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Kapitel 1 XXL Ausschnitt

Ich lächele erwartungsvoll und streiche über die Kartonverpackung, bis meine Finger die Lasche umfassen. Mit einer schnellen Bewegung öffne ich das Paket und grinse breiter. Mitten in der verschlafensten aller Kleinstädte halte ich die Eintrittskarte zu einem spannenden Abenteuer in der Hand: den neuen Roman aus der Trollhunter-Welt.
Mit einem wohligen Seufzen lasse ich mich tiefer in die Polster der Couch sinken und rieche an dem Buch. Der Geruch von Druckerschwärze und neuem Papier steigt in meine Nase und verspricht einen unterhaltsamen Nachmittag, womöglich eine spannende Nacht. Und die kann ich verdammt gut gebrauchen. In den letzten sechs Monaten toben durch mein Leben nicht die Abenteuer, die ein Fünfundzwanzigjähriger erleben sollte. Nur mit Captain Xander teile ich mein Bett regelmäßig. Neben mir gibt Onyx, mein schwarzer Pitbull, ein Grunzen von sich und presst seinen Kopf fester gegen mein Bein.
„Sorry“, murmele ich, während ich ihn hinter dem Ohr kraule und er noch lauter grunzt. „Mein kleines Hundeschweinchen, wie konnte ich vergessen, dass ich mein Bett jede Nacht mit dir teile.“

Mein Hund ist noch verschlafener als diese Stadt. Gerade liegt er auf dem Rücken, sein Maul steht offen, die Zunge hängt heraus und er hechelt selig. Ich rolle mit den Augen, streichele ihm den samtigen Bauch und schlage das Buch auf. Onyx läuft dabei etwas Sabber über die Lefzen.
Kaum fünf Minuten später sind Xander und ich im Trollgebiet unterwegs und eine dieser schrecklichen Kreaturen schwingt die Keule, droht uns mit einem einzigen Schlag zu zerquetschen. Der Captain hebt den Flammenwerfer, tänzelt um den wütenden Troll herum und ich verstecke mich hinter den Buchseiten. Ein Knall ertönt, dann noch einer. Ich schrecke zusammen, blicke prüfend über den Buchrand.

War ich zu tief in der Geschichte abgetaucht? Kam das Geräusch etwa aus meiner langweiligen Welt? Da! Jemand wummert so heftig gegen die Tür meiner Werkstatt, dass die Holzwände vibrieren. Das mag daran liegen, dass meine Werkstatt eigentlich das Gartenhaus meiner Mutter ist. Ich nutze es nur deshalb, weil sie seit Monaten sämtliche Freunde und Bekannte mit Handy- oder Computerproblemen zu mir schleppt. Da bot sich das Gartenhaus an. Es ist klein genug, um im Winter mit einem Heizstrahler gewärmt zu werden, und gibt mir die Illusion einer Aufgabe. Erneut klopft jemand so laut an die Tür, dass sogar Onyx den Kopf hebt. Er grunzt fröhlich in die Richtung des Geräuschs und schließt gleich darauf die Augen.
Ameisen krabbeln über meinen Rücken, wandern in meinen Magen und weiter in mein Hirn. Sie wollen mir von einer Gefahr vor der Tür erzählen.
„Nicht hier“, flüstere ich angespannt in den Raum. „Nicht in Hollerbusch.“ Mein gefährlicher Schutzhund liegt immer noch neben mir, streckt die Beine in die Höhe und beginnt laut zu schnarchen.
Ich schnaufe, schiebe meine Hände unter Onyx’ Rücken und rolle ihn sanft von der Couch. Er gleitet auf den Boden und bleibt einfach liegen.
„Onyx!“, sage ich mit der Schärfe eines Hundebesitzers, der zusammen mit seinem Pitbull Fantasyserien schaut und ihn dabei mit Leckerchen füttert. „Steh schon auf. Es ist dein verdammter Job, mich vor bösen Eindringlingen zu beschützen.“
Mein Beschützer mit dem starken Gebiss blinzelt mich müde an. Unterdessen bebt die Tür erneut. Beiläufig fällt mein Blick auf die Uhr, die auf dem Schreibtisch steht. Halb zwei am Mittag. Wahrscheinlich hat meine Mutter wieder einmal einen Auftrag für mich an Land gezogen.
