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Leseprobe: Kapitel 1

Eine männliche Stimme summte. Die ruhige Melodie umschmeichelte Pips Ohr, schlängelte sich in seine Gedanken und ließ ihn lächeln. Entspannt lehnte er sich auf dem Gartenstuhl zurück. Die schöne, tiefe Stimme summte weiter, bevor sie leiser wurde, schließlich verstummte.

Pip seufzte, lächelte versonnen. So voll und sanft hatte ihn die Melodie ausgefüllt. Als hätte der Mann sie nur für ihn allein gesummt.

Aber die Stimme war am Ende nichts als eine fremde Erinnerung, die aus der Zeit gefallen war. Hellsehen. Nun, ab und an hellhören. Was für eine absurde Begabung. Sollte sie nicht eher Dunkelsehen heißen, wenn man sie nicht kontrollieren konnte? Sogar verschweigen musste. Und dieses Schweigen hatte ihn in einen menschenscheuen Einsiedler verwandelt. Eine alte Schuld stach ihn in die Brust. Hungrig nach Kontakt und Abenteuern saß er im Garten, träumte von einem neuen Leben. Pip seufzte leise. Endlich war der Neuanfang zum Greifen nah. Nur diese tiefe Stimme, die hätte noch eine Weile summen dürfen.

Erleben Sie die Faszination der ganzen Welt an einem einzigen Ort. Die Erwartung sprudelte in Pips Magen über. Er streckte seine Finger aus, strich über den glänzenden Einband des Reiseführers. Darauf beschien die Sonne die Skyline von New York, so als wolle sie die versteckten Abenteuer zwischen den Hochhausschluchten hervorlocken. Kamen nicht alle nach New York, um geschützt vom Chaos dieser Stadt einen Neuanfang zu wagen?

Pip sah sich im Garten um und blinzelte in das Licht des Sommertages. Kaum drei Schritte von ihm entfernt schlief Oma Agnes in ihrem Schaukelstuhl, eine Gartenkelle lag noch in ihrem Schoß. Der Holunderbusch daneben stand in voller Blüte, stellte die umringenden Beete mit seiner Pracht in den Schatten. Schwer bogen sich die Zweige unter der Blütenpracht. Einige davon rieselten herab und verfingen sich in Agnes’ grauem Haar.

Der vertraute Geruch von frischer Erde, Blumen und allerlei anderen Pflanzen mischte sich mit dem Duft des Sommers. Pip lehnte sich auf dem Gartenstuhl zurück, sein Blick verlor sich bald in der Mitte des kleinen Teichs, den er zusammen mit Agnes vor langer Zeit angelegt hatte. Etwas Weiches streifte sein Bein, ließ seine Muskeln unwillkürlich zucken. Einen Augenblick später beugte er sich so weit vor, dass er mit seiner Nase Trudis berühren konnte. Die kleine Schildpattkatze begann zu schnurren, gab ein stummes Miau von sich. Pip nahm sie vorsichtig hoch, setzte sie auf seinen Schoß und begann sie unter dem Kinn zu kraulen.

„Gleich findet die Fütterung des Raubtiers statt“, versicherte er ihr flüsternd. „Wir müssen aber leise sein. Oma ist gerade erst eingeschlafen.“ Als hätte sie verstanden, drapierte Trudi sich über seine Oberschenkel und schnurrte verhalten, während sie den Kopf an seiner Hand rieb. „Wirst du mich vermissen?“, fragte Pip leise. Trudi sah ihn aufmerksam an. „Du und Agnes, ihr kommt allein zurecht, oder?“, fragte er die Katze. „Wenn ich hierbleibe, ersticke ich irgendwann an dem Gerede und den bösen Blicken der Leute“, erklärte er dem Tier. Sie rollte sich auf seinem Schoß ein und begann ihr zweites oder drittes Mittagsschläfchen zu halten. „Und es sind ja nur drei Monate, die ich früher in die USA reise. Ich wollte das Stipendium doch ohnehin im Herbst antreten.“ Er seufzte kaum hörbar. „Oma wird das sicher verstehen.“ Einen neuen Kontinent betreten und auf Menschen treffen, die ihn nicht kannten. Für die er ein weißes Blatt war, kein Sonderling und Einzelgänger. Pip atmete lange aus. Alles, was er brauchte, war das Geld für den Flug.

Ohne Vorwarnung fuhr ein Schmerzblitz in Pips Kopf, schien ihn spalten zu wollen. Er krümmte sich, presste seine Faust in die Magengegend. Eisige Schwärze fror seine freudige Erwartung ein. Die Barriere in seinem Kopf schoss nach oben, versuchte die Vision abzudrängen. Und versagte. Und dieses Mal hörte er keine angenehme Stimme. Ein Bild aus der Zukunft drängte in seine Gedanken. Für den Bruchteil einer Sekunde leuchtete es in seinem Kopf auf. Und schon war er zurück am Gartentisch, die flauschige Trudi auf dem Schoß und einen Reiseführer mit dem Ziel seiner Träume vor seinen Augen.

Angestrengt presste Pip die Lider zusammen. Wie sehr er es hasste. Hatte Oma nicht versprochen, dass solche Vorahnungen nur Kinder befielen und die meisten Erwachsenen keine Antennen mehr für diese Dinge besäßen? Nur leider hatte sie sich geirrt. Hier saß ein dreiundzwanzigjähriger Erwachsener und sah vor seinem inneren Auge, wer sich dem Haus näherte: Des Teufels blonde Tochter!

