Cover

Persönliches

Danke, dass Du mein Buch liest.

 

Ein Buch zu schreiben ist grundsätzlich ein Abenteuer. Es beginnt mit einer ersten Idee, einem Impuls. 

 

Da dies mein erstes Buch ist, war das Abenteuer für mich vielleicht sogar noch intensiver, als für viele andere Autoren. Alles fing mit einem Bild in meinem Kopf an. Dieses Bild formte das erste Kapitel. Ich hatte keine durchdachte Story, keine festen Konzepte. Ich habe einfach losgeschrieben. In jeder freien Minute wuchsen die Kapitel und die Story zu dem endgültigen Werk heran.

 

Das Abenteuer für mich lag vor allem darin, dass ich nie wirklich weiter, als bis zum Ende eines Kapitels geplant habe. Ich habe also, genauso wie Ihr Leser, die Geschichte Zeile für Zeile entdecken müssen. Das entspricht jetzt nicht dem klassischen Autorenvorgehen, aber für mich war es der richtige Weg. Ich hoffe, dass diese Art des "Geschichtenentdeckens" im Buch spürbar ist.

 

Für Feedback und Anregungen bin ich grundsätzlich und immer offen und dankbar. Nur eine Bitte habe ich dazu: seid konstruktiv! Ich bin kein ausgebildeter Autor, sondern ein einfacher Mann mit vielen Ideen, welche ich gerne in Worte fasse.  

 

Betrachtet diese Version bitte als Beta-Version. Sie ist (noch) nicht professionell lektoriert und birgt sicherlich den ein oder anderen Fehler. Ich bin dabei, dies alles zu korrigieren und aktualisiere die Kapitel regelmäßig. Da das Schreiben jedoch nicht mein Hauptberuf ist, kann ich dies nur schrittweise umsetzen. Das Buch ist somit ein dynamischer Prozess, wenn Ihr versteht, was ich meine. Entsprechend verlange ich für das Buch nicht die klassischen Preise, sondern einen weit geringeren Preis. 

 

Dem Leseerlebnis sollte dies jedoch nicht wesentlich im Wege stehen. Ich habe bereits diverse Rückmeldungen erhalten und kann erfreulicherweise mitteilen, dass die meisten Leser sich ordentlich und durchaus einzigartig unterhalten gefühlt haben. 

 

Der größte Dank gebürt daher allen, die mich bislang beraten, kritisiert oder einfach nur motivierend begleitet haben. Für alle, die dies auch gerne tun würden:

 

illegancg@gmail.com

 

 

 

Die Ideenkiste für weitere Geschichten ist prall gefüllt!

 

 

Vielen Dank und nun viel Spass beim Lesen und Eintauchen in meine Fantasie.

 

C. G. Illegan

Prolog

 

Eine fremde Welt, elf fremde Menschen um mich herum. Spärliche Informationen und keine Anleitung zur Handlung. Alles was ich anfasse, kann meinen Tod oder meine Rettung bedeuten. Alles, was ich sehe muss ich in Frage stellen. Real, nicht real, nicht das, was es scheint?

 

Warum bin ich hier und wie komme ich hier wieder weg? Und warum melden sich meine Dämonen ausgerechnet hier?

 

Hallo ich bin Ben, meine Reise hat gerade begonnen. Ich habe Angst, Wut und Heimweh… und den festen Entschluss hier wieder wegzukommen. Egal zu welchem Preis…

1. Der Kollektor

Tief einatmen. Die Freiheit fühlen.

 

Meine Augen sind geschlossen.

 

Um mich herum herrscht absolute Stille.

 

Ein paar Schweißperlen sammeln sich auf meiner Stirn, und laufen mir die Wangen hinunter. Mein Puls schlägt spürbar in meinem gesamten Blutkreislauf. Ich spüre jeden einzelnen Herzschlag, durch meinen Körper jagen.

 

Das einzige wahrnehmbare Geräusch erzeugen meine Laufschuhe. Sie rollen sich rhythmisch knirschend vom Boden ab, nur um gleich darauf wieder mit sanftem Stoß auf dem Feldweg aufzusetzen. So tragen sie mich immer einen weiteren Schritt voran.

 

Ich laufe gerne über die Äcker. Man sieht wenig Menschen und bis auf einzelne Traktoren herrscht kein Verkehr. Hier und da springen Rehe und Hasen aus dem hüfthohen Gras und flüchten vor mir und meinen grellbunten Brooks Laufschuhen.

 

Nach Feierabend zieht es mich raus in die Natur. Das ist meine Zeit, um den Kopf frei zu kriegen. Eine Stunde, die nur mir gehört. Eine Stunde, um alle Gedanken zu sammeln und der Reihe nach abzuarbeiten, abzulegen oder zu verwerfen. Zeit und Ruhe, Gedankenspiele zuzulassen, die sonst im Alltag keinen Platz finden.

 

Ich bleibe stehen, um einmal tief durchzuatmen und mich zu strecken. Sieben Kilometer habe ich bereits hinter mir, da werden die Abstände zwischen den Pausen schon mal kürzer und die Pausen länger. Ich befinde mich auf einem erhöhten Feldweg, sozusagen einem Grat, inmitten einer hügeligen Feldlandschaft. Dutzende dieser Feldwege durchziehen die Landschaft. Teils sind sie befestigt, teils sind es einfach nur Traktorspuren, welche sich durch knöchelhohes Gras ziehen, wie kleine parallel laufende Bäche.

 

Links von mir befindet sich ein Feld mit irgendeinem Getreide, rechts von mir erstreckt sich ein ausladendes Maisfeld in voller Blüte. Es ist Hochsommer und die Felder stehen kurz vor der Ernte. Aus den Kopfhörern in meinen Ohren dringt gerade U2 „Cemetries of London“. Das ist ein großartiger Song, welcher sich ideal mit meinem Lauf-Rhythmus zusammenfindet. Mit tiefen Zügen fülle ich meine Lunge, mit möglichst viel Sauerstoff, als Vorbereitung zum Weiterlaufen. Einen Augenblick genieße ich den Moment noch, bevor ich langsam wieder antrabe. Meine von Schweiß rutschigen Finger fummeln an den winzigen Regelertasten, um die Lautstärke in den Kopfhörern hochzudrehen. Meine Schritte finden wieder den Rhythmus des Songs. Durch die Bewegung streicht Wind über meine verschwitzten Stellen am Rücken, und erfrischt mich überraschend angenehm.

 

Aus den Augenwinkeln glaube ich eine Bewegung hinter oder neben mir wahrzunehmen. Neugierig drehe ich meinen Kopf zur Seite, ohne mein Tempo zu verlangsamen. Mit der Fernbedienung an den Kopfhörerkabeln stelle ich den aktuellen Song auf Pause und bündle meine gesamte Konzentration auf mein Gehör. Es sind aber weder Traktormotoren, noch Fahrradklingeln zu hören. Ich erwarte den Anblick eines mir zugewendeten Hasenpopos, der hakenschlagend das Weite sucht. Aber außer dem sanft im Wind wiegenden Getreide und Mais bewegt sich nichts. Ich laufe weiter, und erkläre mir die vermeintliche Bewegung mit einem Schweißtropfen, der mir am Auge vorbeigelaufen sein muss. Noch bevor ich wieder meine volle Laufgeschwindigkeit erreiche, bohrt sich ein Pfeil direkt links vor mir in den Acker. Die gleiche Bewegung, wie ich sie kurz zuvor dachte wahrgenommen zu haben. Diesmal ist es definitiv keine Einbildung, oder ein Schweißtropfen. Die Absurdität der Situation überfordert mich etwas, also bleibe ich stehen und versuche zu verarbeiten, zu begreifen, was ich da grade gesehen habe. Unsicher, was ich von all dem halten soll, starre ich den Pfeil regungslos einfach nur an.

 

Die augenscheinliche Machart des Pfeils fasziniert mich nachhaltig. Er sieht nicht aus, wie einer aus dem Spielwarenladen oder einem Profi-Sportgeschäft. Er sieht aus, wie man sich einen alten Pfeil aus der wilden Zeit der Indianer vorstellt. Etwas abgenutzt, echte Federn im Kiel und das Holz von der Sonne und der Zeit ausgebleicht und verwaschen.

 

Ich drehe mich ruckartig um, da mir gerade klar wird, dass jemand den Pfeil auch abgeschossen haben muss, und erstarre in meiner Bewegung. Fassungslos erkenne ich einen Indianer, der auf meinem Feldweg völlig deplatziert wirkt. Wie weit ist er von mir entfernt? Vielleicht 20 Meter? Ich bin nicht sonderlich gut im Schätzen von Entfernungen. Es könnten auch 50 Meter sein. Sein linker Arm hängt lang an der Seite herab und hält locker umschlossen einen Bogen in der Hand.

 

Ich bin mir unschlüssig, was ich als nächstes erwarten sollte. Haben sich die Jungs einen peinlichen Scherz erlaubt? Hab ich einen Hitzschlag? Werde ich als Opfer eines Dorf-Psychopathen heute Abend die Nachrichten füllen?

 

Mit einer ruhigen und flüssigen Bewegung streckt der Indianer seine rechte Hand steil in den Himmel, und auf einen Schlag setzt in meinen Ohren ein betäubend lautes Dröhnen ein. Ich schließe im Reflex meine Augen, wie bei einer Migräneattacke, und versuche mich auf den Schmerz zu konzentrieren. Mit geschlossenen Augen bete ich, dass ich nicht verrückt werde und an wilden Halluzinationen leide. Der Schmerz in meinem Schädel geht etwas zurück. Mit geschlossenen Augen fühle ich mich jedoch ausgeliefert, unsicher und öffne sie vorsichtig, so schnell es geht wieder. Ohne darüber nachdenken zu können, mache ich einen kleinen Satz nach hinten, denn der Indianer steht direkt vor mir. Nicht eine Armlänge von mir entfernt, bohrt sich sein Blick durch tote, schwarze Augen tief in mein Innerstes.

 

2. Nicht Deine Welt

    Ich zucke zusammen und mache vor Schreck einen großen, ruckartigen Schritt zurück. Die leichte Brise, welche mir vor wenigen Augenblicken noch den Rücken erfrischt hat, flaut spürbar ab. Sie wird ersetzt durch ein warmes, nervöses Kribbeln, welches sich von meinen Nieren aus über den gesamten Rücken ausbreitet. Der alte Indianer steht scheinbar unbeeindruckt noch an derselben Stelle, regungslos und mit unbeweglichen, hängenden Gesichtszügen. Sein Blick ist noch immer fest und tief in meinen Augen verankert. Es fühlt sich an, als ob er sich mitten in meinem Kopf befindet. Ich kann regelrecht spüren, wie er sich Zugang zu meinem Gehirn, meinen Gedanken, meiner Persönlichkeit verschafft. Wie hypnotisiert starre ich ihn fasziniert an. Ich bin nicht in der Lage mich von der Stelle zu bewegen.

 

„Nimm Abschied.“ Seine Stimme ist rau und unfassbar leise, beinahe nur ein Rauschen im Hintergrund. Seine Worte jedoch schreien so laut, dass er gar nicht lauter sprechen müsste.

