Türen. Türen sind etwas ganz Besonderes. Sie dienen dazu, Räume voneinander zu trennen. Sie können geöffnet werden, um hindurchzutreten. Sie können ebenso verschlossen werden, um etwas dahinter zu verstecken oder zu sichern. Türen haben in der Regel die unterschiedlichsten Formen von Schlössern. Die einen lassen sich mit einfachen Schlüsseln öffnen. Andere nur mit Codes oder Fingerabdrücken. Das Bedürfnis, Wertvolles oder Persönliches zu schützen, verschlossen zu halten, ist ein altes Ur-Bedürfnis. Es existiert seit Jahrhunderten, sogar Jahrtausenden hinweg– ebenso wie das unbändige Verlangen hinter diese verschlossenen Türen zu gelangen.
Dann gibt es Sagen und Märchen über Türen, die selber entscheiden, wem sie sich öffnen und wem gegenüber sie verschlossen bleiben. Kein Schlüssel, keine Gewalt, kein Trick dieser Welt kann sie öffnen. Ähnlich wie das Schwert Excalibur oder Thors Hammer, gewähren diese Türen nur solchen Menschen Einlass, die sich als würdig erweisen. Es scheint für den aufgeklärten Menschen unwahrscheinlich, dass Türen dieser Art tatsächlich existieren. Eine davon gibt es jedoch ganz gewiss. Und nicht einmal seine Besitzer wissen um ihre magischen Kräfte.
Es gibt nur wenige Menschen, welchen bislang die Ehre zu Teil wurde, das Wunder hinter dieser speziellen Türe erleben zu dürfen. Einer davon hieß Paul. Er hat diese Türe öfter durchschritten als jeder andere Mensch. Paul hat der Welt hinter der Tür vor allem ein Erbe hinterlassen – Einheit und Friede. Paul verstarb glücklich als alter Mann und die Tür blieb viele Jahre verschlossen. Die Einheit dahinter zersplitterte in viele Gruppen mit unterschiedlichen Interessen, der Friede verschwand zusehends hinter Maßlosigkeit und Gier. Als Paul verstarb war er bereits 98 Jahre alt. Er hatte seinen beiden Enkelsöhnen vielfach Geschichten aus der geheimnisvollen Welt erzählt, aber nie preisgegeben, dass es seine eigenen Abenteuer gewesen sind.
Jetzt da diese Welt vor ihrem Zerfall steht, erwacht die Magie der Tür wieder. Sie ruft nach Hilfe. Sie ruft nach Paul, nach Pauls Erben – seinen Enkelsöhnen.
Es ist sechs Uhr morgens früh. Oliver reibt sich die Augen und nippt an seinem Kaffee, während das vertraute Piepen des Freizeichens im Telefon in regelmäßigen Abständen tönt. Er wägt seine Chancen ab, ob er seinen Bruder zu diesem Ausflug tatsächlich überreden kann. Der unbändige Drang nach einem Trip in die Berge überkam ihn plötzlich mitten in der Nacht und er konnte die Stunden nicht mehr abwarten, bis er guten Gewissens bei seinem Bruder anrufen konnte. Das Freizeichen piept erneut, dann hört er das charakteristische Knacken, wenn an der Gegenseite das Gespräch angenommen wird. Noch bevor sein Bruder ihn verschlafen begrüßen konnte stieß Oliver vor.
‚Guten Morgen Ben. Lust auf einen Trip?‘
Oliver brauchte Ben nicht lange überzeugen, denn wäre Ben als erster aufgewacht, hätte er Oliver angerufen und ihm dieselbe Idee verkauft. Die beiden jungen Männer lachten noch eine Weile über diese Gedankenverbindung, machten sich aber auch schnell daran, ihren Männertrip zu planen. Sie entschieden sich für ein verlängertes Wochenende in dem Hotel, von welchem ihr Großvater Paul so viel geschwärmt hat. Sollten sie ihre Familien mitnehmen? Oliver war verheiratet und hatte zwei Kinder. Ben war verlobt und sehnte sich nach eigenen Kindern. Da sich die beiden Brüder schon länger nicht mehr alleine gesehen haben, entschieden sie sich den Trip ohne Frauen und Kinder zu unternehmen. Oliver war mit einer hübschen jungen Ärztin verheiratet, Nadine. Durch die Kinder hat ihre Karriere ein wenig gelitten, aber Familie war für sie weit wichtiger als ihr beruflicher Erfolg. Den brachte Oliver nämlich auch alleine ganz gut mit. Auch er war Mediziner. Ben war als Manager in einem Konzern tätig und fand durch ein haarsträubendes Abenteuer zu seiner Verlobten Luisa. Die Hochzeit stand in einem halben Jahr an, sodass ein Trip unter Männern durchaus eine willkommene Abwechslung zur Arbeits- und Hochzeitsplanungsalltag darstellte.
Ihr Großvater schwärmte solange er lebte von einem Hotel tief in den Alpen. Er war ein begeisterter Wanderer und genoss die Stille in den Wäldern und den höheren Lagen der Berge. Er reiste mindestens einmal im Jahr mit seiner Frau dorthin, um dem Lärm und der Hektik der immer lauter werdenden Städte und Gesellschaft zu entfliehen. Nach seinen Besuchen dort wirkte er jedesmal wie in einen Jungbrunnen gefallen. Agil, lebendig und lebensfroh. Er erklärte den Kindern, dass er in der vergangenen Woche seine Batterien wieder vollständig aufgeladen habe. Dann ging er mit ihnen raus in den Garten oder in den Wald und spielte Drachenfangen oder Prinzessinnenretten. Ben und Oliver freuten sich schon allein bei der Ankündigung, dass Opa zu Besuch kommen wird. Seine Phantasie war unerschöpflich. Er erfand die wunderbarsten Geschichten von fremden Wesen, vor denen sie sich im Wald in Acht nehmen sollten. Er lehrte sie das Fährtenlesen von Trollspuren und woran zu erkennen sei, das in einem Erdloch eine böse Hexe eingesperrt ist. Erdlöcher seien die Gefängnisse von Fabelwesen, die er Rulien nannte. Seine Beschreibung einer Rulie glich einer Kreatur aus einer Horrorgeschichte. Eine Körperlose nur schemenhafte Gestalt von so abstoßender Hässlichkeit, dass selbst dem mutigsten und tapfersten Krieger die Beine für immer versagten. Er zeigte dann im Wald auf verrottete Baumstümpfe und erklärte, dass das die unglücklichen Krieger seien. Unfähig sich zu bewegen wären sie dort wo sie erstarrten langsam versteinert und der Zahn der Zeit verunstaltete sie zu diesen traurigen Überresten. Sie gestanden es sich ungerne ein, aber lange Zeit hatten die beiden Jungs ehrlichen Respekt vor Baumstümpfen und Erdlöchern. Aber auch sie wurden älter und die Phantasiewelt vor ihrer Haustür verkam immer mehr zu der bekannten Realität. Ein Baum ist einfach ein Baum, ein Loch im Boden beherbergt keine Hexen, sondern Dachse, Füchse, Hasen oder anderes Getier.
Paul verstarb im hohen Alter von 98 Jahren. Er sagte immer, der Tod schüchtert ihn nicht ein. Wer seine Kämpfe stolz und reinen Herzens gekämpft hat, auf den wartet nach dem irdischen Leben eine weit wundersamere und spannendere Welt. Ben und Oliver wünschten ihrem Großvater von Herzen, dass sich dieser Glaube für ihn verwirklichte.