Ohne den Gedanken zu beenden, legte er Trudi vorsichtig auf die Tischplatte, wo sie einfach weiterschlief. Hastig sprang er auf und war mit drei Schritten an der Terrassentür. Unwohlsein schwoll in seinem Bauch an, strömte in seine Brust und erschwerte das Atmen. Konnte er Agnes mit der Furie allein lassen? Er zuckte mit den Schultern. Erfahrungsgemäß wurde Oma mit allem fertig, um sie brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Es war seine eigene Ruhe, die auf dem Spiel stand. Entschlossen schob er die gläserne Tür auf, setzte den ersten Fuß ins Wohnzimmer. Schon zog er den zweiten Fuß nach. Da presste sich eine Hand erstaunlich fest auf seine Schulter.

 

Pip schnaufte geschlagen, sah die langen Fingernägel aus den Augenwinkeln. Heute zierte jeden Nagel ein blauer Himmel samt Wolken. Wo war seine weiße Fahne? Vielleicht konnte er einfach vor des Teufels Tochter kapitulieren und sich sofort verschlingen lassen?

„Ah, mein Junge, du bist wirklich begabt“, flötete die gerade hinter ihm. „Aber ich bin immer schneller als deine Vorahnungen. Merk dir das!“

Unter einem tiefen Atemzug drehte Pip sich um. Da stand sie: Kendra Hel, eine Cousine von Agnes und sein größter Albtraum.

„Hallo“, brachte er leise hervor und zog die Schultern fast bis zu den Ohren.

Ihr langes, blondes Haar wehte in einem Wind, der unvermittelt aufkam. Heute trug sie einen weißen Hosenanzug, dazu hohe Pumps in Rot. Wahrscheinlich nutzte sie die Schuhe als Waffe und dank der Farbe konnte man das Blut daran nicht erkennen. Sie klimperte mit ihren Wimpern und sah ihn aus eisblauen Augen an. Bis auf die Waffenpumps schien ihr gesamter Aufzug Unschuld zu versprühen. Passend zu ihrem alterslosen Gesicht, das heute wie Mitte dreißig wirkte.

„Wieso starrst du deine Tante an, als wäre sie eine Schlange, die dich gleich fressen will?“, fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen und schüttelte missbilligend den Kopf. Schließlich winkte sie ab, schob ihn unsanft ins Wohnzimmer und schloss die Tür hinter sich. „Du bist ja so niedlich wie ein Kaninchen, aber das bedeutet nicht, dass du dich auch so verhalten musst.“ Sie seufzte und wie immer schien die Last der Welt auf ihren schmalen Schultern zu ruhen. Elegant bewegte sie sich zu der abgewetzten Ledercouch, setzte sich und schlug die Beine übereinander. Mit einem langen Finger zeigte sie auf den Sessel. „Setz dich“, forderte sie.

Komm nicht einfach so in unser Haus und führ dich auf, als würde dir hier alles gehören! Endlich wollte Pip das klarstellen, doch die Worte verließen seinen Mund nicht. Stattdessen trottete er mit gesenktem Kopf zum Sessel und nahm Platz.

„Mir gehört hier alles, das ist dir doch klar?“, bemerkte sie spitz. Ohne es zu wollen, rollte Pip mit den Augen. Wie oft hatte er das schon gehört? „Nun, es ist wahr“, fügte sie mit gewohnter Arroganz an. „Agnes hat dich gut aufgezogen. Ein dürrer kleiner Kerl mit dunklen Augen und schwarzem Haar. Aber sie hatte ja schon immer ein Herz für die Verlassenen. Nur das Geld hat ihr gefehlt. Ich war es, die ihr das Haus und den Blumenladen gekauft hat. Und ich bin es auch, die dir ein unnützes Studium finanziert hat.“ Sie rümpfte die kleine Nase. „Altertumswissenschaft und Keltologie“, sagte sie und es klang nach Schimpfwörtern. „Ein Übersetzer alter Schriften willst du werden. Die Intelligenz zum Fenster hinausgeworfen, wenn du mich fragst.“

Pip war sich ganz sicher, dass gleich ein Feuerstrahl aus ihrem Blick schießen und ihn vernichten würde. Unruhig rutschte er auf dem Sessel hin und her.

„Ich habe schon einen Master in Keltologie. Und für das Stipendium zur Promotion hat es immerhin gereicht“, bemerkte er leise.

„Aber das Stipendium wird am Ende nicht für den kompletten Lebensunterhalt reichen, nicht wahr?“, erwiderte Kendra siegessicher.

Natürlich ging es schon wieder um Geld. Und Kendra hatte viel davon, finanzierte die komplette Verwandtschaft damit. Wie war sie noch einmal darangekommen? Ein paar gelungene Börsenspekulationen, das hatte Oma jedenfalls behauptet. Kendra räusperte sich. „Das Geld deckt doch nur deine Promotion in den USA und die Miete ab. Aber du willst wahrscheinlich ab und an etwas essen und immerhin hast du noch nichts von der Welt gesehen. New York ist ganz in der Nähe der Uni, wusstest du das?“ Sie blitzte ihn an.

Pips Herz schmerzte mit einem Mal. Ja, er wusste, wie viele Abenteuer in New York auf ihn warteten. Ein Ort, an dem ihn niemand kannte. Und vor ihm saß die einzige Quelle, die eine frühe Abreise ermöglichen konnte.