 

Schock und Faszination lähmen und fesseln mich gleichermaßen, als mir bewusst wird, dass er zu mir spricht, ohne dabei den Mund zu öffnen. Es scheint, als ob er tatsächlich eine Verbindung durch meine Augen direkt in meinen Kopf, in mein zentrales Nervensystem aufgebaut hätte. Seine Worte irritieren mich und ich bin zu keiner Reaktion in der Lage. Stattdessen starre ich ihn weiter ungläubig an.

„Nimm Abschied“, wiederholt er in seiner leisen, aber tiefen und durchdringenden Stimme.

 

Mir steht der Mund weit offen und mir fällt nicht eine einzige angemessene Reaktion ein, um mich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Ich bemerke jetzt auch, dass nicht nur der Wind verschwunden ist. Alles ist vollständig verschwunden, die Wärme der Sonne, die Geräusche der Natur, der Geruch der Felder, das Gefühl zu existieren. Mir kommt es so vor, als ob ich in eine künstliche Umgebung gesetzt wurde. Vielleicht befinde ich mich ja tatsächlich in irgendeiner Virtual Reality Umgebung, oder man macht gerade irgendwelche Gehirnexperimente mit mir. Habe ich einen Schlaganfall? Fühlt sich das so an? Man hört und liest viel über die Nahtoderfahrungen von Menschen. Darin scheint alles möglich zu sein. Meine Vernunft hält mich davon ab, völlig durchzudrehen und mich meinen Fantasien hinzugeben. Ich bin nicht tot und ich habe keinen Schlaganfall, rede ich mir still ein. Allerdings tritt langsam ein Schwindelgefühl auf, welches mich immer dann überkommt, wenn ich von einer Situation hoffnungslos überfordert bin. Diese hier ist offensichtlich so eine.

 

Je länger ich diesen vermeintlich Eingeborenen anstarre, desto mehr erkenne ich, dass es sich hier nicht um einen Indianer handelt. Der Bogen und die markante Bemalung in seinem Gesicht und auf seinem nackten, ledrigen Oberkörper suggerierten im ersten Moment nur das scheinbar Offensichtliche. Das Gehirn versucht alles, was es sieht, mit etwas Bekanntes zu verknüpfen. Das Gehirn braucht Strukturen und übernimmt dabei viel unbewusste Arbeit, um den Verstand zu schützen.

 

Die faltigen Züge seines Gesichtes und die geröteten Augen wirken, wie die eines Menschen, der viel Zeit ungeschützt in der Sonne verbringt. Seine Augen sind kreisrund mit schwarzer Farbe umstrichen. Wenn er sie schließt, sieht man nur zwei gewaltige, schwarze Kreise. So, wie zwei weit aufgerissene, leere Augenhöhlen. Aber seine Gesichtszüge haben nichts Indianisches. Irgendetwas fehlt, aber ich kann es nicht greifen. Es macht mich verrückt, zu wissen, dass es etwas nicht stimmt, aber nicht in der Lage zu sein, es zu benennen.

 

Von den faltigen, knorpeligen Ohren läuft über den Hals, die Schulter den Arm hinunter jeweils ein dicker schwarzer Strich und verästelt sich hinter dem Handgelenk in zwei feinere Linien. Eine führt bis in die Spitze des Zeigefingers, die andere in die des Ringfingers. Der dicke Strich ist gut eine Hand breit und wurde vermutlich auch mit einer flach aufliegenden Hand aufgetragen. Auf der Brust trägt er einen großen, schwarzen Kreis, dessen Rand ebenso dick ist, wie die Streifen an den Armen. Das Innere ist schneeweiß ausgefüllt. Die Farbe wirkt trocken und ist mit Rissen durchsetzt, wie man sie in ausgetrockneten Wüstenflächen häufig sieht.

 

Eine abgegriffene Lederhose bedeckt seine Beine. Anstelle eines Gürtels wird sie von einer groben Kordel zusammengehalten. Auch seine Schuhe sind aus Leder und ebenfalls von einfacher Machart. Ich kann noch immer nicht ausmachen, was mich am Gesamtbild dieses Mannes irritiert. Mal abgesehen von der Tatsache, dass hier ein Halbnackter mitten auf den Äckern steht und mich anstarrt. Dann sehe ich es plötzlich. Er hat keine Nase. Die linke Wange geht einfach nahtlos in die rechte Wange über.

„Wie kann das sein?“, flüstere ich meine Verwunderung heraus, ohne meinen Blick von ihm zu nehmen. „Wie kann das sein?“.

 

„Ich gewähre dir bis morgen, wenn die Sonne am höchsten steht. Sei bereit, mit mir zu kommen.“

Seine sonore Stimme dröhnt in meinem Kopf. Er spricht nun nicht mehr leise, sondern wie durch einen bei mir im Kopf installierten Hochleistungslautsprecher. Mein Schädel funktioniert wie eine Resonanzkammer. Es donnert und hämmert in diesem kleinen Raum und zwingt mich unaufhörlich zu blinzeln. Zu viele Informationen, die ich nicht schnell genug verarbeiten kann.

 

„Du gewährst mir einen Scheiß“, platzt es dann aus mir heraus. Endlich, der Knoten ist gelöst und ich bin endlich wieder in der Lage zu reagieren. „Ich glaube, wo ich hingehe und wohin nicht, entscheide noch immer am besten ich selber, oder?“ Gut so, jetzt ist auch das Selbstbewusstsein und mein Selbsterhaltungstrieb wieder an Board. Seines hat ihn jedoch nie verlassen und mein Reaktion beeindruckt ihn nicht im Geringsten.

„Mir ist egal, was du jetzt machst. Am besten drehst du dich um, und lässt mich wieder in Ruhe. Dann will ich mal so tun, als ob das alles hier nicht geschehen ist. Kannst von Glück reden, dass du mich mit deinem Pfeil nicht getroffen hast, dann wäre ich nicht so entspannt. Also los jetzt. Verschwinde, sonst muss ich doch die Polizei rufen“. Seine einzige Reaktion besteht darin, mich weiter bohrend anzustarren.

 

„Nimm Abschied. Ich hole dich, wenn die Sonne am höchsten steht“.

„Das reicht jetzt, verzieh dich du Spinner. Letzte Chance, sonst…“, ich krümme mich vor Schmerz. Es fühlt sich an, als ob mein Blut kochend durch meine Adern blubbert. Während ich versuche wegzulaufen, fühle ich zum ersten Mal in meinem Leben wahrhaftige Angst.

Dann wird alles schwarz.

3. Kreise

Schemenhaft nehme ich die Umrisse meiner Umwelt immer klarer wahr. Fast so, als ob ich gerade aus dem Schlaf oder einer Ohnmacht erwache. Ich schleppe mich über einen trockenen Acker nach Hause. Wie bin ich hierhergekommen? Wo genau ist hier? Ich bleibe kurz stehen, und versuche mich zu orientieren. Das sollte mir nicht schwer fallen, ich gehe hier regelmäßig laufen und kenne die Wege, wie die Wege in meinem Haus. Die Baumreihen am Horizont wirken vertraut, sie liegen aber in der völlig falschen Richtung. Ich bin bereits an ihnen vorbeigelaufen, bevor ich von dem Wesen überfallen wurde. Wo ist das verfluchte Ding überhaupt? Was ist passiert? Wild drehend suche ich die Umgebung nach dem komischen Spinner ab, kann ihn aber nirgends ausmachen. Meine Benommenheit und Desorientierung schwinden und ich kann wieder einordnen, wo ich mich gerade befinde. Ich muss wieder zurückgelaufen sein, in Richtung meines Hauses. Ich kann mich nicht daran erinnern überhaupt gelaufen zu sein, nachdem ich den Indianer getroffen habe. Wie aber komme ich dann hierher? Sollte ich bewusstlos gelaufen sein? Wäre das denn überhaupt möglich?

 

In meiner Magengegend verspüre ich ein merkwürdig vertrautes Kribbeln. Es fühlt sich an, als ob ich etwas Falsches getan habe. Etwas, was ich normalerweise nicht tun würde. Ich kann es im Moment nicht klar einordnen.

 

Mein pochendes Gehirn ist damit beschäftigt, die letzten Minuten oder Stunden nachzuvollziehen. Es dämmert bereits. Wie lange laufe ich schon wie ein Zombie durch die Äcker, oder habe ich irgendwo am Wegrand gelegen? Ich habe noch immer das Echo der sonoren Stimme des ledrigen – ja, was eigentlich - im Kopf. Mir läuft ein Schauer über den Rücken, als die Erinnerungen blitzartig durch meinen Kopf jagen.

 

   ‚Morgen. Bereit sein. Abschied nehmen‘, was soll dieser Scheiß? Warum beschäftigt mich das überhaupt noch? Der hatte nicht alle Latten am Zaun. Wenn er seine Pillen heute Abend wieder bekommt, ist er bestimmt ein umgänglicher, netter Kerl. Schließ damit ab, Ben. Damit hast du eine super Story für den nächsten Männerabend. Die Jungs werden sich kringeln vor Lachen.

 

‚Nimm Abschied‘.

 

Mit schweren Gliedern, wie bei einer Grippe und mehr Fragen, als mein Verstand gerade verarbeiten kann, schleppe ich mich bis zu meiner Haustür.

 

‚Ich gewähre dir bis morgen Mittag‘.

 

Von meiner Umwelt habe ich auf dem gesamten Weg nichts mehr bewusst wahrgenommen, und stecke erleichtert aber schwer schnaufend den Schlüssel ins Schloss.

 

‚Wenn die Sonne am höchsten steht‘.

 

In meinem Haus angekommen, schleife ich mich mit letzter Kraft auf die Couch im Wohnzimmer und falle sofort in einen tiefen Schlaf.

 

‚Sei bereit‘.

 

Mitten in der Nacht wache ich schlagartig, wie nach einem Alptraum schweißgebadet auf. Ich bin ab dem ersten Moment hellwach, so als hätte mich etwas aus dem Schlaf gerissen, auf was mein Körper mit Adrenalin reagiert. Meine Sportkleidung klebt an mir, als ob ich im Regen gelaufen wäre, und auch die Couchpolster sind klamm. Ich spüre mein Herz unter meiner Brust rasen und meine Finger sind eiskalt. Meine Lippen sind trocken und kurz davor zu springen. Es ist fünf Uhr dreißig am Morgen.

 

‚Morgen‘

 

 Wie durch einen dicken Nebel quälen sich diffuse Erinnerungen ans Licht. Ich habe von dem nasenlosen Mann geträumt. Hatte mir vorgestellt, wie ich mich wohl gegen seine angekündigte Entführung wehren könnte. Mit welchen Mitteln könnte ich realistisch etwas erreichen? Einem Psychiater vielleicht? Was stimmt mit mir nicht? Wilde Träume sind das Eine, aber Tagträume? War es denn tatsächlich ein Traum? Mein Kopf dreht sich, wie bei dem Versuch die Unendlichkeit des Universums zu begreifen. Was war vor dem Urknall? In welchen Raum hat sich das Universum hineingedehnt? Was liegt jenseits davon? Was bedeutet Unendlichkeit? Wer hat Gott geschaffen? Jedes Mal, wenn ich mich damit länger als drei Minuten beschäftige, kreist mein Gehirn im Schleudergang. Genauso fühlt es sich jetzt gerade in diesem Moment an. Allerdings mit einer wachsenden Beklemmung bei dem Gedanken an die angekündigte Entführung und der Sorge davor, dass die Drohung doch ernst gemeint gewesen ist.

