Kapitel 1
Schwer lag der Teppich des Schweigens über dem Wirtshaus. Finnlin ballte die Hände zu Fäusten und atmete flach. Der Rauch des Feuers waberte über den Tischen und mischte sich mit dem würzigen Dunst der Pfeifen zu einem dichten Nebel. Für einen Augenblick herrschte vollkommene Stille im Raum. Nicht einmal die Holzbänke knarrten unter dem Gewicht der Gäste. Alle starrten ihn an!
Unruhig rutschte er auf seinem Stuhl nach vorne. Plötzlich zerschnitt ein Räuspern das beängstigende Schweigen. Und dann brandete Applaus auf.
Erst klatschten Einzelne hier und da im Gastraum. Immer mehr fielen ein und schließlich stießen einige Jubelrufe aus. Jetzt konnte sich niemand mehr auf den Sitzen halten. Die versammelten Einwohner von Thalweiler sprangen auf und drängten zu dem Tisch, der zur Bühne geworden war. Finnlin saß auf einem Stuhl auf der Behelfsbühne und grinste breit.
Mit jedem Bravoruf lösten sich seine verspannten Muskeln, strömte mehr Luft in seine Lungen. Fröhlich wippte er mit seinem Fuß und badete im Erfolg. Oh ja! Er hatte es wieder geschafft! Obwohl die Leute seiner Heimatstadt nur die besten Geschichtenerzähler von Grünthal gewohnt waren, hatte er sie in seinen Bann gezogen. Mit dem Handrücken strich er sich eine helle Strähne aus der schweißnassen Stirn und lächelte in die Menge.
Immer mehr Taler klirrten in der Holzschüssel, die er vor dem Stuhl aufgestellt hatte. Da verschaffte sich Ansgar Platz und drängte sich mit den Ellbogen durch die Menge. Vor Finnlins Tisch blieb er stehen und stemmte die Hände in die Seiten. Grimmig blickte ihn der Metzger mit dem breiten Kreuz an. Dann zeigte er ein halbes Lächeln und streckte die Arme aus.
„Komm, Finni, mein Hübscher“, flötete er und blinzelte ihm zu.
Finnlin zögerte einen Moment. Den guten Ansgar hatte er mit seiner Darbietung wohl wirklich überzeugt. Aber der Metzger war seit Jahren Witwer und meist wollte er nur ein wenig Körperkontakt und jemand, der ihm zuhörte. Am Morgen gab er Finn oft noch etwas Speck für die anderen Schmutzleute mit. Finnlin nickte. Dann griff er nach seinen Krücken, schob sie unter seine Achseln und hievte sich auf die Füße. Ansgar fasste ihm um die Hüfte und hob ihn mühelos auf den Boden.
„Die Geschichte von dem Mädchen, das sich im Wald verläuft und zu einem Baum wird, hat mich begeistert. Kann ich die später noch mal hören?“, fragte der riesige Kerl schüchtern.
Finnlin zwinkerte ihm zu und beeilte sich, seine Münzen in ein Leinensäckchen zu zählen. Er setzte die Krücken auf und drehte sich zu den Gästen.
„Ihr seid das beste Publikum in ganz Grünthal!“, rief er laut und suchte Blickkontakt mit den Anwesenden. „Morgen Abend erzähle ich euch Neuigkeiten über unsere heidnischen Nachbarn!“ Ein Raunen ging durch die Menge und Finnlin lächelte zufrieden. Wenn es so weiterginge, würden sie auf dem Schmutzhof einen guten Winter erleben! „Sicher wollt ihr alle erfahren, was König Talin der Schreckliche und seine Schlächter so treiben? Und habt ihr schon von diesem Betrüger gehört, der vorgibt, der verborgene Magier zu sein? Der Kerl hat sich in der Burg von Valan versteckt und erzählt bessere Märchen als ich, das kann ich euch sagen!“
Aufgeregt murmelten die Gäste durcheinander. Geschichten aus ihrem Nachbarland Valan interessierten immer! Und so lange er aufpasste und alles im Licht der Herren von Grünthal erscheinen ließ, war er auf der sicheren Seite. Die Wahrheit war doch schon lange unwichtig geworden.
An einem Tisch in der Nähe der improvisierten Bühne hatte sich Ansgar niedergelassen. Die Bank ächzte unter seinem massigen Körper. Freundlich nickte er Finnlin zu und zeigte auf den leeren Platz neben sich. Bestimmt würde der reiche Metzger sich nicht lumpen lassen. Diese Einladung versprach ein Festmahl! Wasser lief in Finns Mund zusammen und fast konnte er das Spanferkel in Biersoße schon auf seiner Zunge schmecken. Finn humpelte näher.
„Ich will nur kurz Luft schnappen“, rief er über das Stimmengewirr hinweg und bahnte sich seinen Weg zur Tür.