„Keine Angst, mein Junge“, verkündete sie nun vertrauensvoll. „Natürlich werde ich dir auch dieses Mal helfen. Wozu hat man Familie?“, schnurrte sie weiter.

Und jetzt griff die Beklemmung mit fester Hand um Pips Brust. Wenn Kendra anfing zu schnurren, dann wollte sie etwas als Gegenleistung. Für sein Masterstudium hatte er ein Jahr lang Toiletten in zwei ihrer Hotels geschrubbt. Agnes strickte, häkelte, kochte und backte ständig für ihre sklaventreibende Cousine. Pip presste die Fingernägel in die Handflächen. Natürlich konnte er Oma zuerst von seinen Plänen erzählen und sie mit Kendra verhandeln lassen. Aber dann bestand die Gefahr, dass Agnes den Preis bezahlen musste. Oder er fragte jetzt und anstatt nach New York zu fliegen, befand er sich morgen wieder mit Lappen und Eimer in einem Hotelbadezimmer und säuberte Toiletten. Nun, immerhin hatte er diesen Job gut gemacht.

„Ich …“, begann er vorsichtig. „Ich habe eine Einladung erhalten. Nach New York.“ Sie neigte den Kopf und sah ihn aufmerksam an. Sicher kalkulierte sie schon die Bezahlung für diese Bitte. „Von Asa Spring, dem Professor, der meine Doktorarbeit betreuen wird.“

„Dein Doktorvater lädt dich nach New York ein. Wie bezaubernd“, bemerkte sie begeistert. „Der Junge ist unnütz, aber begabt, das sage ich immer zu Agnes.“

Pip schluckte das zweite unnütz des Tages herunter. „Asa besitzt eine Wohnung in Manhattan und ich kann sie über den Sommer nutzen. Er selbst wird sich nur selten dort aufhalten.“

Sie straffte sich und verengte die Augen zu Schlitzen. „Über den Sommer, ja?“, fragte sie prüfend.

Pip nickte. „Ab übernächster Woche könnte ich die Wohnung nutzen. Mein Doktorat beginnt erst Ende September. Fast zwei Monate könnte ich in New York bleiben. Aber …“ Er schluckte mehrmals, sah zur Seite, um ihren Blick nicht aushalten zu müssen. „Er hat nichts vom Flug erwähnt. Daher …“

Für einen Augenblick verdunkelte sich ihre Miene. Doch dann zeigte sich ein schmales Lächeln auf ihren Lippen, wuchs zu einem breiten Grinsen. Hoffnung keimte in Pip auf, etwas Luft strömte in seine Lungen.

„Ein wenig früher anreisen und New York erkunden? Das möchtest du?“, fragte sie und Pip konnte die Räder in ihrem Kopf arbeiten sehen. Zögerlich nickte er. „Ein hübscher kleiner Nerd, in der heißesten Metropole der Welt.“ Skeptisch wiegte sie den Kopf hin und her. „Ein Kaninchen in der Schlangengrube“, fügte sie an. Ahnungen stiegen in Pips Kopf auf und diese schmerzten nicht. Sie tippte sich mit einem Finger an die Lippen. „Zwei Monate? In dieser Zeit bist du doch zwei Mal im Hudson ertrunken und was machst du, wenn dich ein böser Mann in sein Bett zerrt?“

Pip fühlte seine Ohren glühen. Besaß die Tochter des Teufels etwa auch eine Kristallkugel? Wieso vermutete sie böse Männer, wo es doch auch böse Frauen sein konnten? Nun, die Wahrheit war, es wären eher die Männer, aber selbst denen war er bisher noch nicht besonders nah gekommen.

„Deine Tante kennt dich gut“, behauptete sie mit einem Mal. „Und sie wird dich vor allen Gefahren beschützen.“

In einer Hoteltoilette, schon klar. Pip presste die Lippen fest zusammen und schwieg.

„Zwei Monate in einem solchen Moloch sind viel zu lange für dich“, sagte sie mit erhobenem Zeigefinger. „Drei Wochen reichen völlig aus. Und danach kannst du dich an der lauschigen Uni im friedlichen Connecticut erholen.“

„Du zahlst mir den Flug, wenn ich nur drei Wochen bleibe?“ Pip versuchte zu verstehen.

Sie lächelte hintergründig. „Genau“, bestätigte sie. Pip spürte seine Hoffnungen und Träume schrumpfen. Viel Zeit würde ihm also nicht bleiben, um im Fluss zu ertrinken oder böse Männer zu treffen. Aber drei Wochen waren besser als nichts. Doch natürlich waren auch daran Bedingungen geknüpft.

„Und alles, was ich dafür von dir will, ist ein kleiner Gefallen“, rückte sie endlich mit dem Preis heraus.

Ohne zu zögern, nickte Pip. Irgendwo im Küchenschrank lag noch ein Pack Gummihandschuhe. Damit würde er schon über den Sommer und den gröbsten Hoteldreck kommen.

Jetzt strahlte sie und Pips Magen zog sich auf die Größe einer Walnuss zusammen. „Und im Grunde tue ich dir ja einen Gefallen“, behauptete sie. „Du kannst es doch kaum abwarten, dieses gemütliche Haus zu verlassen.“ Sie deutete auf die Glastür. Davor saß Trudi, miaute und klopfte immer wieder mit der Pfote gegen die Scheibe. Sie will mich retten. Der Gedanke ließ ihn für einen Moment lächeln. „Und du magst Katzen. Ich schenke dir quasi einen Urlaub. Nicht in New York, aber Hollerbusch ist auch nicht übel.“

„Hollerbusch?“, hörte Pip sich fragen. Hatte sie schon wieder ein Hotel gekauft?