 

Eine lange und kalte Dusche hilft mir dabei, meinen Kopf zumindest ein kleines Stück zurück zu erobern. Es ist bereits kurz vor sechs Uhr morgens, ich kann also direkt zum Frühstück übergehen und mich für die Arbeit fertig machen. Mein Büro ist nur ca zwanzig Minuten von meinem Haus entfernt. Um sieben Uhr sitze ich im Büro an meinem großen Schreibtisch und vertiefe mich in mein Emailpostfach. Mir huscht ein Grinsen übers Gesicht, denn ich ziehe gerade den Vergleich, dass es nicht nur auf den Äckern in meiner Nachbarschaft Knalltüten gibt. Ein dutzend der Emails, welche über Nacht aus Übersee eingetroffen sind kann ich umgehend weiterdelegieren. Die anderen dreißig Emails bedürfen etwas mehr Aufmerksamkeit. Ich liebe meine Arbeit im Vertrieb. Seit zehn Jahren habe ich Personalverantwortung und finde großen Gefallen an der Verantwortung für meine Mitarbeiter und an unseren Projekten. Wir arbeiten in der Automotive-Branche. Hier ist der Ton recht rau und alles ist von festen Zeitplänen und Projektkatalogen bestimmt. Verzögerungen in den Abläufen können sehr schnell in fünf bis sechsstelligen Schadenshöhen ausufern. Der Kopf ist daher besser dauernd eingeschaltet und auf Betriebstemperatur.

 

Es ist elf Uhr und die ersten Kollegen gehen bereits in ihre Mittagspause. Ich gehe selten vor ein Uhr raus und nutze lieber das leere Büro um die Mittagszeit, um in Ruhe arbeiten zu können. Mein Kaffee ist leer und auf dem Weg in die Kaffeeküche nutze ich die Gelegenheit, stelle mich etwas abseits im Flur in eine Ecke und wähle auswendig eine mir sehr vertraute Nummer.

   „Hallo Mama, wollte mal hören, wie es Euch geht?“

   „Hallo Ben, wie schön, dass du dich meldest. Geht es dir gut? Wenn du von der Arbeit anrufst, machen wir uns direkt Sorgen, dass etwas passiert ist“. Ihr habt ja keine Ahnung, welche Sorgen ich mir immer mache, wenn ihr mich auf der Arbeit anruft.

   „Alles gut. Ich hatte nur eine schlechte Nacht, und wollte ein paar vertraute Stimmen hören. Mit Oliver habe ich bereits kurz gesprochen. Er hat mir von seinen Plänen erzählt, eine eigene Praxis zu eröffnen“.

   „Ja das stimmt, das hat er uns auch schon erzählt. Aber nochmal zurück zu dir. Ist irgendwas passiert, dass du schlecht schläfst? Können wir dir irgendwie helfen?“ Ich sehe ihr Gesicht vor mir. Ihren sorgenvollen Blick, und verfluche mich gerade, dass ich erzählt habe, dass es mir nicht so besonders geht. Wenn ich das Gespräch nicht zu einer Psychoanalyse werden lassen möchte, muss ich auf eine Notlüge zurückgreifen.

   „Nein, alles wieder in Ordnung. Ich muss wohl einen Alptraum gehabt haben. Ist schon eine Weile her, dass ich so schlecht geträumt habe, dass es mich in den Tag begleitet. Aber macht euch keine Sorgen, es war irgendwas Wirres, wie aus einem Film. Es hat nichts mit der Arbeit oder meinem echten Leben zu tun.“ In Gedanken ergänze ich den Satz mit –hoffentlich-.

   „Du brauchst dringend eine Frau an deiner Seite. Das sagen wir dir aber schon lange, und komm‘ jetzt bloß nicht wieder mit der Ausrede, die Arbeit lässt dir keine Zeit. So gut verdienst du auch nicht, dass du nur im Büro sitzen musst. Sei mir nicht böse mein Schatz, dein Vater wartet bereits im Auto, wir fahren jetzt einkaufen. Ich muss also los. Geht es dir wirklich gut?“

   „Ja Ma, alles gut. Ich freue mich zu hören, dass es Euch auch gut geht. Ich melde mich später nochmal und schau mal, wann ich das nächste Mal vorbeikommen kann“. Noch während ich auflege, spüre ich wie sie zwar versucht zu lächeln, die Sorge aber nicht komplett abstreifen kann. Es wird heute Abend wohl noch ein längeres Telefonat dazu geben. Bei dem Gedanken muss ich ein wenig lächeln.

 

Der Kontakt zu meiner Familie gibt mir das Gefühl der Sicherheit, der Geborgenheit. Der Austausch mit ihnen erdet mich. Ich habe vermutlich wirklich zu wenig sozialen Austausch mit anderen Menschen. Meine Familie ist für mich der Anker im Alltag. Ich sollte tatsächlich mal kürzer treten und versuchen Frauen kennenzulernen. Mit diesen Gedanken beschließe ich die Begegnung mit Mr no-nose, als eine Halluzination zu betrachten, und nehme mir vor, mich bei einer der bekannten Partnerbörsen anzumelden.

 

An meinem heißen, frisch gebrühten Kaffee nippend, starre ich wieder auf meinen Bildschirm, und versuche mich auf die neuen Emails zu konzentrieren. Der Bildschirm verlässt meinen Fokus. Unwillkürlich habe ich eine stattfindende Bewegung vor Augen. Das ist irritierend, denn beim Weiterlesen stelle ich fest, dass gar keine Bewegung stattgefunden hat. Es fühlt sich an, als starre ich leicht abwesend durch den Bildschirm hindurch. Dann zucke ich kurz zusammen, weil mir bewusst wird, dass ich gerade tatsächlich durch ihn hindurch schaue. Er ist noch da, aber irgendwie verschwommen und flackernd und ich kann die dahinterliegenden, eigentlich durch ihn verdeckten Kollegen sehen. Ich kneife die Augen zusammen und schüttle meinen Kopf, so als ob man die Fliehkräfte nutzen könnte, Gedanken oder Bilder aus seinem Gehirn zu schleudern. Der Eindruck, der transparenten Umgebung lässt sich aber leider nicht so einfach abschütteln. Die Bewegungen meines Kopfes sind impulsiv von einer aufkeimenden Angst begleitet. Dadurch übertragen sie sich auf meinen gesamten Oberkörper, über die Schultern in die Arme. Zu spät merke ich, dass ich etwas Kaffee auf meinem Schreibtisch und auf meine Schuhe schütte. In der Hoffnung, dass es nur eine Halluzination gewesen ist, blicke wieder auf den Bildschirm und stupse mit meinem Zeigefinger dran. Das soll mir den spürbaren Beweis liefern, dass er tatsächlich dort ist, dass er nicht durchsichtig oder immateriell ist. Mein Finger hinterlässt für einen Moment diese lästigen Regenbogenabdrücke, die durch die Aktivierung der kleinen LCD-Kristalle entstehen. Ich atme tief und befriedigt durch. Alles folgt wieder einer gelernten Logik. Ich mache eine schnelle Aufnahme der Situation. Kaffee auf dem Tisch, Kaffee auf meinen Schuhen. Hose und Tastatur sind glücklicherweise nicht betroffen.

 

Offensichtlich hat niemand im Büro mitbekommen, wie ungeschickt ich mich gerade angestellt habe. In der Küche gibt es Papiertücher und einen Wischlappen. Ich blicke nochmal möglichst unauffällig um mich herum, um sicherzustellen, dass ich tatsächlich nicht beobachtet wurde. Als Führungskraft versucht man automatisch nicht peinlich aufzufallen. Kein Futter für Lästerei bieten. Die Kollegen scheinen alle unbeeindruckt ihren Aufgaben nachzugehen, also stehe ich langsam auf, und steuere Richtung Küche.

 

Der Weg von meinem Schreibtisch zur Küche führt an weiteren Büroräumen vorbei. Ich muss vier Türen passieren, die fünfte ist die Küche. Ein kleiner aufgeräumter Raum mit Spüle, Herd und einer Mikrowelle. In der Regel finden sich in den Schränken Geschirrtücher, Spülschwämme und eine Rolle Küchenpapier. Schon beim Gedanken an den Raum strömen mir vertraute Gerüche in die Nase. Kaffeepulver, verschiedenste Mischungen an Lebensmitteln, welche in der Mikrowelle aufgewärmt wurden und alles gepaart mit dem billigen Spüli und dem Reinigungszeug unter der Spüle.

 

Auf halber Strecke spüre ich einen dumpfen Schlag in meiner Magengegend. Wie die Druckwelle eines großen Basslautsprechers. Ich kneife meine Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, und bete, dass ich jetzt nicht als Krönung auch noch Durchfall bekomme. Der Gang scheint in konzentrischen Kreisen zu flackern. Das Flackern hält nur für den kurzen Augenblick, in welchem ich den Schlag spüre. Mit meiner rechten Hand stütze ich mich reflexartig an der Wand im Gang ab, und bleibe stehen. Ich sammle meine Gedanken. War das ein Schwächeanfall? Ich hatte noch nie wirklich einen, und kann das Erlebte für den Moment nicht einordnen. Ich kann nur mit Sicherheit sagen, dass es nicht aus Richtung Darm kommt.   

 

In der Küche angekommen fülle ich Leitungswasser in ein Glas aus dem Hängeschrank und trinke es gierig leer. Mit zittriger Hand stelle ich es in die Spüle zu den anderen benutzen Tassen und Gläsern der Kollegen. Der Geruch von kaltem Kaffee aus den dreckigen Tassen erreicht nun meine Nase. Ich habe das Glas so schnell geleert, dass mir Wasser aus den Mundwinkeln über das Kinn und den Hals in mein Hemd läuft. Aber das ist nebensächlich, denn ich bekomme schon wieder Kopfschmerzen. Heftige Kopfschmerzen. Der Druck hinter der Stirn nimmt so schlagartig zu, als ob jemand nur einen Schalter umlegen musste. Als Gegenmaßnahme versuche ich mir mit laienhafter Akupressur der Schläfen die aufkommende Übelkeit weg zu massieren. Jede Kreisbewegung meiner Finger aber reibt und reißt wie Sandpapier an der übersensiblen Haut. Ich betrachte ungläubig meine Fingerspitzen. Sie sind überzogen mit einer schwarzen, lehmartigen Substanz mit weißen Schlieren. Ich nehme noch die konzentrisch flackernden Kreise war, welche den zweiten dumpfen Schlag in meinem Magen begleiten. Dann blitzt es in meinem Schädel grell auf, als ob jemand Stroboskope in meine Ohren gesteckt und voll aufgedreht hätte. Mit dem dritten dumpfen Schlag des nicht vorhandenen Subwoofers wird in meinem Kopf der Generalschalter umgelegt. Schwarz.

 

4. Der Übergang

Wie eine Neonlampe, welche nur stotternd zur vollen Leuchtkraft findet, blitzt die Kaffeeküche um mich herum immer wieder auf. Der Schleier der Bewusstlosigkeit lässt mich alles verschwommen wahrnehmen, aber er scheint zu verfliegen. Die Hängeschränke und die Spüle zeichnen sich immer schärfer vor meinen Augen ab. Die gebogenen Griffe an den Schranktüren, die Scharniere, die Spüle mit den leicht verkalkten Rändern zwischen Wasserhahn und Spülbecken. Alles erhält Konturen und Gerüche. Auf der Arbeitsplatte und in der Spüle stehen schmutzige Kaffee- und Teetassen. Die eingetrockneten Reste steigen als prägnanter Geruch in meine Nase. Kalter Kaffee ist beinahe genauso eklig, wie kalter Rauch.

