Vorwort:
Schreie… Chaos…
Überall liefen Menschen durch die Straßen, Häuser brannten, Kinder weinten… Und mittendrin saß ein Mädchen von gerade einmal 16 Jahren. Geschützt von zwei Trümmern, saß es zusammengekauert da, versuchte nicht aufzufallen und alles auszublenden. Allerdings war das gar nicht so einfach, denn noch immer wüteten diese… Wesen durch ihr Dorf.
Ihr kam es vor, als würden Jahre vergehen, dabei waren es nur wenige Stunden, bis alles still wurde. Zu still. Es herrschte beinahe eine Totenstille, nichts regte sich mehr. Verwirrt hob das Mädchen den Kopf und sah zwischen den Trümmern hindurch auf die Straße, die vor ihr lag. Niemand ging vorbei, nicht einmal der Wind wehte. Vorsichtig kam das Mädchen zwischen den Trümmern hervorgekrochen und sah sich um. Der Anblick, der sich ihr bot, war einfach nur schrecklich. Überall lagen tote Menschen, Männer, Frauen, alte Menschen, ja sogar Kinder lagen auf dem Boden. Niemand bewegte sich und wenn keine solche Stille geherrscht hätte, dann hätte man meinen können, dass diese Leute nur schliefen. Aber dem war nicht so.
Mit einem schweren Schlucken sah sich das Mädchen weiter um. Teilweise waren Häuser eingestürzt und in manchen züngelten noch immer kleine Flammen. Alles war zerstört worden. Eine Träne rann über die Wange des Mädchens, als sie eine, ihr nur allzu vertraute Gestalt, erblickte. „Nein…“, murmelte sie, „Nein…“. Leicht schwankend lief sie auf diese Person zu, ließ sich neben ihr auf den Boden fallen und nahm die Hand der Toten.
„Wieso…? Das… kann nicht… sein…“, murmelte sie und immer mehr Tränen liefen ihr über das Gesicht. So saß sie bis tief in die Nacht bei ihrer Mutter und ließ ihren Tränen einfach freien Lauf.
1. Kapitel:
„Hast du schon gehört? Jetzt soll ein weiteres Dorf überfallen worden sein!“, „Wirklich? Und wieder mit den gleichen Folgen?“, „Ja. Wieder lagen überall Tote, die ganzen Häuser sind zerstört oder niedergebrannt worden! Aber dieses Mal hat es eine Überlebende gegeben!“, „Wirklich? Wie hat sie das denn geschafft?“, „Ich weiß es nicht. Man hat sie bei einer toten Frau kauernd aufgefunden. Seitdem hat sie kein Wort gesagt und lässt sich auch nicht mehr blicken. Angeblich wurde sie hier, bei den Wirtsleuten, untergebracht…“
Schweigend lauschte der Mann dem Gespräch der beiden Wachen, die am Nebentisch saßen und gerade ihre Mittagspause zu sich nahmen. Das Essen, das vor den beiden stand wurde allmählich kalt, aber anscheinend merkten sie es nicht. Sie waren viel zu beschäftigt, über diese Neuigkeit zu reden, dass sie darüber das Essen vergaßen. Eine Stimme riss den Mann aus seinen Gedanken. „Was darf’s sein?“, fragte ihn der Wirt. „Ein Bier bitte…“, antwortete er. Während er zusah, wie der Wirt hinter der Theke ein Glas füllte, versuchte er den beiden Wachen weiter zu lauschen. Allerdings waren jetzt nur noch Essgeräusche zu hören. „Wieso ist denn das Essen schon wieder kalt?“, beklagte sich einer der beiden leise. Ansonsten war nichts mehr zu hören und der Mann versank lieber wieder in seinen eigenen Gedanken.
Ein Stockwerk höher saß besagtes Mädchen auf einem Bett und spielte mit einem kleinen blauen Anhänger, der an einer Kette um ihren Hals hing. Bevor diese Männer sie mitgenommen hatten, hatte sie ihn ihrer Mutter abgenommen und sich selber umgehängt. Nur wenige Tage zuvor hatte es ihre Mutter sogar angesprochen. „Falls ich eines Tages sterben sollte, dann will ich, dass du diesen Anhänger bekommst. Er wird dir Glück bringen“, hatte sie gesagt.
Langsam kullerte wieder eine Träne über die Wange des Mädchens. Der Gedanke an ihre Mutter ließ wieder die Erinnerung an dieses Schauspiel in ihr hochkommen. Tote Menschen… brennende Häuser… Schreie… Chaos… und diese komischen Wesen, die so viele von denen, die sie geliebt hatte, in den Tod geschickt hatten. Mit einem leisen Schluchzer zog sie die Beine an und schlag ihre Arme um diese. Ihr Kopf sank auf ihre Knie und wieder ließ sie den Tränen freien Lauf. So bemerkte sie auch nicht das Klopfen an der Türe. Erst als eine etwas mollige Frau herein kam, hob sie den Kopf und sah sie mit tränenverschmiertem Gesicht an.
„Hallo, mein Kleines… Ich habe dir etwas zu essen gebracht. Wenn du willst, kann ich dir auch ein bisschen Gesellschaft leisten…“, sagte die Frau und lächelte ihr liebevoll zu. Obwohl sie das Mädchen nicht kannte, hatten sie und ihr Mann sie aufgenommen und ihr Obdach gewährt. Dieser Gedanke schoss dem Mädchen für den Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf. Mit einem geräuschvollem Nase hochziehen, setzte sie sich gerade hin und brachte das erste Lächeln seit dem Überfall zustande. „Danke…“, flüsterte sie.
„Du musst dich nicht bedanken, Liebes. Das machen wir doch gerne. Und wenn du mir deinen Namen verraten würdest, müsste ich dich nicht immer mit ‚du‘ anreden“, sagte sie. „Mein Name ist Ramona.“, fügte die Frau noch hinzu und stellte den Teller auf dem kleinen Tisch, der neben einem Stuhl und einem Schrank ebenfalls zu Zimmereinrichtung gehörte, ab. „Nika…“, kam die leise geflüsterte Antwort.
2. Kapitel:
„Nun, Nika, wie wäre es, wenn du mal mit nach unten kommst? Das würde dich auf andere Gedanken bringen und du würdest ein paar interessante Leute kennen lernen“, schlug Ramona vor und lächelte sie wieder liebevoll an. „Aber… Was ist, wenn die alle wissen wollen, wer ich bin?“, wandte das Mädchen ein und sah sie mit etwas ängstlichen Augen an. Ihr fiel es schwer, sich wieder in das Leben zu integrieren, nachdem sie alles verloren hatte, was ihr lieb und teuer gewesen ist. Doch Ramona überredete sie schließlich doch noch, mit nach unten zu kommen und etwas verschüchtert und frisch angekleidet betrat sie den Raum.
