Wunschkinder
Manuela war ein Wunschkind. Klein, zart und unendlich verletzlich. Ich hatte bis dahin nicht viel für Babys übrig. Es waren immer Babys anderer Paare. Sie rochen nie nach der eigenen Familie. Fremde Gesichtszüge. Stetig die bewachenden Augen der Eltern. Nein, fremde Babys haben bei mir selten etwas anderes ausgelöst als Unsicherheit und Ratlosigkeit.
Mit der Geburt unserer Tochter wurden all diese Gefühle, Zweifel und Unsicherheiten vollständig ersetzt. An deren Stelle traten bedingungslose Liebe vom ersten Moment an, Schutzinstinkte und das dringende Bedürfnis jede Handlung nur noch für das kleine Bündel in deinen Armen auszurichten.
Wir hatten unser Zuhause vollständig auf das neue Familienmitglied ausgerichtet. Solange Manuela noch nicht laufen oder richtig krabbeln konnte brauchten wir nicht viel. Eine Wiege und Babykleidung waren die ersten Anschaffungen. Die Wiege stand bei uns im Schlafzimmer, das ersparte den schlaftrunkenen Weg ins Kinderzimmer, um sie zu beruhigen oder zum Stillen herauszunehmen. Eine andauernde Diskussion zwischen den Generationen handelt davon, ob man ein Baby von Anfang an in seinem eigenen Zimmer schlafen lassen sollte oder ob es sinnvoll ist die ersten Monate gemeinsam im elterlichen Schlafzimmer zu verbringen. Unsere Einstellung war, dass alle Säugetiere ihren Nachwuchs so nah wie möglich bei sich halten, auch in der Nacht. Wir Menschen sind die einzige Spezies, die ihre Kinder vor allem nachts aus der Gemeinschaft verbannt. Wir waren uns einig: Die Familie steht über allem. Nichts ist wertvoller im Leben, als ein funktionierender Familienverband. Warum also bereits in den ersten Tagen und Monaten des neuen Lebens künstlich Distanz erzeugen?
Nach einem halben Jahr war Manuela bereit für den Wechsel in das erste richtige Kinderbettchen. Das stand bereits seit kurz vor der Geburt in ihrem eigenen Kinderzimmer. Es würde sich in den nächsten Jahren mit Manuela gemeinsam weiterentwickeln. Es würde laut und bunt werden, es würde pubertär und anstrengend werden. Vielleicht würden wir lange genug in diesem Haus wohnen, um zu erleben, wie das Zimmer reifen würde und sich aus einem Kinderzimmer in ein Jugendzimmer am Rande zum Erwachsenwerden entwickelt. Vielleicht würde es das Zimmer einer Frau in den Zwanzigern werden, vielleicht würde es aber auch sehr früh verwaisen und nur noch in den Semesterferien und an ausgewählten Wochenenden die Herberge unsere Tochter werden. Diese Visionen haben meine Frau und ich über dem Kinderbettchen stehend geträumt, während wir unser Baby friedlich beim Schlafen beobachtet haben. Ihr Zimmer sollte jedoch nie zu dem eines Teenagers werden.
Als meine Tochter starb war sie 13 Jahre alt. Ein Psychopath drang in unser Haus ein, überwältigte meine Tochter, meine Frau und mich als wir gemeinsam beim Frühstück saßen. Er zerschmetterte die Kaffee-Kanne auf meinem Kopf und verhinderte somit, dass ich ihm in die Quere kommen konnte. Es geschah alles so schnell, wir hatten gar nicht die Gelegenheit darüber nachzudenken, wie er ins Haus kam. Warum er sich uns aussuchte. Was ihn an dieser Tat befriedigte.
Er drückte meiner Tochter eine Pistole in die Hand und zwang sie sich zu entscheiden, wer weiter leben durfte: Mutter oder Vater. Wenn sie ihn zwang die Entscheidung zu treffen, müssten beide qualvoll sterben. Sie hatte also keine wirkliche Wahl und musste eine Entscheidung treffen, um einen von uns beiden retten zu können. Mama oder Papa, Freundin oder Beschützer.
Sie hob ihre Hand und richtete die Waffe auf mich. In ihren hilfesuchenden Augen konnte ich lesen, dass sie nicht abdrücken wird. Der Blick sagte viel und gleichzeitig gar nichts. Wut, Angst, Verzweiflung, alles war darin zu lesen. Aber die Art, wie sie mich ansah drückte klar aus, „ich kann nicht abdrücken“. Sie wechselte die Zielrichtung auf den Kopf ihrer Mutter, meiner Ehefrau. Auch hier hielt sie den Blick Auge in Auge. Das Zittern der kleinen Mädchenhände, die blonden Locken, die schweißnass an der blassen Stirn und den Schläfen klebten. Bilder, die ich nie wieder vergessen werde. Mein kleines Mädchen, ein Kind auf der Schwelle zur Pubertät. Zu jung und zart für Entscheidungen dieser Tragweite. Zu alt, um das Erlebte als Alptraum zu verdrängen. Wir haben ihr bis hierhin bei allen schweren Entscheidungen zur Seite gestanden. Nun waren wir ihre Entscheidungsoptionen. Die Welt stand Kopf, entsagte jeglicher Logik, hob alle Regeln des Verstandes auf. Ich flehte Gott an, sie solle den Lauf wieder auf mich richten. Ich könnte nicht damit leben, dass meine Frau das Opfer bringen soll. Blut aus der Platzwunde von der Kaffeekanne und blanker Angstschweiß vermischte sich mit den Tränen, die mir aus den Augen quollen. Es brannte heiß auf meinen Wangen und in meinen Augen.
Ganz plötzlich fiel die Angst und Hoffnungslosigkeit aus ihrem Blick. Er wechselte in Bestimmtheit und Selbstsicherheit. Sie gab sich der Ausweglosigkeit der Situation hin und traf eine Entscheidung. Der Lauf drehte sich weg vom Kopf meiner Frau wieder zurück zu mir. Ich versuchte meiner Tochter mit den Augen zu sagen, es sei ok. Ich opfere mich gerne für meine Familie. Ich habe die Rolle des Beschützers der Familie und nehme sie war. Bis zur letzten Konsequenz. Ich atmete heftig und zitterte. Adrenalin schoss in meinen Kreislauf. Es reichte für ein paar wenige klare Momente. Sie soll sich keine Vorwürfe machen. Sie sah jedoch einfach durch mich durch. Mit leerem und starrem Blick registrierte sie gar nicht mehr, welche Signale ich ihr mit großen Anstrengungen sendete. Mit einer schnellen Bewegung hatte sie den Lauf in ihren eigenen Mund gesteckt. Eine Träne lief ihr schnell über die Wange als sie ein letztes Mal den Blick zu ihren Eltern suchte.
