtheilt, verleumdet, beschmutzt: das "jüngste
Gericht" selbst ist noch der süsse Trost der Rache - die Revolution,
wie sie auch der socialistische Arbeiter erwartet, nur etwas ferner
gedacht... Das "Jenseits" selbst - wozu ein Jenseits, wenn es nicht
ein Mittel wäre, das Diesseits zu beschmutzen?...


35.

Kritik der Décadence-Moral. Eine "altruistische" Moral, eine Moral,
bei der die Selbstsucht verkümmert -, bleibt unter allen Umständen ein
schlechtes Anzeichen. Dies gilt vom Einzelnen, dies gilt namentlich
von Völkern. Es fehlt am Besten, wenn es an der Selbstsucht zu fehlen
beginnt. Instinktiv das Sich-Schädliche wählen, Gelockt-werden durch
"uninteressirte" Motive giebt beinahe die Formel ab für décadence.
"Nicht seinen Nutzen suchen" - das ist bloss das moralische
Feigenblatt für eine ganz andere, nämlich physiologische
Thatsächlichkeit: "ich weiss meinen Nutzen nicht mehr zu finden"
Disgregation der Instinkte! - Es ist zu Ende mit ihm, wenn der Mensch
altruistisch wird. - Statt naiv zu sagen, "ich bin nichts mehr werth",
sagt die Moral Lüge im Munde des décadent: "Nichts ist etwas werth, -
das Leben ist nichts werth"... Ein solches Urtheil bleibt zuletzt eine
grosse Gefahr, es wirkt ansteckend, - auf dem ganzen morbiden Boden
der Gesellschaft wuchert es bald zu tropischer Begriffs-Vegetation
empor, bald als Religion (Christenthum), bald als Philosophie
(Schopenhauerei). Unter Umständen vergiftet eine solche aus Fäulniss
gewachsene Giftbaum-Vegetation mit ihrem Dunste weithin, auf
Jahrtausende hin das Leben...


36.

Moral für Ärzte. - Der Kranke ist ein Parasit der Gesellschaft. In
einem gewissen Zustande ist es unanständig, noch länger zu leben. Das
Fortvegetiren in feiger Abhängigkeit von Ärzten und Praktiken, nachdem
der Sinn vom Leben, das Recht zum Leben verloren gegangen ist, sollte
bei der Gesellschaft eine tiefe Verachtung nach sich ziehn. Die Ärzte
wiederum hätten die Vermittler dieser Verachtung zu sein, - nicht
Recepte, sondern jeden Tag eine neue Dosis Ekel vor ihrem Patienten...
Eine neue Verantwortlichkeit schaffen, die des Arztes, für alle Fälle,
wo das höchste Interesse des Lebens, des aufsteigenden Lebens, das
rücksichtsloseste Nieder- und Beiseite-Drängen des entartenden Lebens
verlangt - zum Beispiel für das Recht auf Zeugung, für das Recht,
geboren zu werden, für das Recht, zu leben... Auf eine stolze Art
sterben, wenn es nicht mehr möglich ist, auf eine stolze Art zu leben.
Der Tod, aus freien Stücken gewählt, der Tod zur rechten Zeit, mit
Helle und Freudigkeit, inmitten von Kindern und Zeugen vollzogen: so
dass ein wirkliches Abschiednehmen noch möglich ist, wo Der noch da
ist, der sich verabschiedet, insgleichen ein wirkliches Abschätzen
des Erreichten und Gewollten, eine Summirung des Lebens - Alles im
Gegensatz zu der erbärmlichen und schauderhaften Komödie, die das
Christenthum mit der Sterbestunde getrieben hat. Man soll es dem
Christenthume nie vergessen, dass es die Schwäche des Sterbenden
zu Gewissens-Nothzucht, dass es die Art des Todes selbst zu
Werth-Urtheilen über Mensch und Vergangenheit gemissbraucht hat! -
Hier gilt es, allen Feigheiten des Vorurtheils zum Trotz, vor Allem
die richtige, das heisst physiologische Würdigung des sogenannten
natürlichen Todes herzustellen: der zuletzt auch nur ein
"unnatürlicher", ein Selbstmord ist. Man geht nie durch jemand Anderes
zu Grunde, als durch sich selbst. Nur ist es der Tod unter den
verächtlichsten Bedingungen, ein unfreier Tod, ein Tod zur unrechten
Zeit, ein Feiglings Tod. Man sollte, aus Liebe zum Leben -, den Tod
anders wollen, frei, bewusst, ohne Zufall, ohne Überfall... Endlich
ein Rath für die Herrn Pessimisten und andere décadents. Wir haben es
nicht in der Hand, zu verhindern, geboren zu werden: aber wir können
diesen Fehler - denn bisweilen ist es ein Fehler - wieder gut machen.
Wenn man sich abschafft, thut man die achtungswürdigste Sache, die es
giebt: man verdient beinahe damit, zu leben... Die Gesellschaft, was
sage ich! Das Leben selber hat mehr Vortheil davon, als durch irgend
welches "Leben" in Entsagung, Bleichsucht und andrer Tugend -, man hat
die Andern von seinem Anblick befreit, man hat das Leben von einem
Einwand befreit... Der Pessimismus, pur, vert, beweist sich erst durch
die Selbst-Widerlegung der Herrn Pessimisten: man muss einen Schritt
weiter gehn in seiner Logik, nicht bloss mit "Wille und Vorstellung",
wie Schopenhauer es that, das Leben verneinen -, man muss
Schopenhauern zuerst verneinen... Der Pessimismus, anbei gesagt, so
ansteckend er ist, vermehrt trotzdem nicht die Krankhaftigkeit einer
Zeit, eines Geschlechts im Ganzen: er ist deren Ausdruck. Man verfällt
ihm, wie man der Cholera verfällt: man muss morbid genug dazu schon
angelegt sein. Der Pessimismus selbst macht keinen einzigen décadent
mehr; ich erinnere an das Ergebniss der Statistik, dass die Jahre, in
denen die Cholera wüthet, sich in der Gesammt-Ziffer der Sterbefälle
nicht von andern Jahrgängen unterscheiden.


37.