Niemand schenkte ihr Beachtung, worüber sie wirklich froh war. Im Moment wollte sie nicht allzu viel reden, aber sie wusste, dass ihr das wohl nicht erspart bleiben würde. Für den Moment sah sie sich aber einfach nur um. In dem Raum standen unzählige Tische, jeder hatte mindestens drei Stühle. Wie viele es genau waren, konnte Nika nicht so genau feststellen, weil immer wieder mal jemand aufstand, jemand die Tische zusammen schob oder weil sie ihrem Blick verborgen waren.
An den Tischen selber saßen die unterschiedlichsten Leute. Hier Händler und Fischer, dort Wachen und Seeleute, Weber und Fremde. Hier und da konnte man sogar einen Adligen erkennen. Allerdings war es schwer klare Gruppen zu
bilden, da alle wild durcheinander saßen. Ihr Blick schweifte weiter zur Theke und sie erkannte Damon, den Ehemann von Ramona. Er putzte Gläser, unterhielt sich mit einigen Gästen und trank immer wieder einmal einen Schluck aus seinem eigenen Glas.
Ein leiser Seufzer entfuhr Nika und sie sah zu Ramona, die sich gerade mit einem Fremden unterhielt. Als sie Nika’s Blick bemerkte, sah sie auf und winkte sie zu sich heran. Zögernd kam das Mädchen ihrer Geste nach und trat zu ihr an den Tisch des Fremden. „Ich habe ihn gerade gefragt, ob es ihm etwas ausmacht, wenn du dich zu ihm setzt und deine Suppe löffelst. Er hat nichts dagegen“, sagte sie zu Nika und lächelte ihr zu. „Danke…“, murmelte diese und zog unweigerlich den Kopf ein. Langsam setzte sie sich hin und sah zu dem Fremden auf. Wenn er nicht so jung gewirkt hätte, dann hätte sie ihn als Mann bezeichnet, aber er sah nicht älter als 17 aus. Seine Haare waren von der Kapuze verborgen, die ihm auf dem Kopf lag, allerdings konnte man einige Strähnen pechschwarzen Haares erkennen. Die Augen hatten einen leicht violetten Ton, waren aber fast so schwarz wie seine Haare. Und von der Figur her, war er nicht sehr kräftig gebaut, aber irgendetwas ließ sie vermuten, dass er nicht so schwach war, wie man vermuten konnte.
Als sie bemerkte, dass er sie genauso ‚analysierte‘ wie sie ihn, senkte sie den Blick auf den Tisch. Normalerweise hätte sie sowas nicht gemacht, sondern seinem Blick standgehalten, aber für sie war nichts mehr normal. „Dürfte ich euren Namen erfahren, wertes Fräulein?“, erhob der Fremde mit einem Mal die Stimme und sie war überrascht, wie sanft sie klang. Zwar hatte sie nichts mehr von einer Knabenstimme, aber sie war ebenso wenig eine Männerstimme. Ohne darüber nachzudenken, murmelte sie ein leises ‘Nika‘.
„Ein hübscher Name…“, gab er zurück, allerdings nannte er seinen eigenen Namen nicht. Bevor Nika nachfragen konnte, kam auch schon Ramona und brachte ihr ihre Suppe. „Danke…“, murmelte sie wieder und die mollige Frau lächelte sie einfach nur an. „Lass es dir schmecken, Kleines.“, erwiderte sie nur und lief zum nächsten Tisch, an dem der Herr nach dem Wirt verlangte. „In Guten“, kam es auch von dem Fremden und sie richtete ihren Blick kurz auf ihn. „Danke“, sagte sie, nun schon in einem lauterem Tonfall als vorher, allerdings war es immer noch ziemlich leise. Während sie ihre Suppe löffelte, ließ sie immer wieder den Blick durch den Raum schweifen, hörte hier und da ein paar Gesprächsfetzen und beobachtete die Leute, die rein- und rausgingen.
„Würdet ihr mir vielleicht eine Frage beantworten?“, kam von rechts wieder die Stimme und ihr Blick kehrte zu dem Jungen zurück. Sie hatte sich gerade den Löffel in den Mund geschoben, als er fragte und sie schluckte schnell hinunter. „Vielleicht…“, gab sie zurück. Dieses Mal hielt sie sogar seinem Blick stand und das erste Mal, seit sie sich an seinen Tisch gesetzt hatte, huschte ein angedeutetes Lächeln über sein Gesicht. „Ihr müsst meine Frage nicht beantworten, aber neugierig bin ich schon…“, begann er und Nika ahnte schon jetzt, was er fragen würde. „Seid ihr die Überlebende aus dem Dorf Charmal?“, fuhr er leise, sodass nur sie es hören konnte. Fast war ihm schon dankbar dafür, dass es nicht jeder gehört hatte, dennoch verschlug es ihr die Sprache. Fast automatisch war ihre freie Hand zu dem blauen Anhänger gewandert und ihr wollten wieder Tränen in die Augen steigen. Im letzten Moment konnte sie diese allerdings noch zurück halten. Mit einem sehr langsamen Nicken beantwortete sie seine Frage und senkte den Blick auf ihren Teller. Obwohl er noch nicht einmal halb leer war, verspürte sie keinen Hunger mehr.
„Verzeiht, wenn ich euch wieder an alles erinnert habe…“, sagte er immer noch leise und sie konnte spüren, dass sein Blick noch immer auf ihr ruhte. Weiter kam er dann aber nicht mehr, da Ramona zurück gekommen war und sich ebenfalls am Tisch niederließ. „Hast du denn keinen Hunger mehr? Wenn du so weitermachst, verhungerst du mir glatt noch…“, fragte sie das Mädchen, erhielt aber keine Antwort. Nika war tief in Gedanken versunken, sie dachte wieder an diesen einen Tag. Erst die Stimme des Fremden ließ sie wieder in die Gegenwart zurückkehren. „Ich würde gerne zahlen. Heute muss ich noch ein gutes Stück vorankommen“, sagte er zu Ramona und legte ein paar Goldmünzen auf den Tisch. „Aber natürlich. Ich bin gleich wieder da“, erwiderte diese und stand auch schon wieder auf, um den Geldbeutel zu holen.
„Sagt… Würdet ihr mir auch eine Frage beantworten?“, fragte Nika leise. Sie spielte mit ihrem Anhänger und hatte ihren Blick auf den Krug gerichtet, in dem Besteck war. „Wenn ich kann, gerne“, kam auch schon die höfliche Antwort. Das Mädchen hob den Blick und das erste Mal seit Tagen hatte sie wieder einen klaren Entschluss gefasst. Mit normaler Stimme stellte sie ihre Frage: „Könntet ihr mich nach Charmal bringen?“
3. Kapitel:
Schweigend lief Nika hinter dem Jungen her und sah auf den Boden. Als sie die Frage gestellt hatte, war alles überraschend schnell gegangen. Ramona war zwar nicht wirklich begeistert gewesen, dass sie schon wieder in ihr Dorf will, dennoch hat sie ihr ein paar Sachen auf die Reise mitgegeben. Was aber noch überraschender gewesen war ist, dass der Fremde sie widerstandslos mitgenommen hat. Irgendwie konnte sie sich nicht dem Eindruck erwehren, dass er nur auf diese Frage gewartet hatte.