Oliver ist beinahe 2 Jahre jünger als Ben und sie haben ein ausgesprochen gutes Verhältnis zueinander. Der Männertrip sollte im Andenken an ihren Großvater in das besagte Hotel führen. Dann war er da, der Tag der Abreise. Nadine und die Kinder blieben bei Luisa zu Besuch und die Kinder freuten sich auf ein tolles Wochenende im großen Anwesen von Ben. Dieser verabschiedete sich von Luisa mit einem zarten Kuss und stieg zu seinem Bruder ins Auto. Oliver fuhr einen geländegängigen SUV. Da sie nicht wussten, wie off-road das Hotel tatsächlich lag. Im Rückspiegel sahen sie, wie ihre Familien immer kleiner wurden, je weiter sie sich vom Parkplatz entfernten. Die beiden Frauen unterstützten das Vorhaben der Jungs und fanden die Idee eines Männer-Road-Trips sehr gut. Sie nannten es einen „Roar“-Trip, da die beiden Brüder etwas dazu neigten durchzudrehen, wenn sie sich lange Zeit nicht gesehen hatten. Dann wurde schon mal wie ein Dinosaurier gebrüllt. Olivers 3 jährige Tochter fand das urkomisch, Nadine und Luisa weniger. Genau umgekehrt verhielt es sich mit der Tatsache dieses Ausfluges. Die Frauen fanden ihn gut, Olivers Kinder sind weniger begeistert, dass Papa so lange und so weit weg ist.
Als der SUV auf der Straße nur noch ein kleiner Punkt gewesen ist, lief Nadine und Luisa jeweils ein sehr kalter Schauer über den Rücken. Die beiden Frauen schoben es auf die kühle Brise, welche aufzog und erzählten es sich gegenseitig nicht. Die Brise fegte in dieselbe Richtung wie Ben und Oliver fuhren. Beinahe so, als ob der Rückenwind die Ankunft der beiden beschleunigen sollte.
Die Hälfte der zehn stündigen Fahrt kämpfte sich der SUV durch schwach befestigte Wege, steile Hänge und kaum auszumachende Pfade in dicht bewaldeten Abschnitten. Ben fragte sich mittlerweile, ob sie die GPS Daten eventuell falsch eingegeben hatten. Ein Abgleich mit dem Ausdruck der Hotelseite aus dem Internet jedoch bestätigte die Zielkoordinaten. Es war bereits stockfinster, als Ben und Oliver die schalen Lichter des Hotels in der dichten Flora ausmachen konnten. Die Fahrt in der Dunkelheit in unwegsamem Gelände hat viel Kraft und Konzentration gekostet. Entsprechend erledigt waren die beiden Männer, als sie den Motor auf dem verlassenen Hotelparkplatz grenzwertig heiß gelaufen abstellten.
Sie hatten nicht viel Gepäck dabei. Ein Rucksack und eine Reisetasche pro Person. Oliver machte sich nicht einmal die Mühe das Fahrzeug abzuschließen. Dem Parkplatz nach zu urteilen waren sie die einzigen Gäste in dieser Nacht. Mit ihren Taschen in den Händen betraten sie den Empfangsbereich und fühlten sich vom ersten Moment an unglaublich wohl und geborgen. Ein kleines Feuer knisterte im offenen Kamin, vor welchem ein kleiner Kaffeetisch und drei gemütlich wirkende Sessel auf Gäste warteten. Das gesamte Hotel war im Blockhouse-Stil erbaut womit auch der Innenbereich von Holzarbeiten dominiert wurde. Der Empfangstresen war wie ein kleiner Kiosk direkt neben der zu den Zimmern führenden Treppe in den Raum integriert. Dort wartete auch bereits eine hübsche junge Dame mit einem bezaubernden, einladenden Lächeln auf sie.
‚Guten Abend Ben, guten Abend Oliver. Wir liegen so hoch, dass es nicht mehr üblich ist, sich zu Siezen. Ich bin Daniela und heiße euch herzlich willkommen.‘ Die Brüder waren etwas überrascht, auf so direkte Weise angesprochen zu werden.
‚Guten Abend Daniela. Vielen Dank für den freundlichen Empfang. Da du uns direkt beim Namen genannt hast, gehe ich davon aus, wir sind die einzigen Gäste heute Nacht?‘ Ben war durch seinen Job durchaus gewohnt überraschende Situationen charmant und souverän aufzugreifen.
‚In der Tat haben wir heute nur euch beide erwartet. Wir sind aber gut auf euch vorbereitet und freuen uns darauf, euren Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten. Hier sind eure Schlüssel. Eure Zimmer liegen nebeneinander im zweiten Stock. Vom Balkon aus habt ihr, wenn ihr früh genug aufsteht, einen traumhaften Blick auf den Gipfel-Sonnenaufgang. Frühstück gibt es ab halb sechs bis neun Uhr. In der Küche könnt ihr euch sonst jederzeit selber bedienen. Wir haben fließend kaltes Wasser und einen Wasserkocher. Im Kühlschrank findet ihr Obst, Milch und ein paar Flaschen Bier. Das Wasser aus der Leitung ist reines Gebirgswasser und besser, als alles was ihr in Flaschen abgefüllt bekommt. Daher bieten wir kein anderes Wasser an. Brot findet ihr in den Schränken und etwas Wurst und hausgemachten Käse ebenfalls im Kühlschrank. Sollte euch heute Nacht der Hunger überfallen, zögert bitte nicht.‘
‚Ich glaube heute Nacht wird mich höchstens der Sandmann überfallen.‘ Oliver hatte schon kräftige Ringe unter den Augen und wog ab, ob sein leerer Magen oder das Bedürfnis nach Schlaf sein Abendprogramm steuert. Daniela gab die Richtung dann allerdings vor.
‚In der Küche ist ein kleiner Essplatz, dort haben wir für euch ein leichtes Abendessen vorbereitet. Wir kennen den Weg hier hoch und wissen, dass die wenigsten Leute auf diese anstrengende Fahrt vorbereitet sind. Ihr müsst sehr hungrig sein. Ihr könnt in der Küche jederzeit zum Essen vorbeikommen.‘
‚Ich denke, wir machen uns erstmal kurz frisch und schauen dann gerne auf einen Happen vorbei.‘ Bens Magen brannte förmlich, aber er wollte um keinen Preis gierig oder schlecht vorbereitet wirken. Immer schön den Schein wahren.
‚Ich werde mich dann bereits zurückgezogen haben. Hier oben in den Bergen beginnen die Tage sehr früh und bis auf ein paar wenige Ausnahmen stehen hier im Haus alle Türen offen.‘
‚Das ist sehr freundlich. Wir werden versuchen, so wenig Umstände wie möglich zu machen.‘
‚Das werden wir ja dann sehen‘ sagte Daniela mit einer Mischung aus Wissen und sympathischer Provokation.
‚Gute Nacht ihr zwei‘
‚Gute Nacht Daniela‘.
Auf dem Weg in ihre Zimmer rätselten Ben und Oliver, was in aller Welt eine so hübsche junge Frau dazu bewegt statt in einer Stadt, so weit abgelegen zu wohnen. Die Diskussion über schlechte Erfahrungen, kranke Familie und weitere Gründe erlosch, als sie im ersten Stock angekommen waren. Der Flur verlief quer zum Treppenhaus. Ein Arm lief links, der andere rechts von der Treppe ab. In beiden Flügeln reihten sich die Zimmertüren auf. Es waren einfache, schlichte Holztüren. Eher unauffällig. Der Türgriff war ebenfalls aus Holz. Die gesamte Innenausstattung wirkte handgemacht. Dort, wo sich die beiden Flügel und das Treppenhaus trafen, befand sich auch eine Tür. Sie hob sich allerdings gravierend von den anderen Zimmertüren ab. Sie hatte einen massiven, mit kunstvollen Schnitzereien verzierten Rahmen. Die Tür selber hing in schweren eisernen Scharnieren. Der Türgriff war aus Horn geschnitzt und wirkte kräftig und schwer. Auf der Tür war eine kleine Plakette angebracht. Auf ihr waren folgende Worte zu lesen:
-- Träume öffnen mehr Türen, als Hände und Worte es jemals können werden. --
Instinktiv griff Ben nach der Türklinke und drückte sie energisch runter. Sie ließ sich allerdings keinen Millimeter bewegen.