Ob wir moralischer geworden sind. - Gegen meinen Begriff "jenseits von
Gut und Böse" hat sich, wie zu erwarten stand, die ganze Ferocität der
moralischen Verdummung, die bekanntlich in Deutschland als die Moral
selber gilt -, in's Zeug geworfen: ich hätte artige Geschichten davon
zu erzählen. Vor Allem gab man mir die "unleugbare Überlegenheit"
unsrer Zeit im sittlichen Urtheil zu überdenken, unsern wirklich hier
gemachten Fortschritt: ein Cesare Borgia sei, im Vergleich mit uns,
durchaus nicht als ein "höherer Mensch", als eine Art Übermensch, wie
ich es thue, aufzustellen... Ein Schweizer Redakteur, vom "Bund",
gieng so weit, nicht ohne seine Achtung vor dem Muth zu solchem
Wagniss auszudrücken, den Sinn meines Werks dahin zu "verstehn",
dass ich mit demselben die Abschaffung aller anständigen Gefühle
beantragte. Sehr verbunden! - Ich erlaube mir, als Antwort, die Frage
aufzuwerfen, ob wir wirklich moralischer geworden sind. Dass alle Welt
das glaubt, ist bereits ein Einwand dagegen... Wir modernen Menschen,
sehr zart, sehr verletzlich und hundert Rücksichten gebend und
nehmend, bilden uns in der That ein, diese zärtliche Menschlichkeit,
die wir darstellen, diese erreichte Einmüthigkeit in der Schonung, in
der Hülfsbereitschaft, im gegenseitigen Vertrauen sei ein positiver
Fortschritt, damit seien wir weit über die Menschen der Renaissance
hinaus. Aber so denkt jede Zeit, so muss sie denken. Gewiss ist, dass
wir uns nicht in Renaissance-Zustände hineinstellen dürften, nicht
einmal hineindenken: unsre Nerven hielten jene Wirklichkeit nicht aus,
nicht zu reden von unsern Muskeln. Mit diesem Unvermögen ist aber
kein Fortschritt bewiesen, sondern nur eine andre, eine spätere
Beschaffenheit, eine schwächere, zärtlichere, verletzlichere, aus der
sich nothwendig eine rücksichtenreiche Moral erzeugt. Denken wir unsre
Zartheit und Spätheit, unsre physiologische Alterung weg, so verlöre
auch unsre Moral der "Vermenschlichung" sofort ihren Werth - an sich
hat keine Moral Werth -: sie würde uns selbst Geringschätzung machen.
Zweifeln wir andrerseits nicht daran, dass wir Modernen mit unsrer
dick wattirten Humanität, die durchaus an keinen Stein sich stossen
Will, den Zeitgenossen Cesare Borgia's eine Komödie zum Todtlachen
abgeben würden. In der That, wir sind über die Maassen unfreiwillig
spasshaft, mit unsren modernen "Tugenden"... Die Abnahme der
feindseligen und misstrauenweckenden Instinkte - und das wäre ja unser
"Fortschritt" - stellt nur eine der Folgen in der allgemeinen Abnahme
der Vitalität dar: es kostet hundert Mal mehr Mühe, mehr Vorsicht,
ein so bedingtes, so spätes Dasein durchzusetzen. Da hilft man sich
gegenseitig, da ist Jeder bis zu einem gewissen Grade Kranker und
Jeder Krankenwärter. Das heisst dann "Tugend" -: unter Menschen,
die das Leben noch anders kannten, voller, verschwenderischer,
überströmender, hätte man's anders genannt, "Feigheit" vielleicht,
"Erbärmlichkeit", "Altweiber-Moral"... Unsre Milderung der Sitten -
das ist mein Satz, das ist, wenn man will, meine Neuerung - ist eine
Folge des Niedergangs; die Härte und Schrecklichkeit der Sitte kann
umgekehrt eine Folge des Überschusses von Leben sein: dann nämlich
darf auch Viel gewagt, Viel herausgefordert, Viel auch vergeudet
werden. Was Würze ehedem des Lebens war, für uns wäre es Gift...
Indifferent zu sein - auch das ist eine Form der Stärke - dazu sind
wir gleichfalls zu alt, zu spät: unsre Mitgefühls-Moral, vor der
ich als der Erste gewarnt habe, Das, was man l'impressionisme
morale nennen könnte, ist ein Ausdruck mehr der physiologischen
Überreizbarkeit, die Allem, was décadent ist, eignet. Jene Bewegung,
die mit der Mitleids-Moral Schopenhauer's versucht hat, sich
wissenschaftlich vorzuführen - ein sehr unglücklicher Versuch! - ist
die eigentliche décadence-Bewegung in der Moral, sie ist als solche
tief verwandt mit der christlichen Moral. Die starken Zeiten, die
vornehmen Culturen sehen im Mitleiden, in der "Nächstenliebe", im
Mangel an Selbst und Selbstgefühl etwas Verächtliches. - Die Zeiten
sind zu messen nach ihren positiven Kräften - und dabei ergiebt sich
jene so verschwenderische und verhängnissreiche Zeit der Renaissance
als die letzte grosse Zeit, und wir, wir Modernen mit unsrer
ängstlichen Selbst-Fürsorge und Nächstenliebe, mit unsren Tugenden
der Arbeit, der Anspruchslosigkeit, der Rechtlichkeit, der
Wissenschaftlichkeit - sammelnd, ökonomisch, machinal - als eine
schwache Zeit... Unsre Tugenden sind bedingt, sind herausgefordert
durch unsre Schwäche... Die "Gleichheit", eine gewisse thatsächliche
Anähnlichung, die sich in der Theorie von "gleichen Rechten" nur zum
Ausdruck bringt, gehört wesentlich zum Niedergang: die Kluft zwischen
Mensch und Mensch, Stand und Stand, die Vielheit der Typen, der Wille,
selbst zu sein, sich abzuheben, Das, was ich Pathos der Distanz nenne,
ist jeder starken Zeit zu eigen. Die Spannkraft, die Spannweite
zwischen den Extremen wird heute immer kleiner, - die Extreme selbst
verwischen sich endlich bis zur Ähnlichkeit... Alle unsre politischen
Theorien und Staats-Verfassungen, das "deutsche Reich" durchaus nicht
ausgenommen, sind Folgerungen, Folge-Nothwendigkeiten des Niedergangs;
die unbewusste Wirkung der décadence ist bis in die Ideale einzelner
Wissenschaften hinein Herr geworden. Mein Einwand gegen die ganze
Sociologie in England und Frankreich bleibt, dass sie nur die
Verfalls-Gebilde der Societät aus Erfahrung kennt und vollkommen
unschuldig die eigenen Verfalls-Instinkte als Norm des sociologischen
Werthurteils nimmt. Das niedergehende Leben, die Abnahme aller
organisirenden, das heisst trennenden, Klüfte aufreissenden, unter-
und überordnenden Kraft formulirt sich in der Sociologie von heute
zum Ideal... Unsre Socialisten sind décadents, aber auch Herr Herbert
Spencer ist ein décadent, - er sieht im Sieg des Altruismus etwas
Wünschenswerthes!...


38.

Mein Begriff von Freiheit. - Der Werth einer Sache liegt mitunter
nicht in dem, was man mit ihr erreicht, sondern in dem, was man
für sie bezahlt, - was sie uns kostet. Ich gebe ein Beispiel. Die
liberalen Institutionen hören alsbald auf, liberal zu sein, sobald
sie erreicht sind: es giebt später keine ärgeren und gründlicheren
Schädiger der Freiheit, als liberale Institutionen. Man weiss ja, was
sie zu Wege bringen: sie unterminiren den Willen zur Macht, sie sind
die zur Moral erhobene Nivellirung von Berg und Tal, sie machen
klein, feige und genüsslich, - mit ihnen triumphirt jedesmal das
Heerdenthier. Liberalismus: auf deutsch Heerden-Verthierung...
Dieselben Institutionen bringen, so lange sie noch erkämpft werden,
ganz andere Wirkungen hervor; sie fördern dann in der That die
Freiheit auf eine mächtige Weise. Genauer zugesehn, ist es der Krieg,
der diese Wirkungen hervorbringt, der Krieg um liberale Institutionen,
der als Krieg die illiberalen Instinkte dauern lässt. Und der Krieg
erzieht zur Freiheit. Denn was ist Freiheit! Dass man den Willen zur
Selbstverantwortlichkeit hat. Dass man die Distanz, die uns abtrennt,
festhält. Dass man gegen Mühsal, Härte, Entbehrung, selbst gegen das
Leben gleichgültiger wird. Dass man bereit ist, seiner Sache Menschen
zu opfern, sich selber nicht abgerechnet. Freiheit bedeutet, dass
die männlichen, die kriegs- und siegsfrohen Instinkte die Herrschaft
haben über andre Instinkte, zum Beispiel über die des "Glücks". Der
freigewordne Mensch, um wie viel mehr der freigewordne Geist, tritt
mit Füssen auf die verächtliche Art von Wohlbefinden, von dem Krämer,
Christen, Kühe, Weiber, Engländer und andre Demokraten träumen. Der
freie Mensch ist Krieger. - Wonach misst sich die Freiheit, bei
Einzelnen, wie bei Völkern? Nach dem Widerstand, der überwunden werden
muss, nach der Mühe, die es kostet, oben zu bleiben. Den höchsten
Typus freier Menschen hätte man dort zu suchen, wo beständig der
höchste Widerstand überwunden wird: fünf Schritt weit von der
Tyrannei, dicht an der Schwelle der Gefahr der Knechtschaft. Dies ist
psychologisch wahr, wenn man hier unter den "Tyrannen" unerbittliche
und furchtbare Instinkte begreift, die das Maximum von Autorität und
Zucht gegen sich herausfordern - schönster Typus Julius Caesar -;
dies ist auch politisch wahr, man mache nur seinen Gang durch die
Geschichte. Die Völker, die Etwas werth waren, werth wurden, wurden
dies nie unter liberalen Institutionen: die grosse Gefahr machte
Etwas aus ihnen, das Ehrfurcht verdient, die Gefahr, die uns unsre
Hülfsmittel, unsre Tugenden, unsre Wehr und Waffen, unsern Geist erst
kennen lehrt, - die uns zwingt, stark zu sein... Erster Grundsatz:
man muss es nöthig haben, stark zu sein: sonst wird man's nie. - Jene
grossen Treibhäuser für starke, für die stärkste Art Mensch, die es
bisher gegeben hat, die aristokratischen Gemeinwesen in der Art von
Rom und Venedig verstanden Freiheit genau in dem Sinne, wie ich das
Wort Freiheit verstehe: als Etwas, das man hat und nicht hat, das man
will, das man erobert...