Mit einem kurzen Kopfschütteln verscheuchte sie diese Gedanken, als er sich zu ihr umdrehte. „Wir sind in einer guten Viertelstunde da. Trotzdem würde es mich interessieren, wieso du unbedingt wieder dorthin willst“, sagte er. Obwohl es wie ein ganz normaler Satz war, klang es mehr wie eine Frage.
„Ich will in unser altes Haus… Falls nicht allzu viel zerstört ist, könnte ich vielleicht ein paar nützliche Sachen mitnehmen“, antwortete sie ihm und blickte ihm fest in die Augen. Er zuckte nur mit den Achseln und ließ sich neben sie fallen. „Das ist in der Tat keine schlechte Idee. Allerdings bezweifle ich, dass noch allzu viel erhalten sein wird…“, erwiderte er und Nika wandte ihren Kopf in seine Richtung. „Wieso glaubst du das?“, fragte sie. Dabei vergaß sie, ihn mit ‚Sie‘ anzusprechen, aber ihr war das im Moment relativ egal.
„Dein Dorf ist nicht das erste, das zerstört wurde. Davor bin ich in vielen anderen Dörfern gewesen und dort stand kein Stein mehr auf dem anderen. Es wurde alles zerstört, von großen Häusern bis zu kleinen Hühnerställen“, erklärte er ihr. Sein Blick war immer noch nach vorne gerichtet und Nika hatte Zeit ihn zu mustern. In dem verdunkelten Licht des Wirtshauses hatte sie nicht alles erkennen können, dafür bemerkte sie jetzt, dass er sogar schwärzeres Haar hatte, als sie gedacht hatte. Erst jetzt fiel ihr auch wirklich auf, dass er noch immer die Kapuze auf hatte. „Warum nimmst du deine Kapuze nicht ab…? Und wie heißt du überhaupt?“, fragte sie ihn. Seit sie vorhin nach seinem Namen gefragt hatte, hatte sie keine Antwort erhalten, weil Ramona sie in ihrem Gespräch unterbrochen hatte.
Jetzt wandte er seinen Kopf doch zu ihr und musterte sie seinerseits. „Normalerweise nehme ich meine Kapuze nicht sehr gerne ab. Manche haben mich deshalb schon ‚komisch‘ genannt… Und zu meinem Namen… Er lautet Kito, aber die meisten sagen nur ‚Kid‘ zu mir.“, antwortete er ihr. Diese Antwort rief nur noch eine Frage herauf, allerdings wagte sie es vorerst nicht, diese auch zu stellen. Stattdessen dachte sie über seinen Namen nach. Kito hörte sie jetzt zum ersten Mal. Und der Spitzname ‚Kid‘ war ihr auch neu. Aber auch die Tatsache, dass man ihn wegen seinem Aussehen komisch nennen konnte, konnte sie nicht so leicht begreifen.
Als sie nun doch zu einer Frage ansetzen wollte, unterbrach er sie und zeigte nach vorne. „Wir sind da“, kam es von ihm und Nika wandte den Kopf nach vorne. Eigentlich hätte man jetzt das Tor sehen müssen, dass am Dorfeingang war. Aber alles was davon noch übrig war, waren zwei schiefhängende, zerkratzte Torflügel.
„Was zum…?“, flüsterte das Mädchen entsetzt. Während die beiden dem Tor immer näher kamen, konnte man auch erkennen, dass etwas sehr großes diese Kratzer in das Tor gemacht hatte. Zumindest kannte sie kein normales Wesen, das so etwas zustande bringen konnte. Aber das was sie gesehen hatte, war sowieso nicht normal gewesen.
„So wie das Tor wurden auch die ganzen Häuser zerstört. Überall, in all den Dörfern wurden solche Spuren aufgefunden und niemand weiß bis jetzt, wer oder besser was sie verursacht haben…“, sagte Kito mit einem Hauch Bitterkeit in der Stimme. Nika bekam es nicht wirklich mit, da in der Zwischenzeit ein Bild vor ihren Augen erschienen ist. „Ich weiß es…“, flüsterte sie. „Es… waren keine menschlichen Wesen. Sie hatten etwas… Magisches an sich...“, erklärte sie und ihr Blick schweifte über die zerstörten Häuser, die sie inzwischen erreicht hatten.
„Woher weißt du, dass es etwas magisches war?“, fragte Kid sie und sie sah wieder zu ihm. „Ich weiß es nicht genau. Ich… habe es einfach nur gefühlt…“, versuchte sie es zu erklären, aber selbst in ihren Ohren klang es unglaubwürdig. Kurz schüttelte sie den Kopf. „Es war einfach eine Empfindung. Als ich es meiner Mutter erzählt hatte, dass da irgendetwas nicht Menschliches ist, hat sie mich gleich an einen sicheren Platz gebracht… Aber… dafür ist dann sie…“, erzählte sie weiter und stockte mitten im Satz. Dafür, dass Nika überlebt hatte, war ihre Mutter gestorben. Sie hatte ihr Leben gegeben, damit sie überleben konnte. Sie war tot, während Nika noch lebte…
Ein Geräusch schreckte sie schließlich aus ihren Gedanken auf. Auch Kito hatte es gehört und in seiner Hand lag ein Messer, das er vorher noch nicht gehabt hatte. Nika lief ein kalter Schauer über den Rücken, als sie ihn so sah. Sie hatte nicht gewusst, dass er eine Waffe bei sich hatte, aber eigentlich war das nicht so ungewöhnlich. In letzter Zeit hatte jeder Reisende zumindest ein Messer bei sich, um sich im Notfall verteidigen zu können. Trotzdem hatte es sie überrascht.
Jetzt zuckte sie wieder zusammen, als sie das Geräusch noch einmal hörte. Es klang wie eine Art… Krächzen. In dem Moment hüpfte ein schwarzes Etwas auf den Weg vor ihnen und stieß noch einmal ein Krächzen aus. Nika erkannte sofort was es war. Kito stattdessen starrte das Tier nur etwas entgeistert an. „Ein Ra…“, fing er an, aber er wurde sogleich von einem Aufschrei von Nika unterbrochen. „Lake!“, rief sie und lief zu dem zerzausten, schwarzen Raben. Dieser gab ein etwas entrüstetes Krächzen von sich und flatterte einmal kurz mit den Flügeln, bevor er sich von dem Mädchen hochheben ließ. „Moment mal... Das ist DEIN Rabe?“, fragte Kito verwirrt und steckte das Messer wieder weg.
„Ja. Ich habe ihn mal als Ei gefunden und seitdem war er immer bei mir… Oh, mein armer Kleiner. Es tut mir so leid, dass du die ganze Zeit allein sein musstest…“, murmelte sie und kraulte dem Raben durch das Brustgefieder. Dieser ließ es sich gefallen und plusterte sein pechschwarzes Gefieder ein bisschen auf. „Angeber“, murmelte das Mädchen, trotzdem erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht.