Die verrückte Lina stand im Türrahmen und wippte von einem Fuß auf den anderen. Ihre verschlissenen Röcke folgten dem stummen Rhythmus, ihr Blick wirkte entrückt. Aber als sie ihn kommen sah, schien die Melodie in ihrem Kopf augenblicklich zu verstummen. Sogleich riss sie die Tür auf und verbeugte sich vor ihm wie vor einem Edelmann.
„Finni hat so schön erzählt“, flüsterte sie ehrfurchtsvoll.
Ihre runden Wangen glühten vor Aufregung und sie lächelte so sehr, dass sich ihre Augen zu Halbmonden verbogen.
Finnlin nickte ihr zu und griff in den Leinenbeutel, den er am Gürtel befestigt hatte. Er fühlte eine Münze unter seinen Fingern und verharrte für einen Wimpernschlag. Dann nahm er einen weiteren Silbertaler und steckte beide Münzen in Linas Rocktasche. Überrascht schlug sie eine Hand vor den Mund und gab ein erfreutes Geräusch von sich. Schließlich griff sie nach ihren durchlöcherten Röcken, hob sie an und ließ die Münzen darin klimpern.
„Danke“, raunte sie ihm zu.
„Ich entlohne dich doch nur für deine Geduld mit meinen Geschichten“, sagte er mit einem Zwinkern und beugte sich vor.
Schließlich hauchte er ihr ein Küsschen auf die Wange und hinkte nach draußen. Er quälte sich eine Stufe hinunter und grinste. In seinem Rücken konnte er Linas Blick noch spüren.
„Tür zu!“, plärrte da jemand im Gastraum und schon schloss sich die Eingangstür mit einem Knall.
Finnlin atmete die kühle Nachtluft tief ein. Bald füllte sie ihn ganz aus, vertrieb die Hitze des Wirtshauses. Er hinkte ein paar Schritte weiter bis zum Ende des Gebäudes und lehnte sich gegen die Wand. Noch einmal strich er über seine Einkünfte und lächelte zufrieden. Was für ein hervorragender Abend! Und er würde im warmen Bett des Metzgers enden, nicht auf einem Strohballen im Schmutzhof!
Er lehnte sich gegen die Wand und schloss die Augen. Die Gedanken flossen langsam aus seinem Kopf und Ruhe breitete sich in ihm aus. Ein Nachtfalter flatterte eine Runde um ihn herum und setzte sich auf seine Schulter. Mit ruhigen Schlägen bewegte er die Flügel auf und ab.
Ein Geräusch war in der Nähe zu hören. Aufmerksam sah Finn auf und neigte den Kopf zur Seite, blickte die breite Hauptstraße von Thalweiler hinunter.
Die Trockenheit der letzten Monate hatte die Straße in Staub verwandelt. Keine Blume zwängte sich mehr durch die harte Erde. Nur ein paar gelbe Grasbüschel am Wegesrand kämpften um ihr Überleben. Wie lange hatte es schon nicht mehr geregnet? Finn konnte sich nicht erinnern. Die Fenster der Häuser waren mit Holzläden verschlossen. Nicht einmal eine Kerze flackerte hinter einer der Scheiben. Abgesehen vom Lärm, der aus dem Wirtshaus drang, war kein Mensch zu sehen. Die Vögel waren längst verstummt, die Kühe schliefen auf der Weide und wer nicht im Goldenen Eichhörnchen saß, lag schon im Bett. Es war sicher nur eine Ratte!
Noch einmal sog Finnlin die frische Abendluft tief ein und bewegte die Schultern. Dann stützte er sich auf seine Krücken und drehte sich um. Da! Das war doch das gleiche Rascheln! Und keine Ratte bewegte sich mit so viel Lärm. Schauer rannen über sein Rückgrat. Die Brise schien plötzlich eisig. Verfluchte Höllenbrut! Unruhig sah er über seine Schulter und näherte sich schwerfällig der Tür.
„Feiger Hund“, murmelte er halblaut. „Machst dich an einen wehrlosen Einbeinigen ran!“
„Du bist nicht wehrlos!“, antwortete eine tiefe Stimme mit einem fremden Zungenschlag. „Mutig wie ein Bär bist du!“, fügte der Unbekannte an.
Finnlin schüttelte abwehrend den Kopf. Ein unbekannter Irrer? Diese Stimme gehört zu niemandem, den ich kenne. Und was ist das für ein merkwürdiger Akzent? Er legte seine Hand um den verrosteten Griff und zog die Tür einen Spaltbreit auf. Der Geruch von Spanferkel stieg in seine Nase und sein Bauch gab ein erfreutes Grummeln von sich. Bei allen hungrigen Dämonen, er musste jetzt etwas essen! Entschlossen hievte er sich auf die Stufe. Ein erschöpftes Schnaufen war hinter ihm zu hören.