‚Es ist nur eine Attrappe. Alle Gäste versuchen es, diese Tür zu öffnen. Ich habe bislang nur einen einzigen Gast erlebt, der es nie versucht hat.‘ Danielas überraschendes Erscheinen hat die beiden Männer kurz zusammenzucken lassen.
‚Ist das ein Willkommensscherz des Hotels? Eine Art Running-Gag?‘
‚Nein, die Tür war immer schon hier. Keiner weiß, wer sie geschnitzt oder eingebaut hat. Das Hotel ist schon sehr alt und durch viele Besitzerhände gegangen. Aber keiner hat Aufzeichnung über die Hintergründe zu dieser Tür hinterlassen.‘
‚Wo führt die Tür hin?‘ Ben wurde nun neugierig und seine Müdigkeit wich der Abenteuerlust diesem Geheimnis ein wenig nachzugehen.
‚Nirgendwo. Dahinter ist eine massive Wand. Hinter Wand treffen sich die beiden Zimmer die jeweils links und rechts dieser Tür ihre eigenen Eingangstüren haben.‘
‚Woher wisst ihr, dass es keinen Geheimraum zwischen den beiden Zimmern gibt?‘ Bens Neugier wuchs und diese Tür begann ihn nachhaltig zu faszinieren. Daniela teilte diese Faszination nicht im Geringsten. Sie verhielt sich eher so, als ob sie über einen gewöhnlichen Gegenstand erzählt.
‚Ich zeige es Euch. Das geht am schnellsten.‘ Ben erwartete nun, dass Daniela einen Schlüssel hervorzauberte und die Tür aufschloss. Er erwartete, dass sie die Tür aus dem Rahmen zog und eine dahinter liegende Wand präsentierte. Er bereitete sich schon darauf vor, zu hinterfragen, ob es eventuell eine geheime Tür in der Tür geben könnte. Daniela überraschte allerdings beide Männer.
‚Kommt mal mit.‘ Mit diesen Worten schloss sie die Tür links im Gang auf und forderte Ben und Oliver auf, ihr zu folgen. Im Zimmer schaltete sie das Licht an und steuerte direkt auf einen Schrank zu.
‚Helft mir kurz, ja?‘ Sie bedeutete den beiden, den Schrank zur Seite zu schieben. Oliver machte einen genervten Gesichtsausdruck und vermittelte Ben unmissverständlich, dass diese dämliche Fragerei wirklich unnötig gewesen ist. Er hatte Hunger und wollte nur schnell was essen und ab ins Bett.
Hinter dem Schrank verbarg sich eine weitere sehr einfache Tür. Ben dachte sich schon, dass er doch Recht gehabt hatte. Eine versteckte Tür, welche in einen geheimen Raum geführt hätte. Mit kindischer Vorfreude wartete er ab, bis Daniela die Tür ebenfalls aufgeschlossen hatte. Sie betraten alle den zunächst noch stockdunklen Raum. Als Daniela das Licht aufbrennen lies, sank Bens Stimmung drastisch ab. Er stand in einem weiteren Gästezimmer. Es musste das Zimmer sein, welches durch die Tür im rechten Gang erreichbar war.
‚Wie ihr seht, hinter der Tür im Flur kann sich nichts befinden. Es sind die beiden Gästezimmer, die sich dahinter treffen.‘ Mit einem verschmitzten Lächeln fügte sie hinzu:
‚Es tut mir leid, aber ich bin mir sicher, dass die Berge und Wälder genug Abenteuer und Unentdecktes für Euch zwei Abenteurer bereithalten. Ich wünsche Euch eine gute Nacht.‘
Mit diesen Worten verabschiedete sich Daniela und verschwand die Treppe wieder hinunter in den Empfangsbereich. Ben und Oliver bezogen ihre Zimmer und verabredeten sich in der Küche für einen kleinen Mitternachtsimbiss bevor sie schlafen gehen wollten. In der Küche stießen sie mit einem kalten Bier zu belegten Broten und echtem Bergkäse an. Nach der langen gemeinsamen Fahrt waren bereits viele Themen besprochen und beide hatten sich gegenseitig auf den neuesten Stand gebracht. Ihr gutes Verhältnis zueinander führte aber auch dazu, dass ihnen die Themen nie ausgingen. Lachend und mit der nötigen Bettschwere verließen die Brüder die Küche und machten sich auf den Weg zur Treppe im Empfangsbereich. Daniela hatten sie nach der Zimmerführung nicht mehr gesehen und auch das gesamte Haus war totenstill, so als ob sie die einzigen Bewohner wären.
Im Foyer angekommen steuerten sie auf die im Dunklen liegende Treppe zu. Ben nahm im oberen Drittel der Treppe eine Bewegung wahr.
‚He, Olli, siehst du das auch?‘
‚Ja. Sieht aus wie ein alter Mann. Vielleicht der Hotelbesitzer.‘
‚Guten Abend!‘ rief Ben dem Schatten zu, welcher bereits am oberen Treppenabsatz angelangt war. Die Silhouette stoppte kurz und drehte sich langsam um. Ben konnte allerdings trotzdem nicht mehr erkennen als vorher. Es war zu dunkel und das Licht aus dem Kamin machte die Lichtverhältnisse nicht besser.
‚Warten Sie, gehören sie zum Hotel?‘ ergänzte Ben seine Kontaktaufnahme, doch die Person im ersten Stock reagiert nur mit einem leichten Schnauben und drehte sich wieder um. Ben stieß Oliver an und machte sich auf, die Treppe hoch zu sprinten. Keuchend erreichen Oliver und Ben das Ende der Treppe und sahen sich um. Der scheinbar alte Mann war spurlos verschwunden. Man sah ihm auch im Dunkel an, dass er nicht mehr sehr agil gewesen sein kann. Er hätte sich gar nicht so schnell zu einer der Türen in den Gängen oder in das nächste Stockwerk bewegen können, wie die beiden Männer die Treppe raufgerannt sind.
Ein sanftes und zugleich kratzendes Einschnappen eines Schlosses zog Bens Aufmerksamkeit auf sich. Er konnte nicht genau ausmachen, woher es kam. Wenn er es nicht besser wüsste, hätte er allerdings schwören können, dass er aus den Augenwinkeln gesehen hat, wie der hörnerne Türgriff langsam nach oben in die waagerechte Position geglitten ist.
Ben rieb sich die Augen und signalisierte Oliver, dass er nach oben in den zweiten Stock in sein Zimmer ging. Oliver folgte Ben und beide verabschiedeten sich mit den besten Wünschen für eine gute Nacht. Eine Nacht, welche deutlich mehr Überraschungen bereithielt, als die beiden je erahnen könnten.
Während Ben und Oliver langsam in den gemütlichen Betten unter den dicken Federdecken einschlummerten erlosch das Feuer im Kamin des Foyers. Das Innere des Hauses lag nun in eben derselben Dunkelheit, wie der umgebende Wald in dieser sternenlosen Nacht. Es gab allerdings eine Ausnahme. Der charakteristische, flackernde Schein von Fackel- und Kerzenbeleuchtung drang auf den Flur im ersten Stock. Er schien durch den Spalt unter der Tür mit dem Horngriff und dem massiven, kunstvoll verzierten Rahmen hindurch.
