Kapitel 1 Lucian
Wie konnte jemand zur gleichen Zeit so liebesbedürftig und abweisend sein? Lucian schnaufte ein Lachen und stemmte die Hände in die Seiten. Kopfschüttelnd betrachtete er Gracia, die rote Perserkatze, bei ihrem allabendlichen Spiel.
Sie näherte sich, grüßte ihn mit erhobenem Schwanz und strich wie zufällig an seinem Bein vorbei. Kaum beugte er sich zu ihr, wich sie zurück, nur um die Prozedur erneut zu beginnen. Und so begann der nächste aufregender Samstagabend in seinem neuen Leben.
Auch dieses Wochenende würde er im obersten Stockwerk der Tierarztpraxis seines Arbeitgebers einläuten – in der Katzenpension Unter dem Dach. Der Name war ebenso passend wie einfallslos. Seinem neuen Chef lagen die tierischen Patienten und vor allem die Katzen mehr am Herz als originelle Namen für seine Katzenpension.
Vorbei an Kratzbäumen und bedacht, nicht auf herumliegendes Spielzeug zu treten, durchquerte Lucian den Raum. Gracia folgte ihm auf leisen Pfoten. Immer wenn er sich nach ihr umdrehte, hob sie den hübschen Kopf, tat so, als wäre sie nur zufällig einen Schritt von ihm entfernt.
Er setzte sich auf die gepolsterte Bank vor dem Panoramafenster, das die gesamte Breite des Raums abdeckte. Die halbrunde Form passte sich unauffällig in die Wand ein und warf genug Licht für die sonnenhungrigen Bewohner in den Raum. Eddy lag zusammengerollt am anderen Ende der Fensterbank, ließ die Sonne auf sein rabenschwarzes Fell scheinen. Kurz öffnete er ein Auge, beschloss wohl, dass Lucian keine Bewegung wert war und schlief weiter. Gracia hüpfte nach oben, setzte sich in die Mitte der Bank und starrte ebenfalls nach draußen.
Erschöpft lehnte Lucian sich gegen die Wand, sah über die Baumkronen hinweg zum Nachbarhaus. Die alte Villa nebenan wirkte verwinkelt und mysteriös, er konnte in den parkähnlichen Garten blicken. Aus einer längst vergangenen Zeit drang Lachen an sein Ohr. Bilder stiegen ihn ihm auf, vermischten sich mit der Realität des Gartens weit unter ihm. Fast konnte er die beiden Jungs sehen, die dort einst Bogenschießen geübt hatten.
***
Einer groß und schlaksig, der andere klein und zierlich. Der große Junge zielte mit Ruhe und Besonnenheit, traf die Mitte der Scheibe und grinste breit. Der Kleinere hampelte herum, trat unruhig von einem Bein aufs andere und plauderte unentwegt. Sein Mundwerk stand nicht einmal still, als er die Sehne spannte. Dann schoss er. Sein Pfeil landete nicht nur im Schwarzen, er traf so auf, dass er den ersten Pfeil fast aus der Scheibe trieb. Jetzt riss der kleinere Junge seinen Bogen in die Luft und vollführte einen Siegestanz, warf seinen Freund dabei um. Lachend kugelten sie sich durch das Gras.
***
Das Lachen verklang, zurück blieb nur das leise Schnurren von Gracia, die sich bis zu Lucians Bein vorgewagt hatte. Lucian streckte die Hand aus, kraulte über das seidenweiche Fell. Ein bedauerndes Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Wenn er den Jungen schon nicht mehr lachen hören konnte, dann musste er ihn doch wenigstens nie mehr wütend und enttäuscht erleben. Ein alter Schmerz stach in sein Herz, zu vertraut, um sich zu wundern.
Stimmen drangen durch das Treppenhaus. Schritte waren zu hören und plötzlich streckte Malik den Kopf durch die Tür.
„Hey Luc“, rief er. „Bist du so lieb und säuberst die Kistchen noch mal?“
Lucian nickte. Ja, er konnte die Katzenkistchen auch noch ein drittes Mal am heutigen Tag säubern. Immerhin war das Teil seines Jobs. Malik trug eine schicke Anzughose, ein enges, weißes Hemd und eine Tonne Gel in seinem dunklen Haar.