Als sie den Abzug drückte tobte aus dem Nichts ein Sturm in meinem Kopf. Er tobt bis heute, wütet wieder und wieder gegen die Klippen meines Verstandes. Die Ärzte wussten nicht, wie sie mich zurückholen sollen. Ehrlich gesagt, hatte ich es nicht eilig. Mir ging es gut, dort wo ich war. Ich existierte irgendwie zwischen zwei Welten. Ich nahm wahr, was in der Welt geschah, aus der ich kam. Der Welt des Schmerzes und Verlustes. Die Ärzte diskutierten, dass ich einen Schlaganfall gehabt hätte. Das stimmt nicht. Ich hatte einfach den Bildschirmschoner eingeschaltet, „befinde mich grad nicht am Platz“. Ich nahm aber auch etwas aus einer anderen Welt war. Es dauerte, bis ich es verstanden hatte. Hier war ich wach und agil. Und ich war nicht alleine…
Die erste Sitzung
‚‚Ting‘. So klingt es, wenn der Hahn binnen eines Augenblickes aus seiner Spannung auf das Zündplättchen der Patrone in der Kammer trifft. Danach wird Pulver entzündet und das Projektil wird aus der Hülse mit annähernder Schallgeschwindigkeit durch den geriefelten Lauf der Pistole gejagt. Den Einschlag und die verheerende Wirkung von einer Waffe deren Lauf im Mund in den Gaumen in Richtung Gehirn gedrückt wird, nimmt der Betroffene gar nicht mehr wahr. So bleibt mir wenigstens der Trost, dass meine Tochter nicht noch mehr leiden musste.‘
Während Frank regungslos verstummte und aus dem Fenster starrte, kämpfte Vanessa Lehman sichtlich um Fassung. Sie saß aufrecht in ihrem Sessel und ihre Hand mit dem Kugelschreiber sank mit jedem Satz, den sie gerade von Frank hörte immer ein Stück weiter runter in ihren Schoß. Der letzte Satz von Frank verhallte in ihrem kleinen Behandlungsraum und der Druck auf Vanessas Brust ließ nur langsam nach. Zögerlich begann sie damit, sich Notizen in ihrem schwarzen Notizbuch zu machen. Das einzige Geräusch im Raum ist das langsame, raue Atmen von Frank und die Bleistiftmine, welche sich in Vanessas Moleskin-Buch Wort für Wort kratzend abnutzt. Sie bevorzugte Bleistifte, weil deren Minen nicht einfach versiegen oder in den ungünstigsten Momenten auslaufen. Vanessa selber glaubte in diesem Moment gar nicht zu atmen. Sie zuckte vor Schreck förmlich zusammen, als Frank erneut das Wort ergriff.
‚Ich habe ihnen noch kein Wort über mich erzählt, und sie machen sich bereits die ersten Notizen?‘
‚Sie haben mir bereits jede Menge erzählt, Frank. Die Essenz aus ihren ersten Worten: Sie sind ein Mensch mit festen Familienwerten. Woher ich das weiß? Sie frühstücken mit ihrer Familie, das bedeutet sie legen Wert darauf Zeit mit ihrer Familie zu verbringen. Weiterführend: sie würden sich für ihre Familie opfern. Sie sehen sich als der Beschützer der Familie. Sie sitzen hier und haben sich nicht selbst das Leben genommen oder es zumindest versucht, weil sie denken als Beschützer versagt zu haben. Ihre Frau lebt noch, es existiert noch immer Familie die beschützt werden muss. Diese Familienwerte stehen gleichzeitig für ein allgemeines Wertesystem. Für Kontinuität und Verantwortungsbewusstsein. Das haben sie mir alles bereits über sich preisgegeben, während sie zurück zu dem wohl schmerzlichsten Moment ihres Lebens gereist sind.‘
‚Dann wäre ja geklärt, dass ich ein guter Mensch bin und wir sind hier fertig. Meinen sie nicht?‘ Seine Stimme war leise aber klar und gerade so laut, dass man jedes Wort gut genug verstehen konnte. Er hätte lauter sprechen können, aber sein Stimmvolumen war groß und er hat gelernt seine Stimme bewusst einzusetzen. Durch die Kraft seiner Lungen und Stimmbänder reichte schon fast ein tonhaftes Flüstern. Frank blickte ausdruckslos in das etwas verdutzte Gesicht von Vanessa. Sein Blick war so eindringlich, dass sie sich ungewollt eingeschüchtert fühlte. Ihre Körperhaltung verschloss sich automatisch. Sie presste die Knie feste zusammen und schob ihr Becken im Sessel weiter nach hinten. Ihre Sitzhaltung wurde aufrechter und die Pupillen weiteten sich um ein gutes Drittel. Wachsamkeit. Schutzhaltung. Franks Gesichtszüge waren wie in Stein gemeißelt. Die Stirn war glatt, die Augenbrauen hingen tief in die stechend blauen Augen. Diese blickten hypnotisch und durchdringend in die grünen Augen von Vanessa. Die Augenlieder waren kaum merklich angespannt. Nur kleine Fältchen verrieten die Anspannung. Die Kiefermuskeln drangen an den Wangenknochen hervor während Frank die Zähne mal mehr mal weniger stark aufeinander presste. Um seinen Mund herum verrieten viele kleine und lange Falten sein wahres Alter und die typischen sichelförmigen Falten umrahmten sein Mund beginnend bei den Nasenflügeln bis runter auf halben Weg zum Kinn. Franks Haut war nicht besonders schön. Es war eine geprägte Männerhaut, welche mit einem stoppeligen Dreitagebart überzogen war. Jede feine, kleinste Bewegung seiner Mimik wurde durch diesen leichten Bart verstärkt. Im richtigen Licht hatte das entweder sehr sympathische Auswirkungen oder es ließ Frank bedrohlich erscheinen. Sein gesamter Körper war sehnig und muskulös. Nicht übertrieben, nur so viel, wie er mit eigenen Mitteln zuhause erreichen konnte. Kontinuität und Disziplin waren seiner Meinung nach der Schlüssel zum Erfolg.
‚Meinen sie nicht?‘ wiederholte Frank nicht lauter und nicht leiser als beim ersten Mal seine rhetorische Frage.
‚Nein. Das meine ich nicht. Wir sind schließlich nicht hier, um Trauerbewältigung zu betreiben. Wir sind hier, weil sie wegen vielfachen Mordes angeklagt werden. Darüber sollten wir uns unterhalten. Sie erwähnten, im Koma wären sie nicht alleine gewesen. Wie meinten sie das?‘
‚So wie ich es sagte. Ich war nicht allein. Ich meine hier nicht den Quatsch mit außerkörperlichen Erfahrungen oder ein letztes Abschiedsgespräch mit meiner Tochter. Nein, das meine ich damit weiß Gott nicht. Sie haben keine Vorstellung, was ich dort erlebt habe. Ich lag nicht im Koma. Ich war einfach woanders. Ich kann es ihnen nicht beschreiben. Es war heiß und gleichzeitig kalt. Alles bewegte sich um mich herum, ich schien zu schweben. Es waren Existenzen dort und sie kommunizierten mit mir. Diese Existenzen stellten mir Fragen. Wer ich sei, wo ich herkäme, wo ich hin wolle. Warum ich diese Wut in mir trage. Sie wollten mir helfen. Sie haben mir ein Angebot gemacht, wie ich mit meiner Wut, meinem Hass umgehen kann. Wer hätte an meiner Stelle nicht mit Ja geantwortet?‘
‚Und dann? Was ist dann passiert? Wie sind sie aus dem Koma wieder aufgewacht, Frank?‘
‚Nicht Koma.‘ korrigierte Frank die Psychologin spürbar gereizt aber noch immer ruhig mit geschlossenen Augen und leichtem Kopfschütteln.
‚Nicht Koma, das habe ich ihnen doch gerade erklärt. Ich weiß nicht was es war, aber es war kein Koma. Nennen wir es doch einfach einen Ausflug. OK Vanessa?‘ die Beherrschtheit und Ernsthaftigkeit von Frank erzeugte bei Vanessa eine Gänsehaut, welche sich vom Nacken bis runter zu den Nieren verbreitete.
‚OK. Also, ein Ausflug. Wie sind sie von dem Ausflug wieder in ihr normales Leben zurückgekehrt?‘
‚Einfach so. Ich war einfach wieder da. So als ob man einen schlafenden Computer mit dem Betätigen der Leertaste wieder aufweckt. Einfach so.‘ Dann beugte sich Frank leicht aus seinem Liegesessel über die Lehne in Vanessas Richtung und flüsterte verschwörerisch
‚Und soll ich ihnen etwas verraten? Etwas für ihre so wichtigen Notizen? Ich kam nicht mit leeren Händen zurück. Ich habe etwas mitgebracht.‘ Er lehnte sich noch weiter über die Lehne, seine Züge im Gesicht wurden immer härte. Vanessa blendete das Büro um sich herum vollständig aus und bemerkte gar nicht, wie sie sich langsam wie von Geisterhand auch in Franks Richtung beugte. Ihre Pupillen erweiterten sich, der Mund öffnete sich einen Spalt. Der Stoff ihres Rockes knisterte leise bei dem Wechsel ihrer Sitzhaltung. Franks Hände griffen fester in die lederne Armlehne.