 

Irgendetwas ist anders, irgendwas stimmt nicht. Ich kann es jedoch nicht benennen. Ich befinde mich noch immer in der Kaffeeküche, meine Hände auf der Arbeitsplatte abgestützt. Als ich mich wieder aufrichte, und meine Arme hebe, ziehen diese Schlieren nach sich. Vor lauter Staunen steht mir der Mund weit offen. Ich spüre, wie meine Augen sich immer weiter öffnen, um scheinbar jedes Detail möglichst vollständig aufsaugen zu können. Mein Verstand arbeitet im überhöhten Drehzahlbereich. Jede Bewegung meiner Arme hinterlässt dauerhafte Zeichnungen ihrer eigenen Bewegungen. Ich weiß nicht, wie ich es anders beschreiben könnte, es wirkt, als wäre die Dreidimensionalität nicht mehr existent. Die entstehenden Schlieren zeichnen aber nicht die Bewegungslinie meiner Arme in einem dreidimensionalen Raum. Es scheint vielmehr wie ein billiger Spezialeffekt, so als ob ich in einem mich vollständig umgebenden Ölgemälde stehe, welches sich wie ein Tuch um mich schmiegt. Aber das Gemälde ist noch nass und mit jeder meiner Bewegungen verwische ich die noch nicht getrocknete Farbe. Vor meinen Augen mischen sich die ursprünglich scharf abgegrenzten Gegenstände und Farben zu einem tiefbraunen Brei. Ich bekomme Panik, und in dieser bewege ich mich immer unkontrollierter und eliminiere meine Welt mit jedem Strich meiner Arme, meines gesamten Körpers. Mein Kopf schreit förmlich: Hör endlich auf dich zu bewegen! Aber es ist bereits zu spät. Vor mir entsteht eine dunkelbraune fast schon schwarze Masse. Klebrig dehnt sie sich immer weiter aus, bis ich von einer greifbaren schwarzen Hülle ummantelt bin. Es fühlt sich warm an, samtig und weich. Es ist nichts mehr übrig von der Küche, von den Gängen, von meinem Büro. Ich habe alles mit meinen Händen verschmiert, und in ein alles Licht und Sichtbare aufsaugendes, schwarzes Loch verwandelt. Ich höre ein ruhiges und tiefes, rasselndes Atmen.

 

„Ich bin hier, um dich zu holen, Ben“.

 

Dann geht alles ganz schnell, der Schwindel, das Brummen und die dumpfen Schläge sind wieder da. Mein ganzer Körper vibriert und wird von der Schwärze aufgesogen, es fühlt sich an wie Fliegen. Meine Magengrube kribbelt, wie in einer Achterbahn, wenn der kleine Wagen den höchsten Punkt der Schienenkonstruktion überquert, und von dem eigenen Gewicht wieder in die Tiefe getrieben wird. Mein Verstand wird durch die absolute Orientierungslosigkeit und den noch nicht im Ansatz verarbeiteten Eindrücken auf seine bislang härteste Probe gestellt. Dann ist es von einem Moment auf den Anderen totenstill. Außer meinem Herzen bewegt sich scheinbar nichts mehr. Es schlägt so fest, dass ich es bis hoch in den Rachen spüre, und ich kämpfe gegen das tiefe Verlangen an, mich zu übergeben. Die Dunkelheit wird durch schwache, gedämpfte Blitze unterbrochen. Gelbe, wässrige Punkte werden immer heller und weißer. Ihr Radius erweitert sich. Außer dem Licht ist nichts zu sehen. Keine Silhouetten, keine Formen oder Umrisse. Mein Magen verkrampft sich erneut in einem Reflex, welcher in Angst und Unsicherheit seine Wurzel findet. Das Dunkel lichtet sich jetzt tatsächlich anhaltend durch die Blitze, und ich fange an, schemenhafte Linien und Umrisse aus dem Nichts wahrzunehmen. Das Licht ist mittlerweile so grell, dass ich unkontrolliert blinzeln muss. Irgendetwas bewegt sich hinter den lichtlosen Schatten. Dann erkenne ich die weiße rissige Scheibe von der Brust des Wesens, welches mich auf den Feldern überrascht hat. Es hallt in meinem Schädel.

 

„Willkommen, Ben“.

 

 

 

5. Wahre Werte

„Ich bin der Kollektor“, kratzt seine Stimme tief in meinem Kopf.

 

„Erhebe dich vom Boden. Es steht mir frei jedem Ankömmling einen Rat zu geben. Dir rate ich Folgendes: Alles, was du siehst und hörst, kann dich retten und dir helfen. Aber genauso kann es dich töten. Lege jede Naivität ab, denn die Absicht, dass es dich töten will, ist wahrscheinlicher. Ob du deinen wahren Wert beweisen kannst, hängt davon ab, ob du beides unterscheiden kannst. Du findest die ersten Antworten am Ende des Pfades. Erkenne die Regeln, und du hast eine Chance zu überleben. Du wirst mich nicht wiedersehen. Ich habe dich hierher gebracht. Das war meine Aufgabe. Sie ist hiermit erfüllt.“

 

Der schwarze Nebel verflüchtigt sich zusehends, und ich nehme meine Umwelt immer deutlicher wahr. Ich frage das Wesen:

„Warum bin ich hier? Wieso ich? Wo ist hier? Bitte, nur diese Antworten“, doch Mr. No-nose ignoriert mich. Statt einer Antwort beginnen die schwarzen Linien auf seinem Körper von innen heraus hell aufzuleuchten. Ein schönes, beindruckendes Türkis-Blau. Ich starre es gleichermaßen ungläubig und fasziniert an. Aus dem Licht drängen weitere Ratschläge in mein Gehirn.

 

„Lerne zu unterscheiden. Lerne zu verstehen“. Aus dem Leuchten seiner Linien schlagen feine Funken und der Kreis auf seiner Brust vibriert, bis daraus schlagartig ein greller Blitz mit ungeheurer Leuchtkraft schießt. Ich kann nicht sagen, ob er auf mich gerichtet ist, oder sich wie eine wachsende Blase um das Wesen aufbläht. Es ist so unfassbar grell, dass ich kaum meine Augen geöffnet halten kann. Die Augen zu schließen ist aber auch keine Option. Ich muss sehen, was vor mir passiert. Der Blick in das Licht schmerzt so sehr, als würde man unvorbereitet und aus kürzester Distanz in das Blitzlicht eines Fotoapparates starren. Funken und Kreise brennen sich auf meine Netzhaut, sie tanzen wild umher, wie kleine Leuchtstäbchen auf einem irren Rave. Das Licht wird unerträglich grell, sodass ich meine Augen auch bei größter Anstrengung nicht offen halten kann. In diesem Moment schwillt meine Angst über die Schmerzen, und verdrängt sie für einen kurzen Augenblick. Meine Atmung beschleunigt sich wie in Panik. Ich will meine Augen öffnen, aber jeder Versuch wird durch das intensive Licht zunichte gemacht. Die Funken und Kreise tanzen weiter wild auf dem Inneren meiner Augenlieder, wie auf einer Kinoleinwand. Ich rufe das Wesen und strecke meine Arme unkoordiniert nach Halt suchend aus. Als das Feuerwerk vor meinem inneren Auge nach einiger Zeit langsam wieder abflaut, reiße ich die Lieder schlagartig auf. Mir graut vor dem, was sich mir nun bieten wird, sobald sich meine Augen an die normalen Lichtverhältnisse gewöhnt haben.

 

Das Wesen ist weg. Ich sitze völlig allein und noch immer irritiert auf einem schmalen Pfad aus Erde und Kieselsteinen. Um mich herum erkenne ich vertrocknetes Gras und mir unbekannte Gewächse, welche mich jedoch an irgendeine Blumenart erinnern. Sie sind recht filigran und auf dem Stängel steht ein violetter Trichter. Und doch ist irgendetwas daran anders, als ich es in meiner vertrauten Umgebung erwarten würde. Die Blume schimmert, als wäre sie mir Perlmutt überzogen. Das ist es, das ist der Unterschied. Eine leichte Brise setzt die Halme und Sträucher in seichte Bewegungen, und ich muss mich aktiv dagegen wehren durch das wiegende Schimmern nicht in eine Art Hypnose zu fallen.      

„Lerne zu verstehen“, hat Mr No-nose gesagt, also sollte ich dies vielleicht einfach versuchen. Wie auch immer ich das anstellen soll. Ich muss davon ausgehen, dass es genug Möglichkeiten geben wird. Alles kann und will mich töten. Auch das hat er gesagt. Ich soll meine Naivität ablegen, hat das Wesen geraten. Diesen kruden Aufforderungen echte Aufmerksamkeit zu schenken ist vermutlich besser, als lethargisch auf dem Pfad sitzen zu bleiben und zu hoffen, dass ich alles mit Logik und Verstand in der Theorie lösen kann.

 

Vorsichtig stütze ich mich ab, und fühle feinen Kiesel und Erde unter meinen Händen. Darf ich das jetzt anfassen? Hilft mir das? Will mich der Kieselstein töten? Ich bin zwar ziemlich unsicher, aber bei d

iesen Gedanken muss ich unweigerlich lächeln, löse meine Hände aber auch instinktiv vom Boden, sodass eventuell giftige Oberflächen nicht direkt mit meiner Haut in Kontakt treten. Ich knie mich hin. Das scheint mir sicherer, da meine Hose zwischen meiner Haut und dem Boden trennt. Das Wesen hat nicht gesagt, dass ich mich beeilen muss, also bewerte ich meine Umgebung in Ruhe und hochkonzentriert.

 

Nichts von dem, was ich sehe schüchtert mich ein, oder fördert meine Hoffnung. Die Pflanzen sehen aus wie Pflanzen, die Steine wie Steine. Ich könnte theoretisch irgendwo auf der Erde sein, wo ich noch nie gewesen bin. Exotische Formen gibt es überall auf dem Erdball, und sie können jeden einschüchtern, der sie nicht schon kennengelernt hat. Gefahr scheint mir nach meiner Logik hier erstmal nicht zu drohen.