Das Hotel lag noch immer in der tiefen Dunkelheit der Nacht, als Oliver aufwachte und sich auf den Weg zur Etagentoilette machte. Durch kleine im Dach eingelassene Oberlichter fiel das matte Licht des Sternenhimmels auf den Flur. Oliver trat aus der Toilette und wollte gerade den Weg zurück in sein Zimmer in Angriff nehmen, als er ein Schnaufen aus dem Treppenhaus wahrnahm. Vom oberen Treppenabsatz konnte er ein kleines Stück in die Flügel des ersten Stockwerkes blicken. Viel weiter war auch gar nicht notwendig, denn die Quelle des Schnaubens und Schnaufens saß unmittelbar vor der kunstvoll verzierten Holztür zwischen den beiden Flügeln. Beinahe wäre Oliver umgehend wieder in sein Zimmer gegangen, wäre ihm die dunkle Silhouette nicht merkwürdig vertraut vorgekommen.
‚Ben?‘, rief er im Flüsterton durch das Treppenhaus. Eine Antwort erhielt er nicht. Oliver begann sich Sorgen zu machen. Was machte sein Bruder mitten in der Nacht schnaufend in einem Hotelflur? War Ben ein Schlafwandler? Davon hatte nie etwas erzählt. Oliver war auf einen Schlag hellwach und flog die Stufen förmlich runter, bis er direkt neben seinem Bruder abrupt zum Stehen kam. Erneut sprach er Ben an, und erneut erhielt er keine Rückmeldung. Oliver trat in das Sichtfeld von Ben und kniete sich hin. Olivers Herz begann höher zu schlagen und Adrenalin flutete sein System. Bens Augen waren fest verschlossen und das vermeintliche Schnaufen wurde durch das schwere Atmen erzeugt, wenn der Kopf sitzend auf der Brust aufliegt. Ben schlief. Tief und fest. Oliver konnte Ben nicht einfach auf dem Flur sitzen lassen, aber ihn hochzutragen kam ebensowenig in Frage. Also musste er Ben aufwecken. Hilft ja nichts. Noch während er den Entschluss gepackt hat, griff Oliver bereits nach Bens Armen und Schultern, um ihn sanft wachzurütteln. Oliver formte mit seinen Lippen bereits das Wort „Aufwachen“, als Ben ihm fast einen Herzstillstand verpasst hatte. Ben griff so blitzschnell und ohne Vorwarnung nach Olivers Händen, dass dieser vor Schreck kurz erstarrte.
‚Ssshht‘, Ben hatte die Augen noch immer fest verschlossen und das „Ssshht“ verschwamm merkwürdig mit seinem Schnaufen. Dann verließen einzelne Worte Bens bewegungslose Lippen, welche Oliver weder verstehen, geschweige denn zuordnen konnte. Jetzt erst nahm Oliver den dumpfen Lichtschein im Spalt unter der Tür wahr. Ben hielt seine Arme noch immer wie in Schraubstöcken. Oliver traute seinen Augen nicht, als er den Türgriff mit den Augen fixierte. Er bewegte sich. Unendlich langsam, aber stetig nach unten. Im ganzen Hotel war kein Geräusch zu hören. Diese unwirkliche Stille wurde mit einem „Klick“ unterbrochen. Das muss der Verschlussmechanismus im Türschloss sein, welcher sich gerade gelöst hatte. Oliver ertappte sich, wie er alles um sich herum ausgeblendet hat, und einzig den Türgriff anstarrte. Er schnappte augenblicklich nach dem Klicken in seine ursprüngliche Position zurück. So als wäre er nie in einer anderen Stellung gewesen. Während sich die schwere Tür einen winzigen Spalt öffnete schlug Ben erschrocken die Augen auf.
Er konnte sich nicht daran erinnern, sein Zimmer verlassen zu haben. Er hatte keine Vorstellung, warum er vor der Tür gekauert hatte. Er hatte sich noch nie verwirrter und hilfloser gefühlt. Oliver fasste kurz zusammen, was er selber mitbekommen hatte und hoffte darauf, dass Ben dabei eventuell etwas an Erinnerung zurückgewann. Vergebens.
Da standen die beiden Männer. In einem dunklen Flur, in einem Hotel tief in den Alpen. Mitten in der Nacht in Boxershorts und T-Shirt vor einer Tür, welche sich gerade zu einem Raum geöffnet hatte, den es gar nicht geben durfte.
‚Schnell, tretet ein. Wir haben nicht viel Zeit‘, nuschelte eine dringend aber leise klingende Stimme hinter der Tür.
‚Ich kann den Durchgang nicht lange sichern. Beeilt euch‘. Ben und Oliver starrten auf den schmalen, warmgelb leuchtenden Spalt zwischen der Tür und ihrem Rahmen. Ben fand als erster seine Stimme wieder.
‚OK, erwischt. Wir ergeben uns.‘, Ben vermutete im ersten Moment, dass beide gerade Opfer eines Alpinen Scherzes wurden, den sie nicht ganz verstanden. Er war überzeugt, direkt anzuerkennen, dass sie reingelegt wurden, war die schnellste Form, wieder ins Bett zu kommen. Das Hotelpersonal war jedoch penetrant.
‚Schnell, der Durchgang ist nicht mehr lange sicher‘, presste es nun etwas hektischer hinter der Tür hervor.
‚Wir ergeben uns doch. Den Trick mit der Tür müsst ihr uns morgen bei Tageslicht unbedingt zeigen.‘ Ben wünschte sich jetzt nur noch zurück ins warme Bett und hatte keine Lust darauf, diesen Scherz unnötig in die Länge zu ziehen.
‚Ihr laßt mir keine Wahl. Kommt jetzt, oder ich muss Euch holen‘, diesmal drang die Stimme kräftig und drängend zu den beiden Männern. Dieser Wandel erzeugte Unsicherheit bei Ben und Oliver. Ben holte Luft und wollte gerade ansetzen, mit der Stimme zu diskutieren, dass er sich nicht einfach in einen unbekannten Raum befehlen lässt, da schwang dir Tür vollständig auf.
Was sich hinter der Tür offenbarte, stellte alles in Frage, an was Ben und Oliver bislang geglaubt haben.
Die schwere Tür glitt beinahe lautlos in ihren Angeln in den Flur hinein, bis sie vollständig offen stand. Im ersten Moment konnten Ben und Oliver nicht zuordnen, was sie da gerade sahen. Die offene Tür zeigte nicht etwa, wie zu erwarten, auf eine Mauer im Türrahmen. Sie öffnete auch nicht den Blick in die beiden dahinter liegenden Zimmer, durch welche Ben und Oliver vorher von der Empfangsdame geführt wurden. Ihnen schien ein leichtes, warmes Licht entgegen. An den Wänden hingen Fackeln, welche einen mittelalterlichen aber geselligen Eindruck erzeugten. Im Reflex drehten sich Ben und Oliver zu allen Seiten und hinter sich um. Sie suchten systematisch den Flur ab, fanden aber nicht das, was sie dort zu sehen erwarteten. Die Fackeln. Die beiden Männer starrten sich kurz unentschlossen und unsicher an, denn hinter der Tür sahen sie direkt in den Flur hinein, in welchem sie selber gerade standen. Mit kleinen Ausnahmen. An den Wänden hingen keine elektrischen Lampen, sondern Fackeln. Es war auch sonst niemand auszumachen. Es war also kein Spiegel oder ein ähnlicher Trick, sonst hätten sich Ben und Oliver selber sehen müssen. Wie aber konnte hinter der Tür ein Raum mit diesen Dimensionen liegen? Noch vor einigen Stunden sind die beiden durch eine Tür in der Wand genau hinter dieser Tür gegangen und haben physikalisch bewiesen, dass hinter der mit Schnitzereien verzierten Tür kein Raum mehr existieren konnte.
‚Hallo?‘ rief Ben intuitiv der Tür entgegen. Schließlich hatte ja noch wenigen Augenblicken jemand mit ihnen gesprochen. Mehr noch, die Stimme hatte ihnen gedroht.