39.

Kritik der Modernität. - Unsre Institutionen taugen nichts mehr:
darüber ist man einmüthig. Aber das liegt nicht an ihnen, sondern an
uns. Nachdem uns alle Instinkte abhanden gekommen sind, aus denen
Institutionen wachsen, kommen uns Institutionen überhaupt abhanden,
weil wir nicht mehr zu ihnen taugen. Demokratismus war jeder Zeit
die Niedergangs-Form der organisirenden Kraft: ich habe schon in
"Menschliches, Allzumenschliches" 1, 318 die moderne Demokratie sammt
ihren Halbheiten, wie "deutsches Reich", als Verfallsform des Staats
gekennzeichnet. Damit es Institutionen giebt, muss es eine Art Wille,
Instinkt, Imperativ geben, antiliberal bis zur Bosheit: den Willen
zur Tradition, zur Autorität, zur Verantwortlichkeit auf Jahrhunderte
hinaus, zur Solidarität von Geschlechter-Ketten vorwärts und rückwärts
in infinitum. Ist dieser Wille da, so gründet sich Etwas wie das
imperium Romanum: oder wie Russland, die einzige Macht, die heute
Dauer im Leibe hat, die warten kann, die Etwas noch versprechen kann,
- Russland der Gegensatz-Begriff zu der erbärmlichen europäischen
Kleinstaaterei und Nervosität, die mit der Gründung des deutschen
Reichs in einen kritischen Zustand eingetreten ist... Der ganze Westen
hat jene Instinkte nicht mehr, aus denen Institutionen wachsen, aus
denen Zukunft wächst: seinem "modernen Geiste" geht vielleicht Nichts
so sehr wider den Strich. Man lebt für heute, man lebt sehr geschwind,
- man lebt sehr unverantwortlich: dies gerade nennt man "Freiheit".
Was aus Institutionen Institutionen macht, wird verachtet, gehasst,
abgelehnt: man glaubt sich in der Gefahr einer neuen Sklaverei, wo das
Wort "Autorität" auch nur laut wird. So weit geht die décadence im
Werth-Instinkte unsrer Politiker, unsrer politischen Parteien: sie
ziehn instinktiv vor, was auflöst, was das Ende beschleunigt...
Zeugniss die moderne Ehe. Aus der modernen Ehe ist ersichtlich alle
Vernunft abhanden gekommen: das giebt aber keinen Einwand gegen die
Ehe ab, sondern gegen die Modernität. Die Vernunft der Ehe - sie lag
in der juristischen Alleinverantwortlichkeit des Mannes: damit hatte
die Ehe Schwergewicht, während sie heute auf beiden Beinen hinkt. Die
Vernunft der Ehe - sie lag in ihrer principiellen Unlösbarkeit: damit
bekam sie einen Accent, der, dem Zufall von Gefühl, Leidenschaft
und Augenblick gegenüber, sich Gehör zu schaffen wusste. Sie lag
insgleichen in der Verantwortlichkeit der Familien für die Auswahl
der Gatten. Man hat mit der wachsenden Indulgenz zu Gunsten der
Liebes-Heirath geradezu die Grundlage der Ehe, Das, was erst aus ihr
eine Institution macht, eliminirt. Man gründet eine Institution nie
und nimmermehr auf eine Idiosynkrasie, man gründet die Ehe nicht, wie
gesagt, auf die "Liebe", - man gründet sie auf den Geschlechtstrieb,
auf den Eigenthumstrieb (Weib und Kind als Eigenthum), auf den
Herrschafts-Trieb, der sich beständig das kleinste Gebilde der
Herrschaft, die Familie, organisirt, der Kinder und Erben braucht, um
ein erreichtes Maass von Macht, Einfluss, Reichthum auch physiologisch
festzuhalten, um lange Aufgaben, um Instinkt-Solidarität zwischen
Jahrhunderten vorzubereiten. Die Ehe als Institution begreift bereits
die Bejahung der grössten, der dauerhaftesten Organisationsform in
sich: wenn die Gesellschaft selbst nicht als Ganzes für sich gutsagen
kann bis in die fernsten Geschlechter hinaus, so hat die Ehe überhaupt
keinen Sinn. - Die moderne Ehe verlor ihren Sinn, - folglich schafft
man sie ab. -


40.

Die Arbeiter-Frage. - Die Dummheit, im Grunde die Instinkt-Entartung,
welche heute die Ursache aller Dummheiten ist, liegt darin, dass es
eine Arbeiter-Frage giebt. Über gewisse Dinge fragt man nicht: erster
Imperativ des Instinktes. - Ich sehe durchaus nicht ab, was man mit
dem europäischen Arbeiter machen will, nachdem man erst eine Frage aus
ihm gemacht hat. Er befindet sich viel zu gut, um nicht Schritt für
Schritt mehr zu fragen, unbescheidner zu fragen. Er hat zuletzt die
grosse Zahl für sich. Die Hoffnung ist vollkommen vorüber, dass hier
sich eine bescheidene und selbstgenügsame Art Mensch, ein Typus
Chinese zum Stande herausbilde: und dies hätte Vernunft gehabt, dies
wäre geradezu eine Nothwendigkeit gewesen. Was hat man gethan? -
Alles, um auch die Voraussetzung dazu im Keime zu vernichten, - man
hat die Instinkte, vermöge deren ein Arbeiter als Stand möglich, sich
selber möglich wird, durch die unverantwortlichste Gedankenlosigkeit
in Grund und Boden zerstört. Man hat den Arbeiter militärtüchtig
gemacht, man hat ihm das Coalitions-Recht, das politische Stimmrecht
gegeben: was Wunder, wenn der Arbeiter seine Existenz heute bereits
als Nothstand (moralisch ausgedrückt als Unrecht -) empfindet? Aber
was will man? nochmals gefragt. Will man einen Zweck, muss man auch
die Mittel wollen: will man Sklaven, so ist man ein Narr, wenn man sie
zu Herrn erzieht. -


41.