Schließlich setzte sie ihn auf ihre Schulter und sah sich stattdessen im Dorf um. Besser gesagt, im ehemaligen Dorf, da alles zerstört worden war. Es war genau so, wie Kid es beschrieben hatte: Kein Stein war mehr auf dem anderen, kein Gebäude, kein Stall war verschont geblieben. Der Anblick war einfach nur erschreckend.
„Hier auch wieder…“, murmelte der Junge und schüttelte den Kopf. „Wir sollten nicht allzu lange hierbleiben. Schau schnell bei deinem alten Haus vorbei, dann sollten wir zusehen, dass wir so schnell wie möglich von hier verschwinden…“, sagte er an Nika gewandt und sie nickte nur. Ihr hatte es die Sprache verschlagen. Trotzdem wusste sie, dass er recht hatte. Zumindest lagen hier keine toten Menschen mehr, sodass sie nicht allzu sehr an die Vorfälle erinnert wurde. Irgendwer, wahrscheinlich ein paar Leute der Nachbardörfer, müssen sie bestattet haben.
Mit einem leisen Seufzer verscheuchte Nika diesen Gedanken und ging stattdessen langsam die Straße entlang. Zumindest das, was von der Straße übrig geblieben ist. An manchen Stellen waren die Steine, die zum Pflastern verwendet wurden, zersprungen, an anderen Stellen waren tiefe Furchen zusehen. „Was könnte das nur verursacht haben…?“, murmelte Kid hinter ihr. Eigentlich hätte sie eine Antwort darauf geben können, zumindest eine vage, aber ihre Stimme war noch nicht zurückgekehrt. Schweigend lief sie einfach weiter, vorbei an der Stelle, an der sie sich versteckt hatte, vorbei an der Stelle, wo sie ihre Mutter tot aufgefunden hatte. All das versuchte sie so gut es ging auszublenden.
Schließlich standen sie vor ihrem Haus. Auch dieses war zerstört worden. Die kleine Treppe, die zur Tür hoch führte, war halb weggerissen worden, die Scheiben waren gar nicht mehr in den Fenstern. Bei diesem Anblick musste Nika doch schlucken und wieder wollten Tränen aufsteigen. Nur der sanfte Krallendruck von Lake auf ihrer Schulter und Kids Hand, die auf ihrer anderen Schulter lag, verhinderten es. „Danke…“, murmelte das Mädchen leise und warf ihm einen dankbaren Blick zu, bevor sie vorsichtig die Stufen zu ihrem alten Zuhause hochging.
Hier und da bröckelte ein Stückchen weg und als sie die Haustür aufmachen wollte, reichte ein leichter Druck, damit sie ganz zu Boden fiel. Ein paar Staubwölkchen wurden dadurch aufgewirbelt. Lake krächzte dadurch einmal, bevor er mit ein paar Flügelschlägen von Nika’s Schulter aus abhob und sich lieber auf einem sicheren Stück des Daches niederließ. Auch Nika musste husten und erst als sich der Staub wieder gelegt hatte, wagte sie es weiterzugehen.
Vage erinnerte sie sich noch daran, dass sie erst vor zwei Tagen alles aufgeräumt und geputzt hatte. Jetzt lag alles wild durcheinander, Schutt und Staub waren auf allen Möbeln und anderen derartigen Sachen verteilt. Wenn sie nicht gewusst hätte, dass sie hier einmal gewohnt hatte, dann hätte Nika ihr Zuhause fast nicht mehr erkannt.
Leise Schritte hinter ihr lenkten sie von diesem Gedankengang ab und sie warf einen kurzen Blick über die Schulter, bevor sie weiter in das Haus hinein ging. Eigentlich war es nicht sehr groß, es hatte nur ein Stockwerk und gerade einmal 4 Zimmer. Die Küche mit Wohnraum, das kleine Zimmer, in dem sich Nika und ihre Mutter immer gewaschen haben, das Schlafzimmer ihrer Mutter und schließlich ihr eigenes Zimmer. Im Moment standen die beiden in dem kleinen Flur, der die Zimmer alle miteinander verband. Nika steuerte die hinterste Tür auf der linken Seite an und drückte vorsichtig die Türklinke herunter. Sogleich strömten ihr eine Staubwolke und ein paar Schuttbrocken entgegen und sie musste husten. Es dauerte eine Weile, bis sich der Staub wieder gelegt hatte. Als es schließlich soweit war, wagte sie sich in ihr damaliges Zimmer und versuchte noch irgendetwas Vertrautes unter dem ganzen Schutt zu erkennen. Kid war hinter sie getreten und sah sich nun ebenfalls um. „Ich glaube, das hat wenig Sinn noch nach etwas brauchbarem zu suchen… Das meiste wird verstaubt, kaputt oder vergraben sein.“, sagte er und sah auf den großen Haufen Schutt, der wohl einmal das Dach gewesen war. Denn direkt darüber schien fahles Licht durch die Decke.
„Du hast wohl recht…“, murmelte Nika. Wieder wollten ihr ein paar Tränen in die Augen steigen, aber jetzt war nicht der richtige Ort dafür. Stattdessen sah sie sich ein letztes Mal noch um. Und entdeckte ein kleines Buch, das unter einem Staubhaufen hervor lugte. „Was ist denn das…?“, fragte sie sich leise und ging in die Hocke, um es aus der Staubschicht auszugraben. „Schaut aus wie ein… Märchenbuch“, meinte Kid, der wieder hinter sie getreten war und über ihre Schulter hinweg auf den verstaubten Einband sah. „Lass es uns lieber draußen anschauen. Hier drin ist eh nicht mehr, was wir gebrauchen könnten. Und im Dorf selbst gibt es auch nichts mehr, was wir untersuchen könnten… Verlassen wir es lieber“, schlug er vor und Nika nickte bedächtig. Sie fragte sich stattdessen, was es mit dem Buch auf sich hatte. Noch nie zuvor hatte sie es gesehen und das war schier unmöglich, da sie alle Bücher in dem kleinen Häuschen kannte. Wie war es also hier hinein gelangt?
4. Kapitel:
Flackernd brannte das kleine Feuer, das Kid geschickt entfacht hatte, vor ihnen und tauchte die Umgebung in ein orangenes Licht. Inzwischen war die Sonne untergegangen und die beiden hatten die Überreste des Dorfes verlassen. Zuvor waren sie noch auf dem Dorfplatz gewesen, aber außer dem zertrümmerten Brunnen und einigen anderen, zerstörten Gebäuden haben sie nichts mehr finden können. Abgesehen von weiteren, merkwürdigen Krallenabdrücken auf dem Boden. Nun saßen sie am Rand des kleinen Wäldchens, der an das Dorf und die Stadt angrenzte. Nika hatte das Buch, das sie zuvor in ihrem ehemaligen Zimmer gefunden hatte, zur Hand genommen, während Kid einfach nur in das Feuer starrte und anscheinend über irgendetwas nachdachte. Für den Moment hatte sie es aufgegeben, aus ihm schlau werden zu wollen. Dennoch erregte er ihre Neugier, denn er war gänzlich anders als alle anderen, die sie seither getroffen und kennengelernt hatte.