Die letzten Umrisse von Trollstein lösen sich in meinem Kopf auf. Natürlich. Frau Rose hat heute Morgen ihre Strickzeitschrift im Laden meiner Mutter gekauft und erzählt, dass ihr Handy schon wieder kaputt sei. Die alte Dame vergisst regelmäßig ihr Kennwort, aber ich habe es notiert und werde so drei Mal in der Woche zu ihrem Helden. Aber wo nimmt die Zweiundachtzigjährige mit ihren ein Meter fünfzig nur die Kraft für dieses Wummern her? Na, ich sollte rasch öffnen. Heute Nacht hat es geschneit und Oma Rose wirkt wenig winterfest.
Entschlossen schiebe ich Onyx an, bis er aufsteht und mich ansieht, als würde er auf eine höfliche Einladung zum Beschützen warten. Schließlich trottet er los, ich hinke hinterher. Mit dem Ellbogen schiebe ich den Metallriegel der Tür zur Seite und öffne.
„Hallo Frau Rose, schön …“, beginne ich und starre verdutzt auf ein kakifarbenes Shirt, das sich dort befindet, wo ich den Kopf unserer Nachbarin vermutet hatte.

Das Shirt mündet in eine schwarze Funktionshose, die in gleichfarbigen Wanderstiefeln steckt. Ich erkenne eine sportliche Winterjacke, die offen steht. Langsam hebe ich den Kopf und muss ihn in den Nacken legen, um dem Klopfer in die Augen sehen zu können. Onyx imitiert die Bewegung und so starren wir beide hinauf zu dem Eindringling. Wir sind uns sicher: Er ist nicht Frau Rose. Aber vielleicht hat er sie gerade verspeist? Vorsichtshalber sehe ich um ihn herum. Außer seinen enormen Fußspuren im Schnee ist nichts zu sehen.
Ich trete einen Schritt zurück, straffe die Schultern und trete vorsichtshalber hinter Onxy zurück. Er fiept den Fremden erfreut an. Ein Riese mit einem auffällig gut aussehenden Gesicht? Den habe ich hier noch nie gesehen.
Der Kerl muss fast zwei Meter groß sein und wirkt, als würde er im Fitnessstudio ein und aus gehen. Oder täglich Holz hacken. Das dunkelbraune Haar ist kurz und modisch geschnitten und der Dreitagebart wirkt gepflegt. Und verdammt sexy. Das will mein Hirn mir jedenfalls in diesem Augenblick mitteilen. Der Rucksack auf seinem breiten Rücken wirkt winzig. Er blinzelt mich aus tiefblauen Augen an.
„Felix?“, fragt er vorsichtig und mit einer tiefen Stimme, die zu einem schönen Riesen passt. „Bin ich richtig? Ich komme wegen der Waschbecken“, erklärt er mit einem leichten Akzent, der wohl in den Norden Europas gehört.
Ich grinse doof und hebe die Schultern. „Es gibt kein fließendes Wasser im Gartenhaus“, erläutere ich dem beeindruckendsten aller Installateure. Aber du darfst bei mir gerne mal ein Rohr verlegen, will ich flöten, kann mich aber in letzter Sekunde von dieser Plattitüde abhalten. So dringend ist es dann doch nicht, dass ich in die unterste Mottenkiste greifen muss. Nun ja, eigentlich schon. Aber das muss der Kerl ja nicht wissen.
„Es geht nur um die Waschbecken, nicht um Wasser“, gibt Mister Grandios jetzt von sich und lächelt.