"Freiheit, die ich nicht meine..." In solchen Zeiten, wie heute,
seinen Instinkten überlassen sein, ist ein Verhängniss mehr.
Diese Instinkte widersprechen, stören sich, zerstören sich unter
einander; ich definirte das Moderne bereits als den physiologischen
Selbst-Widerspruch. Die Vernunft der Erziehung würde wollen, dass
unter einem eisernen Drucke wenigstens Eins dieser Instinkt-Systeme
paralysirt würde, um einem andren zu erlauben, zu Kräften zu kommen,
stark zu werden, Herr zu werden. Heute müsste man das Individuum erst
möglich machen, indem man dasselbe beschneidet: möglich, das heisst
ganz... Das Umgekehrte geschieht: der Anspruch auf Unabhängigkeit,
auf freie Entwicklung, auf laisser aller wird gerade von Denen am
hitzigsten gemacht, für die kein Zügel zu streng wäre - dies gilt
in politicis, dies gilt in der Kunst. Aber das ist ein Symptom der
décadence: unser moderner Begriff "Freiheit" ist ein Beweis von
Instinkt-Entartung mehr. -


42.

Wo Glaube noth thut. - Nichts ist seltner unter Moralisten und
Heiligen als Rechtschaffenheit; vielleicht sagen sie das Gegentheil,
vielleicht glauben sie es selbst. Wenn nämlich ein Glaube nützlicher,
wirkungsvoller, überzeugender ist, als die bewusste Heuchelei, so
wird, aus Instinkt, die Heuchelei alsbald zur Unschuld: erster Satz
zum Verständniss grosser Heiliger. Auch bei den Philosophen, einer
andren Art von Heiligen, bringt es das ganze Handwerk mit sich, dass
sie nur gewisse Wahrheiten zulassen: nämlich solche, auf die hin ihr
Handwerk die öffentliche Sanktion hat, - Kantisch geredet, Wahrheiten
der praktischen Vernunft. Sie wissen, was sie beweisen müssen, darin
sind sie praktisch, - sie erkennen sich unter einander daran, dass sie
über "die Wahrheiten" übereinstimmen. - "Du sollst nicht lügen" - auf
deutsch: hüten Sie sich, mein Herr Philosoph, die Wahrheit zu sagen...


43.

Den Conservativen in's Ohr gesagt. - Was man früher nicht wusste, was
man heute weiss, wissen könnte -, eine Rückbildung, eine Umkehr in
irgend welchem Sinn und Grade ist gar nicht möglich. Wir Physiologen
wenigstens wissen das. Aber alle Priester und Moralisten haben
daran geglaubt, - sie wollten die Menschheit auf ein früheres
Maass von Tugend zurückbringen, zurückschrauben. Moral war immer
ein Prokrustes-Bett. Selbst die Politiker haben es darin den
Tugendpredigern nachgemacht: es giebt auch heute noch Parteien, die
als Ziel den Krebsgang aller Dinge träumen. Aber es steht Niemandem
frei, Krebs zu sein. Es hilft nichts: man muss vorwärts, will sagen
Schritt für Schritt weiter in der décadence (- dies meine Definition
des modernen "Fortschritts"... ). Man kann diese Entwicklung hemmen
und, durch Hemmung, die Entartung selber stauen, aufsammeln,
vehementer und plötzlicher machen: mehr kann man nicht. -


44.

Mein Begriff vom Genie. - Grosse Männer sind wie grosse Zeiten
Explosiv-Stoffe, in denen eine ungeheure Kraft aufgehäuft ist; ihre
Voraussetzung ist immer, historisch und physiologisch, dass lange auf
sie hin gesammelt, gehäuft, gespart und bewahrt worden ist, - dass
lange keine Explosion stattfand. Ist die Spannung in der Masse zu
gross geworden, so genügt der zufälligste Reiz, das "Genie", die
"That", das grosse Schicksal in die Welt zu rufen. Was liegt dann an
Umgebung, an Zeitalter, an "Zeitgeist", an "öffentlicher Meinung"!
- Man nehme den Fall Napoleon's. Das Frankreich der Revolution, und
noch mehr das der Vorrevolution, würde aus sich den entgegengesetzten
Typus, als der Napoleon's ist, hervorgebracht haben: es hat ihn auch
hervorgebracht. Und weil Napoleon anders war, Erbe einer stärkeren,
längeren, älteren Civilisation als die, welche in Frankreich in Dampf
und Stücke gieng, wurde er hier Herr, war er allein hier Herr. Die
grossen Menschen sind nothwendig, die Zeit, in der sie erscheinen, ist
zufällig; dass sie fast immer über dieselbe Herr werden, liegt nur
darin, dass sie stärker, dass sie älter sind, dass länger auf sie hin
gesammelt worden ist. Zwischen einem Genie und seiner Zeit besteht ein
Verhältniss, wie zwischen stark und schwach, auch wie zwischen alt
und jung: die Zeit ist relativ immer viel jünger, dünner, unmündiger,
unsicherer, kindischer. - Dass man hierüber in Frankreich heute sehr
anders denkt (in Deutschland auch: aber daran liegt nichts), dass dort
die Theorie vom milieu, eine wahre Neurotiker-Theorie, sakrosankt und
beinahe wissenschaftlich geworden ist und bis unter die Physiologen
Glauben findet, das "riecht nicht gut", das macht Einem traurige
Gedanken. - Man versteht es auch in England nicht anders, doch darüber
wird sich kein Mensch betrüben. Dem Engländer stehen nur zwei Wege
offen, sich mit dem Genie und "grossen Manne" abzufinden: entweder
demokratisch in der Art Buckle's oder religiös in der Art Carlyle's.
- Die Gefahr, die in grossen Menschen und Zeiten liegt, ist ausser
ordentlich; die Erschöpfung jeder Art, die Sterilität folgt ihnen
auf dem Fusse. Der grosse Mensch ist ein Ende; die grosse Zeit, die
Renaissance zum Beispiel, ist ein Ende. Das Genie - in Werk, in That
- ist nothwendig ein Verschwender: dass es sich ausgiebt, ist seine
Grösse... Der Instinkt der Selbsterhaltung ist gleichsam ausgehängt;
der übergewaltige Druck der ausströmenden Kräfte verbietet ihm jede
solche Obhut und Vorsicht. Man nennt das "Aufopferung"; man rühmt
seinen "Heroismus" darin, seine Gleichgültigkeit gegen das eigne Wohl,
seine Hingebung für eine Idee, eine grosse Sache, ein Vaterland: Alles
Missverständnisse... Er strömt aus, er strömt über, er verbraucht
sich, er schont sich nicht, - mit Fatalität, verhängnissvoll,
unfreiwillig, wie das Ausbrechen eines Flusses über seine Ufer
unfreiwillig ist. Aber weil man solchen Explosiven viel verdankt, hat
man ihnen auch viel dagegen geschenkt, zum Beispiel eine Art höherer
Moral... Das ist ja die Art der menschlichen Dankbarkeit: sie
missversteht ihre Wohlthäter.-


45.