‚Etwas unvorstellbar Schönes. Etwas von Wert, was diese Welt noch nicht gesehen hat. Aber wie das im Leben so ist, gibt es mit dem Licht auch immer Schatten. Ich habe zudem etwas ungeheuer Mächtiges und Gefährliches mitgebracht.‘
Vanessa war so gebannt von Franks Worten, dass sie beinahe von ihrem Sessel gerutscht wäre. Im letzten Moment fängt sie sich und rutscht wieder in eine normale Sitzhaltung.
‚Wie meinen sie das? Etwas Schönes und etwas Gefährliches?‘
‚Das werde ich ihnen erklären, wenn ich glaube, dass sie dafür bereit sind. Stellen sie mir jetzt bitte ihre Fragen, damit sie ihre Analyse fertigstellen können. Sie mögen ihr Honorar auf Stundenbasis erhalten, für mich kostet das hier jeweils eine Stunde meiner Zeit. Auch wenn dieser Sessel hier weit bequemer ist, als die Ausstattung meiner Zelle, so ziehe die vier Wände und meine Isolation darin vor. Lassen sie uns das hier nicht in die Länge ziehen.‘
Vanessa war erneut etwas konsterniert. Das kannte sie nicht. Viele ihrer Patienten waren ungehalten, verständnislos oder einfach nur wirr oder aggressiv. Aber Frank war anders. Er hatte diese unterschwellige Aggressivität aber gleichzeitig eine überlegene Beherrschtheit, welche sogar sie beeindruckte. Sie hatte für sämtliche Persönlichkeiten einen grundsätzlichen Standardansatz. Sie wusste, wie sie mit ungerichteter Aggressivität oder Schüchternheit, Trauer, Trotzigkeit oder Blendertum umgehen musste. Das hier war für sie neu. Das hier würde eine Herausforderung, eine neue Erfahrung werden. Dazu musste sie sich aber besser vorbereiten. Sie brauchte mehr Zeit.
‚Unsere Stunde ist um, Frank. Wir müssen das wohl auf morgen verschieben. Ich bin froh, dass wir heute den ersten Schritt gemacht haben und das Gespräch eröffnet haben.‘ Sie sah in Franks Blick, dass er sie durchschaut hatte. Sie konnte aber nicht mehr zurück und drückte einen Knopf an ihrer Gegensprechanlage auf dem Schreibtisch, um einen Wärter zu rufen, der Frank in sein Zimmer zurückbringen sollte. Der Wärter kam binnen weniger Momente. Ein hochgewachsener, kräftiger junger Mann dessen Unterarme vollständig mit kunstvollen Tätowierungen verziert waren. Frank erhob sich aus dem Liegesessel, streckte sich kurz, neigte den Kopf erst zur rechten Schulter ‚Knack‘ und dann zur linken Schulter ‚Knack‘. Er rollte seine Schultern ließ sein Genick erneut links und rechts knacken. Dann drehte er sich in die Richtung des Wärters und streckte seine Arme aus, die Hände zu lockeren Fäusten geballt und die Innenseiten seiner Handgelenke nach oben gerichtet. Die typische Haltung, welche das Anlegen von Handschellen ankündigt. Ein zweiter Wärter erschien in diesem Moment in der Tür. Vor sich schob er einen Rollstuhl mit Fesselvorrichtungen an den Armlehnen und der Fußstütze.
‚Bitte setzen sie sich in den Rollstuhl. Arme auf die Lehne, Handflächen nach unten. Füße nebeneinander, Fußspitzen nach vorne richten. Ich lege ihnen jetzt diese Manschetten um ihre Handgelenke und Fußgelenke.‘
Während Frank in seinem Rollstuhl den Gang hinunter zum Fahrstuhl geschoben wurde blickte Vanessa den dreien aus ihrem Türrahmen hinterher. Sie schüttelte sich kurz, so als ob ihr ein kalter Schauer durchs Rückenmark gelaufen wäre. Sie streifte sich mehrfach über die Bluse und den Rock, so als ob sie etwas von sich abwischen möchte. Mit einem letzten Blick zu Frank, der sich im Rollstuhl mit dem Rücken zu ihr immer weiter entfernte, trat sie ein paar Schritte rückwärts wieder in ihr Büro, welches mittlerweile von den langen Schatten der untergehenden Sonne durchzogen wurde.
Die zweite Sitzung
Die Nacht verbrachte Frank alleine in seinem Zimmer. Es war ein schlichtes Zimmer, angelegt wie ein Zimmer in einem Krankenhaus. Spartanisch eingerichtet. Ein Bett mit hochklappbaren Seitengittern aus verchromtem Stahl. Elektronische Installationen, welche in den Wänden eingelassen wurden. Steckdosen, Anschlüsse und kleine Displays für medizinische Einsätze verschiedener Art. Für den Moment war alles tot, Frank benötigte keine medizinische Versorgung in diesem Sinne. Weiter befand sich im Zimmer ein kleiner Schrank. Darin hingen ein Bademantel, zwei Hemden und ein Sakko. Auf Einlegeböden waren eine Hand voll T-Shirts, etwas Unterwäsche und zwei Pullover zusammengelegt verstaut. Frank lag ruhig in seinem Bett und starrte ausdruckslos die Decke an. Die Arme über Kreuz mit je einer Hand auf der gegenüberliegenden Brust und die Beine schnurgerade ausgestreckt wirkte er so leblos, wie aufgebahrte Tote in einer Leichenhalle. Pünktlich um neun Uhr legte sich Frank jeden Abend auf diese Weise ins Bett. Erst um fünf Uhr in den Morgenstunden schloss er seine Augen und schlief tief und fest für zwei Stunden. Ein Wärter versuchte ihn einmal um halb sieben zum Führstück zu wecken. Nichts half, Frank wachte einfach nicht auf und der Wärter bekam es mit der Angst zu tun. Er rief einen Arzt. Während sie ihn untersuchten, an Geräte anschließen und auf ihn einredeten überschritt der Zeiger der großen Wanduhr im Klinikflur 7:00 und Frank schlug einfach die Augen auf und war wach. Er hat dem Personal einen irren Schrecken verpasst. Franks Frühstück war das klassische Klinikmenü. Zwei Scheiben Brot, die bereits anfangen trocken zu werden, da zwischen Schneiden, anrichten und in den Zimmern verteilen mehr als zwei Stunden lagen. Täglich wechselnd aber einer wöchentlichen Routine folgend war das Angebot an Aufschnitt und Aufstrich überschaubar. Nach dem Frühstück duschte Frank eiskalt, kämmte sich die mittlerweile ergrauten Haare streng nach hinten. Die Haarenden rollten sich zu leichten Locken zusammen, während das restliche dicke Haupthaar in den gekämmten Strähnen trocknete und so verblieb. Pünktlich wurde er vom Personal zu seiner Sitzung abgeholt und an den Rollstuhl gebunden in das Sprechzimmer gefahren. Erst dort löste man die Fesseln und ließ ihn auf dem Liegesessel Platz nehmen bevor Vanessa den Raum betrat. Noch bevor sie an diesem Morgen ihre Begrüßung an Frank richten konnte begann dieser zu erzählen.