Ich löse mich auf und schmelze vor ihm im Schnee zu einem Häufchen zusammen. Da blitzt ein Gedanke in meinem Kopf auf. Mit einem Mal erinnere ich mich an die vielen Stunden vor dem Computerspiel aus der Trollhunter-Welt. Wenn ich nicht in einem Roman abtauche, verbringe ich meine Abende zusammen mit der lässigsten Gruppe Leute, die man im Netz finden kann. Und mit was ziehen sie mich auf: Damit, dass ich wie ein Teenager für Captain Xander schwärme. Ich mustere den umwerfenden Mann noch einmal. Unter einem breiten Grinsen setze ich Onyx auf den Boden, trete einen Schritt zurück und stemme die Hände in die Seiten.
„Willst du es hier draußen machen oder drin?“, frage ich gut gelaunt. Da ich jetzt weiß, was dieser Auftritt bedeutet, werde ich ihn genießen.
„Eigentlich arbeite ich immer draußen“, gibt der Riese mit dem hinreißenden Akzent zu und deutet in den Garten.
Schnell winke ich ihn herein. „Löblich“, bemerke ich anerkennend. „Es ist ja eine Art Sport, schätze ich. Und noch dazu im Schnee.“
„Es kann schon sportlich sein“, bekräftigt er und tritt zögerlich einen Schritt näher.
Ich nicke verständnisvoll, schließe die Tür hinter ihm und durchquere den kleinen Raum. Immer noch grinsend schwinge ich mich auf meinen Schreibtischstuhl, während Onyx die Stiefel unseres Gastes beschnuppert.
„Wenn du gleich deine Schuhe ausziehst, stell sie besser auf einen Stuhl. Onyx hat sich seinen Ruf als Schuhfetischist hart erarbeitet und schreckt auch vor Diebstahl nicht zurück“, erkläre ich und öffne das Videochatprogramm.
Drei meiner besten Freunde sind online. Und es sind die richtigen drei, da bin ich mir fast sicher. Nacheinander rufe ich sie an und schon erscheinen ihre Gesichter in Kästchen auf meinem Bildschirm. Alle drei sehen mich verdächtig unschuldig an.
„Überraschung gelungen“, rufe ich und beginne zu klatschen. „Und wirklich rührend, dass ihr euch um meine Bedürfnisse kümmert. Okay, jetzt ist es offiziell: Ich bin der notgeilste aller Captain-Xander-Fans.“
„Ja und?“, fragt Mira, rückt ihre Brille zurecht und zuckt mit den Schultern. „Erzähl uns etwas Neues.“ Wenn sie nicht ihre Nächte in der Welt von THW verbringt, studiert sie Medizin. Seit ihrem letzten Praktikum hat sie viele erfrischende Geschichten aus der Pathologie auf Lager.
„Deine Bedürfnisse kennen wir alle“, bemerkt Jonah und zieht die Augenbrauen nach oben. „Groß, muskulös und mit Haaren im Gesicht. Damit kann niemand von uns dienen.“ Er grinst schief und wirkt wieder wie der Schelm, der er ist. Sein Haar scheint unzähmbar, aber ich bin mir sicher, dass er Stunden für den Look braucht. Ich habe selbst nicht in der Größenlotterie gewonnen, aber Jonah geht mir nur bis zur Schulter.
„Komm auf den Punkt, Mann“, mault Elisa, die Journalistin, die lieber vor THW hängt, als Artikel zu schreiben. „Ich habe ’ne Deadline“, brummt sie.
Ich schüttele den Kopf. Die drei haben sich tatsächlich abgesprochen. „Ich möchte euch an eurem Geschenk teilhaben lassen“, verkünde ich. „Seht ihn euch an: Er ist wirklich jeden Euro wert.“
Ich drehe das Laptop so, dass der Bildschirm samt Kamera zu meinem Gast zeigen. Der hat sich inzwischen mit meinem Schutzhund angefreundet. Onyx liegt schon wieder auf dem Rücken, grunzt genüsslich und lässt einen völlig Fremden sein Bäuchlein kraulen.
Eilig stehe ich auf und nehme auf der Couch Platz. So kann ich mein Geschenk und den Bildschirm sehen. Mira pfeift anerkennend, Elisa steht der Mund offen und Jonah starrt mit großen Augen.