„Ein Date?“, fragte Lucian und deutete mit dem Kinn in Maliks Richtung. „Marie?“, ergänzte er und hoffte, dass die schöne Frau immer noch Maliks Herzensdame war. „Ja“, antwortete der mit einem verliebten Seufzen. „Es ist unser drittes Date. Es könnte etwas länger dauern.“
Lucian lächelte und nickte. „Hat sie dich schon verhext?“ Marie betrieb eine Praxis für Liebesmagie aller Art in Hollerbusch. Dass sie eine echte Voodoo-Priesterin war und eine begabte Hexe, musste Malik nicht wissen.
Der winkte ab und berührte sein Haar. Unter der Gellast bewegten sich die sonst so wilden Wellen keinen Zentimeter mehr.
„Mit diesem Humbug verdient sie eben ihr Geld. Und die Hollerbuscher fahren voll darauf ab. Aber sie selbst hat das ja wohl nicht nötig.“ Er grinste erwischt und zuckte mit einer Schulter. „Immerhin wirst du den Abend ebenfalls mit wunderbaren Geschöpfen verbringen. Bis morgen.“ Schon stürmte er die Treppe hinunter.
„Wo er recht hat“, murmelte Lucian und strich über Gracias flauschiges Ohr.
Er wollte aufstehen und zur Schaufel greifen, da klang erneut Lärm von unten.
Maliks Lachen hallte laut durch das Treppenhaus. „Den Patienten findet ihr unter dem Dach“, rief er fröhlich.
Kurz darauf fiel die Haustür ins Schloss und es klopfte. Skeptisch blickte Lucian zur Tür. Ein Patient? Wollte jemand nach der Öffnungszeit noch seine Katze abholen?
„Komm rein“, rief er, stand auf und bereute die Einladung im nächsten Augenblick.
Vor ihm tauchten seine Nachbarn auf. Nun, ein Teil der Bewohner der Hel-Villa, deren Garten er jeden Tag von oben bewundern konnte. Lucian sah zur Decke, stöhnte leise. Ein Grinsen konnte er dennoch nicht unterdrücken.
In der Tür standen: Jules Hel, für die Hollerbuscher nur der ebenso schöne wie charmante Betreiber eines Esoterikladens. Aber für einige der begabtesten Heiler überhaupt, eine von vielen Fähigkeiten, die er besaß. Freundlich lächelnd befand sich neben ihm: Pippin, Jules’ Partner in sämtlichen Lagen und die Liebe seines Lebens. Ein Sprachwissenschaftler mit dem Aussehen eines hübschen Oberstufenschülers.
Jules trug einen grünen Arztoverall und darüber einen entsprechenden Kittel in Weiß. Um seinen Hals baumelte ein Stethoskop, dessen Ende er in die Brusttasche des Kittels gesteckt hatte. Das Bild wurde nur von den perlenverzierten Zöpfen in seinem halblangen Haar gebrochen. Und vielleicht von den vielen Ringen und Armbändern.
Pip hingegen war in modische Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit dem Schriftzug einer Metalband gekleidet. Darüber trug er allerdings einen roten Kittel, der entfernt an die Arbeitskleidung einer Arzthelferin erinnerte.
„Ihr habt euch nicht angekündigt“, bemerkte Lucian mit einer hochgezogenen Augenbraue. „Und plant gefälligst andere Menschen nicht ungefragt in eure Rollenspiele ein.“
Jules straffte den Oberkörper. Da er mit über einem Meter neunzig ebenso groß wie Lucian war, konnten sie sich in die Augen sehen.
„Notiz für die Akte: Der Patient ist nicht kooperativ“, sagte er mit einer Ernsthaftigkeit, die Lucian seufzen ließ. Trug Pip etwa ein Klemmbrett unter dem Arm? Heute trieben es die beiden wirklich zu weit.
Pip hob das Brett, auf dem kein Blatt befestigt war. „Herr von Eibenthal?“, fragte er überflüssigerweise. „Bitte nehmen Sie doch schon mal Platz im Behandlungszimmer eins. Der Doktor ist gleich bei Ihnen.“
Er deutete auf einen der beiden Schwingsessel, die am Fenster standen. Auf beiden konnte man Fellknäuel entdecken, die zu diversen Katzen gehörten.
Lucian blinzelte und überlegte. Er brauchte Jules’ Hilfe, sonst würde er sich nicht einmal in Hollerbusch befinden. Mehrmals in der Woche kümmerte sich der Heiler um ihn, versorgte ihn mit Tinkturen, ohne die er den Tag verschlafen würde.