„Eine wunderbare Kleinstadt im Hunsrück. Viele Tagestouristen. Wie ich sagte: Ich zahle dir praktisch zwei Urlaube.“ Offensichtlich zufrieden mit sich und der Welt strich sie über ihr weißes Hosenbein. „Und du wohnst ja hier auch mit Agnes zusammen. Der alte Mann wird dich kaum stören.“

„Ein alter Mann?“ Kendras Verwirrungstaktik wirkte. Pip verstand kein Wort.

„Ein Verwandter“, erklärte sie, als müsste er das wissen. „Von der anderen Seite“, fügte sie mit einer abwertenden Handbewegung hinzu. „Julius Hel. Er betreibt in Hollerbusch einen dieser schrecklichen Esoterikläden. Voller Staubfänger und alter Bücher.“

Alte Bücher? Pip horchte auf. Aber ein Esoterikladen in einer Kleinstadt? Das klang nicht wirklich nach der Faszination der ganzen Welt an einem einzigen Ort. Kendra schien erneut seine Gedanken zu lesen.

„Jules besitzt eine Bibliothek voller alter Schinken.“ Missfallen sprang aus ihrem Blick. „Der alte Mann ist ein schrecklicher Chaot. Das ganze Haus ist voller Kram. Und er ist von der uralten Schule. Kritzelt alles in Notizbücher, die er dann verlegt. Von Buchhaltung kann man nicht sprechen. Er schuldet mir viel und ich will endlich Geld sehen. Aber dafür muss sein Laden aus der Steinzeit geholt werden. Er braucht Internet, eine Webseite, wenn er nicht nur auf versponnene Touristen angewiesen sein will.“

Ungläubig schob Pip den Kopf vor. „Ich soll bei ihm aufräumen und ihn ins 21. Jahrhundert befördern?“

„Fast.“ Kendra lächelte. „Eine winzige Kleinigkeit fehlt noch“, fügte sie mit Unschuldsmiene an. „Irgendwo in diesem verdreckten Haus muss sich ein Buch befinden. Das Hollerbuscher Arzneibuch. Eine sehr alte Schrift. Finde das Buch und bring es zu mir, ohne dass Julius etwas davon bemerkt. Und dann …“ Mit gespielter Nachdenklichkeit sah sie ihn an. „Verkürzt sich dein Aufenthalt im schönen Hunsrück.“

Hollerbuscher Arzneibuch? Was für eine alte Schrift sollte das sein, wenn ein Altertumswissenschaftler noch nie etwas davon gehört hatte? Sonderbar. Pip schnaufte verächtlich. Diese Frau hielt ihn für sehr naiv. Wieso sagte sie nicht gleich, dass sie einen Diebstahl von ihm verlangte?

„Das Buch ist also eine Art Rettungsring? Sobald ich es gefunden habe, ertrinke ich nicht mehr im Hudson?“, fragte er und presste den Rücken fester gegen die Polster. Die größte Gefahr ging immer noch von Kendra aus, so viel war sicher.

Ihre Lippen bildeten einen Strich. Für einige Sekunden sah sie ihn nur verächtlich an. Eine schnippische Antwort war fast schon hörbar. Doch dann zuckte sie mit den Schultern.

„Es liegt an dir“, verkündete sie. „Immerhin ist es dein erster Sommer ohne Verpflichtungen für die Uni. Unterstütz Jules und bring mir das Hollerbuscher Arzneibuch. Dann unterhalten wir uns über das Flugticket.“

„Warum fragst du ihn nicht einfach selbst? Vielleicht verkauft er dir das Buch ja?“, wollte Pip wissen.

Kendra riss die Augen auf und begann zu lachen. Bald schüttelte sie ein Lachanfall. „Was Jules einmal in den Fingern hat, rückt er nicht mehr raus. Auf Büchern sitzt er wie eine Glucke und bebrütet die Buchstaben, als würden Geschichten daraus schlüpfen. Keine Chance.“

„Ich nehme an, dieses Buch ist viel Geld wert?“ Pip verschränkte die Arme vor der Brust. „Und ich soll es stehlen?“

Kendras Miene verfinsterte sich augenblicklich. Sie beugte sich vor und sprach bedrohlich leise. „Im Gegenteil“, raunte sie ihm zu. „Dieses Werk gehört nicht in Jules’ Finger. Gefahr lauert zwischen den Zeilen und sie muss gebannt werden.“ Sie atmete durch und setzte sich wieder aufrecht. „Du hast einen schlauen Kopf zwischen deinen Schultern und wirkst harmlos. Wenn jemand dies kleine Buch in Jules’ Chaos findet, dann du.“

Pip seufzte kaum hörbar. Sie erpresste ihn, schickte ihn in eine abgelegene Kleinstadt zu einem alten Mann, den er bestehlen sollte. Die Schmeicheleien hallten wie Hohn in ihm nach.

„Gut“, sagte sie zufrieden. „Dann sind wir uns ja einig. Du kannst jetzt packen und vergiss den ganzen Technikkram nicht. Den wirst du brauchen.“

„Jetzt? Packen?“, wiederholte Pip verständnislos.