„Wir sind so weit“, behaupte ich und nicke meinem Gast freundlich zu. „Es kann losgehen.“
Der nordische Riese bleibt in der Hocke, seine Hand ruht auf Onyx’ Bauch. Verständnislos blickt er mich an.
„Na, die Waschbecken“, füge ich mit einem Schmunzeln an. „Wolltest du die nicht reparieren? Aber dazu trägst du noch zu viel Kleidung.“
„Reparieren?“ Mister Giant kommt langsam in den Stand und ich muss wieder den Kopf in den Nacken legen.
Ich winke ab. Der Mann ist eindeutig ein Profi und braucht keine Andeutungen. „Lass die Musik und mach dich einfach nackig“, fordere ich ihn auf. „Ich weiß es wirklich zu schätzen“, versichere ich und rücke in eine bequeme Position. „Wie heißt du eigentlich?“, frage ich. Ich werde diesen Mann gleich nackt sehen. Der Anstand verlangt einen Namensaustausch. Meinen kennt er natürlich.
„Arik“, erwidert der Nordmann und sieht sich mit einem skeptischen Blick um. „Arik Lund.“
„Aus Schweden?“, frage ich wenig überrascht.
„Norwegen.“ Arik lässt immer noch seinen Blick in alle vier Ecken des Gartenhauses schweifen.
Ich mache eine auffordernde Handbewegung. „Dein Equipment ist im Rucksack?“, frage ich und hoffe, dass die Show bald beginnt. Arik steht gut zwei Schritte von mir entfernt und ich bin mir sicher, dass ich seine Duschseife riechen kann.
„Ja“, gibt er knapp zurück. Er stellt seinen Rucksack ab. Onyx schmiegt seinen Kopf verliebt an Ariks Stiefel.
„Onyx, komm zu Papa“, fordere ich ihn auf. „Der Mann arbeitet hart für sein Geld und gleich braucht er Platz.“ Zögerlich trottet mein Hund zur Couch, springt nach oben und drapiert sich über meinem Schoß wie ein Chihuahua. „So, jetzt kannst du deine Klamotten über dem Boden verteilen“, sage ich mit einem erwartungsvollen Grinsen.
Arik neigt den Kopf und verengt die Augen zu Schlitzen. „Das habe ich nicht richtig verstanden“, bemerkt er in sehr gutem Deutsch.
Ich atme leise ein und aus. Dann zucke ich mit den Schultern. Vielleicht ist gespielte Zurückhaltung sein Markenzeichen als Stripper. Ich schaue zu meinen Freunden und hebe den Daumen.
„Er ist wirklich gut“, bemerke ich. „Ich bin gespannt, was für einen Giganten der Riese unter all den Klamotten versteckt.“
Glühen Ariks Ohrspitzen etwa? Das hat sicher die Wärme im Gartenhaus bewirkt. Ich wackele mit den Augenbrauen, hoffe auf eine heiße Show. Da klopft es erneut an der Tür.

Dieses Mal bebt die Hütte nicht. Unter einem Seufzen komme ich auf die Füße und hinke zur Tür. Das kann nur Oma Rose sein. Sonderbar, vor Arik schäme ich mich nicht wegen des Hinkens. Na, er tut hier ja nur seinen Job, ihm wird es egal sein, wie ich laufe.
„Eine Nachbarin“, flüstere ich Arik über meine Schulter zu. „Kein Problem. Ich schicke sie zu meiner Mutter in den Laden. Dort kann sie warten, bis wir fertig sind.“
Arik starrt mich an, ein Auge aufgerissen, das andere verengt. Schnell öffne ich die Tür.
Davor steht tatsächlich Frau Rose und versinkt fast in ihrem braunen Wintermantel. Neben ihr steht meine Mutter in einer dicken Strickjacke.
„Kann Frau Rose im Laden warten? Ich habe noch einen Kunden da“, erkläre ich so gelassen wie möglich.
„Aber sicher“, antwortet meine Mutter und ehe ich es verhindern kann, streckt sie den Kopf an meiner Schulter vorbei in die Hütte.