Aber sonst kündigte der Heiler seine Besuche immer an, ließ zumindest Pip eine Textnachricht schreiben. Er könnte die beiden immer noch wegschicken und seinen ruhigen Abend genießen. Wie es aussah, hatten sie ohnehin eine Idee, wie sie diesen Aufzug nutzen wollten. Oder er spielte mit und hörte auf, sich über Jules’ sonderbare Einfälle zu wundern. Nach sechs Wochen in Hollerbusch war die Zeit dazu wohl gekommen.
Unter einem Schnaufen nickte er kurz, lief zu einem der Sessel und hob den dicken Willi und seine Schwester Maja vorsichtig hoch, platzierte sie auf dem Boden. Die beiden Tigerkatzen streckten sich ausgiebig, bevor sie ihn mit einem strafenden Blick bedachten und sich auf eine der Matratzen verzogen.
Lucian ließ sich in den angewärmten Stuhl fallen. Jules und Pip kamen plaudernd zu ihm, setzten sich auf die Fensterbank. Jules nahm das Stethoskop aus der Brusttasche, beugte sich vor und platzierte es dort, wo er wohl Lucians Herz vermutete.
„Eine gute Nachricht“, murmelte er beschäftigt. „Sie leben.“ Er drehte den Kopf ein Stück in Pips Richtung. „Für die Akte: Herz schlägt. Eine Geisteraustreibung ist noch nicht notwendig.“
Mit einer sanften Bewegung schob Lucian die fremde Hand fort. „Genug jetzt“, sagte er in der Stimme des Hauptmanns, der er bis vor drei Monaten gewesen war. „Ist euch da drüben in der Villa langweilig?“
„Ein bisschen schon“, gestand Pip und seine Wangen färbten sich rot. „Felix und Arik sind in Norwegen und sie haben Onyx mitgenommen.“ Er sprach von den beiden anderen Bewohnern der Hel-Villa und deren Pitbull. „Und Jay …“ Pip hielt inne, schüttelte den Kopf.
„Schon gut. Sein Name darf in diesem Haus erwähnt werden.“ Lucians Oberschenkel zuckte unwillkürlich. „Er soll nur nicht erfahren, dass ich hier bin. Das ist alles.“
Jules lehnte sich zurück, schlug die Beine elegant übereinander. „Warum auch immer. Es ist ja nicht so, dass diese Information etwas ändern würde, nicht wahr?“, sagte er mit einem Mal ernst. „Eure Wege haben sich vor langer Zeit getrennt.“
„Genau deshalb muss er es nicht wissen“, erklärte Lucian angespannt. Was sollte sein ehemals bester Freund auch tun? Ihm das Köpfchen tätscheln? Nach zehn Jahren? Mit ihm Bogenschießen üben und lachend durchs Gras rollen? Zu viel war seither geschehen, zu viel Distanz lag zwischen ihnen.
Jay war so etwas wie Jules’ Adoptivsohn, auch wenn er derzeit den Haushälter in der Hel-Villa spielte. Jules ließ ihn ohnehin tun, was immer er wollte, und nur deshalb hielten sie es schon lange Zeit miteinander aus.
„Notiere“, sagte Jules unvermittelt zu Pip. „Buch diesem Patienten einen Besuch bei Madame Marie. Er wird schwermütig.“
„Liebling“, mahnte Pip und legte seinem Freund eine Hand aufs Bein. „Nicht.“
Lucian sah zur Seite, nickte Pip dankbar zu. Jules kannte nicht einmal die halbe Geschichte und nahm ohnehin nichts ernst. Pip schien zu ahnen, dass Jay ein Thema war, das Lucian zusätzliche Magenschmerzen verursachte, die er gerade jetzt nicht gebrauchen konnte.
„Wie auch immer“, erklärte Jules lapidar. Mit einer lässigen Handbewegung wischte er den Gedanken fort, der im Raum hing. „Wie ist das werte Befinden?“
„Bevor oder nachdem ihr mich in diesem Aufzug überfallen habt?“, fragte Lucian ungehalten. „Es geht so“, gab er schließlich zu. „Heute bin ich dreimal eingeschlafen. Einmal bin ich mit dem Kopf auf einem Katzensofa aufgewacht und wusste nicht, wie ich auf den Boden gekommen bin.“
Jules nickte nachdenklich, griff in die Tasche seines Kittels und reichte Lucian einen kleinen Flacon mit einer durchsichtigen Flüssigkeit. „Erhöhe die Dosis auf viermal am Tag zehn Tropfen in einem Getränk.“
„Danke.“ Lucian ließ das Fläschchen in seine Hosentasche gleiten.