‚Der Mann, der unsere Tochter zwang auf einen Schlag erwachsen zu werden verschwand genauso schnell und rätselhaft, wie er aufgetaucht war. Er hinterließ keine verfolgbaren Spuren und fasste im Haus nichts außer meiner Frau und mich selber an. Er richtete uns grauenhaft zu, brach meiner Frau sämtliche Knochen und schlug sie auf einem Ohr fast taub. Ich hatte Glück im Unglück. Durch meinen Blackout spürte ich nicht, wie ich schwere innere Verletzungen durch seine Tritte erlitt.‘ Frank erzählte langsam mit Pausen zwischen den einzelnen Sätzen. Seine sonore Stimme und die bewusst leise Sprechweise verliehen den Sitzungen mit ihm eine dunkle Atmosphäre.
‚Am Ende hatte ich zusätzlich einen gebrochen Knöchel, Schädelbasisbruch, der linke Wangenknochen war zertrümmert, und dass ich auf meinem rechten Auge noch sehen kann verdanke ich nur einem Zufall.‘ Frank blickte Vanessa nicht einen einzigen Moment an. Er starrte wie bereits am Tag zuvor stur aus dem Fenster. Er atmete einmal tief ein. Schloss die Augen für einen kurzen Moment und sammelte seine Gedanken, so schien es. Dann neigte er seinen Kopf leicht in Vanessas Richtung. Sein stechender Blick traf sie diesmal nicht unvorbereitet aber trotz allem nicht minder schwer. Er blickte direkt durch ihre Pupillen in ihren innersten Nerv. Er wusste ganz genau, wo er sich mit seinem Blick befand. Ein leichtes Lächeln in seinem Mundwinkel verriet ihn. Erst dann sprach er leise weiter.
‚Die Wunden heilten, vernarbten und verblassten mit der Zeit. Der seelische Schaden, der angerichtet wurde heilte bedeutend langsamer. Meine Frau, Eva, nahm psychologische Hilfe in Anspruch. Ich wollte ihr auch zur Seite stehen. Mehr als alles in der Welt wollte ich für meine Frau da sein. Sie ließ es nicht zu. Sie versank immer tiefer in ihrer eigenen Welt. Nein, sie gab nicht mir die Schuld, falls das die Frage ist, welche sie sich gerade in ihr Notizbuch machen. Sie trauerte einfach nur. Sie trauerte sich aus der realen Welt weg in eine Welt ohne Erinnerungen. Haben sie meine Frau besucht?‘ Franks Stimme wurde intensiver und etwas lauter ‚Vanessa, haben sie gesehen, wie meine Frau vegetierend vor sich hin trauert und mittlerweile nicht mehr als vier Quadratmeter zum Leben braucht?‘ Noch etwas lauter, beinahe schon bedrohlich fuhr er fort. ‚Sie braucht vier Quadratmeter, weil sie nur noch auf eine einzige Wand starrt, von dem Moment an, wenn sie morgens aufwacht, bis zu dem Moment, wo sie kraftlos einschläft. Sie bewegt sich nicht mehr, sie muss gefüttert werden. Sie trägt eine Windel. Meine Frau ist zusammen mit unserer Tochter gestorben, während ich eine Wut in mir gesammelt habe, die ihre Vorstellung sprengen würde.‘ Frank erkannte, dass er emotional wurde und verstummte auf einen Schlag. Sein Blick blieb noch eine Weile auf Vanessa gerichtet, er wägte ab, wieviel er mit diesem kleinen Ausbruch unabsichtlich über sich preisgegeben haben mag. Während er sich beruhigte prüfte er ihre Reaktion. Sie befriedigte seinen Wunsch nach einer Reaktion allerdings nicht. Sie hielt einzig seinem Blick stand. Auge in Auge. Keine Reaktion. Unbekümmert ließ sich Frank wieder in den Sessel rutschen. Den Blick wieder in die Ferne gerichtet, hinter die Fensterscheibe aus Sicherheitsglas. Es war kurz nach 8.00 Uhr am Morgen. Seine liebste Zeit. Zu dieser Zeit am Tag ist das Licht seiner Meinung nach am schönsten.
‚Ich musste erst hierher kommen, um erneut zu entdecken, wie schön der Morgen ist. Diese rötliche Verfärbung des Himmels, wenn nach einer Nacht noch die Feuchtigkeit im Himmel hängt und das Licht so bricht, dass er Feuerrot erscheint. Noch intensiver ist das Abendrot. Ich habe lange nicht mehr soviel Zeit damit verbracht, mir den Himmel anzusehen, wie ich es hier in Ihrem Zimmer tue.‘ Vanessa nahm diesen Satz auf, um sich endlich nach den Minuten des Schweigens auch am Gespräch zu beteiligen.
‚Wieso haben sie den Morgen und den Abend vorher nicht beobachtet, wenn er ihnen doch so wichtig ist?‘ Aber Frank ignorierte diese Frage einfach und erzählte unbeirrt weiter.
‚Ich lag lange im Krankenhaus, wie sie aus meiner Akte wissen. Als meine Wunden weitestgehend verheilt waren, konzentrierte ich mich auf meine Aufgaben, die nach dem Krankenbett auf mich warteten. Ich möchte nicht lächerlich klingen, deswegen erkläre ich ihnen nicht woher ich das folgende weiß, nehmen sie es einfach als gegeben hin. In der Südstadt gibt es eine Bar mit dem Namen „The Hole“. Wie der Name schon sagt, ist es ein Loch. Ich brachte den Namen dieser Bar mit von meinem Ausflug. Dort würde ich finden, wonach ich suche. Also verbrachte ich jede Minute, die ich nicht bei meiner Tochter auf dem Friedhof oder meiner Frau in ihren vier Quadratmetern war in diesem Loch in einem der heruntergekommensten Vierteln dieser Stadt. Was soll ich sagen? Der Schmutz dieser Gegend ist an mir haften geblieben, wie vermutlich unschwer an meiner sympathischen Art zu erkennen ist. Ich wurde mit jedem Tag in dieser Bar immer mehr ein Teil dieses Viertels. Ich wurde zu diesem Viertel. Die Besuche bei meiner Frau wurden immer seltener, das Grab meiner Tochter verwahrloste zusehends unter verblühten und toten Blumen. Ob ich mein eigenes Dasein in dieser Zeit als Leben bezeichnen würde?‘ Frank machte eine abschätzende Geste indem er mit seinen Augen, der linken Wange und dem linken Mundwinkel eine Grimasse zog. Diese Mimik hielt er ein paar Sekunden, dann legte er den Kopf schief und fuhr fort.
‚Ich denke eher nicht. Zumindest nicht in der Art, wie sie es definieren würden. Verraten sie mir Vanessa, was ist das schlimmste, was ihnen jemals im Leben passiert ist? Wie tief sind sie schon einmal gesunken? Welche Qualen haben sie durchstehen müssen und was hat das mit ihnen gemacht? Wie weit waren sie jemals von der Definition „Leben“ entfernt?‘
‚Ich, glaube nicht, dass ….‘
‚Sparen sie sich diesen psychologischen Kniff. Es gehört nicht in ihr Untersuchungsschema, aber es gehört in unsere Unterhaltung, wenn sie diese mit mir weiterführen wollen, Vanessa.‘ Vanessa Lehmann saß in ihrem Sessel und überlegte sichtbar angestrengt, wie sie mit dieser Aufforderung umgehen sollte. Es verblieben noch gute dreißig Minuten der Zeit für sie mit Frank bevor der nächste Termin anstand. Sie konnte heute nicht wieder früher abbrechen. Sie musste jetzt reagieren und das kostete sie Kraft. Sie blickte ebenfalls aus dem Fenster und holte tief Luft. Vanessa wusste, dass sie hier nicht mit verstorbenen Haustieren oder einer vermasselten Abschlussprüfung kommen konnte. Sie wühlte tief in ihrem Innersten nach einer Geschichte, die hier einen Ausgleich schaffen könnte. Sie wusste, was sie erzählen sollte, aber das konnte sie nicht. Es wäre lächerlich und Frank würde sie als Psychologin nicht mehr ernst nehmen, damit hätte sie irgendwie noch umgehen können, aber ihre Sitzungen wurden aufgezeichnet und zentral verwaltet. Sie würde sich vor ihren Kollegen und noch ganz anderen Instanzen lächerlich machen und im schlimmsten Fall diskreditieren. Das konnte sie nicht riskieren.