Sie schnaufte ungehalten. „Bist du unser hochbegabter Pip, der sein Abitur ein Jahr früher schreiben konnte? Dann frag nicht so dumm. Pack. Wir fahren in einer Stunde. Ich will noch bei Tageslicht in Hollerbusch ankommen. Diese engen Straßen im Hunsrück sind bei Nacht nicht beleuchtet.“ Pip wollte den Mund öffnen, da hob sie die Hand. „Ich rede mit Agnes. Das ist kein Problem. Sie kennt Jules und weiß, dass er jede Hilfe brauchen kann.“

Langsam erhob Pip sich aus dem Sessel, schrieb in Gedanken eine Rede über die Freiheit der Wahl. Hätte er nicht bis vor einer Woche noch an seiner Masterarbeit geschrieben, dann hätte er für Kendra schuften können und würde jetzt genug Geld für den Flug besitzen. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und straffte die Schultern.

„Nein!“, sagte er mit Nachdruck, doch es klang leise und verhalten. „Ich fahre nicht in den Hunsrück, um dort das Haus eines alten Mannes aufzuräumen und für dich zu stehlen. Das alles ist doch absurd!“ Er stemmte die Hände in die Seiten. „Ich werde mir einen Job suchen und so bald wie möglich nach New York fliegen.“

Kendra stand ebenfalls auf und jetzt standen sie Pumps an Sneakers. „Ich hatte dein Stipendium angesprochen?“, fragte sie leise und bedrohlich zugleich. „Junge, was glaubst du, was passiert, wenn ich der Wesleyan University eine größere Summe spende und sie bitte, das Stipendium neu zu vergeben? Weil …“ Sie schien zu überlegen. „Was halten sie wohl von Pip, der sich einbildet, Vorahnungen zu haben? Und was ist damals in der Schule passiert? Hm? Das könnte auch sehr interessant für deine neue Uni sein.“ Sie sah ihn für einen stummen Augenblick an. „Aber wenn du mir entgegenkommst, werde ich sogar dein mageres Einkommen in den USA aufstocken. Ein fairer Handel, wie es sich für eine Familie gehört.“

Ohne einen ihrer Schuhe einzusetzen, hatte sie ihn gerade getötet. Pip hörte sein Herz in seinen Magen sinken und ließ die Schultern hängen. Seit zehn Jahren lastete ein Berg voller Schuldgefühle auf seinem Rücken und Kendras Worte ließen ihn schwerer werden.

„Agnes hätte dir nie von meinen Visionen erzählen sollen“, sagte er leise.

„Agnes“, betonte Kendra schroff. „Erzählt mir alles. Mach dir da nichts vor.“

Pip nickte geschlagen, vermied den Blickkontakt mit der Händlerin des Teufels und stand auf. Mit schweren Gliedern bewegte er sich zur Wohnzimmertür. Hatte er am Ende auf böse Jungs in New York gehofft und würde nun auf einen chaotischen alten Mann im Hunsrück treffen? Fragen drehten sich in seinem Kopf, während er die Stufen hinauf zu seinem Zimmer nahm.

 

Unter einem tiefen Seufzen schloss Pip eine halbe Stunde später seinen Rollkoffer und drehte sich zum Schreibtisch um. Für einen Augenblick sah er aus dem Fenster, betrachtete den leeren Schaukelstuhl neben dem Holunderbusch. Er wippte noch vor und zurück. Oma musste gerade aufgestanden sein, um den erpresserischen Besuch zu begrüßen. Und gleich würde sie erfahren, wo er seinen Sommer verbringen würde.

„Jedenfalls nicht in New York“, murmelte Pip besiegt, räumte den Laptop samt Zubehör in einen Rucksack und strich über den Bücherstapel auf seinem Schreibtisch. Alle Bücher schienen ihn anzuflehen sie mitzunehmen. Entschlossen schulterte er den Rucksack, rollte den Koffer zur Treppe und hievte ihn hinunter. Dort stand Kendra, eine von Omas göttlichen Nussecken in der Hand, und nickte ihm zu.

Oma Agnes kam mit langsamen Schritten aus der Küche. Winzig wirkte sie neben Kendra und unauffällig in ihrem braunen Arbeitskleid und den Gummistiefeln. Die grauen Haare hatte sie zu einem Zopf geflochten, den sie kunstvoll am Hinterkopf festgesteckt hatte. Liebevoll sah sie ihn an. Eine Portion Mitgefühl lag ebenfalls in ihrem Blick.

„Mein lieber Junge“, sagte sie und ihre Stimme klang sonderbar brüchig.

Pip ließ sein Gepäck stehen, trat zu ihr und umarmte sie erst sanft, dann fester. „Oma, alles wird gut. Du kannst mich jederzeit anrufen und es ist ja nicht weit. Vielleicht kommst du mich besuchen?“

So gerne wollte er ihr die Welt zeigen, hatte ihr schon viele Male vorgeschlagen, ihn auch in den USA zu besuchen, wenn er endlich dort angekommen war. Aber ihr Universum bestand nun mal aus Pflanzen, Erde und dem Wechsel der Jahreszeiten.

„Nein, mein Liebling“, erklärte sie und drückte ihn ebenfalls fest. „Ich gehöre hierher, zu dieser Erde und in dieses Haus. Du musst deinen Platz noch finden.“

Pip strich ihr über den Rücken und trat einen Schritt zurück. „Bevor ich meinen Platz suchen kann, muss ich ja erst mal den Kammerdiener für einen alten Kerl spielen“, erwiderte er und verzog die Lippen zu einem gezwungenen Lächeln. Er wandte sich zu Kendra. „Hast du wirklich keine Toiletten mehr, die ich schrubben kann?“

Sie lachte charmant, steckte sich den letzten Rest der Nussecke in den Mund und kaute genüsslich.