Kopfschüttelnd widmete sie sich schließlich dem Buch. Nach dem sie es tüchtig abgeklopft hatte, konnte man jetzt auch den Titel erkennen. „Legenden und Sagen…“, murmelte Nika. Das Buch hatte sie noch nie in der Hand gehabt, geschweige denn gewusst, dass sie es überhaupt besaß. Und selbst dabei war sie sich nicht sicher, denn normalerweise hätte sie es kennen müssen. Schließlich kannte sie jedes Buch, das in dem kleinen Häuschen gewesen war. Neugierig verschob sie diese Gedankengänge einfach und schlug es auf.
Sofort stachen ihr die vergilbten Buchstaben, die sie bisher noch nie gesehen hatte ins Auge. Das Buch war wirklich alt, was man auch an dem gelblichen und ziemlich brüchigen Papier sehen konnte. Zudem waren die Worte, die Buchstaben allgemein mit viel Sorgfalt gezeichnet worden. Geschrieben konnte man nicht sagen, denn jeder Buchstabe war für sich schon ein kleines Kunstwerk. „Wie kann ein Buch nur so alt werden…?“, murmelte sie leise vor sich hin. Dass Kid ihr einen Blick zuwarf, merkte sie dabei nicht. Sie war noch immer fasziniert von der künstlerischen Hingabe, mit der das Buch offensichtlich geschrieben worden war. Allerdings war es schwer sie zu entziffern und bei dem Licht, das das Feuer spendete, konnte sie nicht viel lesen. Zudem war das Papier schon so brüchig, dass sie sich fast nicht traute, die Seiten zwischen die Finger zu nehmen. Das größte Problem war aber, dass zwischendrin viel zu viele Seiten fehlten, als dass man einen Zusammenhang zwischen den Sätzen hätte erkennen können.
„Es ist schon spät… Wir sollten langsam schlafen gehen“, sagte da Kid in ihre Gedanken hinein und riss sie so aus eben jenen. „Oh… Du hast recht“, murmelte sie. Kurz sah sie sich nach Lake um, doch der war schon längst auf einen der Bäume geflogen und hatte dort den Kopf unter einen Flügel gesteckt. Ein leichtes Lächeln huschte über ihr Gesicht, bevor sie sich wieder dem Feuer und dem Jungen zuwandte. Er hatte noch immer die Kapuze auf und verdeckte so seine Haare. Nika wollte schon die ganze Zeit wissen, wieso und jetzt fragte sie ihn auch endlich.
„Sag… Wieso hast du immerzu die Kapuze auf?“, fragte sie ihn deshalb. Er erstarrte mit in einer Bewegung und ließ die Hände langsam sinken. Sein Kopf drehte sich zu ihr und sie konnte seine Augen unter der Kapuze heraus funkeln sehen. „Das hast du mich schon mal gefragt“, stellte er eine Spur zu kühl fest und sie hatte irgendwie das Gefühl, als ob sein Blick sie durchbohren wollte. Dennoch blieb sie standhaft und beharrte auf ihrer Frage. „Und du hast mir geantwortet, dass man dich deswegen eigenartig nennen könnte. Aber du hast mir nicht den Grund dafür verraten“, erwiderte Nika und blickte ihm fest in die Augen.
Einen Moment lang herrschte Stille, bevor er schließlich den Blick abwandte und ihn stattdessen auf das Feuer richtete. „Weil so etwas nicht vorkommen sollte. Es ist noch nie vorgekommen und deswegen nannte mich auch jeder ‚merkwürdig‘, ‚eigenartig‘ und dergleichen…“, erklärte er schließlich leise. Für einen Moment schloss Kid die Augen und er kam Nika jetzt viel mehr wie ein Jugendlicher, aber keines Falls wie ein junger Mann vor. Wieder bestätigte sich ihr Verdacht, dass er gerade einmal 1 oder 2 Jahre älter war als sie. Bevor sie aber diesen Gedanken weiterspinnen konnte, sprach er weiter. „Schon bei meiner Geburt war es so. Eigentlich sind meine Haare pechschwarz, aber…“, erzählte er weiter und stockte kurz. Schließlich nahm er doch die Kapuze ab und Nika sah jetzt, wieso man ihn ‚eigenartig‘ nennen konnte.
„Mein Haar ist pechschwarz, bis auf diese drei weißen Streifen, die schneeweiß sind. Weißt du jetzt, wieso man mich als ‚seltsam‘ abstempelt?“, fragte er und sah Nika kurz an. Schließlich wandte er wieder den Kopf dem Feuer zu und seufzte einmal. „Jeder der es bisher gesehen hat, hat gesagt, dass mit mir irgendetwas nicht stimmt. Dabei weiß ich selber nicht einmal, wieso es so ist…“, sagte er leise, während er einfach nur in die Flammen starrte.
„Ich finde es nicht seltsam. Es passt zu dir und macht dich zu dem, was du bist. Lass die anderen doch reden! Du selbst bist es, der damit leben muss und da könnte es den anderen doch herzlich egal sein!“, meinte Nika nach einer kurzen Weile. Es hatte zwar recht, dass so etwas nicht alle Tage vorkam, aber ihn deswegen ‚seltsam‘ nennen? Das war etwas, was sie nicht verstehen konnte. Kid hob nur überrascht den Kopf, um Nika nur umso überraschter anzusehen. „Aber…“, begann er, aber sie unterbrach ihn auch gleich wieder. „Nichts aber! Was meinst du, wie viele Leute es schon gab, die anders aussahen als andere? Meine Großmutter hatte auch ungewöhnlich blaue Haare gehabt, aber ihr war es egal gewesen. Meine Mutter hatte auch etwas bläuliche Haare, aber meinst du, dass sie sich um die Meinung anderer geschert hätte? Nimm doch mich mal als Beispiel. Wenn man genau hinsieht, erkennt man, dass meine Haare nicht hellbraun sondern leicht violett sind.“, widersprach sie ihm und mit einem Mal lag eine Festigkeit in ihrer Stimme, die sie noch nicht einmal vor der Vernichtung ihres Dorfes besessen hatte. Es überraschte sie selber ein bisschen, aber es zeigte sich keinerlei Überraschung in ihrem Gesicht. Dafür war Kid umso überraschter. Sein Blick war unwillkürlich auf ihr Haar gefallen, als sie es erwähnte. Und sie hatte recht. In dem Braun war noch ein leichter Violett Ton, den man nur schlecht erkennen konnte. Sein Blick fiel auf ihre Augen und erst jetzt bemerkte er den roten Ton, der mit angedeuteten Spuren von Rosa durchzogen war. Sie sah wirklich anders aus, als alle, die er bis jetzt getroffen hatte und die sich über sein eigenes Aussehen lustig gemacht hatten. Bevor er aber irgendetwas erwidern konnte, mischte sich der Rabe vom dem Baum aus ein und Krächzte einmal laut. Dabei schlug er hektisch mit den Flügeln und es war, als ob er ihnen etwas sagen wollte. „Lake? Was ist denn los?“, fragte Nika ihren Raben, aber die Frage beantwortete sich schon von selbst. Zwei Wölfe traten zwischen den Bäumen hervor und knurrten bedrohlich.