Der Verbrecher und was ihm verwandt ist. - Der Verbrecher-Typus, das
ist der Typus des starken Menschen unter ungünstigen Bedingungen, ein
krank gemachter starker Mensch. Ihm fehlt die Wildniss, eine gewisse
freiere und gefährlichere Natur und Daseinsform, in der Alles, was
Waffe und Wehr im Instinkt des starken Menschen ist, zu Recht besteht.
Seine Tugenden sind von der Gesellschaft in Bann gethan; seine
lebhaftesten Triebe, die er mitgebracht hat, verwachsen alsbald mit
den niederdrückenden Affekten, mit dem Verdacht, der Furcht, der
Unehre. Aber dies ist beinahe das Recept zur physiologischen
Entartung. Wer Das, was er am besten kann, am liebsten thäte, heimlich
thun muss, mit langer Spannung, Vorsicht, Schlauheit, wird anämisch;
und weil er immer nur Gefahr, Verfolgung, Verhängniss von seinen
Instinkten her erntet, verkehrt sich auch sein Gefühl gegen diese
Instinkte - er fühlt sie fatalistisch. Die Gesellschaft ist es,
unsre zahme, mittelmässige, verschnittene Gesellschaft, in der ein
naturwüchsiger Mensch, der vom Gebirge her oder aus den Abenteuern
des Meeres kommt, nothwendig zum Verbrecher entartet. Oder beinahe
nothwendig: denn es giebt Fälle, wo ein solcher Mensch sich stärker
erweist als die Gesellschaft: der Corse Napoleon ist der berühmteste
Fall. Für das Problem, das hier vorliegt, ist das Zeugniss
Dostoiewsky's von Belang - Dostoiewsky's, des einzigen Psychologen,
anbei gesagt, von dem ich Etwas zu lernen hatte: er gehört zu den
schönsten Glücksfällen meines Lebens, mehr selbst noch als die
Entdeckung Stendhal's. Dieser tiefe Mensch, der zehn Mal Recht hatte,
die oberflächlichen Deutschen gering zu schätzen, hat die sibirischen
Zuchthäusler, in deren Mitte er lange lebte, lauter schwere
Verbrecher, für die es keinen Rückweg zur Gesellschaft mehr gab,
sehr anders empfunden als er selbst erwartete - ungefähr als aus
dem besten, härtesten und werthvollsten Holze geschnitzt, das auf
russischer Erde überhaupt wächst. Verallgemeinern wir den Fall des
Verbrechers: denken wir uns Naturen, denen, aus irgend einem Grunde,
die öffentliche Zustimmung fehlt, die wissen, dass sie nicht als
wohlthätig, als nützlich empfunden werden, - jenes Tschandala-Gefühl,
dass man nicht als gleich gilt, sondern als ausgestossen, unwürdig,
verunreinigend. Alle solche Naturen haben die Farbe des Unterirdischen
auf Gedanken und Handlungen; an ihnen wird Jegliches bleicher als
an Solchen, auf deren Dasein das Tageslicht ruht. Aber fast alle
Existenzformen, die wir heute auszeichnen, haben ehemals unter dieser
halben Grabesluft gelebt: der wissenschaftliche Charakter, der Artist,
das Genie, der freie Geist, der Schauspieler, der Kaufmann, der grosse
Entdecker... So lange der Priester als oberster Typus galt, war jede
werthvolle Art Mensch entwerthet... Die Zeit kommt - ich verspreche
das - wo er als der niedrigste gelten wird, als unser Tschandala, als
die verlogenste, als die unanständigste Art Mensch... Ich richte die
Aufmerksamkeit darauf, wie noch jetzt, unter dem mildesten Regiment
der Sitte, das je auf Erden, zum Mindesten in Europa, geherrscht
hat, jede Abseitigkeit, jedes lange, allzulange Unterhalb, jede
ungewöhnliche, undurchsichtige Daseinsform jenem Typus nahe bringt,
den der Verbrecher vollendet. Alle Neuerer des Geistes haben eine Zeit
das fahle und fatalistische Zeichen des Tschandala auf der Stirn:
nicht, weil sie so empfunden würden, sondern weil sie selbst die
furchtbare Kluft fühlen, die sie von allem Herkömmlichen und in Ehren
Stehenden trennt. Fast jedes Genie kennt als eine seiner Entwicklungen
die "catilinarische Existenz", ein Hass-, Rache- und Aufstands-Gefühl
gegen Alles, was schon ist, was nicht mehr wird... Catilina - die
Präexistenz-Form jedes Caesar. -


46.

Hier ist die Aussicht frei. - Es kann Höhe der Seele sein, wenn ein
Philosoph schweigt; es kann Liebe sein, wenn er sich widerspricht; es
ist eine Höflichkeit des Erkennenden möglich, welche lügt. Man hat
nicht ohne Feinheit gesagt: il est indigne des grands coeurs de
répandre le trouble, qu'ils ressentent: nur muss man hinzufügen, dass
vor dem Unwürdigsten sich nicht zu fürchten ebenfalls Grösse der Seele
sein kann. Ein Weib, das liebt, opfert seine Ehre; ein Erkennender,
welcher "liebt", opfert vielleicht seine Menschlichkeit; ein Gott,
welcher liebte, ward Jude...


47.

Die Schönheit kein Zufall. - Auch die Schönheit einer Rasse oder
Familie, ihre Anmuth und Güte in allen Gebärden wird erarbeitet: sie
ist, gleich dem Genie, das Schlussergebniss der accumulirten Arbeit
von Geschlechtern. Man muss dem guten Geschmacke grosse Opfer gebracht
haben, man muss um seinetwillen Vieles gethan, Vieles gelassen haben
- das siebzehnte Jahrhundert Frankreichs ist bewunderungswürdig in
Beidem -, man muss in ihm ein Princip der Wahl, für Gesellschaft, Ort,
Kleidung, Geschlechtsbefriedigung gehabt haben, man muss Schönheit dem
Vortheil, der Gewohnheit, der Meinung, der Trägheit vorgezogen haben.
Oberste Richtschnur: man muss sich auch vor sich selber nicht "gehen
lassen". - Die guten Dinge sind über die Maassen kostspielig: und
immer gilt das Gesetz, dass wer sie hat, ein Andrer ist, als wer
sie erwirbt. Alles Gute ist Erbschaft: was nicht ererbt ist, ist
unvollkommen, ist Anfang... In Athen waren zur Zeit Cicero's, der
darüber seine Überraschung ausdrückt, die Männer und Jünglinge bei
weitem den Frauen an Schönheit überlegen: aber welche Arbeit und
Anstrengung im Dienste der Schönheit hatte daselbst das männliche
Geschlecht seit Jahrhunderten von sich verlangt! - Man soll sich
nämlich über die Methodik hier nicht vergreifen: eine blosse Zucht
von Gefühlen und Gedanken ist beinahe Null (- hier liegt das grosse
Missverständniss der deutschen Bildung, die ganz illusorisch ist):
man muss den Leib zuerst überreden. Die strenge Aufrechterhaltung
bedeutender und gewählter Gebärden, eine Verbindlichkeit, nur mit
Menschen zu leben, die sich nicht "gehen lassen", genügt vollkommen,
um bedeutend und gewählt zu werden: in zwei, drei Geschlechtern ist
bereits Alles verinnerlicht. Es ist entscheidend über das Loos von
Volk und Menschheit, dass man die Cultur an der rechten Stelle beginnt
- nicht an der "Seele" (wie es der verhängnissvolle Aberglaube der
Priester und Halb-Priester war): die rechte Stelle ist der Leib, die
Gebärde, die Diät, die Physiologie, der Rest folgt daraus... Die
Griechen bleiben deshalb das erste Cultur-Ereigniss der Geschichte -
sie wussten, sie thaten, was Noth that; das Christenthum, das den Leib
verachtete, war bisher das grösste Unglück der Menschheit. -


48.