 

Ich stelle einen Fuß auf, blicke noch einmal prüfend um mich, und drücke mein Knie durch, um mich vollständig aufzurichten. Von hier oben ändert sich an meiner Einschätzung der Situation auch nichts. Ich habe früh gelernt Situationen zu analysieren. Wichtig ist im ersten Schritt die Momentaufnahme. Die Faktensammlung. Ich bin jetzt an einem fremden Ort und irgendwas versucht mich zu töten. Nein, der Indianer hat gesagt, es kann und will mich töten. Interpretiere ich hier zu viel rein? In jedem Fall gibt es Dinge zu unterscheiden. Gutes, Wohlwollendes und Böses, Hinterhältiges. Das Wesen hatte eine Art Auftrag. Den Auftrag mich zu holen, und hierher zu bringen. Mir geht die Frage nicht aus dem Kopf, warum ich. Werde ich bestraft? Werde ich geprüft? Gibt es weitere entführte Menschen? Gibt es überhaupt Menschen, dort wo ich mich gerade befinde? Wo befinde ich mich? Bin ich noch auf der Erde? Ich hoffe es einfach aus reinem Optimismus heraus. Meine belastbaren Informationen begrenzen sich auf ein absolutes, nicht hilfreiches Minimum. Ich werde meine Vermutungen und Fragen hier auf diesem Pfad allerdings nicht beantworten können, und schiebe den Gedanken erstmal beiseite. Nächste Frage. Was will mich töten? Antworten finde ich am Ende des Pfades, sagte das Ding. Welches Ende? Ein Pfad führt in der Regel von einem Punkt zu einem anderen, hat also zwei Endpunkte. Etwas, was ich in meiner beruflichen Position gelernt habe: Triff eine Entscheidung und triff sie zügig. Es ist wie mit der Ersten Hilfe. Nichts zu unternehmen, ist schlimmer, als das Falsche zu tun. Eine Entscheidung zu treffen, die falsch ist, ist trotzdem besser, als keine Entscheidung zu treffen. Eine Entscheidung führt zu einer Handlung, in dessen Ablauf weitere Entscheidungen getroffen werden müssen. Man hat also an vielen folgenden Punkten die Gelegenheit, eine vorher eventuell falsch getroffene Entscheidung wieder zu korrigieren.

 

Ich handele intuitiv und laufe in die Richtung, in die ich blicke, seit ich aufgestanden bin. In dieser Richtung bin ich aufgewacht, und gehe davon aus, dass dies nicht unwillkürlich so geschehen ist. Während ich mich also auf den Weg mache, versuche ich die Information über Regeln, Naivität, Handlungen und ihre Konsequenzen in einen Kontext zu bringen. Mein oberstes Ziel ist es nun also, diese Regeln zu erkennen und zu lernen. In dem Moment fällt mir mein Handy ein. Ich greife in die Tasche, fische es umständlich raus, und schalte es ein. Vergeblich versucht der Prozessor das GPS Signal für die Googlemaps App zu identifizieren. Für die Satelliten bin ich hier nicht zu orten. Nachdem ich ebenfalls vergeblich versucht habe, eine Telefonverbindung aufzubauen, schalte ich das Gerät aus und stecke es wieder ein. Ich werde es später erneut versuchen.

 

Neue Erkenntnis daraus ist, dass ich weder GPS, noch ein Telefonnetz habe. Ich bin also ziemlich tief im Nirgendwo. Eigentlich im Irgendwo, Nirgendwo ist im Grunde ein Paradoxon. Es gibt kein Nichts. Und selbst wenn, ich kann Dinge sehen, also kann ich nicht im Nichts sein, ergo nicht im Nirgendwo. Ich merke, wie ich, bedingt durch die ungewöhnliche Situation beginne, blödsinnige philosophische Diskussionen mit mir selbst zu bestreiten. Fakten: Eine an die moderne Zivilisation angeschlossene Stadt in der Nähe zu finden scheidet damit schmerzlicher Weise erstmal aus.

 

Der Pfad führt über eine leichte Anhöhe. Ich sehe den höchsten Punkt, und von meiner Position muss ich noch etwas nach oben schauen, um über die Kuppe blicken zu können. Ich kann nichts als weiten Himmel erkennen. Das, was dahinter liegt muss also entweder flach sein, oder hinter der Anhöhe geht es weiter runter. Mein Bauch versucht zwischen einer interessierten Spannung und Neugier, sowie dem Unwohlsein und Beklemmung zu sortieren. Was erwartet mich hinter der Kuppel? Finde ich dort die Regeln, oder einen Ausweg? Finde ich überhaupt irgendetwas? Es gibt Situationen, in welchen man sich in einer nicht zufriedenstellenden Situation wohler fühlt, als in Anbetracht der möglichen Optionen. Mir fällt das Beispiel der Karriereentwicklung ein. Viele Menschen sind mit ihrer aktuellen Arbeit im höchsten Maße unzufrieden. Entweder sind es die Aufgaben, die Vorgesetzten, die Perspektiven oder das allgemeine Arbeitsumfeld. Nicht jeder hat jedoch den Mut, sich aus seiner unglücklichen Situation selber zu befreien, durch einen Jobwechsel zum Beispiel . Zu groß ist das Risiko vom Regen in die Traufe zu geraten, oder in Bewerbungsgesprächen nicht so gut abzuschneiden, wie es der Betroffene sich erhofft. Das schürt Ängste, und viele Menschen können oder wollen sich diesen Ängsten nicht stellen. Sie bleiben also lieber in der ungeliebten, aber vertrauten Arbeitsumgebung. Nun stehe ich an diesem Scheideweg der Entscheidungen. Ich weiß, es gibt hinter mir nichts. Meine einzige Option ist nach Vorne. Nach Vorne macht aber Angst. Zwickmühle. Meine Gedanken halten mich aber nicht davon ab, meinen Weg weiter zu beschreiten. No Risk no Fun oder No Pain no Gain. Letzteres wäre angesichts meiner Kopfschmerzen und Anspannung wohl der passendere Slogan.

 

Noch bevor ich am höchsten Punkt angelangt bin, kann ich sehen, dass ein paar Meter dahinter ein enger Schacht in die Erde hinab führt. Wie ein überdimensionaler Fuchsbau. Der Pfad, den ich entlanggehe endet dort auch. Endstation. Hinter dem Schacht ist nur noch ein weites Meer aus dem vertrockneten grasartigen Zeug. Wenn ich ein wenig mehr Interesse an Pflanzen hätte, könnte ich das Zeug vielleicht sogar einordnen. Ist es ein Gras oder eher ein Baumgewächs? Ich habe mal ein Ananasfeld gesehen. Kurioserweise glauben die meisten Menschen, Ananas wächst an Bäumen. Das ist ein Irrglaube. Diese Früchte wachsen wie Salat auf dem Boden. Ein Ananasfeld ist ein faszinierender Anblick, da über weite Strecken nur die drahtigen Blätter zu sehen sind. Das kommt dem, was ich hier vor mir sehe tatsächlich noch am nächsten. Ich gehe am Schacht vorbei und betrachte die Blätter oder Grashalme aus der Nähe. Sie wirken ledrig und dick. Das spricht meines Wissens dafür, dass diese Pflanzen langen Trockenperioden und hohen Temperaturen standhalten müssen. Die ledrige Oberfläche verhindert das schnelle Austrocknen. Ich nähere mich den Blättern ein wenig mehr und konzentriere mich. Ich höre etwas. Ein Rasseln. Es klingt wie ungekochter Reis in einer PET Flasche die geschüttelt wird. Ich zucke zusammen und stehe mit einem Satz wieder aufrecht. An den Rändern der Blätter sind kleine Stacheln oder beinahe Zähne. Sie bewegen sich, und das Reiben aneinander erzeugt dieses Rasseln. Mit viel Fantasie klingt es wie ein wütendes Fauchen. Ich mache einen großen Schritt zurück, und versichere mich, dass ich wieder auf dem Pfad vor dem Schacht stehe und nicht mitten in die Blätter reintrete.

 

Der Schacht ist eher ein Loch, und führt in einem flachen Winkel direkt unter die Erde. Ein paar Meter kann ich in ihn hineinsehen, dann wird es so dunkel, dass von außen nicht zu erkennen ist, wie der Tunnel weiter verläuft und vor allem wie weit. Er wirkt nicht wie eine sandige instabile Höhle, sondern eher wie in den massiven, steinigen Boden getrieben. Ich halte kurz die Luft an, um selber keine Geräusche zu erzeugen und konzentriere mich auf das Loch. Ich habe keine Lust da gleich reinzukrabbeln, und mich von irgendetwas da drin überraschen zu lassen. Stille. Sie ist keine Sicherheit, aber im ersten Anlauf gibt es keine Aktivitäten da drin. Ich knie mich vor die Öffnung und taste vorsichtig den Rand ab. Er scheint wie vermutet massiv zu sein. Da der Pfad hier endet, muss ich hier wohl die erste Unterscheidung zwischen Naivität und Logik machen. Es wäre naiv, jetzt in den Schacht hineinzukriechen. Es gibt aber aus logischer Sicht keine andere Option, wenn ich weiter will. Verfluchter Indianer mit seinen dämlichen Hinweisen. Ich blicke mich um, und versichere mich, dass ich nichts auf der Oberfläche übersehen habe. Mir bleibt also nichts anderes übrig, als den Tunnel weiter zu erforschen. Das stimmt nicht. Ich könnte auch einfach wieder zurücklaufen, und sehen, wohin mich der Pfad in der anderen Richtung führt.

 

Ich wäge diese Option ab. Es spricht am Ende nicht viel dafür den Pfad wieder zurück zugehen. Ich habe überhaupt keine Idee, wo ich mich derzeit befinde, und ich glaube auch nicht daran, dass mich das andere Ende des Pfades in eine bessere Entscheidungssituation bringen wird. Wenn es überhaupt ein anderes Ende des Pfades gibt. Mein Bauchgefühl drängt mich förmlich dazu, hierzubleiben und mein Glück mit diesem Schacht zu versuchen. Ich lasse mich auf meine Knie ab, und taste mich ganz vorsichtig und langsam mit meiner vollen Armlänge in den Tunnel. Ich suche nach Griffen, Nischen, Türen oder allem was hilfreich oder gefährlich sein könnte. Am Eingang des Schachtes ist jedoch nichts Hilfreiches zu erspüren. Mein Kopf ist nun vollständig im Loch verschwunden und mich überkommt ein Gefühl der Beklemmung. Ich sehe nicht mehr, was sich hinter mir abspielt, und mir schießen direkt Bilder durch den Kopf, wie sich irgendetwas von hinten an mich heranschleicht. Ich muss tiefer hinein. Das Loch übt eine ungeheure Anziehungskraft auf mich aus. Es saugt mich förmlich immer weiter in die Dunkelheit. Noch fällt genug Tageslicht hinein, sodass ich die nächsten Meter noch gut erkennen kann. Mein Selbsterhaltungstrieb schreit, ich soll wieder aus dem Loch, mein Bauch fordert mich allerdings auf, weiter hinab zu steigen. Auf den nächsten Metern verändert sich nichts an den Wänden des Tunnels, und ich frage mich immer lauter, ob es tatsächlich eine gute Idee ist, weiterzugehen. Der Tunnel führt leicht bergab und ich versuche einzuschätzen, wie leicht und schnell ich im Notfall wieder rauskommen kann. Das Ergebnis dieser Abwägung ist wenig erfreulich. Ich müsste auf allen vieren rückwärts bergauf krabbeln. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, zu erkennen, dass das weder leicht noch schnell passieren wird. Ich schüttle diesen Gedanken beiseite, er ist im Moment nicht hilfreich. Meine Knie sind bereits wund vom Bergabkrabbeln und beginnen allmählich lästig zu schmerzen. Der Boden ist hart und nicht glatt. Feine Rillen ziehen sich wie eine Spirale durch den Stein.