‚Das steht nicht zur Diskussion, Frank. In diesem Sitzungen geht es nur und ausschließlich um sie.‘
‚Dann sind wir für heute fertig. Bevor sie sich mir gegenüber nicht öffnen, sind sie nicht bereit für das, was ich ihnen zu erzählen hätte. Sie können mit ihrem Protokoll schon mal anfangen, machen sie ihre Hausaufgaben. Ich bleibe hier noch für den Rest unserer Zeit sitzen und genieße den Ausblick. Setzen sie erst wieder einen Termin an, wenn sie bereit für ein echtes Gespräch sind.‘ Mit diesen Worten versteinerte Franks Miene wie ein elektrisches Gerät, welches ausgeschaltet wird und er wurde Eins mit der Morgendämmerung bis die Pfleger um punkt neun Uhr an die Türe klopften.
Nummer ein
Frank brauchte beinahe ein halbes Jahr, bis seine körperlichen Schäden halbwegs wieder regeneriert waren. Die seelischen würden vermutlich nie ganz heilen. Mit einem tauben Gefühl im Kopf und glühendem Schmerz an der Stelle, an welcher das Herz sein sollte, begann Frank nächtelang durch die Straßen zu streichen. Ein Ziel kannte weder er noch seine tief eingebrannte Verzweiflung. Es wirkte eher wie eine Übersprunghandlung. Beschäftigung für den Körper, um den Geist abzulenken. Sein Radius erweiterte sich schrittweise, bis er erst im Morgengrauen wieder den Heimweg antrat. In dieser Phase streifte sein Radius auch die dunkleren Ecken der Stadt. Wie in bei einem schwarzen Loch genügt es bereits sich nur in der Nähe aufzuhalten, um von dessen schierer Masse unwiederbringlich angezogen zu werden. Es gibt dann kein Entrinnen mehr. Jeder Versuch sich zu befreien endet damit, dass man sich dem Ereignishorizont immer mehr nähert. Hat man diesen einmal erreicht, dreht sich die Welt nach neuen Gesetzen. Frank durchquerte den äußersten Ring noch mit Ehrfurcht und Respekt. Das änderte sich schlagartig, als er in einer der schwach beleuchteten und vor Müll überquellenden Gassen überfallen wurde. Aus dem Nichts erschien ein dunkler Schatten, etwas langes, massives in der Hand und im Gegenschein der Laternen von der nächsten Querstraße konnte Frank nur erahnen, um was sich dabei handelte. Er tippte auf eine Metallstange oder ein Rohr. Je näher der Schatten kam, desto sicherer war er sich, dass es sich um ein faustdickes Rohr aus irgendeinem Metall handelte.
‚Na mein Freund? Lust auf ein Spiel?‘ Frank verzog keine Miene. Er verlangsamte auch seine Schritte nicht. Innerlich wunderte ihn das. Er wusste, er müsste jetzt eigentlich Angst verspüren, oder zumindest eine gesunde Portion Sorge aufkommen lassen. Aber da war nichts. Im sprichwörtlichen Sinne. Er fühlte nichts. Rein gar nichts. Schon beinahe unbekümmert marschierte Frank weiter auf die Gestalt zu.
Die Polizisten, welche die Gestalt als Erste nach dem Notruf erreichten trauten ihren Augen nicht. Das Opfer war vollständig vom eigenen Blut rot eingefärbt. Der Stoff seiner Kleidung war getränkt mit einem Großteil der sechs Liter, welche der menschliche Körper beinhaltet. Die Augenhöhlen waren leer und staubtrocken. Das Nasenbein war so weit in den Schädel gedrückt, dass es wirkte, als hätte er nie eine Nase besessen. Nur ein weiches, knorpeliges Geschwür, welches in der Mitte von seinem Gesicht hing. Als die Polizisten die Leiche begannen zu untersuchen stellten sie schnell fest, dass beinahe jeder Knochen in dem Körper gebrochen sein musste. Nicht einfach gebrochen, zermalmt traf den Zustand des Skelettes deutlich besser. Die Obduktion ergab, dass jede Rippe mindestens dreifach gebrochen war, mehrere Wirbel erlitten schwere Trümmerbrüche. Die Kniescheiben hätte man absaugen können, so kleinteilig waren sie zerschlagen und die Arme und Beine waren an jeder Stelle einzelnen Stelle so beweglich, wie eine Kette. Es gab zwei Ausnahmen. Die Hände waren nicht derart desaströs zerschmettert worden und auch der Schädel blieb weitestgehend unbeschadet. Interessant und gleichzeitig rätselhaft war jedoch, was die Beamten der Gerichtsmedizin im Inneren der Leiche gefunden hatten. Oder besser gesagt, nicht gefunden hatten. Das Herz. Rätselhaft vor allem weil es bis auf eine einzige äußerliche Wunde keine Beschädigungen der Haut gegeben hat, durch welche ein Organ dieser Größe entfernt werden hätte können. Die einzige äußerliche Wunde gab weniger Rätsel auf. Das war recht eindeutig. Das Metallrohr wurde auf Höhe der Ohren durch den Kopf des Mannes gerammt, welcher das Rohr gegen Frank einsetzen wollte. Der Grund, warum jeder Beamte, der am Tatort eintraf Photos mit seinem Handy gemacht hatte, war ebenso nachvollziehbar wie erschütternd. Das Metallrohr mit dem Toten daran, stecke in einer Wand der Gasse in über zwei Metern Höhe.
Noch ahnte niemand, dass das ein Gnadenakt gewesen ist gemessen an dem, was der Stadt in den nächsten Wochen noch bevorstand. Nicht einmal Frank war sich darüber bewusst, dass er gerade eine Tür aufgestoßen hatte, die er mit einem Schlüssel aufgeschlossen hatte, welchen er von seinem Ausflug mitgebracht hatte.
Der Kaffee schmeckte an diesem Morgen endlich wieder nach den Röststoffen und der leicht verbrannte Toast füllte endlich wieder das Loch im Bauch. Frank saß um acht Uhr dreißig morgens an seinem Frühstückstisch und lächelte seit Monaten das erste Mal wieder.