„Vermisst du es so sehr?“, fragte sie schließlich und nahm ihren Autoschlüssel aus der Hosentasche. „Keine Sorge, der alte Jules ist eine Schlampe. Ich wette, du wirst dich auch im Sanitärbereich betätigen können.“ Sie lächelte, als hätte sie nicht gerade Pips letzte Hoffnung auf ein paar freie Minuten im Sommer zerstört. „Ehe ich es vergesse. Nenn ihn niemals Julius. Er kann sehr ungehalten werden, wenn er mit seinem vollen Namen angesprochen wird.“

Pip versuchte angestrengt, sich den grimmigen Alten in seinem verdreckten Haus nicht vorzustellen, und scheiterte grandios. Kein Grund, Agnes noch mehr in Aufruhr zu versetzen. Rasch beugte er sich zu ihr herunter und küsste sie auf die Wange.

„Ich bin noch vor dem Herbst zurück“, versprach er. „Bevor ich nach New York fliege, will ich ein paar Tage mit dir verbringen.“

Sie lächelte mit ihren Augen. „Denk immer daran, wer du bist und dass du geliebt wirst“, entgegnete sie mit Tränen in den Augen.

„Agnes“, sagte er und strich ihr übers Haar. „Ich fahre nur in den Hunsrück. Wie sollte ich dort vergessen, wer ich bin.“ Er lächelte tapfer. „Ich hab dich auch lieb, Oma.“

„So, dann komm mit, du Kaninchen“, mischte sich Kendra mit lauter Stimme ein, schritt zur Haustür und öffnete sie. Sie drehte sich auf ihren hohen Absätzen, sah ihm in die Augen. „Auf zum alten bösen Wolf“, bemerkte sie beschwingt und stolzierte zu ihrem Auto.

Leseprobe Kapitel 2

 

Pip klammerte sich an seinen Sitz, versuchte bei der hohen Geschwindigkeit einen klaren Gedanken zu fassen. Er sollte ein Buch entwenden? Zusätzlich das Werk von einem alten Mann stehlen. Asa sollte unbedingt von dieser Angelegenheit erfahren. Sicher wusste er Rat und hatte schon einmal von diesem Werk gehört. Sein zukünftiger Doktorvater gehörte immerhin zu den renommiertesten Sprachwissenschaftlern der Welt.

„Aus welchem Jahrhundert stammt das Arzneibuch eigentlich?“, fragte er so beiläufig wie möglich.

„Es ist ziemlich alt“, gab Kendra zurück und hob die Schultern. „Das ist alles, was ich dir darüber sagen kann.“

„Du willst ein Buch, über das du nichts weißt?“ Pip sah sie auffordernd an. Kendra tat niemals etwas Unüberlegtes. Ihn so eindeutig zu erpressen, das war selbst für des Teufels Tochter ungewöhnlich.

„Du kennst den Titel und bist vom Fach“, erwiderte sie harsch. „Wenn du es findest, wirst du es sicher erkennen. Es ist einzigartig.“

„Etwas mehr Details wären schon hilfreich“, murmelte er und starrte auf die vorüberfliegende Landschafte. Einzigartig? Das war eher unwahrscheinlich. Selbst im Mittelalter hatten die Mönche in den Klöstern Abschriften angefertigt. Ja, er musste wirklich bald mit Asa sprechen.

 

Kendra kannte auch beim Autofahren keine Gnade. Als würde sie abheben wollen, brauste sie mit dem Sportwagen durch den Nachmittag. Schließlich verließen sie die Autobahn, bogen auf eine Landstraße ab, die hinter jeder Biegung enger zu werden drohte. Der Wald schmiegte sich jetzt nah an die Straße und die Anstiege wurden immer steiler. Auf eine Kurve folgte die nächste.

„Der Teufel selbst will diese Straßen nicht bei Nacht befahren“, bemerkte Kendra und redete wohl mit sich selbst.

Aber seine Tochter hat sicher eine Nachtsicht wie eine Katze. Pip sprach den Gedanken nicht aus. Froh, dass Kendra ihren Blick auf der Straße ließ und ihm kein Gespräch aufzwang, lehnte er sich zurück und wurde doch in jeder Kurve gegen die Autotür gedrückt. Bald verschwanden die kleinen Dörfer am Wegesrand im Wald und waren nur noch von den Anhöhen aus zu erkennen.

Sie verließen ein besonders langes Waldstück und Pip blinzelte. Ein Ortseingangsschild kündigte die Kleinstadt Hollerbusch an und endlich drosselte Kendra die Geschwindigkeit. Pips Mageninhalt setzte sich langsam. Mit großen Augen bewunderte er die neue Umgebung.

Hollerbusch stellte sich als mittelalterlicher Ort heraus. Die meisten der windschiefen, schmalen Häuser waren wohl zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert entstanden, schmiegten sich zusammen und bildeten enge Gassen.

Kendra bog in eine romantisch anmutende Einkaufsstraße ab. Ein hübscher Laden reihte sich an den anderen und alle verkauften Erinnerungsstücke in diversen Ausführungen. Eine Töpferei lag neben einer Galerie, es folgte eine Konditorei. Pip erhaschte einen kurzen Blick auf Backwaren.