 

Zu Beginn konnte ich sie noch sehen, jetzt spüre ich sie nur noch unter meinen Händen und auf den Kniescheiben. Es wirkt, als ob der Tunnel mit einer gewaltigen Bohrmaschine gegraben wurde. Mittlerweile befinde ich mich so tief drin, dass das Sehen immer schwerer fällt. Das Tageslicht wird nur noch an wenigen Unebenheiten der felsigen Wände reflektiert und die Dunkelheit hält immer mehr Einzug. Das wenige Restlicht taucht den Gang in ein fahles, gräuliches Braun. Da fällt mir wieder mein Telefon ein. Die meisten Telefone verfügen mittlerweile über ein Blitzlicht, welches als Taschenlampe verwendet werden kann. Da ich mich nur auf allen vieren bewege, gestaltet sich das Herausholen des Telefons aus der Tasche etwas schwierig durch die abgewinkelten Beine. Ungelenk biege und drehe ich meine Arme, um an die Tasche zu gelangen. Meine Ellenbogen schrammen am Fels, und ich spüre, wie sich die Haut unter meinen Ärmeln leicht aufreibt. Ich fluche leise vor mich hin. Diese verdammte Höhle ist so eng, dass ich mich jetzt sogar derart verkeile, dass ich mich für einen Moment überhaupt nicht mehr bewegen kann. Ich schreie meinen Frust laut in den Tunnel, und bin überrascht wie wohltuend befreiend diese Reaktion ist. Durch das Anspannen des gesamten Körpers gewinne ich plötzlich ein paar Millimeter an den Armen, und kann mich wieder befreien. Wieder zurück in die Krabbelposition. Wie komme ich an meine Tasche? Ich versuche mir bildlich vorzustellen, wie und in welcher Position ich mich im Tunnel befinde. Vor meinem inneren Auge gehe ich diverse Bewegungsabläufe durch, bis ich der Überzeugung bin, eine Möglichkeit ausgemacht zu haben.

 

Meine Einschätzung ist nicht ganz falsch, aber wieder verkeilen sich meine Arme an den Wänden und der Decke des Ganges. Am Ende siege ich jedoch über Winkel und Physik und schalte das Telefon ein. Zum Glück ist der Akku noch einigermaßen voll. Mit einem schnellen Griff in das Einstellungsmenü aktiviere ich die Lampe, und um mich herum zeichnen sich die Rillen und Linien im Tunnel ab. Sie werfen gespenstische Schatten und zucken mit jeder feinen Bewegung meiner Hand, in welcher ich das Telefon halte. Ich fahre die Rillen mit meinen Fingern ab. Der Stein ist kalt und von einer leichten Pulverschicht überzogen, welche ich mit den Fingerspitzen abreibe. Im Schein der Lampe glitzert der Staub ein wenig, und ich folge meinem spielerischen Impuls, den Staub von meinen Fingerkuppen zu pusten. Es entsteht ein leichter, schimmernder Schleier. Mit kindlicher Begeisterung beobachte ich, wie sich die funkelnden Partikel im Raum bewegen und langsam zu Boden sinken. Es kommt mir so vor, als ob ich bereits seit Stunden hier bin. Ich glaube aber nicht, dass es in Wirklichkeit nicht mehr als dreißig Minuten sein können. Ich reibe meine Fingerspitzen aneinander, um sie vollständig von dem Staub zu befreien, und staune nicht schlecht, als der Staub durch den Druck zu leuchten beginnt. Ein schönes, warmes Blau. Meine Fingerspitzen leuchten jetzt wie der Finger von ET. Ich muss spontan lachen und sage laut „ET nach Hause telefonieren“ in den dunklen Gang vor mir.

 

Diese Reaktion ist der Situation nicht ganz angemessen, zeigt mir aber auch, wie angespannt ich innerlich tatsächlich bin. Ich gebe Anspannung nicht gerne zu. Weder Fremden, noch mir selbst gegenüber. Dann holt mich meine Situation wieder ein. Wenn der Staub leuchtet, wenn ich ihn zwischen den Fingern reibe, müsste er auch leuchten, wenn ich ihn an der Wand reibe. Eine natürliche Lichtquelle würde mir Akkulaufzeit meines Handys sparen. Ich strecke meinen Finger aus, und drücke ihn fest in die Steinwand. Mit einer langen Bewegung zeichne ich eine gerade Linie in den Staub und verdeckte die Lampe meines Telefons. Nichts. Keine Reaktion im Staub an der Wand. Ungläubig ziehe ich eine zweite Linie. Diesmal mit mehr Druck. Wieder nichts. Ich führe meine Fingerspitze zurück vor mein Gesicht, und reibe die Fingerspitzen. Und da ist das Leuchten wieder. Mein Kopf beginnt zu arbeiten. Wieso funktioniert es an den Fingern, aber nicht an der Wand? Wo ist der Unterschied? Ich komme zu keiner zufriedenstellenden Antwort. Vielleicht liegt es an der Körperwärme und den kalten Wänden? Trägt meine Körperwärme in den Fingern zu der Reaktion bei? Klingt erstmal logisch. Klingt logisch genug, um es nicht weiter zu verfolgen. Ich kann derzeit keinen Nutzen daraus ziehen, und konzentriere mich wieder auf meinen Weg.

 

Je weiter ich in den Tunnel vordringe desto unruhiger werde ich, da ich keine Regeln finden kann, welche der Indianer am Ende des Weges in Aussicht gestellt hat. Mit einem Mal schießt mir ein Gedanke durch den Kopf. Ich verharre an der Stelle, und betrachte die Rillen nochmal genauer im Schein meiner Lampe. Ich glaube in meiner visuellen Erinnerung etwas erkannt zu haben. Ich kneife die Augen zusammen und hoffe ein Muster an der Wand ausmachen zu können. Vielleicht gibt es kein Muster zu entdecken, aber auf der anderen Seite könnten hier auch andere Hinweise versteckt sein. In meinem Kopf projizieren sich Wandmalereien aus der Steinzeit, und plötzlich keimt in mir ein Indianer Jones Gefühl auf. Irgendetwas muss hier sein. Ich will nicht glauben, dass ich in die falsche Richtung gegangen bin. Und wenn ich tatsächlich richtig bin, müssen die Regeln hier irgendwo sein. Das Wesen sagte klar und deutlich, am Ende des Pfades. Ich neige den Kopf erst zur einen, dann zur anderen Seite. Es fühlt sich zum Greifen nah an. Wenn ich hier richtig bin, muss ich bereits auf dem Weg hinter mir etwas übersehen haben. Ich muss mich umdrehen.

 

Leichter gesagt als getan. Bereits beim Herausfischen meines Telefons habe ich mich verkeilt und gemerkt, wie eng der Gang ist. Wie in Gottes Namen soll ich mich jetzt auch noch umdrehen? Gar nicht. Ich nehme mein Handy und schalte neben der Lampe die Kamerafunktion ein. Jetzt kann ich hinter mich sehen, ohne mich drehen zu müssen. „Ben, du bist ein schlaues Kerlchen“, murmle ich selbstaufmunternd leise. Ich drehe und kippe das Telefon in meiner Hand und versuche dabei immer das Display im Blick zu behalten. Dann erkenne ich es. Eine mathematische Gleichung. Es ist eine sehr einfache Darstellung, und überdimensional groß, weswegen sie mir wohl nicht gleich beim Betrachten der Wände aufgefallen ist. Durch die Krümmung des Gangs und der Größe der Darstellung kann ich davon kein Foto machen. Ich entscheide mich aber, die Gleichung möglichst originalgetreu in meine Notiz-App zu übertragen. Ich vermute, ich habe irgendeinen Hinweis gefunden. Hoffnung keimt leise und zart in mir auf, meine Stimmung steigt leicht. Ich habe damit sicherlich noch keine Lösung zu meinem Problem erhalten, aber ich habe etwas, mit dem ich arbeiten kann. Es ist so wichtig, den Kopf beschäftigt zu halten. Leerlauf in einer Krisensituation ist nicht hilfreich und tendenziell gefährlich. Und ich würde meine Situation definitiv als Krisensituation betrachten. Rückwärts kriechend arbeite ich mich Meter für Meter durch den Gang zurück und finde vier weitere kryptische Symbole. Ich verstehe sie nicht gleich, daher nehme ich alles in die Notizen auf, was ich erkennen kann. Der Tunnel ist mir unheimlich, ich möchte hier so schnell wie möglich wieder raus. Mit den Notizen kann ich später noch arbeiten, wenn ich mich sicherer fühle.

 

Die Röhre zieht sich noch ein Stück, und macht eine langgezogene Kurve. Der Weg fällt immer steiler ab, und an einem gewissen Punkt verliere ich durch die extreme Neigung des Weges die Haftung am Boden und fange an zu rutschen. Ich habe die Schrecksekunde damit verbracht instinktiv nach Halt zu suchen. Erfolglos. Ich bin der Schwerkraft ausgeliefert, und versuche mich so breit wie möglich zu machen. Mehr Fläche, mehr Reibung. Ich hoffe ich kann meinen Rutsch-Sturz dadurch etwas abbremsen. Vor mir erscheint ein heller Punk, ich meine das Ende des Tunnels zu erkennen, während ich immer mehr an Fahrt gewinne. Dann dringen Stimmen durch die Öffnung zu mir hoch. Ich spüre noch wie die Panik in mir aufsteigt, während ich unaufhaltsam auf das hell leuchtende Loch am Ende des Tunnels zurase.

6. Die Anderen

Der raue Tunnelboden aus blankem Stein scheuert schmerzhaft an meinem Rücken und Hintern, während ich mich dem Loch vor mir rasend schnell nähere. Je dichter das Licht auf mich zukommt, umso lauter werden die Stimmen. Ich glaube Warnrufe heraushören zu können. Wer oder was auch immer da unten ist weiß, dass ich komme. Sie bereiten sich auf mich vor.

 

Unbehagen ummantelt meine Angst, und ich ärgere mich, dass ich nicht mehr Zeit an der Oberfläche verbracht habe. Wäre ich doch in die andere Richtung gegangen und hätte nachgesehen, was sich dort befindet. Warum habe ich nicht vor dem Loch gewartet, ob vielleicht noch weitere Personen kommen? Schließlich war ich auf einem Pfad, da kann es doch sein, dass ich nicht der einzige bin, der sich darauf bewegt. Verdammt, jetzt ist es zu spät. Unbeeindruckt spuckt mich das Loch aus.

 

Noch im Sturz sehe ich Menschen in einer Höhle stehen und in meine Richtung starren. Der Aufprall auf hartem Steinboden presst mir jegliche Luft aus den Lungen und flutet meinen Körper mit Adrenalin. Atme, Ben. Du musst Luft holen. Mein Kopf weiß, was richtig ist, aber mein Körper ist derart verkrampft, dass mein Brustkorb sich keinen Zentimeter bewegt. Mein Zwerchfell kann dem einschlägigen Befehl, sich zusammenzuziehen schlichtweg nicht folgen. Atmen, Ben.

 

Ich reiße meine Augen auf und schlage meine Arme schützend vor mein Gesicht. Ich hoffe dadurch meinem Körper das entsprechende Signal zu geben, seine Grundfunktionen ebenfalls wieder aufzunehmen. Strahlenförmig überschwemmt ein rollender Schmerz meinen gesamten Oberkörper, aber er löst zumindest die Verkrampfung ab. Mit einem unmenschlichen Geräusch sauge ich pfeifend die Luft tief in meine Lungen. Einmal. Zweimal. Ich beruhige mich langsam wieder und mein Notfallprogramm springt ein. Wo bin ich? Wer oder was ist noch hier?