Fortschritt in meinem Sinne. - Auch ich rede von "Rückkehr zur Natur",
obwohl es eigentlich nicht ein Zurückgehn, sondern ein Hinaufkommen
ist - hinauf in die hohe, freie, selbst furchtbare Natur und
Natürlichkeit, eine solche, die mit grossen Aufgaben spielt, spielen
darf .. Um es im Gleichniss zu sagen: Napoleon war ein Stück "Rückkehr
zur Natur", so wie ich sie verstehe (zum Beispiel in rebus tacticis,
noch mehr, wie die Militärs wissen, im Strategischen). - Aber Rousseau
- wohin wollte der eigentlich zurück? Rousseau, dieser erste moderne
Mensch, Idealist und canaille in Einer Person; der die moralische
"Würde" nöthig hatte, um seinen eignen Aspekt auszuhalten; krank vor
zügelloser Eitelkeit und zügelloser Selbstverachtung. Auch diese
Missgeburt, welche sich an die Schwelle der neuen Zeit gelagert hat,
wollte "Rückkehr zur Natur" - wohin, nochmals gefragt, wollte Rousseau
zurück? - Ich hasse Rousseau noch in der Revolution: sie ist der
welthistorische Ausdruck für diese Doppelheit von Idealist und
canaille. Die blutige farce, mit der sich diese Revolution abspielte,
ihre "Immoralität", geht mich wenig an: was ich hasse, ist ihre
Rousseau'sche Moralität - die sogenannten "Wahrheiten" der Revolution,
mit denen sie immer noch wirkt und alles Flache und Mittelmässige zu
sich überredet. Die Lehre von der Gleichheit!... Aber es giebt gar
kein giftigeres Gift: denn sie scheint von der Gerechtigkeit selbst
gepredigt, während sie das Ende der Gerechtigkeit ist... "Den Gleichen
Gleiches, den Ungleichen Ungleiches - das wäre die wahre Rede der
Gerechtigkeit: und, was daraus folgt, Ungleiches niemals gleich
machen." - Dass es um jene Lehre von der Gleichheit herum so
schauerlich und blutig zu gieng, hat dieser "modernen Idee" par
excellence eine Art Glorie und Feuerschein gegeben, so dass die
Revolution als Schauspiel auch die edelsten Geister verführt hat. Das
ist zuletzt kein Grund, sie mehr zu achten. - Ich sehe nur Einen, der
sie empfand, wie sie empfunden werden muss, mit Ekel - Goethe...


49.

Goethe - kein deutsches Ereigniss, sondern ein europäisches: ein
grossartiger Versuch, das achtzehnte Jahrhundert zu überwinden durch
eine Rückkehr zur Natur, durch ein Hinaufkommen zur Natürlichkeit
der Renaissance, eine Art Selbstüberwindung von Seiten dieses
Jahrhunderts. - Er trug dessen stärkste Instinkte in sich: die
Gefühlsamkeit, die Natur-Idolatrie, das Antihistorische, das
Idealistische, das Unreale und Revolutionäre (- letzteres ist nur
eine Form des Unrealen). Er nahm die Historie, die Naturwissenschaft,
die Antike, insgleichen Spinoza zu Hülfe, vor Allem die praktische
Thätigkeit; er umstellte sich mit lauter geschlossenen Horizonten; er
löste sich nicht vom Leben ab, er stellte sich hinein; er war nicht
verzagt und nahm so viel als möglich auf sich, über sich, in sich.
Was er Wollte, das war Totalität; er bekämpfte das Auseinander
von Vernunft, Sinnlichkeit, Gefühl, Wille (- in abschreckendster
Scholastik durch Kant gepredigt, den Antipoden Goethe's), er
disciplinirte sich zur Ganzheit, er schuf sich... Goethe war, inmitten
eines unreal gesinnten Zeitalters, ein überzeugter Realist: er sagte
ja zu Allem, was ihm hierin verwandt war, - er hatte kein grösseres
Erlebniss als jenes ens realissimum, genannt Napoleon. Goethe
concipirte einen starken, hochgebildeten, in aller Leiblichkeiten
geschickten, sich selbst im Zaume habenden, vor sich selber
ehrfürchtigen Menschen, der sich den ganzen Umfang und Reichthum der
Natürlichkeit zu gönnen wagen darf, der stark genug zu dieser Freiheit
ist; den Menschen der Toleranz, nicht aus Schwäche, sondern aus
Stärke, weil er Das, woran die durchschnittliche Natur zu Grunde gehn
würde, noch zu seinem Vortheile zu brauchen weiss; den Menschen, für
den es nichts Verbotenes mehr giebt, es sei denn die Schwäche, heisse
sie nun Laster oder Tugend... Ein solcher freigewordner Geist steht
mit einem freudigen und vertrauenden Fatalismus mitten im All, im
Glauben, dass nur das Einzelne verwerflich ist, dass im Ganzen sich
Alles erlöst und bejaht - er verneint nicht mehr... Aber ein solcher
Glaube ist der höchste aller möglichen Glauben: ich habe ihn auf den
Namen des Dionysos getauft. -


50.

Man könnte sagen, dass in gewissem Sinne das neunzehnte Jahrhundert
Das alles auch erstrebt hat, was Goethe als Person erstrebte:
eine Universalität im Verstehn, im Gutheissen, ein
Ansich-heran-kommen-lassen von Jedwedem, einen verwegnen Realismus,
eine Ehrfurcht vor allem Thatsächlichen. Wie kommt es, dass
das Gesammt-Ergebniss kein Goethe, sondern ein Chaos ist, ein
nihilistisches Seufzen, ein Nicht-wissen-wo-aus-noch-ein, ein Instinkt
von Ermüdung, der in praxi fortwährend dazu treibt, zum achtzehnten
Jahrhundert zurückzugreifen? (- zum Beispiel als Gefühls-Romantik, als
Altruismus und Hyper-Sentimentalität, als Femininismus im Geschmack,
als Socialismus in der Politik.) Ist nicht das neunzehnte Jahrhundert,
zumal in seinem Ausgange, bloss ein verstärktes verrohtes achtzehntes
Jahrhundert, das heisst ein décadence-Jahrhundert? So dass Goethe
nicht bloss für Deutschland, sondern für ganz Europa bloss ein
Zwischenfall, ein schönes Umsonst gewesen wäre? - Aber man
missversteht grosse Menschen, wenn man sie aus der armseligen
Perspektive eines öffentlichen Nutzens ansieht. Dass man keinen Nutzen
aus ihnen zu ziehn weiss, das gehört selbst vielleicht zur Grösse...


51.

Goethe ist der letzte Deutsche, vor dem ich Ehrfurcht habe: er hätte
drei Dinge empfunden, die ich empfinde, - auch verstehen wir uns über
das "Kreuz"... Man fragt mich öfter, wozu ich eigentlich deutsch
schriebe: nirgendswo würde ich schlechter gelesen, als im Vaterlande.
Aber wer weiss zuletzt, ob ich auch nur wünsche, heute gelesen zu
werden? - Dinge schaffen, an denen umsonst die Zeit ihre Zähne
versucht; der Form nach, der Substanz nach um eine kleine
Unsterblichkeit bemüht sein - ich war noch nie bescheiden genug,
weniger von mir zu verlangen. Der Aphorismus, die Sentenz, in denen
ich als der Erste unter Deutschen Meister bin, sind die Formen der
"Ewigkeit"; mein Ehrgeiz ist, in zehn Sätzen zu sagen, was jeder Andre
in einem Buche sagt, - was jeder Andre in einem Buche nicht sagt...

Ich habe der Menschheit das tiefste Buch gegeben, das sie besitzt,
meinen Zarathustra: ich gebe ihr über kurzem das unabhängigste. -


Was ich den Alten verdanke.

1.