Ich seufze leise. Sie sieht nichts, was sie nicht sehen soll. Arik ist noch angezogen und könnte wirklich ein Kunde sein. Seit ein paar Wochen sprechen sich meine Dienste herum. Felix Weber ist nach seinem Studium nach Hollerbusch zurückgekehrt, um sich als Doktor für alte PCs, Handys und Toaster zu beweisen. Ein Gewinn für die Stadt.
„Ah, Arik“, ruft meine Mutter jetzt und ich zucke zusammen. „Haben Sie meinem Sohn erklärt, warum Sie hier sind? Felix wird schnell skeptisch, wenn Fremde auf dem Grundstück unterwegs sind.“
Augenblicklich schüttele ich den Kopf. Meine Mutter hat den Stripper angeheuert? Die lustigste Idee der letzten sechs Monate verwandelt sich binnen eines Wimpernschlags in die peinlichste Aktion des Jahres. Immer noch kopfschüttelnd sehe ich Arik an. Und der nickt tatsächlich. Ich stelle tonlose Fragen und gestikuliere wild dazu. Meine Mutter blickt mich irritiert an.
„Er hat etwas von Waschbecken erzählt“, murmele ich befremdet.
„Waschbecken?“ Meine Mutter verzieht den Mund, hebt die Augenbrauen, senkt sie wieder und rümpft die Nase. Und das alles in einer halben Sekunde. Dann erhellt sich ihr Gesichtsausdruck. „Waschbären!“, ruft sie. „Arik ist wegen der Waschbären hier. Die kleinen Strolche klettern doch im Winter gerne über den Zaun und turnen auf meinem Kirschbaum herum. Arik ist Naturfotograf.“ Während mein Herz zusammen mit einer Tonne Scham in den Schnee fällt, reibt sie ihr Hände gegeneinander, um die Kälte zu vertreiben. „Du kennst ihn noch nicht, weil er meinen Zeitschriften-Lieferservice nutzt. Dabei habe ich ihm neulich von den Waschbären erzählt und er wollte sie fotografieren. Natürlich musste er sich dir zuerst vorstellen. Nicht, dass du ihn für einen … du weißt schon was … hältst.“
„Natürlich“, erwidere ich perplex. „Waschbären fotografieren einen Norweger, der auf dem Kirschbaum turnt. Die Bären haben sich mir auch noch nie vorgestellt.“
Meine Mutter lacht und wuschelt mir durchs Haar, als wäre ich ein kleiner Junge. „Dann wäre das ja geklärt“, behauptet sie. „Ihr Jungs braucht wohl noch eine Weile. Gerda und ich machen es uns gemütlich. Ruf an, wenn du bereit bist.“ Sie setzt der Peinlichkeit eine Krone auf und zwinkert mir zu. Die beiden Damen trotten über den verschneiten Gartenweg zurück ins Haus. Und ich bleibe mit dem norwegischen Waschbärenliebhaber zurück, den ich vor fünf Minuten aufgefordert habe, sich nackig zu machen.

„Klitzekleines Missverständnis“, murmele ich und zeige ein entschuldigendes Lächeln, das die Hauptrolle in jedem Horrorfilm spielen könnte. „Die Bären waschen draußen“, füge ich beschämt an und deute zur Tür. „Viel Spaß.“
„Ich mag diesen Hund“, erklärt Arik, während Onyx vor ihm sitzt und ihn hechelnd zu mehr Streicheleinheiten auffordert. Dieser Hund mag den norwegischen Riesen offensichtlich auch. „Aber die Waschbären mögen die vielen Zähne nicht“, informiert er mich, während er in seinem Rucksack kramt. Kurz darauf befördert er eine Profikamera zum Vorschein und richtet sich zu voller Größe auf.
„Felix hat geschickte Hände“, tönt Mira plötzlich vom Bildschirm. „Kameras kann er auch reparieren.“
„Und Computer“, bekräftigt Elisa. „Meinen hatte er alle zwei Wochen in Behandlung und die alte Mühle ist immer gesund zurückgekommen.“
„Er ist ein wahrer Künstler der Technik“, klinkt Jonah sich ein.