 

Die Stimmen, die ich im Tunnel bereits gehört hatte, sind allesamt verstummt. Ich komme mir in meiner verkrampften, schutzlosen Rückenlage etwas blöd vor. Wie ein Käfer, der sich ungelenk und nur mühsam aus seiner unnatürlichen Position heraus retten kann. Langsam löst sich meine verkrampfte Haltung, und ich blinzle zwischen meinen schützend vor mich gehaltenen Armen hindurch in die Höhle. Mein Herz schlägt fest in meiner Brust und ich spüre, wie das Blut mit hohem Druck durch meine Adern gepresst wird.

Stress.

Angst.

 

In der Höhle stehen andere Menschen. Sie stehen dicht nebeneinander, mit ihren Rücken fest an die Höhlenwand gedrückt. Ihre Blicke sind angespannt. Ich lese dort dieselbe Angst, wie sie in mir gerade erneut befeuert wird. Einige sitzen auf dem Boden und halten ihre Arme fest um ihre angewinkelten Beine geschlungen, die Köpfe schutzsuchend zwischen die Knie gepresst. In allen Gesichtern kann ich die Gefühle sehen, die mir gerade selber Adrenalin durch den Blutkreislauf jagen. Angst. Spannung. Unsicherheit, aber auch Neugier. Die Männer vermitteln Bereitschaft zum Kampf, oder zumindest zur Verteidigung.

 

Was ist nun die richtige Reaktion? Ich könnte einfach aufspringen und losrennen. Wohin? Keine Ahnung. Ich bin in einer Höhle, hier gibt es keine lernbaren Regeln, wo ein Ausgang zu finden ist. Ich könnte mich auf einen Kampf einlassen. Warum aber sollte ich kämpfen? Was wäre mein Gewinn? Außerdem sind sie ganz klar in der Überzahl. Wie viele sehe ich? Zehn? Zwölf? Die Menschen an der Wand greifen mich nicht aktiv an. Es scheint auch nicht, dass dies gleich passieren würde.

 

Wir taxieren uns alle gegenseitig stumm mit eindringlichen Blicken. Hustend und noch pfeifend atmend setze ich mich aufrecht hin. Ich stütze mich vorsichtig auf meine Knie und sauge vor Schmerz scharf die Luft ein. Meinen Schmerz versuche ich mir nicht zu sehr anmerken zu lassen. Das Knacken meiner Kniegelenke durchbricht die Stille im Raum, während ich mich langsam weiter aufrichte und dann vollständig stehe. Den Männern ist anzusehen, dass ihr Instinkt gerade innerhalb einer Millisekunde abwägt, ob ich mich für einen Angriff bereit mache oder nicht. Meine schiefe Körperhaltung und das wenig erfolgreiche Verstecken meiner Schmerzen, machen diese Entscheidung sehr einfach.

 

Da auch von ihnen augenscheinlich keine aktive Gefahr ausgeht, kann ich innerlich kurz durchatmen. Ich achte darauf, einen gesunden Abstand zu der Gruppe Fremder beizubehalten. Während ich mich langsam aufrecht und gestreckt hinstelle, senke ich meine Arme, als Signal der Friedfertigkeit. Alles andere signalisiert, dass ich mich bereithalte, schnell zu reagieren. Diese Haltung lässt mich allerdings nackt und hilflos fühlen. Ich spüre, dass ich einen Tunnelblick, wie in Situationen höchster Anspannung habe. Mein direktes Sichtfeld ist links und rechts eingeschränkt, dafür sind die Elemente im primären Blickfeld umso klarer. Meine Umgebung habe ich völlig ausgeblendet. Ich weiß zwar, dass ich anscheinend in einer Höhle bin, aber das ist nebensächlich.

 

Interaktion kann nur mit den Menschen an der Wand erfolgen. Mehr sehe ich im Moment auch nicht. Ich sehe nicht einmal bewusst die gesamte Gruppe, sondern nur Teilausschnitte. Gerade genug, um die Gesamtsituation durchweg einschätzen zu können, aber so eingeschränkt, dass ich mich nur auf einzelne Personen konzentrieren kann.

 

Mein Blick fliegt erst schnell von links nach rechts über die Gruppe, dann wieder zurück. Ich sehe junge Menschen, überwiegend Männer, und alle mit angespannten Gesichtszügen. Dazwischen vereinzelt auch weibliche Züge. Sie blicken eher beängstigt drein. Ich atme heftig und merke, dass ich noch immer nicht vollständig aus meiner Kampfhaltung heraus bin, und korrigiere meine Haltung erneut. Arme runter Ben, Oberkörper lockern. Zeig ihnen, dass du keine Gefahr darstellst.

 

Ich drehe meinen Kopf leicht zur Seite, weil ich mein weiteres Umfeld sehen möchte. Links von mir, ungefähr auf Augenhöhe, ist der Ausgang des Tunnels, durch den ich vor wenigen Augenblicken gefallen bin. Der Gedanke an den Sturz ruft mein geschundenes Steißbein zurück in Erinnerung und ich schneide kurz eine unglückliche Grimasse. Rechts von mir bläht sich die Höhle in einen großen Raum auf. Die Decke steigt auf gute zwanzig Meter Höhe an, während der Raum sich auf mindestens fünfzig Meter verbreitet. Am Ende des Gewölbes steht etwas Glänzendes. Ich kann es von hier nicht erkennen, dafür ist es zu weit weg. Wie tief geht die Höhle rein? Sind das hundert Meter? Ich bin so schlecht im Schätzen. Also lege ich dieses Ding da hinten in der Höhle erstmal in die Zwischenablage.

 

Was sich hinter mir befindet, kann ich nur erahnen. Ich traue mich nicht, mich vollständig umzudrehen. Es scheint aber, als ob ich mich nicht weit von einer weiteren, begrenzenden Wand befinde. Was, wenn dort auch noch Personen stehen? Ich muss mich also umdrehen. Ein schneller Blick über beide Schultern bestätigt allerdings mein erstes Gefühl. Eine weitere Wand vervollständigt die 360 Grad Höhlenmauern.

 

Ich mache langsame, vorsichtige Schritte rückwärts auf die Wand hinter mir zu. Erst als ich sie in meinem Rücken spüre, kann ich mich ein weiter wenig entspannen. Ich atme zweimal tief ein, und vor allem aus. Ausatmen ist so unglaublich wichtig, wenn man unter Stress steht. Die Gefahr zu hyperventilieren und ein zu hohes Pensum an Sauerstoff zu erreichen steigt dadurch exponentiell. Die Folge wäre Ohnmacht, und das kann ich jetzt als letztes brauchen.

 

Dann richte meine Aufmerksamkeit wieder der Gruppe zu. Mein Blick flackert unentschlossen von einem Gesicht zum anderen. Ich möchte etwas sagen, aber wie beginnt man in dieser Situation ein Gespräch? Die wenigen Gesichter, welche ich bereits etwas genauer wahrnehmen konnte, sehen noch verängstigter aus, als ich mich im tiefsten Inneren gerade fühle. So schwer sollte es also nicht werden, das Eis zu brechen.

 

  „Hi“, bringe ich mit einem sehr skeptischen Unterton hervor, bei welchem das „ei“ am Ende sehr hoch ausgesprochen wird, und somit mehr wie eine Frage klingt. „Könnt ihr mich verstehen, sprecht ihr meine Sprache?“. Eine lange Pause entsteht. Die Gruppe tauscht untereinander Blicke aus. Keiner sagt ein Wort. Das Eis bleibt damit vorerst ungebrochen. Wenn sich herausstellt, dass wir keine gemeinsame sprachliche Basis haben, dann wird das hier ein echtes Problem. Das ist entmutigend. Mein erster Eindruck ist, dass diese Menschen hier auch aus demselben Grund stehen, wie ich. Es ist entmutigend, weil sie mich so auf Distanz halten.

 

Am besten nutze ich diesen Moment, um mir mehr Fakten zu verschaffen. Mir hat es immer sehr geholfen, mich mit Tatsachen auseinanderzusetzen, wenn ich nervös oder unsicher bin. Im Moment, fühle ich mich sehr einsam und habe Angst. Ich balle meine Hände zu Fäusten, und spüre, wie sich meine nasskalten Fingerspitzen in meine Handinnenflächen rollen. Bleib cool Ben und schau auf die Fakten.

 

Ich zähle neun Personen, zehn mit mir. Sie sind unterschiedlichen Alters. Es scheint keinen konkreten Anführer zu geben, sonst hätte ich jetzt nicht die Zeit, die Situation zu analysieren. Ein definierter Anführer hätte bereits das Heft in die Hand genommen. Ich befinde mich also in einer Höhle. Ein großer, ovaler Raum aus nacktem Stein, ohne Nischen oder Vorsprünge. Auf den ersten Blick kann ich auch keinen Ausgang sehen. Vielleicht gibt es außer dem Eingang keinen anderen Weg nach Draußen. Warum sonst sollten die anderen noch hier sein?

 

Die Wände sind trocken, das ist ein gutes Zeichen, denn das bedeutet, dass wir hier nicht durch kalte, feuchte Luft zu schnell auskühlen. Neben hyperventilieren eine der nächsten Gefahren. Nasse Kälte. Sie entzieht einem langsam und unnachgiebig die Körperwärme und schwächte damit den gesamten Kreislauf und nicht zuletzt die Motivation.

 

Nach wenigen Augenblicken konzentrieren sich die Blicke der meisten aus der Gruppe auf eine einzige Person. Einen jungen Mann, blond, groß, vielleicht 186cm, trainierte Figur und sportliche Kleidung. Fester Blick. Er wirkt von allen am wenigsten ängstlich oder unsicher. Die Macht der Gruppe, denke ich still für mich. Sie hat ihm die Autorität und Macht erteilt, in ihrem Sinne zu handeln. Eine wichtige Erkenntnis. Kennst du die Regeln in einer Gruppe nicht, kann dich das einen hohen Preis kosten. Er ist also der Anker der Gruppe.

 

Der junge Mann versucht seine selbstbewusste Haltung zu bewahren, doch die feinen Schweißperlen auf seiner Stirn und die zu Fäusten geballten Hände verraten seine wirkliche Verfassung. Ganz so gelassen, wie er wirken möchte ist er nicht. Er fühlt sich beinahe wie ein Spiegel meines inneren Selbst an. Es sind die Feinheiten in der Körperhaltung und Körpersprache. Sie verraten über eine Person mehr, als alles, was sie vielleicht sagen wird. Diese Person vor mir ist angespannt und vermutlich nicht minder überfordert und eingeschüchtert von der Situation, wie ich es bin. Super Ausgangslage. Wir haben hier tatsächlich eine Gemeinsamkeit.

 

   „Adrian“ brachte er mit einer um Fassung kämpfenden Stimme hervor. „Ich heiße Adrian. Wir verstehen dich. Wo kommst du her?“ Mein ganzer Körper kribbelt vor Aufregung. Der erste Kontakt, ein unendlich spannender Moment, welcher mich erneut vor Adrenalin überschäumen lässt.

   „Hallo Adrian, hallo alle anderen“, füge ich mit Blick in die Gruppe hinzu. „Ich bin Benjamin. Ben, bitte. Ihr habt keine Vorstellung, wie erleichtert ich bin, dass ihr mich versteht“. Ich hebe meine rechte Hand und winke einmal begrüßend in die Runde. Ein bestätigendes Gemurmel und vereinzeltes Nicken drängt zögerlich aus der Ansammlung von Menschen, die sich noch immer schutzsuchend an die Wand presst. Aber sie reagieren auf mich. Das ist ein gutes Zeichen.