Zum Schluss ein Wort über jene Welt, zu der ich Zugänge gesucht, zu
der ich vielleicht einen neuen Zugang gefunden habe - die alte Welt.
Mein Geschmack, der der Gegensatz eines duldsamen Geschmacks sein mag,
ist auch hier fern davon, in Bausch und Bogen ja zu sagen: er sagt
überhaupt nicht gern ja, lieber noch Nein, am allerliebsten gar
nichts... Das gilt von ganzen Culturen, das gilt von Büchern, - es
gilt auch von Orten und Landschaften. Im Grunde ist es eine ganz
kleine Anzahl antiker Bücher, die in meinem Leben mitzählen; die
berühmtesten sind nicht darunter. Mein Sinn für Stil, für das Epigramm
als Stil erwachte fast augenblicklich bei der Berührung mit Sallust.
Ich habe das Erstaunen meines verehrten Lehrers Corssen nicht
vergessen, als er seinem schlechtesten Lateiner die allererste Censur
geben musste -, ich war mit Einem Schlage fertig. Gedrängt, streng,
mit so viel Substanz als möglich auf dem Grunde, eine kalte Bosheit
gegen das "schöne Wort", auch das "schöne Gefühl" - daran errieth ich
mich. Man wird, bis in meinen Zarathustra hinein, eine sehr ernsthafte
Ambition nach römischem Stil, nach dem "aere perennius" im Stil bei
mir wiedererkennen. - Nicht anders ergieng es mir bei der ersten
Berührung mit Horaz. Bis heute habe ich an keinem Dichter dasselbe
artistische Entzücken gehabt, das mir von Anfang an eine Horazische
Ode gab. In gewissen Sprachen ist Das, was hier erreicht ist, nicht
einmal zu wollen. Dies Mosaik von Worten, wo jedes Wort als Klang, als
Ort, als Begriff, nach rechts und links und über das Ganze hin seine
Kraft ausströmt, dies minimum in Umfang und Zahl der Zeichen, dies
damit erzielte maximum in der Energie der Zeichen - das Alles ist
römisch und, wenn man mir glauben will, vornehm par excellence. Der
ganze Rest von Poesie wird dagegen etwas zu Populäres, - eine blosse
Gefühls-Geschwätzigkeit...


2.

Den Griechen verdanke ich durchaus keine verwandt starken Eindrücke;
und, um es geradezu herauszusagen, sie können uns nicht sein, was die
Römer sind. Man lernt nicht von den Griechen - ihre Art ist zu fremd,
sie ist auch zu flüssig, um imperativisch, um "klassisch" zu wirken.
Wer hätte je an einem Griechen schreiben gelernt! Wer hätte es je ohne
die Römer gelernt!... Man wende mir ja nicht Plato ein. Im Verhältniss
zu Plato bin ich ein gründlicher Skeptiker und war stets ausser
Stande, in die Bewunderung des Artisten Plato, die unter Gelehrten
herkömmlich ist, einzustimmen. Zuletzt habe ich hier die
raffinirtesten Geschmacksrichter unter den Alten selbst auf
meiner Seite. Plato wirft, wie mir scheint, alle Formen des Stils
durcheinander, er ist damit ein erster décadent des Stils: er hat
etwas Ähnliches auf dem Gewissen, wie die Cyniker, die die satura
Menippea erfanden. Dass der Platonische Dialog, diese entsetzlich
selbstgefällige und kindliche Art Dialektik, als Reiz wirken könne,
dazu muss man nie gute Franzosen gelesen haben, - Fontenelle zum
Beispiel. Plato ist langweilig. - Zuletzt geht mein Misstrauen
bei Plato in die Tiefe: ich finde ihn so abgeirrt von
allen Grundinstinkten der Hellenen, so vermoralisirt, so
präexistent-christlich - er hat bereits den Begriff "gut" als obersten
Begriff -, dass ich von dem ganzen Phänomen Plato eher das harte Wort
"höherer Schwindel" oder, wenn man's lieber hört, Idealismus - als
irgend ein andres gebrauchen möchte. Man hat theuer dafür bezahlt,
dass dieser Athener bei den Ägyptern in die Schule gieng (- oder bei
den Juden in Agypten?...) Im grossen Verhängniss des Christenthums
ist Plato jene "Ideal" genannte Zweideutigkeit und Fascination, die
den edleren Naturen des Alterthums es möglich machte, sich selbst
misszuverstehn und die Brücke zu betreten, die zum "Kreuz" führte...
Und wie viel Plato ist noch im Begriff "Kirche", in Bau, System,
Praxis der Kirche! - Meine Erholung, meine Vorliebe, meine Kur von
allem Platonismus war zu jeder Zeit Thukydides. Thukydides und,
vielleicht, der principe Machiavell's sind mir selber am meisten
verwandt durch den unbedingten Willen, sich Nichts vorzumachen und
die Vernunft in der Realität zu sehn, - nicht in der "Vernunft", noch
weniger in der "Moral"... Von der jämmerlichen Schönfärberei der
Griechen in's Ideal, die der "klassisch gebildete" Jüngling als Lohn
für seine Gymnasial-Dressur in's Leben davonträgt, kurirt Nichts
so gründlich als Thukydides. Man muss ihn Zeile für Zeile umwenden
und seine Hintergedanken so deutlich ablesen wie seine Worte: es
giebt wenige so hintergedankenreiche Denker. In ihm kommt die
Sophisten-Cultur, will sagen die Realisten-Cultur, zu ihrem
vollendeten Ausdruck: diese unschätzbare Bewegung inmitten des eben
allerwärts losbrechenden Moral- und Ideal-Schwindels der sokratischen
Schulen. Die griechische Philosophie als die décadence des
griechischen Instinkts; Thukydides als die grosse Summe, die letzte
Offenbarung jener starken, strengen, harten Thatsächlichkeit, die
dem älteren Hellenen im Instinkte lag. Der Muth vor der Realität
unterscheidet zuletzt solche Naturen wie Thukydides und Plato: Plato
ist ein Feigling vor der Realität, - folglich flüchtet er in's Ideal;
Thukydides hat sich in der Gewalt, folglich behält er auch die Dinge
in der Gewalt...


3.

In den Griechen "schöne Seelen", "goldene Mitten" und andre
Vollkommenheiten auszuwittern, etwa an ihnen die Ruhe in der Grösse,
die ideale Gesinnung, die hohe Einfalt bewundern - vor dieser "hohen
Einfalt", einer niaiserie allemande zu guterletzt, war ich durch den
Psychologen behütet, den ich in mir trug. Ich sah ihren stärksten
Instinkt, den Willen zur Macht, ich sah sie zittern vor der unbändigen
Gewalt dieses Triebs, - ich sah alle ihre Institutionen wachsen
aus Schutzmaassregeln, um sich vor einander gegen ihren inwendigen
Explosivstoff sicher zu stellen. Die ungeheure Spannung im Innern
entlud sich dann in furchtbarer und rücksichtsloser Feindschaft nach
Aussen: die Stadtgemeinden zerfleischten sich unter einander, damit
die Stadtbürger jeder einzelnen vor sich selber Ruhe fänden. Man hatte
es nöthig, stark zu sein: die Gefahr war in der Nähe -, sie lauerte
überall. Die prachtvoll geschmeidige Leiblichkeit, der verwegene
Realismus und Immoralismus, der dem Hellenen eignet, ist eine Noth,
nicht eine "Natur" gewesen. Er folgte erst, er war nicht von Anfang an
da. Und mit Festen und Künsten wollte man auch nichts Andres als sich
obenauf fühlen, sich obenauf zeigen: es sind Mittel, sich selber
zu verherrlichen, unter Umständen vor sich Furcht zu machen... Die
Griechen auf deutsche Manier nach ihren Philosophen beurtheilen, etwa
die Biedermännerei der sokratischen Schulen zu Aufschlüssen darüber
benutzen, was im Grunde hellenisch sei!... Die Philosophen sind ja die
décadents des Griechenthums, die Gegenbewegung gegen den alten, den
vornehmen Geschmack (- gegen den agonalen Instinkt, gegen die Polis,
gegen den Werth der Rasse, gegen die Autorität des Herkommens).
Die sokratischen Tugenden wurden gepredigt, weil sie den Griechen
abhanden gekommen waren: reizbar, furchtsam, unbeständig, Komödianten
allesammt, hatten sie ein paar Gründe zu viel, sich Moral predigen zu
lassen. Nicht, dass es Etwas geholfen hätte: aber grosse Worte und
Attitüden stehen décadents so gut...


4.