Insane in the brain
Franks Kopf kochte förmlich. Trotz der eher kühlen Raumtemperatur in seiner Zelle bildeten sich auf seiner Stirn unzählige kleine Schweißtröpfchen. Einzelne davon verbanden sich zu größeren Tropfen und rannen langsam über die Schläfen oder zwischen Nasenbein und Augen herab. Das Salz brannte in den Augen aber Frank nahm diesen Schmerz körperlich nicht wahr. Für Außenstehende starrte er unentwegt an die Decke. Tatsächlich jedoch fiel kein Licht in seine schwarzen Pupillen, womit sich auf seiner Netzhaut auch keine Bilder abzeichneten, die wiederum vom Gehirn in aktive Wahrnehmung umgesetzt werde könnte. Alles, was Frank gerade erlebte, fand ausschließlich tief in seinem Kopf statt. Es begann immer auf dieselbe Weise. Frank betrachtete sich selber aus einer fremden Perspektive. Er sah sich auf seinem Bett liegen. Nur er auf seinem Bett. Außenherum war immer alles schwarz. Dann begannen die Ereignisse. In dieser Nacht fielen Millionen Tennisbälle auf ihn herab. Allerdings waren sie nicht luftig und flauschig, wie man Tennisbälle kennt. Sie prallten nicht von seinem Körper und vom Bett ab. Die Bälle waren massiv und extrem schwer. Sie mussten aus Blei oder Beton sein. Wie ein Vorhang begann der Bälleregen bei den Füßen. Die ersten Bälle schlugen in die Matratze ein. Sie hüpften nur ganz leicht, soviel wie die Matratze es den schweren Kugeln ermöglichen konnte. Der erste Ball streifte Franks linken Fuß und knickte dabei den großen Zeh in Richtung Fußsohle ab. Statt direkt nach oben zeigte er nun in einem unnatürlichen Winkel waagerecht zum Ende des Bettes. Wie ein Blitz durchzog Frank ein Strahl des Schmerzes von der Zehenspitze bis hoch in sein Gehirn. Dieser Blitz schlich förmlich ermüdend langsam durch die Nervenbahnen. Im Gehirn angekommen entzündete dieser Blitz ein Feuerwerk an Schmerzen. Frank hatte gar keine Zeit sich darauf zu konzentrieren, denn der Vorhang aus Bleibällen bewegte sich Millimeterweise über seinen Körper voran. Die Schienbeine knackten und schmatzten bei jedem Treffer. Manche Bälle blieben direkt dort liegen, wo sie eingeschlagen sind. Frank war nicht im Stande sich zu bewegen. Er war dem Regen hilflos ausgesetzt. Die Bälle rückten weiter voran. Die Kniescheiben wurden zermalmt und nahmen den Beinen die gewohnte Spannung, sodass die Knie kein Dreieck in Richtung Decke bildeten, sondern nach unten durchhingen.
Die Oberschenkel boten ein wenig mehr Wiederstand durch die natürliche Muskelmasse über den Knochen, jedoch konnte auch die Schicht an Fasern den Knochen am Ende nicht schützen. Die schwersten und stabilsten Knochen im menschlichen Körper barsten und splitterten unter dem unbarmherzigen Dauerbeschuss der Tennisbälle. Der Hüftknochen bot eine wunderbare Spielwiese für die Bälle. So viel Material, welches zermalmt werden konnte. Seine Genitalien wurden unter zwei aufeinanderprallende Kugeln bis zur Unkenntlichkeit zerdrückt.
Die Schmerzwellen fuhren durch seine Nervenbahnen wie ein Autoscooter auf einer Achterbahnanlage ohne Stop. Jeder Bereich seines Körpers wurde durch puren Schmerz durchflutet. In Franks Gesicht waren die einzigen Zeugen davon die kleinen Schweißperlen. Er zuckte nicht ein einziges Mal. Auch nicht während die Bälle seine Bauchhöhle ausfüllten, jede einzelne Rippe mindestens an zwei unterschiedlichen Stellen brachen. Der Vorhang überdeckte Frank beinahe vollständig. Er ließ exakt zwei Stellen aus. Sein Herz und seine Augen.
Auf den Überwachungskameras in seiner Zelle war davon nichts zu sehen. Für die Wachmänner an den Bildschirmen lag er auf seinem Bett wie in jeder Nacht und starrte die Decke an. Die Auflösung der Kameras war nicht einmal hoch genug, um die schweißnasse Stirn erkennen zu lassen. Die LCD Screens zeigten einzig einen alten, verbrauchten Mann, der unter Insomnie, also Schlafstörung litt.
So fingen die Kameras auch nicht ein, wie die Bälle alle wieder verschwanden und dem Körper die Möglichkeit boten sich mit dem Blut aus den geplatzten Gefäßen zu füllen. Die Haut spannte während sie sich dunkelblau verfärbte. Wie bei einem Hochschwangeren Bauch bildeten rissen die einzelnen Hautschichten an verschiedenen Stellen und zeichneten über den gesamten Körper ein Muster wir bei einem Zebra bis die dünne Haut an den Schienbeinen schlussendlich riss und platzte. Frank erwartete nun in Alptraum zu verbluten. Aus der Wunde schoss aber nicht wie zu erwarten rotes, flüssiges Blut heraus und ließ die aufgeblähte Haut wieder einsinken. Stattdessen quoll eine schwarze klebrige Masse daraus hervor und überzog Franks Körper Zentimeter für Zentimeter bis er bis auf zwei Stellen völlig wie mit Pech verklebt aussah. Die Masse brannte auf seiner Haut, sie ätzte sich in die geschundene und Wunde Haut. Sein Herz und seine Augen blieben auch hiervon ausgenommen. Die schwarze Masse härtete von einem Moment auf den nächsten aus und kleidete Frank nun wie in gebrannten Lehm ein. Er hatte hier bei etwas von den Terrakotta-Kriegern aus China. Dann wurde die Kruste von einem feinen Netz aus Linien überzogen durch welche gleißend grelles Licht schoss und die Kruste zum Zerbersten brachte. Aus dem Licht schlugen Flammen und Franks Körper brannte lichterloh. Das Pensum an Schmerzen war nicht zu beschreiben und Frank konnte es zwar nicht spüren, aber er wusste, es gab zwei Stellen seines Körpers, die unversehrt geblieben sind.
Die unvorstellbaren Peinigungen dauerten über Stunden durch die ganze Nacht. Nacht für Nacht. Es war immer derselbe Vorgang. Erst wurde sein Körper zermalmt. Durch die ein oder andere perfide Art und Weise. Danach wurde er in verschiedenen Formen verhüllt, nur um anschließend zu verbrennen. Durchbrochen wurde dieser gesamte Zyklus immer auf dieselbe Weise. Um fünf Minuten vor fünf Uhr morgens, so als ob ein Schalter umgelegt wird, ertönt ein rhythmisches Pochen in Franks Kopf. Mit jedem Schlag repariert sich sein Körper wieder wie von Geisterhand. Um exakt fünf Uhr ist sein Zustand wieder hergestellt und Frank schließt die Augen. Was bleibt, wenn man ganz genau hinhört ist das Schlagen seines Herzens.
Nachtschicht
Vanessa saß an ihrem Frühstückstisch und nippte an ihrem schwarzen Kaffee. Goldene kleine Bläschen tanzten über die pechschwarze Oberfläche und hypnotisierten sie für ein paar Augenblicke. Vanessa schüttelte ihre Gedanken aus ihrem nachtgeschundenen, sich nach Schlaf sehnenden Kopf und versuchte sich langsam auf den anstehenden Termin mit Frank vorzubereiten. Sie hatte einen Großteil der Nacht damit verbracht, sich nochmal tief in Franks Akte zu lesen und sicherzustellen, dass sie nichts übersehen hat. Sie versuchte jeden Trick, den sie kannte, um die Perspektive zu ändern, aus welcher sie die Akte las. Sie stellte alles in Frage, versuchte alternative Erklärungen für alles Handeln zu finden. Sie versuchte Frank zu verstehen. Um halb drei in der Nacht verstand sie, dass sie auf diese Weise nicht weiterkommen würde. Sie würde Frank nicht auf Grund seiner Akte verstehen. Es gab im Moment nur einen Weg an Frank heranzukommen. Er hatte eine Forderung gestellt, und diese musste Vanessa bedienen. Das war der Weg, mit den besten Aussichten auf Erfolg. Allerdings stand ihr Ruf als Preis in Gefahr. Frank spürte etwas und Vanessa war sich sicher, dass er eine ganz spezielle Geschichte hören wollte. Er würde es spüren, wenn sie nicht das Schwärzeste aus Ihrer Vergangenheit an die Oberfläche spülen würde. Es schien als wüsste er etwas, aber das war ausgeschlossen. Er konnte es nicht wissen und wenn, so gab es keinen Grund es aus ihr herauszupressen. Vanessa war auf einmal schwindelig. Sie war erschrocken, welche Macht er über sie hatte.