‚Hallo? Wer ist denn da? Was willst du von uns?‘ Ben hatte sich schon früh angewöhnt, Personen, die ihn provozierten direkt mit Du anzusprechen. Das demonstriert neben Gleichgültigkeit eine gewisse Dominanz. In vielen Fällen hilft das bereits, einen handgreiflichen Konflikt im Vorfeld zu ersticken, da der Provokateur nicht selten durch dieses Verhalten ein wenig eingeschüchtert wird.
Der Blick in den Flur hinter der Tür führte in gerader Linie auf die in das Erdgeschoss führende Treppe, sowie auf Bens und Olivers Seite der Tür die Treppe aus dem Erdgeschoss auf die Tür zuführt. Beide Männer rührten sich keinen Millimeter und lauschten in die geöffnete Tür hinein. Auf der Treppe hinter der Tür sahen die Männer einen Lichtschein die Treppe hochleuchten. Er wurde immer heller, bis schlussendlich ein Fackelfeuer über die letzte Stufe ragte. An der Bewegung der Fackel konnte man sehen, dass sie in einer Hand gehalten wurde und die Treppe hochgetragen wurde. Der Träger selbst jedoch blieb durch den Fackelschein verdeckt. Durch das rot-orange Feuer zischte die markante Stimme hindurch:
‚Kommt, tretet über. Euch soll kein Leid geschehen, ihr seid willkommen. Tretet über.‘
Ben blickte Oliver unentschlossen an.
‚Gleich ist es nicht mehr sicher! Bitte, beeilt Euch! Ich kann den Durchgang nicht mehr lange sichern.‘ Die vorher feste und drängende, schon beinahe drohende Stimme wurde nun von einem ängstlichen Unterton begleitet. Das Drohende wechselte spürbar ins Flehende.
Am Ende siegte die Neugierde beider Männer. Sie mussten einfach einmal die Hand durch den Türrahmen stecken, um sich zu vergewissern, dass dies tatsächlich kein Trick ist.
‚Gut, gut so. Immer weiter. Es wird Euch nichts passieren. Bitte tretet über.‘ Das Flehen übernahm nun ganz deutlich die Zügel.
‚Wohin sollen wir kommen? Wir folgen bestimmt keinem Fremden in einen Raum, den es eigentlich nicht gibt. Zeige dich und wir können über alles reden.‘ Die Gestalt hinter der Fackel schwieg einen langen Moment. Dann ganz plötzlich stoben Funken aus der Fackel, wie bei einer Wunderkerze und die Flamme vergrößerte sich um das Dreifache. Der orangefarbene Kern veränderte seine Form und bildete, zum Unglauben der beiden Männer, das Relief eines Gesichtes. Nicht irgendeines Gesichtes.
‚Siehst du das auch?‘ fragte Oliver Ben beine flüsternd.
‚Ja. Aber ich kann es nicht glauben.‘
‚Was hat das zu bedeuten?‘
‚Ich weiß es nicht. Aber ich bin jetzt neugierig. Kommst du mit?‘
‚Sollten wir nicht vorher jemandem Bescheid sagen?‘
‚Wem denn? Los jetzt. Ich will den Trick wissen, wie jemand in einer Fackel das Gesicht von Opa erzeugen kann.‘
Oliver legte seine Hand auf Bens Schulter und drückte diese als Bestätigung feste zu. Dann traten die Brüder gemeinsam mit einem prüfenden, großen Schritt durch den Türrahmen. Die Fackel war bereits die Treppe herunter geglitten und schwebte förmlich im stockfinsteren Foyer des Hotels. Der Flur, in dem sie nun standen glich dem Flur, den sie gerade verlassen hatten aufs Haar, eben bis auf die Fackeln. Nach einem Rundblick den Flur und das Treppenhaus entlang drehten sich die Männer um, und prüften den Durchgang. Der Türrahmen war zu ihrer Erleichterung noch immer da. Auch die Tür mit den wundervollen Schnitzereien und dem massiven Griff war noch da. Während die Tür sich langsam schloss begannen die Angeln schwer zu keuchen und zu reiben. Die schmiedeeisernen Beschläge krümelten ein wenig, Rost rieselte aus den Scharnieren heraus, während die Tür sich immer weiter Schloss. Um jeden Zentimeter, welchen die Tür den Spalt verringerte, nahm der Rostbefall an den metallischen Elementen der Tür zu.
‚Sie stirbt.‘ Tönte es aus dem Foyer. Die Fackel stand noch immer als einzige Lichtquelle im Eingangsbereich des Hotels. Die Fackeln im Flur neben der Tür erloschen langsam und so zog die Fackel mit der Stimme Ben und Oliver immer mehr an.
‚Was soll das bedeuten? Sie stirbt?‘ fragte Oliver die Fackel, während sie die Treppe hinunterschritten.
‚Wir haben nicht viel Zeit. Wir müssen erst hier fort. Ich erkläre Euch alles. Auch das mit der Tür. Wir sind hier nicht mehr sicher. Folgt mir bitte. Ihr habt von mir nichts zu befürchten.‘
‚…sagte die Hexe zu Hänsel und Gretel…‘ betonte Ben und fügte hinzu, dass sie keinen Meter gehen würden, ohne zumindest zu sehen, mit wem sie es hier zu tun hatten.
‚Ich kann mich nicht zeigen, noch nicht. Ihr müsst erst ein paar Dinge wissen.‘
‚Dann los, wir hören gut und gerne zu.‘
‚Nicht hier, nicht jetzt. Wir müssen erst hier raus.‘ Die Stimme wurde immer stärker von Angst und Panik beherrscht.
‚Ist keine Option. Entweder jetzt die Informationen, oder wir gehen wieder.‘
Stille. Die Fackel bewegte sich nicht, sprach aber auch nicht. Dann begann sie langsam aber stetig heftiger zu zittern. Die Stimme hinter dem Feuerschein war nur noch sehr dünn und wechselte in eine Lage, welche von purer und blanker Angst zeugte.
‚Er ist hier…wir müssen sofort los.‘ Die Männer sahen sich um und versuchten herauszufinden, wovor die Fackel so fürchterliche Angst hatte. Aber sie konnten nichts sehen. Fast nichts. Im Flur mit der Tür begannen die Stoßkanten der Holzleisten an der Wand zu leuchten. Wie ein starker Schweinwerfer hinter einem sehr dicht gesetzten Lattenzaun drängte ein dunkelroter Lichtschein durch die Ritzen hindurch. Es wirkte beinahe so, als ob das Holz sich verbiegen würde. Als ein tiefes Grollen hinter der Wand ertönte erlosch die Fackel beinahe vollständig und die Brüder realisierten, dass sie eventuell tatsächlich in Gefahr sein könnten.
‚Bitte…lasst uns sofort verschwinden…bitte…‘. Mit diesen Worten bewegte die Fackel sich bereits langsam zur Eingangstür des Hotels. Ben und Oliver diskutierten nicht mehr, sie folgten dem Lichtschein so gut es ging, während hinter ihnen das Grollen anstieg und das rote Licht die Wände beinahe aufzulösen schien. Sie stürmten in ihren Schlafsachen durch die schwere Holztür raus in den Wald. Sie sprinteten der Fackel über den Parkplatz in den umliegenden Wald hinterher und hatten große Mühen, das Licht im dichten Labyrinth der Baumstämme nicht zu verlieren. Doch dann auf einmal war es verschwunden. Kein Licht mehr. Keine Orientierung. Nur zwei schwer atmende, junge Männer in ihrer Unterwäsche in einem Wald. In einem Wald hinter einer Tür, die es eigentlich nicht geben darf, auf der Flucht vor etwas, was den beiden vollkommen unbekannt ist. Um sie herum knackte es im Unterholz. Die Geräusche schienen aus allen Richtungen zu kommen. Sie waren völlig schutzlos und ohne Ortskenntnisse. Ben verfluchte sich leise, dass er seiner Neugier wieder mal nicht wiederstehen konnte und sie nun seinetwegen in Gefahr waren. Er rückte näher an seinen Bruder heran und versuchte zu beurteilen, wie gefasst oder panisch dieser wohl war. Oliver machte einen ruhigen Eindruck. Er suchte im Dunkeln mit zusammengekniffenen Augen nach Anhaltspunkten, wo die Geräusche herkommen könnten. Das Knacken und Brechen von Zweigen wurde immer lauter und schien immer näher zu kommen.