Jetzt hob Jules eine Hand, legte sie mittig auf Lucians Brust und schloss die Augen. Einen Moment später richtete er sich auf, zog die Hand zurück. Ein besorgtes Zucken lief über seine Lippen.
„Der Abfluss deiner Lebensenergie ist nur verlangsamt, nicht gestoppt“, bemerkte er abwesend. „Die Zeit wird knapp und ich komme kaum weiter. Wenn ich nur den Grund für diesen Zustand sehen würde.“ Unvermittelt schenkte er Lucian einen mitfühlenden Blick. „Pip ist ein Seher in der Ausbildung. Aber er kann mit dir durch die Zeit vor den ersten Symptomen gehen. Und er ist in der Lage, diese Bilder an mich zu übertragen. Vielleicht finden wir dort eine Antwort.“
Ohne Zögern schüttelte Lucian den Kopf. „Nicht nötig. Wir haben das schon oft besprochen. Du weißt, was passiert ist.“
Jules schob sich weiter auf die Fensterbank, wippte nachdenklich mit dem Fuß. „Lass es uns noch einmal durchgehen.“ Es klang mehr nach einem Befehl als einer Bitte.
Lucian seufzte leise, atmete durch und lehnte sich gegen den flexiblen Rücken des Sessels.
„Es begann vor drei Monaten mit einer bleiernen Müdigkeit.“ Wie oft hatte er Jules das jetzt schon erzählt? „Zuerst konnte ich es gerade noch auf die Toilette schaffen und dort ein Schläfchen halten. Dann bin ich am Schreibtisch eingeschlafen. Und irgendwann bei einem Routineeinsatz im Auto. Einer meiner Leute hat mich gefunden. Gemeldet habe ich es selbst.“ Er schluckte. Diese langen Reden strengten ihn an, wieder kroch die Müdigkeit in ihm nach oben, ließ seine Glieder schwer werden. „Ich war bei vier Ärzten, sie haben nichts Organisches gefunden. Zwei von ihnen waren Neurologen und haben ein Burn-out diagnostiziert. Mein Vorgesetzter hat mich freigestellt. Kurz darauf hat Onkel Lior mich zu dir geschickt. Und hier bin ich.“
Jules ließ seine Finger über die gepolsterte Unterlage spielen. „Ja, hier bist du. Geh weiter zurück. Sechs Monate, bevor die Symptome begannen.“
„Jules, du weißt, was passiert ist.“ Lucian suchte Jules’ Blick, aber der starrte in den Raum.
„Früher hast du mich noch Meister Hel genannt. Ich mochte das.“ Er lächelte schmal. „Also, was war vor ungefähr einem Jahr? Erzähl es noch einmal. Wir übersehen etwas.“
Erschöpft strich Lucian über die wenigen Stoppeln, die sich auf seiner Wange gebildet hatten. An manchen Tagen war er zu erschöpft, um sich zu rasieren.
„Vor einem Jahr habe ich ein Sondereinsatzkommando geleitet. Wir haben eine kriminelle Rockervereinigung beschattet, die mit Schwarzmagie in Kontakt gekommen war.“
„Magica. Alberner Name, dumme Menschen“, brummte Jules und hob auffordernd das Kinn.
„Ja. Magica. Raubmord, Menschenhandel, Vergewaltigung, Drogenhandel, die Gruppe schreckte vor nichts zurück. Wir konnten einen V-Mann einschleusen.“
„Boxer, so hießt doch der reizende Anführer, ja?“, fragte Jules interessiert. „Ein normaler Mensch. Aber er hatte einen nekromantischen Dolch in seinen Besitz gebracht. Damit konnte er die Energie anderer Menschen auf sich übertragen und wurde für einige Zeit quasi unbesiegbar. Egal, wie schwer seine Verletzungen auch waren, es floss immer wieder Energie nach.“
Lucian nickte, wollte nicht an diese Zeit denken. „Sie haben unseren V-Mann enttarnt und drohten ihn zu töten. Ich habe mich gegen ihn austauschen lassen.“
„Wie nobel“, sagte Jules mit einer gewissen Anerkennung in der Stimme.