Nachdem sie sich eine weitere Tasse heißen Kaffee eingegossen hatte, nahm sie sich einen Stift und einen Notizblock und begann ihre Geschichte zu notieren. Noch während sie schrieb korrigierte und manipulierte sie die Story auf eine Weise, mit der sie glaubte nicht alle Hüllen fallen lassen zu müssen. Vanessa schrieb eine volle Stunde lang. Sie verbrauchte zwanzig Seiten. Vieles war gestrichen und ab der zehnten Seite war die Schrift merklich schlechter geworden. Lose Strähnen fielen ihr ins Gesicht und verklebten mit den Tränen, welche ungehemmt über die heißen Wangen liefen und auf das Papier mit Vanessas dunkelsten Geheimnissen tropften. Es war fünf Minuten nach fünf Uhr, als Vanessa den Stift neben den Block legte und für eine gute Stunde den wohl tiefsten und erholsamsten Schlaf ihrer vergangenen Jahre erlebte.
Als die Sonne über den Horizont kroch und die Welt in einem leuchtenden Orange aufleuchten lies, huschte ein leichtes Lächeln über das sonst bewegungslose, sich im Tiefschlaf befindliche Gesicht von Frank, während Vanessa von einem eiskalten Schauer überzogen wurde.
Eröffnungszug
Frank beobachtete Vanessa in ihrem Sessel ohne eine Miene zu verziehen. Nur die flackernden Bewegungen seiner Augen verrieten, dass sich Frank im Hier und Jetzt befindet. Seine Pupillen waren weit geöffnet, eine biologische Maßnahme des Körpers, um möglichst viel Licht auf die Netzhaut fallen zu lassen. Körpersprache verrät so viel. Weite Pupillen sind im Regelfall ein Zeichen von Interesse, von Neugier. Am Partner, an Dingen, an Verträgen. Ein gut geschulter Verkäufer achtet nicht auf die Körperhaltung ihres Gegenübers. Ihn interessiert nicht wie aufrecht die Haltung ist, oder ob die Arme verschränkt sind. Er liest einzig und allein in den Augen und im Gesicht, in der Mimik seines Gegenübers. Frank betrachtete jedes noch so kleine Detail in Vanessas Gesicht. Jede kleine Falte, welche sich durch einen leichten Schattenwurf auf der sonst feinen Haut abzeichnete. Der kleine Flaum an kaum sichtbaren Haaren, welche im Gegenlicht auf den Wangen und auf der Oberlippe leicht schimmerten. Die bröckeligen Reste von Wimperntusche in den langen fein gebogenen Wimpern und der Kajal auf der Wasserlinie ihrer Augen. Zwischen den einzelnen Härchen der Augenbrauen konnte Frank das dezente Nachzeichnen erkennen. Vanessas Pupillen waren zu kleinen Punkten verengt, sie war gedanklich nicht im selben Raum wie Frank. Er ließ seinen Blick weiter über Vanessa wandern. Ihre Haare waren glanzlos und stumpf. Einzelne Strähnen stachen dezent aus der sonst perfekt sitzenden Frisur heraus. Wenn Frank sich nicht täuschte, dann konnte er erkennen, dass der aufgetragene Lippenstift in der Mitte der Ober- und Unterlippe weggekaut war. Der Abdeckstift unter den Augen war farblich auf eine normale Tagesfassung von Vanessa abgestimmt, heute war der Ton etwas zu dunkel und hob sich dadurch von ihrer blassen, übernächtigten Haut ab.
Vanessa reagierte nicht im Geringsten, als Frank in ihr Zimmer gebracht wurde und Platz genommen hatte. Die Nacht hatte nicht nur äußerlich Spuren bei ihr hinterlassen. Seit sie am Esstisch aufgewacht war wurde sie dieses beklemmende aber auch befreiende Gefühl nicht los. Einerseits war es unglaublich befreiend auf der anderen Seite hat es so viele lange Jahre verdrängte Gefühle wieder an die Oberfläche gebracht. Sie hätte heute freinehmen sollen und sich mit sich selber auseinandersetzen und organisieren sollen. Vanessa konnte sich kaum an die Autofahrt hierher erinnern. Hieß das, dass sie die gesamte Strecke nicht wirklich konzentriert am Steuer gesessen hatte? Mein Gott, wie gefährlich und fahrlässig. Sie ging im Kopf ihre Geschichte mit den feinen Änderungen nochmal durch. Hatte sie etwas vergessen, etwas übersehen? Sie durfte nicht riskieren, dass sie sich mit ihrer Offenbarung ihr eigenes berufliches Grab schaufelte. War die Geschichte in ihrer Version glaubwürdig? Hatte sie Schwachstellen? Eine Gänsehaut zog sich aus dem Nacken das Rückgrat hinunter bis zum Steißbein. Sie blinzelte mehrfach, als ob sie aus einem Tagtraum aufwachte und zuckte kaum merklich zusammen, als sie erkannte, dass Frank bereits vor ihr in seinem Sessel saß.
Sie verfluchte sich, dass sie sein Betreten des Raumes nicht bekommen hatte. Noch mehr verfluchte sie jedoch das leichte Zucken. Vanessa war sich sicher, dass Frank das nicht übersehen hatte. Ein beschissener Start für einen Termin, den sie sich so feste vorgenommen hatte heute mal von ihrer Seite zu dominieren.
Franks Mundwinkel umspielte ein sehr dezentes Lächeln und mit seiner beherrschten und sonoren Stimme drang er ohne Umwege zu Vanessa durch.
‚Ich sagte guten Morgen Vanessa. Möchten sie mich nicht auch begrüßen? Diesen Mangel an Aufmerksamkeit kenne ich von Ihnen überhaupt nicht.‘
Vanessa musste sich zusammenreißen, dass sie nicht nach diesen ersten Worten direkt in sich zusammensank.
‚Vanessa, wenn ich zu Blind wäre, ihre laienhaften Bemühungen zu erkennen eine offensichtlich kurze Nacht zu kaschieren, müsste ich glauben, sie wollten gar nicht mit mir diese schönen Morgenstunden verbringen.‘
Die aufsteigende Röte auf Vanessas Wangen war eine toxische Mischung aus Zorn über Franks arrogante Haltung und Hass auf sich selber, da sie den Eröffnungszug vollständig verpatzt hatte. Eine unnötig verschenkte Chance und die bedingungslose Übergabe der Macht an Frank für diese Sitzung. Sie wusste bereits jetzt, dass sie keine Sekunde lang in diesem Termin die Führung übernehmen würde. Allerdings würde sie nicht kampflos die Arena verlassen. Vanessa versuchte mit dem ihr im Moment noch zur Verfügung stehenden Rest an Würde und Kraft Frank auf Augenhöhe zu begegnen.
‚Guten Morgen Frank. Sie sind ein guter Beobachter. Das imponiert mir. Da sie offensichtlich gut aufgelegt zu sein scheinen, würde ich vorschlagen, dass wir meinen heutigen Schlafmangel nicht weiter thematisieren sondern uns heute mal auf sie konzentrieren. Was halten sie davon?‘
Frank hielt den Blick direkt in Vanessas Augen. Zuckten ihre Augen von links nach rechts hefteten Franks Pupillen direkt an ihren und seine Augen vollzogen in gespiegelter Weise dieselbe Bewegung. Dann neigte Frank den Kopf leicht nach rechts und zog eine Augenbraue hoch. Vanessa fühlte, wie sie sich von ganz tief drinnen heraus verspannte. Ihre linke Hand war zur Faust geballt und die Knöchel zeichneten sich weiß ab. Frank lockerte seinen Blick und schweifte an Vanessa vorbei aus dem Fenster in das Morgenlicht.