„Wölfe? Aber die waren doch bis jetzt immer friedlich!“, murmelte Nika überrascht. Kid war indes schon aufgesprungen und hatte sein Messer gezogen. „Wenn Wölfe Hunger haben, dann ist es aus mit der Friedlichkeit“, erwiderte er. Dabei griff er nach Nika’s Hand und zog sie auf die Beine. „Und wenn es soweit ist, dann sollte man sich am besten nicht mehr in der Nähe von diesen Gesellen aufhalten“, fügte er schließlich noch hinzu, als sie ihn nur verwirrt anblickte. „Aber… Sie haben noch nie jemandem Leid zugefügt! Ich hab schon oft mit ihnen gesprochen und sie waren immer friedlich!“, meinte sie und warf einen Blick zu den Wölfen. Diese schlichen immer näher und es war eindeutig, dass die Beiden nicht gut aufgelegt waren. „Verflixt. Ihr kennt mich doch!“, rief Nika schließlich, direkt an die Wölfe gerichtet. Deren Ohren zuckten zwar noch in Richtung der Geräuschquelle, aber sie wandten nicht den Kopf zu ihr. Stattdessen knurrte einer der Beiden laut. Bevor Kid und Nika auch nur reagieren konnten, hatten sie schon einen Satz gemacht und sprangen direkt auf die beiden Jugendlichen zu.
„Runter!“, rief Kid und in letzter Sekunde ließ er sich mit Nika an der Hand zu Boden fallen. Die beiden Wölfe kamen hinter den Beiden auf, aber sie drehten sich nicht zu ihnen um, sondern blieben stehen und knurrten weiter. Dieses Knurren richtete sich jetzt aber an etwas in dem Wald und Nika hob verwundert den Kopf. Kurz darauf war außer dem Knurren noch ein anderer Laut, ein Brummen zu hören und jetzt erkannte Nika, was überhaupt geschah. „Ein Bär… Sie wollten uns nur vor dem Bären beschützen!“, murmelte sie. Kid sah sie wieder einmal verwundert an, aber er musste dem Mädchen zustimmen. Denn der Bär, der bis jetzt noch gut getarnt zwischen den Bäumen gestanden hatte, trat in den Lichtkreis des kleinen Feuers und brummte gefährlich. Dieses Brummen wurde auch prompt von einem drohenden Knurren beantwortet. „Aber wieso…?“, fing Kid an, aber durch das erneute Brummen wurde er unterbrochen. Anscheinend sah der Bär ein, dass er keine Chance hatte, die beiden Wölfe zu überlisten und an die Jugendlichen heranzukommen. So gab er dann schließlich auf und trottete wieder in den Wald.
„Der Bär hat immer wieder versucht Menschen zu töten und zu fressen… Dank den beiden Wölfen ist es nie soweit gekommen… Danke, ihr Beiden!“, erklärte Nika dem Jungen und wendete sich dabei auch gleich an die beiden Wölfe, die sich zu den Beiden umdrehten. Jetzt fletschten sie weder die Zähne, noch ließen sie ein Knurren hören. Der linke Wolf sah Kid etwas misstrauisch an, der rechte aber trottete gleich zu Nika und schnüffelte an ihr. „Dafür, dass sie uns immer wieder den Bären vom Leib halten, haben wir ihnen immer wieder etwas zu Fressen gegeben. Zwar jagen sie sich selber auch etwas, aber solche Leckerbissen gab es halt immer nur bei uns…“, fuhr sie dann schließlich an Kid gewandt fort und sah kurz zu ihm und dem linken Wolf, der es dem anderen nachtat und an Kids Hand schnüffelte. „Interessant…“, murmelte dieser nur, während er diese ‚Geruchsprüfung‘ über sich ergehen ließ. Schließlich sah er zu Nika und sah ihr zu, wie sie dem anderen Wolf hinter den Ohren kraulte. „Trotzdem sollten wir bald schlafen. Morgen ist auch noch ein Tag und vielleicht haben deine Freunde hier nichts dagegen uns diesen Bären für heute Nacht vom Hals zu halten?“, schlug er schließlich vor, nachdem ein nicht sehr langeanhaltendes Schweigen eintrat und er Nika in der Zeit einfach nur betrachtet hatte. Sie selber hatte nichts von seinem Blick mitbekommen und bemerkte es auch jetzt nicht, als sie zu ihm sah.
„Das ist eine gute Idee… Morgen werde ich mir wohl überlegen müssen, was ich machen werde… Außerdem will ich endlich das Buch lesen“, stimmte sie zu. Den letzten Teil murmelte sie mehr zu sich selbst, als an Kid gerichtet. Nach einer kurzen Weile, in der sie weiter vor sich hingemurmelt hatte, sah sie schließlich auf und wendete sich wieder an die Wölfe. „Wäre das in Ordnung für euch?“, fragte sie die Beiden und obwohl sie ihr keine Antwort gaben, schien es fast, als ob sie nicken würden…
5.Kapitel:
Schneller als gedacht, brach der nächste Morgen an und Nika wurde durch einen Sonnenstrahl, der ihr direkt ins Gesicht fiel, geweckt. Mit einem Gähner, der sich nur halb unterdrücken ließ, setzte sie sich auf. Es dauerte einen Augenblick, bis sie wusste, wo sie war und was überhaupt passiert war. Schließlich fielen ihr die Ereignisse vom letzten Tag wieder ein und sie blickte sich rasch nach den beiden Wölfen um. Alle Beide lagen auf der anderen Seite des heruntergebrannten Feuers. Einer von ihnen döste noch, der andere hatte seine Ohren gespitzt und war hellwach. Kurz schweifte ihr Blick über das Fell der Wölfe, bevor er weiter zu Kid glitt, der noch schlief. Seine Kapuze hatte er gestern nicht mehr aufgesetzt und sie konnte seine Haare jetzt noch besser sehen als in dem schwachen Licht des Feuers am Vortag. Tatsächlich waren sie pechschwarz, bis auf diese drei schneeweißen Streifen. Sie zogen sich von der Hälfte seines Ponys bis zur Hälfte von seinem Hinterkopf. So ein Muster hatte Nika noch nie in ihrem Leben gesehen, aber irgendwie konnte sie auch nichts… ‚seltsames‘ daran erkennen. Im Gegenteil, irgendwie passte es zu Kid und sie konnte sich ihn gar nicht anders vorstellen.