   „Habt ihr eine Ahnung wo wir hier sind? Warum wir hier sind?“ Das Adrenalin in mir drängt darauf, aktiv zu bleiben. Am liebsten würde ich augenblicklich die Höhle gründlich untersuchen, aber ich unterdrücke meinen Tatendrang noch. Auch wenn es Überwindung kostet, aber ich sollte versuchen, ein Teil dieser Gruppe zu werden. Zumindest, solange ich die Gruppe brauche. Scheiße, ich bin ein Macher, aber das hat mir im Job nicht selten Probleme bereitet. Ich möchte am liebsten immer sofort loslegen. Dabei vergesse ich meine Teams allerdings nicht selten und gehe ihnen damit nicht professionell voraus, sondern renne ihnen davon. Davon profitiert am Ende keiner. Mein Ego vielleicht, weil ich es wieder fast ganz alleine geschafft habe, ein Projekt zu lenken und durchzusteuern. Ist das erstrebenswert? Eigentlich nicht.

 

Seit mir das bewusst geworden ist, versuche ich bewusst, meine Teams aktiver in alle Schritte und Entscheidungen einzubinden. In meiner aktuellen Situation bedeutet das aber auch, erst einmal ein Team aufzubauen. Lieber Ben, setz dich hin und werde erstmal Teil dieser Gemeinschaft hier.

 

Adrian reißt mich aus meinen Gedanken. „Lasst uns alle hinsetzen. Ben, ich glaube, es gibt vieles zu besprechen. Jeder hat andere Informationen hierher mitgebracht. Wir sollten uns austauschen, was meinst du?“

 

Ich zögere noch, aber während die gesamte Gruppe nach und nach auf dem Boden Platz nimmt, gebe ich mir einen Ruck und setze mich auch. Die Gruppe formt einen Halbkreis um mich herum. In der Luft liegt deutlich spürbar ein hoher Grad an Nervosität. Keiner traut dem anderen wirklich, keiner scheint sich in der jetzigen Situation richtig wohl zu fühlen. Ich vermute, die Gruppe ist noch nicht besonders lange in dieser Konstellation hier in der Höhle. Alle sind sich noch etwas fremd.

 

„Wie lange seid ihr schon hier?“ platz die erste Frage schon aus mir heraus. Noch bevor ich eine Antwort erhalte, schiebe ich die nächste Frage direkt hinterher. „Kannten sich einige von Euch schon, bevor ihr hier aufeinander getroffen seid? Habt ihr auch alle diese freakigen Indianer getroffen?“

 

Adrian bremst meinen Fragenschwall dankbarerweise direkt ab. Sie alle sind nach demselben Schema hierhergekommen, und waren sich alle vorher nie begegnet. Es gibt bislang keine nachvollziehbaren Verbindungen untereinander. Während Adrian sein eigenes Schicksal zusammenfasst spüre ich, wie die anderen,  und auch ich mich, langsam entspannen, und ich von der Gruppe adoptiert werde. Es haften nicht mehr sämtliche Blicke durchgehend an mir, immer bereit auf eine überraschende Bewegung von mir zu reagieren. Manche Augen sind sogar geschlossen, während sie Adrians Worten lauschen. Nur noch vereinzelt liegt ein Blick über einen längeren Zeitraum auf mir.

 

In den meisten Situationen hilft einem die eigene Intuition, einzuschätzen, wie sehr man unter Beobachtung steht, oder welchen Grad an Akzeptanz man gerade erfährt. Ich stehe hier gefühlt genau in der Mitte. Für mich ist das ein klares Signal, dass ich zumindest unter Vorbehalt in der Gruppe aufgenommen wurde. Wie es scheint, sind die anderen bis auf Adrian mehr oder weniger direkt vor dem Loch im Boden aufgewacht.

 

Adrian und ich sind die einzigen, die sich für eine Richtung entscheiden mussten. Spielt das eine Rolle für unsere Situation? Adrian ist tatsächlich an das andere Ende des Weges gelaufen. „Wieso bist du nicht intuitiv in die Richtung gelaufen, in welche du aufgestanden bist?“, frage ich ihn, ohne lange nachzudenken, ob diese Frage notwendig oder clever ist. „Ich habe der Situation nicht vertraut. Warum sollte ich meinem ersten Impuls folgen? Ist es nicht genau diese Handlungsweise, welche einen schnell und unvorhergesehen in Gefahr bringt? Oder anders ausgedrückt, sind Fallen nicht genau auf diese Art von Reaktion ausgerichtet?“

 

Im ersten Moment ist dieser Ansatz gar nicht so schlecht, im Gegenteil sogar. Eigentlich ist diese Überlegung sogar ziemlich clever. Etwas übervorsichtig und latent paranoid zwar, aber nachvollziehbar und menschlich. Allerdings öffnet Adrian mir damit auch einen Spalt die Tür zu seiner Grundhaltung; skeptisch, immer einen Verrat suchend, misstrauisch. Wenn er und ich miteinander klar kommen sollen, werden wir an seiner Vertrauensbasis arbeiten müssen. „Wie bist du hierher gekommen?“ reißt mich Adrians markante Stimme aus meinen Gedanken.

 

„Erzähle uns möglichst genau, was du erlebt und an Informationen mitgenommen hast“. Ich fasse also meine Geschichte so kompakt wie möglich, aber ebenso ausführlich wie meines Erachtens nötig zusammen. Die Reaktionen der anderen lassen mich vermuten, dass ich innerhalb meiner Erfahrungen keine nennenswerten, neuen Informationen zu der Situation beitragen kann. Während ich erzähle, dass ich mir den Tunnel mit der Lampe meines Smartphones ausgeleuchtet habe, geht ein selbstkritisches Murren durch die Gruppe, jenes Geräusch, welches einem unwillkürlich rausrutscht, wenn man gerade bemerkt, dass eine Handlung oder Entscheidung definitiv einfacher oder besser hätte getroffen werden können. Da die Symbole ohne die Lampe an mir vorbeigegangen wären, gehe ich während meiner Erzählung hier besonders intensiv darauf ein.

 

„Symbole?“, Adrians Reaktion ist erneut sehr vielsagend. Auch in den Rest der Gruppe fährt jetzt wieder mehr Leben. „Was für Symbole?“

Neugierig und zugleich verängstig blicken mich neun fremde Gesichter an. Sie müssen mir die Frage nicht offen stellen, ich weiß, dass sie mehr über die Symbole hören wollen.

„Es gibt da nur ein Problem“, erkläre ich schon beinahe etwas beschämt. „Ich kann die Symbole nicht deuten. Sie wirken wie ein Code, es sind halt Symbole und mir ist nicht klar, wofür sie stehen. Sie sind kryptisch, sie ergeben keinen Sinn für mich. Die Darstellungen folgen auch keinem einheitlichen Muster, welches für eine Interpretation zu Grunde gelegt werden könnte.“

 

Damit hat wohl keiner gerechnet. Ausdruckslos blicken sich meine neuen Gefährten gegenseitig an. Es überrascht mich nicht, dass ausgerechnet Adrian der Erste ist, der wieder zu Worten findet. „Kannst du dich an die einzelnen Darstellungen noch erinnern? Kannst du sie in den Sand zeichnen?“

 

In diesem Moment keimt ganz zart das Gefühl von ein wenig Überlegenheit bei mir auf. Ich lächle verschwörerisch und ziehe mein Smartphone aus der Tasche. Gerade als ich die Notiz-App öffnen will, hören wir Geräusche aus dem Tunnel.

 

Reflexartig stellen wir zehn Menschen uns mit dem Rücken an die Wand und starren gebannt auf das Loch in der Decke. Ich bin nun einer von ihnen. So schnell kann es gehen. Mit diesem Gedanken teile ich auch die Angst und Aufregung, welche sich hier nun ausbreitet. Dann sind im Loch in der Wand Schatten zu erkennen und die Höhle verstummt.

7. Zwölf

Durch das Loch in der Decke rutschen unter angsterfülltem Geschrei, zwei Mädchen. Dem äußeren Anschein nach noch Teenager. Sie sehen sich im ersten Moment so ähnlich, dass ich vermute, dass es Schwestern sind.

 

Nach einem ähnlichen Begrüßungsablauf wie bei mir, fasse ich laut zusammen: „Damit sind wir nun zu zwölft.“ In die Gruppe gerichtet versuche ich die Leitung an mich zu reißen: „Ihr habt Euch sicherlich alle schon weitestgehend erzählt, wie ihr hier hergekommen seid. Da nun, neben mir, weitere Neuankömmlinge eingetroffen sind, würde ich mich freuen, wenn wir uns nochmal alle auf den neuesten Stand bringen. Ist das OK für Euch?“ Adrian unterbricht mich, und betont, dass die Symbole, die ich gefunden habe, im Moment wichtiger seien, als die Hintergründe der Gruppe.

 

Ich bin nicht ganz einverstanden, denn es ist sicherlich hilfreich zu wissen, ob wir hier Mediziner oder Überlebensexperten, wie Pfadfinder oder waschechte Outdoor-Fanatiker unter uns haben. Ich bin immer gerne möglichst gut vorbereitet. Das Wissen darüber, mit wem ich in einer Situation stecke, kann von immensem Vorteil sein.

 

Da die Gruppe derzeit geschlossen hinter Adrian steht, und ihn als Anführer akzeptiert, halte ich es für taktisch klug, ihm zum jetzigen Zeitpunkt einfach Recht zu geben. Ich kann ein resigniertes Schnauben nicht unterdrücken und schalte mein Smartphone widerwillig ein. Während es hoch lädt, schlucke ich meinen Frust runter und setze meinen Vorschlag einfach durch eigene Taten um. In Situationen wie diesen gibt es für mich nur eine Richtung: Nach vorne. Das ist nicht immer unbedingt von Vorteil, aber diese Haltung sitzt tief in mir verankert. Schon fast wie ein Reflex bricht dieses Verhalten an die Oberfläche, sobald ich mich in die zweite Reihe versetzt fühle. Ich weiß es eigentlich besser, aber es ist einfach wie nach dem Genuss von viel zu viel Sauerkraut. Der Druck muss raus; so schnell wie möglich, so effizient wie möglich. Sprichwörtlich kann man sagen, dass das vielen dann auch tatsächlich stinkt, wenn ich meinen Kopf durchsetze.

 

In diesem Fall bedeutet das, dass ich ungefragt einfach beginne, meine Geschichte zu erzählen. Meine Absicht besteht darin, dass sich andere als Reaktion darauf selber äußern. Passive

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: C.G.Illegen
Bildmaterialien: Covergestaltung © Farbenmelodie unter der Verwendung von Bilder und Grafiken von © pixabay.de
Tag der Veröffentlichung: 25.02.2016
ISBN: 978-3-7396-3946-8

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
"Als ich mich selbst zu lieben begann… habe ich verstanden, dass ich immer und bei jeder Gelegenheit, zur richtigen Zeit am richtigen Ort bin und dass alles, was geschieht, richtig ist – von da an konnte ich ruhig sein." Charlie Chaplin Für Alexandra, Johanna und Leonard - die richtigen Personen am richtigen Ort - meine Familie.

Nächste Seite
Seite 1 /