‚Siehst du auch die Umrisse, Ben?‘
‚Ich bin mir nicht sicher, was ich sehe.‘
Dann war es auf einen Schlag totenstill. Kein Rascheln, kein Knacken. Zwischen den Bäumen, deren Formen sich in der Dunkelheit schnell verloren, zeichnete sich eine massige Gestalt ab. Sie schritt selbstbewusst und verhältnismäßig langsam voran. Auf der einen Seite signalisierte das Dominanz und schüchterte ein, auf der anderen Seite nahm es das Bedrohliche, da es keine schnellen, aggressiven Bewegungen gab. Ben war absolut unsicher und wog gerade ab, ob Angriff die beste Taktik zur Verteidigung sein könnte, oder ob er lieber warten sollte. In dem Moment, in welchem er seine Muskeln anspannte und sich für einen Kurzsprint vorbereitete, sank die Gestalt auf die Knie.
‚Ihr seid wirklich gekommen. Ich kann es nicht glauben. Willkommen in unserer Mitte, Erben.‘
Das Universum, wie es heute bekannt und erforscht ist, bietet weitaus mehr, als mit technischem Gerät messbar ist. Der Urknall hat nicht einfach eine Ausdehnung des Raumes und damit den Anbeginn der Zeit beschlossen. Nein, während des kurzen Momentes, den der Urknall seine eigene Initiation nennt, erzeugte dieser Vorgang ein Echo. Die Menschen und alle anderen spirituellen Lebensformen können dieses Echo spüren. Es wird nicht selten als Deja Vu beschrieben. Dies ist jedoch nur ein ganz kurzer Moment, in welchem sich die Echo-Wellen und das tatsächliche Ereignis treffen und gegenseitig kurz reflektieren.
Es gibt auch eine Dauerhafte Komponente des Echos. Es hat von Beginn an ein Universum an neuen Universen erschaffen. Es sind im weitesten Sinne Parallelwelten. Jedoch darf man hier nicht darunter verstehen, dass es ein Spiegel aller Personen und materiellen Erscheinungen auf der bekannten Erde ist. Es gibt keine Parallelhandlungsstränge oder Ereignisse, welche in der Parallelwelt begradigt werden können und sich auf das eigene Leben auswirken. Was es allerdings gibt, sind Verbindungen. Tore von einer Welt, einem Universum in ein anderes. In der Vergangenheit des Menschen wurden diese Tore viel und aggressiv genutzt. Es war nicht immer zum Schaden der Menschen. Besser ausgebildete Völker, mit denen die Menschheit in Kontakt geriet, ließen die Menschen an Ihrem Wissen teilhaben. Viele Entwicklungsschritte der Menschheitsgeschichte hätten ohne diesen Austausch weitaus mehr Zeit in Anspruch genommen.
Es gab aber auch die Wesen, welche sich als dem Menschen übergeordnet verstanden haben. Sie unterdrückten ganze Völker und zerstörten alte Kulturen. Aber auch sie waren lange nicht das Gefährlichste, was die fremden Welten und das Echo an Bedrohung zu bieten hatte.
In allen Welten und Universen gab es besondere Gefahren. Ultimative Gefahren. Die Griechen sprachen in Ihren Gesängen von den Titanen. Sie wurden jedoch nicht, wie in der Geschichte behauptet eingesperrt, sondern sie wurden wieder verbannt. Zurück in Ihre ursprünglichen Welten. In dieser Zeit arbeiteten Menschen und die Wesen aus den anderen Welten vorbildlich zusammen. Sie hatten ein gemeinsames Ziel: Den Schutz ihrer aller Welten. Die Titanen wüteten in allen Universen. Sie durchschritten die Übergangspunkte, wann immer sie wollten und verwüsteten jeden Zentimeter, den sie durchschritten. Diese Wesen waren einzig von einem Bedürfnis angetrieben. Chaos. Sie saugten aus dem Unheil und dem daraus entstanden Leiden ihre Energie. Gleich den Beschreibungen der griechischen Mythologie, waren sie massig, gigantisch und so kraftvoll wie nichts Vergleichbares in allen Welten. Sie überdauerten ihr Exil und fanden heimtückisch Wege und Möglichkeiten sich wieder zu vereinen. Die Menschen und menschenverbundenen Wesen vereinigten sich und schworen in einer Allianz gegenseitige Unterstützung und Schutz. Dieser Bund ist tausende Jahre alt und verlor an Bekanntheit und Glaubwürdigkeit über die vielen hunderte Jahre hinweg. Aus einem völkerübergreifenden Bündnis wurde immer mehr ein Geheimbund mit immer geheimnisvolleren Mitgliedern. Der Nachwuchs an Wächtern wurde durch die eigene Blutlinie auf allen Seiten bedient. Die Pflicht und Verantwortung wurde vererbt.
Die Erben sind jedes Mal neue Hoffnungsträger. Nicht immer jedoch gibt der Nachwuchs männliche Erben her. Viele Tore wurden zerstört oder verloren jeden Schutz, da keine Erben auf einen verstorbenen Wächter folgten.
Paul entfachte ein Feuer der Hoffnung, als er bei seinen letzten Besuchen im Echo laut verkündete, dass seine Erben die besten aller Zeiten werden könnten. Hoffnung, war etwas, das den Wächtern immer mehr durch die Dunkelheit genommen wurde. Dieser eine Lichtpunkt, diese eine euphorische Aussage von Paul, führte zu einer erneuten Formation der Wächterschaft und entfachte eine Welle des Mutes und dem Vertrauen, die Titanen endgültig besiegen zu können. Pauls Erben jedoch waren sich ihrer Macht und Verantwortung in keiner Weise bewusst. Paul verstarb, bevor er sie in seine Geheimnisse einweihen konnte.
Ben und Oliver waren zu sehr außer Atem und voller Adrenalin, um die Situation sofort richtig begreifen zu können. Die massige Gestalt vor Ihnen kniete noch immer mit gesenktem Kopf. Aus dem Unterholz erschienen immer mehr unscharfe Schatten und Gestalten. Es klapperte und schepperte leise. Die Personen mussten viele metallische Elemente tragen, welche bei jeder Bewegung aufeinanderschlugen, und das typische Geräusch erzeugten. Auch die Fackel trat wieder ins Blickfeld der Brüder. Sie schwebte geschmeidig zwischen den Baumstämmen in den Vordergrund und beleuchtete den bewegungslosen, knienden Mann mit geheimnisvollen Schatten.
Ben fand seine Stimme noch nicht ganz wieder und räusperte sich als Signal, dass er gerne Kontakt aufnehmen möchte. Oliver zuckte kurz zusammen. Anscheinend war er gedanklich gerade ziemlich weit weg gewesen. Der Mann am Boden hob langsam und bedächtig seinen großen Kopf. Seine Kleidung entsprach am ehesten einer ledernen Schutz- beziehungsweise Kampfkleidung. Im Mittelalter und im Römischen Reich wurde vielfach Leder als Panzerung verwendet. Dünne Felle von irgendeinem struppigen Tier quollen zwischen den ledernen Trageriemen um Schulter und Brust hindurch. Ben registrierte erst jetzt, dass sein Atem kleine Wölkchen erzeugte. Es war kalt. Es war sogar sehr kalt. Oliver trat einen kleinen Schritt näher an Ben heran und Ben tat es ihm gleich. Es war eine unbewusste Handlung der beiden. Sie ignorierten, dass sie bereits begonnen haben zu zittern, denn der Mann vor ihnen erhob sich von den Knien.