Die drei hatte ich total vergessen. Diese Vorstellung hat ihnen sicher noch mehr Spaß gemacht als der imaginäre Stripper, den sie mir nie geschenkt haben. Heute Abend ist eine gemeinsame Trolljagd geplant und den dazugehörigen Spot habe ich verdient. Dezent schiebe ich mich bis zum Schreibtisch und versuche, den Bildschirm hinter meinem Rücken auszuschalten. Stattdessen befindet sich der Dessertteller mit Schokoladenkeksen bald im freien Fall und landet mit einem Klirren. Die Krümel bedecken weitläufig den Fußboden. Aber mein persönlicher Staubsauger Onyx ist schon dabei, sie zu inhalieren.
Hastig beuge ich mich vor und versuche die Reste schneller einzusammeln, als mein Trüffelschwein sie aufsaugen kann. Dabei muss ich den massigen Hund mit einer Hand wegschieben.
„Keine Schoki für dich, mein Freund“, belehre ich ihn vergebens. Das viele Metall in meinem Bein verhindert, dass ich in die Hocke gehen kann.
Da verdunkelt ein Schatten meine Sicht und gleich darauf ist es Arik, der auf die Knie sinkt und die Krümel rasch zusammenschiebt, aufhebt und in den Mülleimer verfrachtet. Umwerfend gut aussehend und hilfsbereit? Wo haben sie dieses Exemplar den bisher versteckt?
„Danke“, murmele ich so leise, dass er es kaum gehört haben kann.
Im nächsten Augenblick steht er neben mir, die Kamera wieder in der Hand und blinzelt mich an.
„Mein Vermieter könnte Hilfe von einem Technikkünstler gebrauchen“, erklärt er überzeugt.
Noch ein Auftrag? „Wer ist denn dein Vermieter?“, frage ich neugierig.
„Jules“, gibt Arik zurück. „Julius Hel. Ihm gehört der Feuermond. Der Esoterikladen in der Sonnenstraße.“
Für einen Moment bleibe ich stumm. Jules Hel erscheint vor meinem inneren Auge. Selbst in sechs Jahren Berlin ist mir kein Mann begegnet, der sonderbarer als der Ladenbesitzer ist. Und selten ein schönerer. Wo Arik wie ein sexy Holzfäller in Übergröße wirkt, ist Jules Hel die lebendig gewordene Statue eines Elfenprinzen. Ein paar Mal habe ich ihn mit seinem Freund in der Stadt gesehen. Genau wie ich bevorzugen sie die Dämmerung für ihre Spaziergänge. Aber während ich danach nach Hause hinke und mit meinen Onlinefreunden in Fantasiewelten abtauche, stelle ich mir diese beiden in einem schicken Schwulenclub, weit entfernt von Hollerbusch, vor. Nicht gerade die Gesellschaft, die ich derzeit benötige.
„Ach ja, Jules“, brumme ich schließlich und es klingt abweisender, als es sollte. „Sein Freund bestellt ab und zu wissenschaftliche Zeitschriften bei meiner Mutter. Der kann ihm sicher mit der Technik helfen.“
Arik schüttelt den Kopf. „Pip ist besser mit diesen Dingen als Jules. Aber im Laden stolpert man seit Monaten über Kabel. Pip könnte Hilfe gebrauchen.“ Er hebt die Schultern leicht, nimmt seinen Rucksack vom Boden und läuft zur Tür. „Wenn du vorher anrufst, backe ich Bälle“, sagt er gut gelaunt und schaut über seine Schulter. „Aber meine Hose will ich beim Essen anbehalten“, fügt er mit einem Augenzwinkern an, bückt sich durch den Türrahmen und verschwindet in Richtung Kirschbaum.

Impressum

Texte: Alice Camden
Cover: Rebecca Wild www.sturmmoewen.at
Tag der Veröffentlichung: 27.01.2021

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