Eine Villa befand sich am Ende der Sackgasse. Das Haus musste eines der jüngeren in der Stadt sein. Eine Gründerzeitvilla aus den Anfängen des letzten Jahrhunderts. Auf eine sonderbare Weise wirkte sie protzig und unauffällig zur gleichen Zeit. Die schiere Größe war auffällig, aber die Außenwände zierte ein schmutzig-grauer Putz und die Fenster des Ladengeschäftes im Erdgeschoss standen vor Dreck.

FeuermondZauberzeug und Hexenbedarf – stand in großen Buchstaben auf der dreckigen Scheibe. Kendra parkte den Wagen direkt vor der Villa, stieg aus und stöckelte in den Laden.

Pip zögerte. Unzählige Käfer schienen mit einem Mal durch seinen Magen zu krabbeln, breiteten sich unter seiner Haut aus. Irritiert strich er über seinen Arm.

„Am Ende ist es bloß ein Sommerjob“, murmelte er, fassungslos über seine Reaktion. Er nahm einen tiefen Atemzug, stieg aus und hob sein Gepäck aus dem Kofferraum.

 

Vor dem Laden mit den schmutzigen Fenstern blieb er stehen, aber nicht sein eigener Wille lenkte ihn. Als würde ihn eine unsichtbare Hand vom Weitergehen abhalten, stand er bewegungslos da. Mehr noch, die Strahlen der Sonne schienen seine Haut nicht zu erreichen und jetzt kam auch noch eine Brise auf. Schon wieder eine Vision? Ausgerechnet hier? Er wollte sich umdrehen, nachsehen, ob er beobachtet wurde.

Pip versuchte den Mund zu öffnen, um nach Kendra zu rufen. Aber seine Lippen wollten sich nicht teilen. Aus einem kalten Windhauch formte sich klirrende Kälte, die über seine Arme strich, sich unter seine Kleidung schlich und in sein Herz drängte. Panisch umklammerte Pip die Griffe seines Koffers. Sein Geist verdunkelte sich nicht. Er blieb hellwach und regungslos stehen. Plötzlich streckte Kendra den Kopf aus der Tür.

„Was ist denn jetzt schon wieder?“, fragte sie ungehalten und sah ihn für einen Augenblick auffordernd an.

Pip wollte antworten, sich bewegen. Stattdessen stieg die Panik in ihm an, kroch unter seine Haut und pochte in seiner Brust. Was zur Hölle ging hier vor? Er konnte nicht einmal mehr blinzeln. Die Kälte schmerzte in seinen Gliedern, aber kein Bild formte sich in seinem Kopf.

Kendra machte ein abfälliges Geräusch, murmelte etwas Unverständliches und einen Atemzug später wich die Kälte aus Pips Körper. Wie sie gekommen war, wurde sie weggeblasen. In diesem Augenblick spürte er die Wärme der Sonnenstrahlen auf seinem Arm, konnte den Mund wieder öffnen. Warum hatte er keine Vision erlebt? Rasch zog er seinen Koffer in den Laden und blieb mit offenem Mund stehen.

 

Wer schaffte es nur, so ein Chaos zu veranstalten? Im Laden befanden sich durchaus Schränke und Regale, doch sie waren leer. Vielmehr lagen Stapel von Büchern und Zeitschriften daneben und Pip wäre fast über eine Kristallkugel gestolpert. Er schob sie mit dem Fuß zur Seite und sie berührte eine zweite, dann eine dritte. Wie Billardkugeln rollten sie umher. Auf hübschen, kleinen Holztischen befand sich jeweils ein unsortiertes Sammelsurium an Waren.

Da tummelten sich Quijabretter zum Geisterbeschwören neben Kerzen in vielen Farben, auf einem anderen lag Räucherwerk wild durcheinander zwischen Duftölen und Edelsteinen. Und auf einer Anrichte war runenverzierter Schmuck drapiert, Ringe, Ketten, Anhänger. Wie eben abgestellt standen dort aber auch Ritualgefäße in allen Größen.

Pips Herz begann zu bluten, als er die vielen Bücher sah. Lieblos lagen sie in allen Ecken, türmten sich dort auf und er konnte die dicke Staubschicht nicht nur sehen, sondern auch riechen. Gleich zweimal musste er niesen.

Überhaupt roch es in diesem Laden seltsam und das lag sicher nicht nur an dem Räucherwerk. Es stank so, als hätte er Trudis Katzenkistchen zu lange nicht sauber gemacht. Etwas bewegte sich auf einem der leeren Schränke. Im nächsten Augenblick streckte eine schwarze Katze ihren Kopf vor und sah ihn neugierig an. Neben ihr erwachte eine rote Perserkatze, miaute kurz und sprang vom Schrank. Plötzlich kam Leben in den Laden. Hinter den Kommoden und aus den Ecken drängten immer mehr Katzen hervor. Bei Nummer sechs hörte Pip auf zu zählen. Unter die Unordnung, die vielen Katzen und die Staubwolken mischte sich ein Schnarchen. Er drehte sich und sah eine lange Theke am Ende des Ladens. Ungläubig streckte Pip den Kopf vor. Hinter der Theke befand sich ein nach hinten geklappter Fernsehsessel und darin schlief jemand. Nur ein großer Zeh schaute unter einer Wolldecke hervor.

Und mit einem Mal schien ein kleiner Diebstahl nicht mehr tragisch. Wer hier hauste, legte wenig Wert auf seinen Besitz, so viel war eindeutig. Voller Entsetzen sah Pip sich um.