‚Willkommen, Erben.‘ Er hatte eine tiefe und raue Stimme. Sein Tonus war leise und kontrolliert. Ein Anführer. Ein Mann des Feldes. Er hielt den Blick leicht gesenkt und verhielt sich eher zurückhaltend und vorsichtig. Ben fand das Verhalten merkwürdig und faszinierend zugleich. Woher kam die Unsicherheit dieses Mannes, der offensichtlich der Anführer der Schar im Unterholz zu sein scheint. Worauf begründet sich dieser Respekt ihnen gegenüber? Er schien sie erwartet zu haben. Bens Kopf wurde schwer und kreiste wie eine Spindel. Er hatte zu viele Fragen und bekam selber noch kein einziges Wort heraus. Der Mann fuhr fort.
‚Ich bitte um Entschuldigung für den unfreundlichen und hektischen Empfang. Wir mussten aus der Situation heraus reagieren. Ich werde es Euch bei nächster Gelegenheit genauer erklären. Nun lasst mich aber den ersten Schlechten Eindruck den ihr von uns haben müsst etwas egalisieren. Es ist unhöflich so viel zu reden und den anderen im Ungewissen zu lassen, mit wem er es zu tun hat. Wir sind Euch im Vorteil, wir wissen wer ihr seid. Wessen Erben ihr seid.‘ Bens Katalog an Fragen wuchs exponentiell zu jedem Wort, welches der Unbekannte von sich gab. Oliver schüttelte unablässig in kleinen Bewegungen mit dem Kopf. Von beiden Brüdern fand auch er als erster seine eigenen Worte wieder.
‚Krass! Voll Krass!‘ Ben beobachtete, wie Olivers Augen immer größer wurden und sogar ein leichtes Lächeln seinen Mund umspielte. Ben richtete seine ersten Worte an den Mann mit dem Lederharnisch.
‚Du hast jetzt mehrfach erwähnt, uns aufklären zu wollen. Nur hast du uns mit keinem Wort irgendwas erklärt. Wir gehen wieder. Das hier ist dürfte nicht existieren und ich habe schon einmal ein „das dürfte nicht existieren“ erlebt. Danke und Auf Wiedersehen. Los Olli, wir gehen zurück zum Hotel.‘ Mit diesen Worten drehte Ben sich um und machte die ersten Schritte zurück in das dunkle Unterholz. Er vermisste jedoch das Knacken von Ästen durch die Schritte seines Bruders. So blieb Ben stehen und drehte sich nach Oliver um.
‚Hey, Oliver. Auf, wir gehen. Was machst du da noch?‘ Es dauerte einen Moment und Ben konnte nur beobachten, wie Oliver scheinbar den Mann betrachtete. Mal legte der den Kopf leicht nach rechts, mal leicht nach links. Dann ging er einen Schritt zurück und nickte. Seine Antwort an Ben glich einem flüsternden Ruf.
‚Erkennst du ihn wirklich nicht? Ben, wir müssen hier bleiben und ihn anhören.‘ Ben kannte seinen Bruder gut genug, um heraushören zu können, dass er es ernst meinte. Oliver schien auch im Gegensatz zu ihm kein Problem mit „dürfte nicht existieren“ zu haben. Im Gegenteil, er lief nun sogar langsam um den großen Mann herum und fasste ihn immer wieder prüfend an. Der große Mann signalisierte den Schatten hinter dem Fackelfeuer nichts dagegen zu unternehmen. Ben fühlte sich mit der gesamten Situation nicht wirklich wohl. Dieser Mann wusste etwas über sie und er hatte ein Gefolge, welches darauf trainiert gewesen ist, ihn zu beschützen. Sonst hätte er diese Geste nicht machen müssen. Ben war alarmiert. Dummerweise stand Oliver direkt bei dem Mann und in direkter, greifbarer Nähe des Gefolges. Ben blieb nichts anderes übrig, als wieder zurück zu gehen, wenn er Oliver da herausbekommen wollte.
‚Ok, Oli. Was geht hier vor? Wer ist das? Was weißt du, was ich nicht weiß?‘
‚Ben, ich weiß nicht mehr als du. Vielleicht hast du es nur vergessen oder verdrängt. Mir kam es auch gerade erst wieder zurück in meine Erinnerung. Opas Bücher. Opas Geschichten- und Märchenbücher. Erinnerst du dich daran? Er hatte die Geschichten selber ausgedacht und sogar, wie es für Märchenbücher üblich ist, Bilder dazu gemalt.‘ Oliver blickte Ben lange und intensiv in die Augen.
‚Ben, das hier ist eine der Geschichten. Die fliegende Fackel, der Soldat hier und die Wälder. Alles das hat Opa uns wieder und wieder vorgelesen. Erinnerst du dich?‘ Ben wurde blass und schwach in den Beinen. Wie konnte das sein? Es waren Geschichten. Märchen. Ja, Ben erinnerte sich auf einen Schlag wieder an einige der Geschichten. Er hatte auch die Bilder wieder vor Augen. Es passte alles zusammen. Aber es durfte einfach nicht sein.
‚Wie…wie ist das möglich?‘
Der große Mann hatte bislang geschwiegen und die Szene einfach nur beobachtet. Jetzt sah er seine Chance sich geschickt in das Geschehen wieder einbringen zu können. Noch während er seine Lippen öffnete, um das Gespräch aufzunehmen weiteten sich seine Augen und er richtete sich mit angsterfülltem Gesicht zu seiner vollen Größe auf. Seine Konzentration verlagerte sich von den beiden Brüdern auf irgendetwas, hinter ihnen. Im Wald hinter ihnen. Im Wald zwischen ihnen und dem Hotel, wo sie eigentlich wieder hingehen sollten.
Der große Mann flüsterte ein paar Befehle in die Gefolgschaft und löschte die Fackel, indem er einen Ledersack darüberstülpte. Mit dem nächsten Befehl wurden Ben und Oliver von den Füßen gerissen. Stinkende klebrige Hände pressten sich auf Ihre Gesichter und verhinderten, dass sie laut schrien. Die beiden Männer wehrten sich nach allen Kräften, aber sie hatten keine Chance gegen die Schraubstockartigen Griffe der Angreifer. Noch während sie hochgehoben wurden, bewegten sie sich auch schon beängstigend schnell in den Wald hinein. Weg vom Hotel. Weg von der Lichtung. Weg vom roten, gellen Licht, welches gerade durch die Bäume brach und sich über die Lichtung hermachte, auf welcher sie gerade noch gestanden haben. Bens Kopf schlug gegen einen Baum und er war auf einen Schlag bewusstlos.
Verschwommen nahm Ben Umrisse durch seine halbgeöffneten Augen wahr. Schatten bewegten sich vor seinem Gesichtsfeld in verschiedene Richtungen. Bens Ohren klingelten noch zu laut, als dass er Geräusche aus seinem Umfeld klar wahrnehmen könnte. Er versuchte angestrengt nicht wieder zurück in die Ohnmacht zu verfallen, aus welcher er doch gerade erst aufgewacht war und stemmte seine Augenlieder förmlich auf. Es dauerte einen Moment, bis seine Pupillen sich an das Licht und die Bilder gewöhnt hatten. Sein Mund war staubtrocken und am Hinterkopf pochte es fürchterlich unter einer verklebten Blutkruste. Aus reinem Instinkt verhielt er sich erstmal sehr ruhig. Er sondierte die Lage, so gut er es aus seiner aktuellen Position heraus konnte. Ben lag auf der Seite auf dem Boden, oder besser gesagt auf einem Fell auf dem Boden. Nicht weit entfernt glühte ein Kohlehaufen und spendete wohltuende Wärme. Kleine Funken stoben von leisem Knistern begleitet aus dem Haufen, wenn jemand darin rumstocherte.