Eine Weile sinnierte sie über diesen Gedanken nach, bevor sie einen Blick zu Lake warf, der noch immer mit dem Kopf unter einem Flügel schlief. Da sie sonst nichts zu tun hatte, griff sie nach dem Buch. Vielleicht würde es ihr ja gelingen einige Seiten zu entziffern. Hoffnungsvoll schlug sie daher das Buch auf und blätterte vorsichtig ein bisschen nach hinten. Dabei fielen ihr wieder die kunstvoll gezeichneten Buchstaben ins Auge und irgendetwas sagte ihr, dass das Buch vielleicht wertvoller war, als sie es sich vorstellen konnte. Allerdings gelang es ihr beim besten Willen nicht die Wörter, die darin geschrieben standen zu entziffern. Selbst bei den Überschriften hatte sie Schwierigkeiten, aber da diese größer waren als die Buchstaben, die die eigentliche Geschichte erzählten, konnte Nika zumindest vermuten, was sie bedeuteten. Einer der ersten Titel, die sie entziffern konnte, war ‚Der Drache im See‘. Bei dem Wort ‚Drache‘ hielt sie kurz inne. Eigentlich gab es schon lange keine Drachen mehr, weswegen sie die Stirn runzelte und überlegte. Hatte ihr ihre Großmutter nicht einmal von einer Sage erzählt, in der es einen See gab, der komplett im Nebel lag? Ein Drache sollte jede Vollmondnacht erscheinen und irgendetwas preis geben…
Schließlich schüttelte sie den Kopf. Sie kam einfach nicht darauf, was es gewesen war. Nika wusste nur noch, dass dieser Drache jemand bestimmten, der irgendein Zeichen hatte, etwas geben würde. Was es war, wusste sie einfach nicht mehr. Vielleicht steht in dem Text unter der Überschrift drin, was es genau ist, aber so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte es nicht entziffern. Etwas resigniert blätterte sie stattdessen weiter, bis sie zur nächsten Überschrift gelangte.
„Die Höhle im Wald…“, murmelte Nika vor sich hin. Davon hatte sie noch nie etwas gehört. Zwar wusste sie, dass es im Wald bestimmt einige Höhlen gab, aber etwas Genaueres hatte sie auch noch nicht gehört. „Das ist doch eine Sage oder?“, platzte schließlich eine Stimme in ihre Gedanken. Vielleicht etwas zu hastig blickte sie auf und geradewegs in Kids Augen, die ebenfalls pechschwarz waren, aber seltsamerweise noch einen violetten Ton hatten. Mit einem Gähnen setzte sich der Junge auf, wobei er sich einmal lang streckte. „Vermutlich… Aber ich kann die Schrift nicht entziffern. Bei den Überschriften geht es noch, aber alles andere ist für mich komplett unleserlich…“, murmelte Nika, als sie ihre Stimme wiedergefunden hatte. „Gib es mir doch mal“, sagte der Kid und sie gab ihm wortlos das Buch. Dabei warf sie einen kurzen Blick zu den beiden Wölfen, die noch immer dalagen. Inzwischen war auch der zweite Wolf wach geworden und sah sich aufmerksam um.
„Das ist wirklich nicht zu entziffern…“, murmelte Kid vor sich hin, bevor er das Buch auf die Seite legte. „Aber was hast du jetzt vor? Schließlich hast du ja so gesehen kein Zuhause mehr…“, fragte er schließlich Nika. Zuerst herrschte Schweigen, aber nicht lange danach fing Nika an zu reden. „Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Aber ich würde zu gerne etwas dagegen tun, dass noch mehr Dörfer zerstört werden. Vorerst werde ich wohl versuchen jemanden zu finden, der das Buch lesen kann… Vielleicht gibt es darin ja Hinweise, wie man diese… Wesen stoppen kann…“, meinte sie. Dabei sah sie auf die Reste des Lagerfeuers und stocherte mit einem Ast ein bisschen in der Asche herum. Als sie ‚die Wesen‘ erwähnte, setzte Kid schon zur nächsten Frage an. „Hast du denn gesehen, was das für… Wesen waren?“, fragte er sie und wieder herrschte eine Weile lang Schweigen. Schließlich raffte sie sich dazu auf, ihm zu antworten. „Es waren… Eigentlich ganz normale Tiere… Aber sie waren viel größer und hatten etwas… Unheimliches und düsteres an sich“, antwortete sie ihm. Währenddessen schaute sie nicht einmal zu ihm und hatte eine Hand an den Anhänger gelegt.
Kid schwieg nun auch, nachdem er den Ast wieder in die Asche gelegt hatte. Er wollte sie nicht allzu sehr an diesen Tag erinnern. Zudem musste er selber auch ein bisschen nachdenken. Er selber hatte für den Moment nichts zu tun. Seit er von Daheim weggegangen war, war er ohne Ziel durch die Gegend gestreift. Jetzt allerdings nahm ein vager Plan vor seinen Augen Gestalt an. Etwas unvermittelt richtete er wieder sein Wort an Nika: „Wie wäre es, wenn wir zusammen diesen Sagen auf den Grund gehen und nach einem Mittel suchen, diese… Wesen zu vertreiben?“
6. Kapitel:
Die Sonne stand hoch am Himmel und es war für einen normalen Frühlingstag schon unerwartet warm. Bald würde der Sommer kommen und sowohl Menschen als auch Tiere würden unter der Hitze leiden. Doch Nika war es schon von den Sommermonaten bei Verwandten gewohnt. Bei einigen von ihnen war es im Frühling noch wärmer, als in ihrem früheren Dorf, sodass ihr jetzt die Hitze nicht mehr allzu viel ausmachte. Auch Kid schien die Hitze nicht viel auszumachen und die beiden Wölfe und der Rabe hinter ihnen, machte es anscheinend auch nichts aus.
Nachdem sie heute früh aufgebrochen waren, hatten sie nicht mehr viel geredet. Nur eine kurze Diskussion über ihren Zielort war angestanden und darüber, was sie essen sollten. Zwar hatte sich Nika noch gewundert, wieso Kid mit ihr kommen wollte, aber sie wollte nicht allzu sehr nachhaken. Vor allem deshalb, weil sie mir ihren eigenen Gedanken beschäftigt war. Diese kreisten hauptsächlich um das Buch und welche Geheimnisse es wohl noch bergen mochte, einige drehten sich aber auch um die Frage, wieso die beiden Wölfe ihnen folgten.
Doch schließlich wurden diese Gedanken recht schnell verdrängt, als endlich das kleine Dorf in Sicht kam. Nika blickte kurz überrascht auf. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass sie schon so viel Weg hinter sich gebracht hatten. Aber irgendetwas stimmte hier nicht… „Irgendetwas stimmt das nicht“, murmelte im gleichen Moment auch Kid. Trotz der Situation musste sie grinsen, allerdings verflog es genauso schnell, wie es gekommen war. „Rauch… Wenn es so ist, wie ich es mir denke, dann ist es bestimmt nicht aus einem Kamin…“, murmelte Nika vor sich hin und fast schon automatisch verdüsterte sich ihre Miene. Die Wölfe stießen ein zustimmendes Knurren aus und Lake krächzte warnend. Schließlich blieb der kleine Trupp stehen und besah sich das Dorf aus der Ferne. Hier und da konnte man Rauchfahnen in den Himmel aufsteigen sehen, aber was das schlimmste war… Es war kein einziger Mucks zu hören. Nicht einmal die Vögel sangen.