Dass sich unter all dem Kram und staubigen Plunder ein gefährliches Buch befand, war sicher nicht abwegig. Ich muss nur das Buch finden und dann bin ich weg. Der Entschluss formte sich in seinem Kopf und strömte mit jedem Atemzug tiefer in ihn hinein. Hier handelte es sich eindeutig nicht nur um einen Sommerjob, sondern um eine Lebensaufgabe.

Er straffte sich und im nächsten Augenblick musste er laut niesen. Da stolzierte Kendra hinter die Verkaufstheke und zwinkerte ihm zu.

„Na, dann wollen wir den Alten mal aufwecken.“ Sie grinste diabolisch und zog die Wolldecke mit einem Ruck fort.

 

„Julius! Steh auf, du fauler Sack. Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht“, rief sie in das Ohr des Mannes, den Pip nicht sehen konnte.

Was tut sie denn einem Senior an? Der bekommt doch einen Herzinfarkt. Ungläubig und neugierig zugleich kam Pip erst einen, dann noch einen Schritt näher. Nun stand er neben den Kristallkugeln, die achtlos an der Seite lagen. Die schwarze Katze sprang auf die Theke und setzte sich, so als wolle sie das Schauspiel ebenfalls betrachten.

Ein ungehaltenes Brummen drang an sein Ohr. Die Neugier zwang Pip zu einem weiteren Schritt.

„Du alte Hexe hast nichts anzubieten, was für mich interessant wäre“, sagte eine tiefe, männliche Stimme. „Und nenn mich nicht so.“

„Armer Jules“, sagte sie mit gespieltem Mitgefühl und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Theke. „Du haust schon so lange allein, dass du kein Vertrauen mehr hast.“ Sie schüttelte den Kopf. „Aber schau doch selbst und dann kannst du dich bei mir bedanken.“ Sie lachte leise. „Ich habe dir Hilfe gebracht. Es ist der Junge, den Agnes großgezogen hat, du erinnerst dich?“

„Was geht der mich an?“, gab Jules zurück und streckte sich langsam. Pip erkannte lange Glieder, aber die Theke verbarg den alten Mann immer noch zum größten Teil.

„Oh, ihr habt schon mal eine Gemeinsamkeit. Er möchte nämlich auch nicht bei seinem vollen Namen genannt werden. Verständlich. Seine Mutter gehört posthum dafür verurteilt. Wie kann man einen kleinen Jungen nur Pippin nennen.“

Plötzlich legte sich angespanntes Schweigen über den Raum. Pip spürte Feindseligkeit und Abwehr, die zu ihm herüberschwappten. Der lederne Fernsehsessel ächzte und knarrte. Daraus erhob sich ein Mann und er war alles, nur nicht alt.

 

Wie konnte dieser Tag noch sonderbarer werden? Pip starrte den Mann an, den Kendra wiederholt als alt bezeichnet hatte. Vorgestellt hatte er sich einen kleinen, gebeugten Opa mit grauem Haar oder Glatze.

Aber vor ihm stand ein großer junger Mann, der vielleicht Ende zwanzig oder Anfang dreißig sein mochte. Mit geschätzten 1,95 Meter überragte er Pip um gut zwanzig Zentimeter. Seine langen, sehnigen Glieder wirkten elegant. Das volle Haar glänzte in einem Goldton und hing ihm bis weit in den Rücken. Einen Kamm hatte es an diesem Tag wahrscheinlich noch nicht gesehen und so wirkte es mehr wie die Mähne eines Löwen. Und es schmückte den schönsten Mann, den Pip je gesehen hatte. Mehr noch, er war sich nicht einmal sicher, ob Jules ein Mensch oder ein Elfenprinz war, der zufällig hier einen Esoterikladen betrieb.

Auch die Aufmachung ließ diesen Schluss zu. Jules trug eine schwarze Hose mit vielen Bändern verziert und einem breiten Ledergürtel darüber, der wie eine Art Lendenschurz wirkte. In der Hose steckte ein enges, schwarzes T-Shirt, das eine trainierte, haarlose Brust betonte. Ein schmaler Goldring zierte den Hals des auffälligen Mannes, darin hingen allerlei Dinge, die Pip nicht ausmachen konnte. An den langen Fingern steckten Ringe, die Handgelenke schmückten viele Lederbänder. Und die Ohrläppchen verzierten Stecker und Ohrhänger. Nur Schuhe trug er keine.

Jules kam mit langsamen Schritten um die Verkaufstheke herum. Sein schönes Gesicht schien zu Stein geworden zu sein, keine Regung zeigte sich darin. Pips Herz pochte laut in seiner Brust, so als wolle es gleich herausspringen.

Bedächtig umrundete Jules ihn, sein Blick wanderte an Pip auf und ab. Leises Atmen drang an sein Ohr. Er wurde also gerade von einem Menschen begutachtet, nicht von einer wandelnden Statue. Als Jules zur nächsten Runde ansetzen wollte, streckte Pip ihm die Hand entgegen.

„Pippin Severin“, stellte er sich vor. „Sie nennen mich alle Pip.“

„Tun sie das?“, fragte Jules und der Klang seiner sonoren Stimme schlängelte sich verräterisch um Pips Mitte.

Er konnte nur nicken, fand keine Worte.

Da wandte Jules sich schon ab, stürmte davon und riss Kendra mit sich.

„Ich will Antworten. Jetzt!“, hörte Pip ihn noch sagen. Dann verschwanden die beiden in einem Raum hinter dem Laden.

„Was zur Hölle soll das hier?“, brüllte Jules gut hörbar.

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Tag der Veröffentlichung: 04.10.2020

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