Alle Muskeln in Lucians Körper spannten sich an. Er konnte über diese Zeit erzählen, solange er seine Gefühle ausschaltete. „Es war das Richtige und ich habe es getan“, sagte er kühl. „Unser Mann besaß keine magischen Kräfte. Er sollte nicht auffallen. Boxer hielt uns für normale Polizisten, wollte herausfinden, wie nah wir ihm auf den Fersen waren. Der V-Mann hätte die Folter nicht überlebt.“ Lucian zuckte, hatte seine Muskeln eine Sekunde später wieder unter Kontrolle. Nun, der Albtraum suchte ihn ohnehin jede Nacht heim, es machte keinen Unterschied, ob er wieder und wieder diese Tage durchging.
„Aber als Gardist bist du trainiert. Kannst dich mental abschirmen.“ Jules sah ihn mit starrem Gesicht an. „Und du bist dir ganz sicher, dass Boxer den Dolch nicht bei der Folter genutzt hat?“
„Absolut sicher. Immer noch. Boxer hatte Angst vor mir, das konnte ich spüren. Er dachte, dass ich ihm sein Spielzeug abnehmen könnte. Die Folter hat er sehr …“ Lucian schluckte. „… kreativ gestaltet. Aber den Dolch hat er bewusst von mir ferngehalten.“
Jules nickte. „Das ergibt Sinn. Ich habe solche Waffen selbst in meiner Sammlung. Sie alle hinterlassen Signaturen und bei dir konnte ich keine feststellen. Aus dir scheint die Energie einfach so herauszulaufen.“ Er atmete tief ein und aus, wirkte für einen Moment nicht mehr wie der Elfenprinz, der über allem stand. „Wäre ich nur Arzt, hätte ich dir auch ein Burn-out diagnostiziert. Zusammen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung. Aber ich kann spüren, wie deine Lebensenergie schwindet. Wenn wir es nicht aufhalten können, bist du bald tot.“ Pip gab ein bedauerndes Geräusch von sich. Jules sah ihn an. „Lucian kann die Wahrheit vertragen, nicht wahr?“
Unwillkürlich begann Lucian, im Schwingsessel zu wippen. In dieses Kaff zu reisen, sich von Jules behandeln zu lassen, wie viel Kraft ihn das gekostet hatte. Doch inzwischen mochte er dessen direkte Art, konnte gelegentlich hinter die aufgesetzte Arroganz sehen.
„Ja“, antwortete er schlicht. „Ich habe schon schmerzhaftere Wahrheiten gehört.“
„Nun, das war nicht gerade aufschlussreich“, betonte Jules, stand auf und strich seinen Arztkittel glatt. Er zog die Augenbrauen zusammen und blickte Lucian düster an. „Überleg dir, ob du mit Pip arbeiten willst. Wenn du im Koma liegst, lasse ich ihn ohnehin in deinen Kopf schauen.“
Ein eisiger Schauer rann über Lucians Rückgrat. „Was soll dabei herauskommen? Ich habe nichts verschwiegen.“
„Hast du noch Albträume?“, fragte Jules und starrte immer noch.
„Ständig.“
„Gut. Solange du noch träumst, bist du nicht tot.“ Würdevoll schritt er an zehn Katzenkistchen vorbei zur Tür.
Im Aufstehen beugte Pip sich vor. „Wir können es auch allein tun“, flüsterte er in Lucians Ohr.
Lucian konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. „Danke für das Angebot, ich werde es mir überlegen“, sagte er halblaut.
Pip bewegte sich zu Jules, stieg auf die Zehenspitzen und küsste seinen Freund auf den Mund. „Ich weiß, dass du es gehört hast. Der Patient braucht ein wenig mehr Privatsphäre und vielleicht etwas weniger Jules Hel.“
„Was ist mit dir?“ Jules nahm den Kopf zurück und sah seinen Liebsten prüfend an.
„Ich brauche heute noch etwas mehr, Meister Hel.“ Pip grinste breit und die beiden verschwanden durch die Tür.