„Wir kommen wohl zu spät, um zu helfen…“, meinte Kid leise und Nika hob in dem gleichen Moment ihre Hand an den Anhänger. „Wir hätten sowieso nicht helfen können. Schon damals hatte ich erlebt, dass nichts und niemand diese Wesen aufhalten konnte… Ich glaube, dass ich überlebt hatte, war reiner Zufall…“, flüsterte sie und sie musste einmal tief durchatmen. Gleich darauf spürte sie einen sanften Druck auf ihrer Schulter und sie wandte den Kopf nach links, um ihren Raben zu erblicken. Dahinter erkannte sie Kid, wie er mit düsterer Miene das Dorf beobachtete. Für einen kurzen Augenblick ruhte ihr Blick auf ihm, bevor sie ihn dann abwandte und stattdessen zu den Wölfen sah. Beide hatten die Ohren hoch aufgestellt und lauschten auf jedes mögliche Geräusch.
„Trotzdem sollten wir nachsehen, ob es vielleicht Überlebende gibt“, durchbrach schließlich Kid die Stille und sie sah wieder zu ihm. Mit einem kurzen Nicken ihrerseits setzte sich die kleine Truppe wieder in Bewegung.
Auf dem Weg zu dem Dorf verfiel das kleine Grüppchen in Schweigen. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach und nicht einmal eines der drei Tiere gab einen Laut von sich. Immerhin dauerte es nicht allzu lange, bis sie an dem Tor des Dorfes ankamen. Von ihrer Mutter und ihrem eigenen Heimatdorf wusste sie, dass die Tore normalerweise verschlossen sein müssten, doch dem war nicht so. Stattdessen war es komplett zerstört, besser gesagt umgerissen worden. „Sieh mal… Hier sind auch wieder diese seltsamen Kratzspuren!“, sagte Kid. Es schien fast so, als ob es an ihn selber und nicht an Nika gerichtet gewesen wäre, dennoch stimmte das Mädchen ihm schweigend zu. Dabei kamen wieder einige der Bilder in ihr hoch, die sie eigentlich hatte vergessen wollen.
Bevor sie aber zu sehr darüber nachdachte, konzentrierte sie sich lieber auf ihre Umgebung. Auch hier lag wieder eine Grabesstille in der Luft und vermutlich hätte man eine Nadel zu Boden fallen hören können. Diese Tatsache vorerst einfach missachtend, blickte sie sich um. Kid war schon einige Schritte weiter gegangen und stand jetzt vor einem zertrümmerten Marktstand. „Anscheinend ist hier gerade Marktzeit…“, meinte er. „Du meinst wohl war“, erwiderte Nika sarkastisch, die derweil zu ihm aufgeschlossen hatte. Die beiden Wölfe tappten mit hochaufgerichteten Ohren hinterher, während der Rabe weiterhin auf Nika’s Schulter sitzenblieb und ebenfalls wachsam die Gegend beäugte. „Sollen wir weiter rein gehen?“, fragte Kid und warf einen Blick zu dem Mädchen, das sich weiterumschaute. Erst als es angesprochen wurde, wandte sie wieder den Kopf zu ihm und sah ihn fragend an. „Meinst du? Vermutlich wird in der Dorfmitte ein größeres Chaos herrschen als hier. Zumindest war es in meinem Dorf schon so, das hast du ja selbst gesehen“, erwiderte sie auf seine Frage. „Wer weiß? Vielleicht gibt es ja irgendwo noch Überlebende?“, entgegnete er nur und schließlich nickte Nika einfach. „Kann sein… Auch wenn es eher unwahrscheinlich ist“, murmelte sie nur noch vor sich hin, bevor die beiden weiter in die Stadt hinein gingen.
Dort herrschte, genau wie sie es vorhergesagt hatte, ein noch größeres Durcheinander, als an dem Dorftor. So wie es aussah, war hier der Dorfplatz gewesen, da hier dicht an dicht Stände standen. Man konnte nicht mehr wirklich erkennen, was sie präsentiert hatten, aber es waren wohl größtenteils Obst-Stände gewesen, da überall Früchte herumlagen, die nicht mehr sehr appetitlich wirkten. Auch kleine Tontrümmer, die ursprünglich wohl zu Töpfen oder Figuren gehört hatten, lagen verstreut herum. Das schlimmste war aber, dass überall Menschen in ihrem eigenen Blut lagen.
Bei dem Anblick musste Nika schlucken und ihr schossen die Tränen in die Augen. Genauso hatte es auch in ihrem Dorf ausgesehen, genauso hatte sie ihre Mutter und all ihre Freunde und Bekannte aufgefunden. Unbewusst machte sie einen Schritt zurück und prallte direkt in Kid, der hinter ihr stand. Lake war dabei aufgeflogen und hatte sich auf dem Rücken von einem der Wölfe niedergelassen, die noch immer hinter den beiden Jugendlichen standen. Nika bekam davon nicht wirklich viel mit, ihre Augen ruhten immer noch auf den vielen Leuten, deren Leben in Sekundenschnelle ausgelöscht worden war. Auch Kid hatte einige Mühe den Blick abzuwenden, allerdings wurde er von dem Mädchen vor ihm abgelenkt, das die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, drehte er sie zu sich herum und schloss sie in die Arme.
„Es ist schon gut… Beruhige dich“, versuchte er sie dabei zu beruhigen. Seiner Meinung nach, war es etwas unbeholfen, dennoch verfehlte es die erwünschte Wirkung nicht. Langsam beruhigte sie sich wieder, auch wenn es noch eine Weile dauerte, bis ihre Tränen ganz versiegen würden. Dabei ging er vorsichtig einige Schritte zurück, weg von dem grauenhaften Bild, das sich ihnen bot. Als sich Nika dann endlich beruhigt hatte, hatte er sie so schon weiter weggebracht. „Danke…“, schniefte sie leise, sodass Kid Mühe hatte, sie zu verstehen. Ihre Stimme war noch immer zittrig, aber immerhin weinte sie nicht mehr. Die Wölfe und der Rabe waren ihnen schweigend gefolgt, so als ob sie die ganze Situation verstehen würden. Dennoch waren die Tiere so wachsam wie zuvor und ließen ihre Umgebung nicht aus den Augen.
„Wir sollten wohl besser verschwinden…“, schlug der Junge leise vor und durchbrach somit die unheimliche Stille, die sich währenddessen ausgebreitet hatte. Nika nickte einfach nur. Mit einem letzten Blick zum Marktplatz nahm Kid sie schließlich an der Hand und zog sie sanft Richtung Ausgang mit sich.
Tag der Veröffentlichung: 29.01.2011
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