Ben spürte, wie die aufsteigende Aufregung seine Atmung beschleunigte. Jeder Versuch sich wieder zu beruhigen endete darin, dass die Aufregung weiter zunahm. Bens Fluchtinstinkt war stärker, als sein Plan, erstmal weiter zu beobachten. Das geschäftige Treiben um ihn herum blieb stabil und sein Blick hatte sich mittlerweile wieder scharf eingestellt. Den richtigen Zeitpunkt, seine Tarnung als Bewusstloser aufzugeben, wird es nie geben, daher setzte sich Ben mit einem Ruck auf. Einfach weglaufen war auch keine Option, nicht ohne seinen Bruder. Oliver, wo steckte der eigentlich? Ben konnte ihn von seinem Platz aus nicht sehen und sofort schossen ihm die wildesten Gedanken und Sorgen durch seine lebhafte Fantasie. Er war so sehr damit beschäftigt, sich auszumalen, wo Oliver steckte, dass er die Schritte nicht wahrnahm, die sich von hintern näherten.
„Gott sei Dank, du bist endlich aufgewacht. Wir hatten schon Sorge, dass der Baum dich doch schwerer verletzt haben muss.“ Sein Bruder stand hinter ihm und hielt eine Schale und einen Lederbeutel mit einer Art Korken in den Händen.
„Hier trink und iss erstmal. Kochen können die hier schon mal.“ Oliver reichte Ben die Schale und den Beutel und erntete dafür nur einen fassungslosen Blick seines Bruders. Bens Aufmerksamkeit wurde schnell auf die Schale in seinen Händen gelenkt. Irgendeine Fleischzubereitung schwamm in sämiger Flüssigkeit. Das Essen roch verführerisch und Bens Magen begann sofort gierig zu brodeln und zu knurren. Allerdings hatte Ben noch Schwierigkeiten mit seinem Kreislauf. Es fühlte sich so an, als ob er immer leicht von einer Seite zur anderen schwankte. Er konzentrierte sich auf die Schale in seinen Händen und erhoffte sich durch diese Ablenkung eine Stabilisierung seines Zustandes.
„Ist alles ok, Ben?“, fragte Oliver zunehmend besorgt, da er seinen Bruder so unsicher und angespannt nicht kannte. Ben brauchte einen Moment um zu reagieren.
„Die Suppe bewegt sich“, flüsterte Ben schwach, ohne seinen Blick von der Schale wegzunehmen.
„Oliver, die Suppe bewegt sich, oder drehe ich langsam aber sicher durch?“
Oliver lachte impulsiv laut auf. Ben zuckte zusammen, da er befürchtete, das schallende Lachen seines Bruders würde ihnen auf unangenehme Weise mehr Aufmerksamkeit verschaffen, als Ben es gerne hätte.
„Du machst mich echt fertig, Bro. Komm‘ mal mit.“ Mit diesen Worten wischte sich Oliver eine Träne aus den Augenwinkeln und zerrte seinen großen Bruder ruckartig auf die Füße.
„Mach mal langsam, mein Kreislauf ist noch nicht ganz zurück“, motzte Ben OIiver leicht schwankend an. Doch der ließ sich nicht reinreden und zog Ben durch den schummrigen Raum. Vorbei an jeder Menge Gestalten, welche Ben in seiner gehetzten Bewegung nur vage wahrnahm. Er war zu sehr damit beschäftigt, nicht gegen irgendeinen der Holzpfeiler zu stoßen, welche die Decke des Gebäudes abstützten. Es ging eine steile, schmale Holztreppe hinauf. Ben roch etwas, was er im ersten Moment nicht zuordnen konnte.
„Schnell, rauf mit dir“, lachte Oliver gut gelaunt vom oberen Absatz der Treppe zu seinem Bruder.
„Was ist das für ein Ort?“, fragte Ben misstrauischer als zuvor. Er rieb sich den Hinterkopf, welcher durch den Aufschlag gegen den Baum noch immer sehr schmerzte und nun begann heftig zu pochen. Aber Oliver machte keine Anstalten, Ben eine Antwort zu geben. Er signalisierte seinem Bruder einfach, die Treppe hochzukommen.
Mit jeder Stufe, die Ben nach oben stieg, spürte Ben immer deutlicher einen angenehmen Wind. Nun konnte er auch den Geruch wieder einordnen und Ben begann die Stufen immer schneller hochzusteigen. Sein Bruder war bereits aus seinem Sichtfeld verschwunden, dafür eröffnete sich ein herrlicher, kristallklarer Blick in den nächtlichen Sternenhimmel. Und auf dutzende Masten mit aufgeblähten Segeln im fahlen Mondlicht.
Mit offenem Mund betrat Ben das Deck eines gewaltigen, hölzernen Segelschiffs. Oliver stand bereits direkt vor ihm an der Reling und forderte Ben auf, dazuzukommen. Ungläubig folgte Ben der Aufforderung und trat neben seinen Bruder an die Bordwand. Der Geruch nach Salzwasser, das leichte Schwanken des Meeres. Der Kreislauf war also nicht sein Problem. Im Gegenteil. Ben war auf einen Schlag hellwach und in höchstem Maße alarmiert. Sein Blick schweifte über das Deck. Er konnte die Mannschaftsstärke nicht mehr zählen, zu viele Seemänner tummelten sich herum. Ben blickte den Mast und das Segel hinauf. Er konnte an der Spitze zwei verschiedene Flaggen ausmachen. Das Segel war pechschwarz. Im sogenannten Krähennest waren drei Matrosen postiert. Ungewöhnlich, denn normalerweise standen dort maximal zwei Menschen drin. Sie hielten Ausschau nach Hindernissen. Die Segel waren straff in den Wind gestellt und an Deck waren jede Menge Seemänner damit beschäftigt, die Spannung ordentlich getrimmt zu halten. Auf dem Mitteldeck war ein überdimensionales Steuerrad. Es bestand aus drei identischen hintereinander verschraubten Steuerrädern. Dieses Schiff war für schwere See konzipiert. Durch diese Konstruktion konnten mindestens sechs Steuermänner das Ruder unter Kontrolle bringen. Um den Hauptmast herum waren Waffen zu kleinen Türmen aufgebaut. An der Bordwand konnte Ben Kanonen erkennen. Sie waren fest vertäut und mit jeweils zwei Mann besetzt.
Ein Blick auf die anderen Schiffe zeichnete ein ähnliches Bild. Ben hatte den Eindruck, dass die anderen Schiffe nach einem Muster um sie herum angeordnet waren. Zudem glaubte Ben, dass das Schiff auf welchem sie sich befanden, größer wäre, als die anderen. Er ließ seinen Blick nochmals schnell über das gesamte Schiff fliegen. Das Deck, den Mast, den Steuerstand. Die Aufbauten, die Mannschaft. Die Schiffe um sie herum. Oliver musterte Ben aufmerksam und beobachtete mit einer schelmenhaften Freude, wie Bens Gesicht sich immer weiter anspannte.
„Oliver, wo zum Teufel sind wir? Warum sind wir an Bord eines Admiralsschiffes inmitten einer kampfbereiten Kriegsflotte?“
.... bald.
Tag der Veröffentlichung: 05.04.2016
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Widmung:
Für meinen Bruder