Lucian sah ihnen nach. Kein Neid kam in ihm auf. Was diese beiden einander bedeuteten, konnte er nur erahnen. Aber der unbeschwerte Umgang öffnete den Weg für eine alte Sehnsucht in ihm.
Schulterzuckend stand er auf, setzte sich so auf das Fensterbrett, dass er von dem Vorhang verdeckt wurde. Dennoch konnte er hinüber zur Hel-Villa schauen, auf den besten Teil des Abends warten.
Ein schräges Dachfenster wurde geöffnet, jemand streckte zuerst den Kopf daraus hervor. Mit katzenhafter Eleganz kletterte ein junger Mann hinaus aufs Dach, setzte sich so, dass seine Füße eine Metallabsperrung berührten. Sie sollte wohl das Herunterfallen von Ziegeln verhindern.
In seiner Hand hielt er eine Flasche, gefüllt mit einer dunklen Flüssigkeit. Sicher eine klebrige Zuckerlimonade. Für eine Weile saß er nur da, das fahle Licht des Mondes hüllte ihn ein, gab ihm etwas Unwirkliches.
Er war kaum einen Meter siebzig groß und zierlich. Und er trug eine schwarze Jeans mit einem breiten Gürtel und ein weißes T-Shirt. Keine Schuhe oder Strümpfe. Seine Zehen ließ er über die Metallabsperrung spielen. Der Wind strich durch das glatte dunkle Haar. Lucian konnte seine Gesichtszüge nur erahnen.
Aber er musste sie nicht sehen. Er kannte sie besser als seine eigenen. Fein geschnitten, hohe Wangenknochen, ein perfekt geschwungener Mund, der selten geschlossen war, so viel hatte sein Besitzer zu erzählen. Die vollen Lippen konnten ein hinreißendes Lächeln formen, das Lucians Herz erwärmte. Jay, heute ein erwachsener Mann und doch immer noch der quirlige Junge von damals.
Lautlos öffnete Lucian eine der Fensterscheiben und lauschte. Da begann Jay zu singen. Mühelos formten Lucians Lippen die Worte stumm, so oft hatte er die traurige Ballade schon gehört.
Jeannie, die von ihren Eltern mit einem reichen Lord verheiratet werden soll, aber in Annachie Gorden verliebt ist. Nach einer Zwangsheirat soll sie ins Bett des Lords gezwungen werden und stirbt vor Trauer um ihren Geliebten. Als Annachie endlich von See zurückkommt, findet er sie tot in ihrer Kammer und auch sein Herz bricht, sein Leben endet.
Jay setzte die Flasche an, trank einen großen Schluck und sang weiter. Und Lucian segelte auf der Melodie weit fort, löste sich von seinen Sorgen und schloss die Augen. Die Müdigkeit schob sich bleiern durch seine Glieder.
Ein heftiges Wummern an der Tür weckte ihn. Lucian riss die Augen auf, sah sich um. Wie lange hatte er dieses Mal geschlafen? Im Schutz der Nacht waren die Katzen erwacht und balgten sich um Bälle und falsche Mäuse. Die Katzenparty stoppte beim nächsten Hämmern an der Tür. Einige sahen verstört in die Richtung des Geräuschs, andere verzogen sich in Tunnel und Höhlen. Lucian bewegte den Rücken, warf einen kurzen Blick aus dem Fenster.
Jay saß nicht mehr auf dem Dach, sein Gesang war längst verklungen. Da klopfte es wieder heftig an die Tür. Lucian schnaufte ungehalten, stand auf und trottete zum Eingang der Katzenpension. Sicher wollte Malik ihm in epischer Breite von seinem Date erzählen. Lucian bemühte sich um einen freundlichen Gesichtsausdruck und öffnete.
Zielsicher landete ein Fuß mittig auf seiner Brust. Mit einem „Uff“ taumelte er zurück, ballte die Hände zur Faust, um sich zu verteidigen. Aber wo blieb der Schmerz? Verwirrt tastete er über die getroffene Stelle und verstand. Das war ein abgestoppter Trainingstritt gewesen.
„Zu langsam!“ Jay lehnte im Türrahmen, sah ihn mit zornigem Blick an. Daumen und Zeigefinger formten eine Pistole, die er auf Lucian richtete. „Du bist immer noch zu langsam.“
Texte: Alice Camden
Korrektorat: Bernd Frielingsdorf
Tag der Veröffentlichung: 27.05.2021
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