‚Entspannen sie sich, Vanessa. Setzen sie sich zu mir, ich bin heute in Plauderlaune. Das sollten sie ausnutzen.‘
Verdutzt sackte Vanessa einen guten Zentimeter zusammen als die Spannung nachließ. Hatte er gerade gesagt, er würde über alles sprechen? Sie konnte sich die Überraschung nicht aus dem Gesicht waschen und fixierte Frank mit ihren Augen während sie sich ihr Kostüm glattstrich und sich zu ihm setzte.
‚Ähm, also gut, Frank. Lassen sie uns reden.‘ Sie beobachtete seine Gesichtszüge während sie ihre Worte sprach. Sie konnte noch immer nicht glauben, dass Frank sich einfach öffnen würde. Seine Miene verriet nichts, also sprach sie weiter.
‚Was beschäftigte sie heute Morgen als erstes, nachdem sie aufgewacht sind, Frank? Fangen wir doch mit etwas einfachem an, um gemeinsam warm zu werden.‘ Vanessa hoffte ihren schlechten ersten Zug mit diesem hier ausbessern zu können. Aber Frank starrte sie nur an.
‚Frank, sie haben angeboten, sich mit mir zu unterhalten. Darum möchte ich sie jetzt gerne bitten.‘ aber Frank starrte Vanessa einfach nur an.
‚Ok, dann erzähle ich vielleicht zuerst, was mich heute Morgen direkt nach dem Aufstehen beschäftigt hat.‘ Ein kurzes Aufflackern in seinen Augen nahm Vanessa als Bestätigung an dieser Stelle fortzufahren. Warum noch lange um das eigentliche Thema herumreden. Vanessa suchte einen Weg direkt zu dem eigentlichen Punkt zu kommen, ohne plump dabei zu wirken.
‚Sie hatten mir eine Bedingung gestellt. Sie wollten von mir meinen bislang tiefsten und unrühmlichsten Moment wissen. Ich habe die ganze Nacht damit verbracht, mir über eben diesen Moment einig zu werden. Frank, haben sie sich bereits mit derselben Frage beschäftigt? Wissen sie wie komplex diese eigentlich einfach klingende Frage tatsächlich ist? Wie tief bin ich schon gesunken? Was war das schlimmste, was ich je erlebt habe? Welche Qualen habe ich durchstehen müssen und an welchem Punkt war ich im weitesten von der Definition von Leben entfernt?‘ Vanessa versuchte eine kurze Pause strategisch geschickt zu platzieren. Sie sollte der Aufzählung etwas mehr Wirkung verpassen aber auch Vanessa einen Moment zum Durchatmen und neu sammeln.
‚Die Frage lässt sich nicht in einem einzigen Moment definieren…‘
‚BULLSHIT‘ Frank spuckte ihr die Worte sprichwörtlich ins Gesicht. Einen solch emotionalen Ausbruch hätte Vanessa von Frank nie erwartet. Auf welchen Nerv ist Vanessa da gerade getroffen? Franks Halsschlagadern waren weit hervorgetreten und seine beschleunigte Atmung ließ seinen gesamten Körper pulsieren. Seine glattrasierte Haut stellte sich zu einer erzürnten Gänsehaut auf und unterstrich den leicht irren Blick, zu welchem sich Frank hinreißen ließ. Ungebremst fuhr Frank fort und erläuterte sein schräges Bild davon, was der tiefste Punkt im Leben jedes Menschen sein musste.
‚Sind sie so blind Vanessa? Es ist die natürliche Geburt. Anhand ihrer Kopfform kann ich sehen, dass sie mit neunzig prozentiger Sicherheit auf natürliche Weise auf die Welt gekommen sind.‘ Frank blaffte Vanessa weiter und ungehemmt laut an. Das Sicherheitspersonal stemmte sich sofort durch die Tür in Vanessas Zimmer, doch sie winkte ab und signalisierte den Männern damit, dass sie weiterhin vor der Tür warten sollten.
‚Die echte Geburt, Manuela, das ist mit Abstand der am meisten entwürdigende Moment. Völlig entblößt, die eigene Scham ungeschützt im grellen Scheinwerferlicht und von fremden Männerhänden betatscht noch bevor der Mutterleib in einem Sud aus Blut, Fruchtwasser, Schleim und mütterlichen Exkrementen verlassen wird. Das Chaos im Kopf des Geborenen ist unvorstellbar. Alles ist neu, laut, kalt und hart. Es riecht intensiv, das Atmen kostet Kraft. So viele Bedürfnisse und so begrenzte Mittel sich mitzuteilen. Nicht in der Lage sich und die Umwelt zu verstehen noch in der Lage sich verständlich zu machen. Wie weit kann man von Leben noch entfernt sein? Wie hilflos und damit tief unten kann sich ein Mensch noch bewegen? Wann in den folgenden Jahren ist der Level an Stress, Angst und Hilflosigkeit jemals höher?‘ Franks Atmung ging schwer, von der gespenstischen Beherrschtheit war nichts mehr übrig. Frank hatte zum ersten Mal durchblicken lassen, dass er erreichbar ist.
Vanessa machte sich eifrig Notizen, jedes Wort, jede Formulierung, jeder von ihm genannte Zusammenhang. Sie hatte endlich Material, mit dem sie arbeiten konnte. Sie hofft, dass sie alles was wortwörtlich hatte mitschreiben können. Durch den unbefangenen Start des Gesprächs hatte sie das Aufnahmegerät noch nicht gestartet. Ihre Notizen sind alles, was sie für den Moment und den nächsten Schritt hatte.
Dass Frank in seiner emotionalen Rede aus dem Sessel gesprungen und zum Fenster gelaufen ist, hatte Vanessa nicht gestört. Nun stand er mit dem Rücken zu ihr, die Hände auf das schmale Fensterbrett gestützt und beruhigte sich am Blick in die Natur. Vanessas Hände waren heiß und schweißnass. Sie hatte Mühe den Bleistift leserlich über das Papier zu führen.
‚Bitte verzeihen sie mir den Ausbruch, Vanessa. Ich glaube, wir sollten ein andermal weiterplaudern. Ich möchte nicht, dass unser weiteres Gespräch durch diese Vorstellung beeinflusst wird. Bitte gestatten Sie mir, die Sitzung heute abzubrechen.‘
Vanessa kam Franks Bitte nach und ließ ihn wieder in sein Zimmer bringen. Was ist da gerade passiert? Warum war Frank heute so anders? Er war zum einen nach wie vor ein Arsch, aber irgendwie hatte er es geschafft so etwas wie Menschlichkeit und Anstand durchblitzen zu lassen. Er hatte gewisse Benimmregeln befolgt und somit für eine Art gemeinsamer Augenhöhe gesorgt. Dann war da der hochemotionale Ausbruch. Irgendwas stimmte hier ganz und gar nicht. Vanessa wusste, dass sie die Antworten in ihren Notizen finden würde. Diese mussten aber erstmal warten, der nächste Termin wurde gerade durch die Tür gebracht. Vanessa räumte ihre Unterlagen, vor allem ihre nächtlichen Notizen von ihrem Schreibtisch in ihre Aktentasche und blickte noch einmal Erholung suchend aus dem Fenster. Sie zuckte kurz zusammen, denn statt ihrer selbst spiegelte sich für den Bruchteil einer Sekunde Franks Gesicht in der Scheibe. Noch blasser als vor ihrem ersten Termin und mit feinen Schweißperlen auf der Stirn nahm Vanessa gegenüber von ihrem nächsten Termin Platz.
...bald gibts mehr
Tag der Veröffentlichung: 17.03.2016
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