Ich war der erste, der, zum Verständniss des älteren, des noch reichen
und selbst überströmenden hellenischen Instinkts, jenes wundervolle
Phänomen ernst nahm, das den Namen des Dionysos trägt: es ist einzig
erklärbar aus einem Zuviel von Kraft. Wer den Griechen nachgeht,
wie jener tiefste Kenner ihrer Cultur, der heute lebt, wie Jakob
Burckhardt in Basel, der wusste sofort, dass damit Etwas gethan sei:
Burckhardt fügte seiner "Cultur der Griechen" einen eignen Abschnitt
über das genannte Phänomen ein. Will man den Gegensatz, so sehe man
die beinahe erheiternde Instinkt-Armuth der deutschen Philologen,
wenn sie in die Nähe des Dionysischen kommen. Der berühmte Lobeck
zumal, der mit der ehrwürdigen Sicherheit eines zwischen Büchern
ausgetrockneten Wurms in diese Welt geheimnissvoller Zustände
hineinkroch und sich überredete, damit wissenschaftlich zu sein, dass
er bis zum Ekel leichtfertig und kindisch war, - Lobeck hat mit allem
Aufwande von Gelehrsamkeit zu verstehn gegeben, eigentlich habe es mit
allen diesen Curiositäten Nichts auf sich. In der That möchten die
Priester den Theilhabern an solchen Orgien einiges nicht Werthlose
mitgetheilt haben, zum Beispiel, dass der Wein zur Lust anrege, dass
der Mensch unter Umständen von Früchten lebe, dass die Pflanzen im
Frühjahr aufblühn, im Herbst verwelken. Was jenen so befremdlichen
Reichthum an Riten, Symbolen und Mythen orgiastischen Ursprungs
angeht, von dem die antike Welt ganz wörtlich überwuchert ist, so
findet Lobeck an ihm einen Anlass, noch um einen Grad geistreicher zu
werden. "Die Griechen, sagt er Aglaophamus I, 672, hatten sie nichts
Anderes zu thun, so lachten, sprangen, rasten sie umher, oder, da der
Mensch mitunter auch dazu Lust hat, so sassen sie nieder, weinten und
jammerten. Andere kamen dann später hinzu und suchten doch irgend
einen Grund für das auffallende Wesen; und so entstanden zur Erklärung
jener Gebräuche jene zahllosen Festsagen und Mythen. Auf der andren
Seite glaubte man, jenes possirliche Treiben, welches nun einmal an
den Festtagen stattfand, gehöre auch nothwendig zur Festfeier, und
hielt es als einen unentbehrlichen Theil des Gottesdienstes fest." -
Das ist verächtliches Geschwätz, man wird einen Lobeck nicht einen
Augenblick ernst nehmen. Ganz anders berührt es uns, wenn wir den
Begriff "griechisch" prüfen, den Winckelmann und Goethe sich gebildet
haben, und ihn unverträglich mit jenem Elemente finden, aus dem die
dionysische Kunst wächst, - mit dem Orgiasmus. Ich zweifle in der
That nicht daran, dass Goethe etwas Derartiges grundsätzlich aus den
Möglichkeiten der griechischen Seele ausgeschlossen hätte. Folglich
verstand Goethe die Griechen nicht. Denn erst in den dionysischen
Mysterien, in der Psychologie des dionysischen Zustands spricht sich
die Grundthatsache des hellenischen Instinkts aus - sein "Wille zum
Leben". Was verbürgte sich der Hellene mit diesen Mysterien? Das
ewige Leben, die ewige Wiederkehr des Lebens; die Zukunft in der
Vergangenheit verheissen und geweiht; das triumphirende Ja zum Leben
über Tod und Wandel hinaus; das wahre Leben als das Gesammt-Fortleben
durch die Zeugung, durch die Mysterien der Geschlechtlichkeit. Den
Griechen war deshalb das geschlechtliche Symbol das ehrwürdige Symbol
an sich, der eigentliche Tiefsinn innerhalb der ganzen antiken
Frömmigkeit. Alles Einzelne im Akte der Zeugung, der Schwangerschaft,
der Geburt erweckte die höchsten und feierlichsten Gefühle. In der
Mysterienlehre ist der Schmerz heilig gesprochen: die "Wehen der
Gebärerin" heiligen den Schmerz überhaupt, - alles Werden und Wachsen,
alles Zukunft-Verbürgende bedingt den Schmerz... Damit es die Lust des
Schaffens giebt, damit der Wille zum Leben sich ewig selbst bejaht,
muss es auch ewig die "Qual der Gebärerin" geben... Dies Alles
bedeutet das Wort Dionysos: ich kenne keine höhere Symbolik als diese
griechische Symbolik, die der Dionysien. In ihr ist der tiefste
Instinkt des Lebens, der zur Zukunft des Lebens, zur Ewigkeit des
Lebens, religiös empfunden, - der Weg selbst zum Leben, die Zeugung,
als der heilige Weg... Erst das Christenthum, mit seinem Ressentiment
gegen das Leben auf dem Grunde, hat aus der Geschlechtlichkeit etwas
Unreines gemacht: es warf Koth auf den Anfang, auf die Voraussetzung
unseres Lebens...


5.

Die Psychologie des Orgiasmus als eines überströmenden Lebens- und
Kraftgefühls, innerhalb dessen selbst der Schmerz noch als Stimulans
wirkt, gab mir den Schlüssel zum Begriff des tragischen Gefühls,
das sowohl von Aristoteles als in Sonderheit von unsern Pessimisten
missverstanden worden ist. Die Tragödie ist so fern davon, Etwas für
den Pessimismus der Hellenen im Sinne Schopenhauer's zu beweisen, dass
sie vielmehr als dessen entscheidende Ablehnung und Gegen-Instanz zu
gelten hat. Das ja sagen zum Leben selbst noch in seinen fremdesten
und härtesten Problemen; der Wille zum Leben, im Opfer seiner höchsten
Typen der eignen Unerschöpflichkeit frohwerdend - das nannte ich
dionysisch, das errieth ich als die Brücke zur Psychologie des
tragischen Dichters. Nicht um von Schrecken und Mitleiden loszukommen,
nicht um sich von einem gefährlichen Affekt durch dessen vehemente
Entladung zu reinigen - so verstand es Aristoteles -: sondern um, über
Schrecken und Mitleid hinaus, die ewige Lust des Werdens selbst zu
sein, - jene Lust, die auch noch die Lust am Vernichten in sich
schliesst... Und damit berühre ich wieder die Stelle, von der ich
einstmals ausgieng - die "Geburt der Tragödie" war meine erste
Umwerthung aller Werthe: damit stelle ich mich wieder auf den Boden
zurück, aus dem mein Wollen, mein Können wächst - ich, der letzte
Jünger des Philosophen Dionysos, - ich, der Lehrer der ewigen
Wiederkunft...


Der Hammer redet.

Also sprach Zarathustra - 3, 90.

"Warum so hart! - sprach zum Diamanten einst die Küchen-Kohle: sind
wir denn nicht Nah-Verwandte?"

Warum so weich? Oh meine Brüder, also frage ich euch: seid ihr denn
nicht - meine Brüder?

Warum so weich, so weichend und nachgebend? Warum ist so viel
Leugnung, Verleugnung in eurem Herzen? so wenig Schicksal in eurem
Blicke?

Und wollt ihr nicht Schicksale sein und Unerbittliche: wie könntet ihr
einst mit mir - siegen?

Und wenn eure Härte nicht blitzen und schneiden und zerschneiden will:
wie könntet ihr einst mit mir - schaffen?

Alle Schaffenden nämlich sind hart. Und Seligkeit muss es euch dünken,
eure Hand auf Jahrtausende zu drücken wie auf Wachs, -

- Seligkeit, auf dem Willen von Jahrtausenden zu schreiben wie auf
Erz, - härter als Erz, edler als Erz. Ganz hart allein ist das
Edelste.

Diese neue Tafel, oh meine Brüder, stelle ich über euch: werdet
hart! - -

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 08.05.2008

Alle Rechte vorbehalten

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