Angst stieg in seinem Magen auf, brodelte bedrohlich darin. Noch einmal blickte er über seine Schulter, wollte das Goldene Eichhörnchen betreten. Da hustete jemand. Das Geräusch kam eindeutig von der anderen Seite des Wirtshauses. Jemand musste sich hinter der Ecke verstecken! Und dieser Jemand war offensichtlich krank.
Nachdenklich zog Finnlin den Mund zur Seite. Schließlich streckte er die Hand in seine Hosentasche und fühlte die trockenen Blätter darin. Eine Handvoll trug er immer bei sich. Abgesehen von der sonderbaren Dürre in diesem Jahr bekam Grünthal seine Farbe vom vielen Regen, der in diesem Land fiel. Aber die Hustenblätter halfen immer! Er schnupperte sehnsüchtig in den Gastraum.
Seufzend ließ er die Tür ein kleines Stück offen und winkte Lina zu, die immer noch im Rahmen lehnte. Mit zwei tänzelnden Schritten erreichte sie ihn und strahlte.
„Siehst du Ansgar dort am Tisch“, flüsterte Finnlin und zeigte mit dem Kinn in die Richtung.
Lina drehte den Kopf und spähte über die Gäste hinweg.
„Ich sehe ihn“, flüsterte sie verschwörerisch.
Finnlin lächelte für einen Augenblick. Lina mochte so alt sein wie er. Mitte zwanzig war sie sicher schon. Aber sie wirkte wie ein Kind von vielleicht sechs Jahren.
„Gut!“, sagte er leise und lauschte auf das Lied, das der Leierspieler gerade angestimmt hatte. „Wenn ich nach diesem Lied nicht im Wirtshaus bin, ruf Ansgar für mich! Er soll vor die Tür kommen.“
Lina nickte, sichtlich glücklich, nützlich zu sein. „Ich passe für dich auf!“, sagte sie freudestrahlend und stellte sich kerzengerade in die Tür.
„Vielen Dank, Lina“, sagte Finnlin höflich und hörte das Husten erneut.
Langsam bewegte er sich auf die Ecke des Hauses zu, vermied es, in die große Pfütze zu treten. Aus dem Fenster darüber kippte der Koch gerne das Dreckwasser.
Jemand hatte ein Holzbrett auf den Boden gelegt. Sicher der Wirt, damit er die Fässer in den Keller schaffen konnte. Finnlin beugte sich nach unten und schwankte gefährlich nah über der Wasserlache. Er krampfte die Finger um eine Krücke und legte mit der anderen Hand einige Blätter auf das Brett. Schwer atmend kam er in den Stand. Sofort hinkte er zwei Schritte zurück in Richtung Tür.
„Wer bist du eigentlich?“, fragte er mutiger, als er sich fühlte.
Einem nächsten Husten folgte Schweigen.
Finnlin hievte sich einen weiteren Schritt nach hinten und spürte jetzt die Stufe an seinem Schuh. Die Geräusche aus dem Gastraum drangen zu ihm.
„Ich bin niemand“, antwortete der Fremde plötzlich in dem gleichen Akzent wie zuvor. Weich und melodisch sprach er die Worte aus. „Ich bin deinetwegen hier“, sagte er leise. „Danke! Für deine Geschichten. Es ist ein guter Abend, wenn ich dir zuhören und dich ansehen kann.“
Finnlin verengte die Augen und versuchte die Umrisse des Schattens hinter der Ecke auszumachen. Stand dort ein großer Mann? War der etwa bewaffnet?
„Ich bin ein Krüppel“, murmelte er, ohne nachzudenken. „Niemand will mich ansehen.“
„Du bist wunderschön. Dein Haar strahlt wie Gold und dein Gesicht ist wunderbar ebenmäßig. So als hätte jemand eine Skulptur zum Leben erweckt“, flüsterte der Fremde.
Finnlin schnaufte und seine Schultern zuckten mit den Krücken, die unter seinen Achseln steckten. Für einen Augenblick wollte er loshumpeln, sich diesen sonderbaren Kerl ansehen. Dann setzte sein Verstand ein.
Sein hübsches Gesicht und die schmale Gestalt hatten ihm schon oft warme Nächte in fremden Betten beschert. Die Grünthaler waren einfach zu arm, um sich solche Dienste von zweibeinigen jungen Männern oder Frauen zu erkaufen. Aber es bestand kein Zweifel daran, dass sie einen Jungen mit einem gesunden Körper bevorzugen würden!
„Ich gehöre zu den Schmutzleuten! Wenn du mir einen Gefallen tun willst, dann komm rein, hör dir meine Geschichten an und gib mir ein paar Groschen dafür!“, erklärte er etwas, das doch jedes Kind in Grünthal verstehen sollte.
„Ich kann nicht“, brummte der Fremde.
Ungehalten schüttelte Finn den Kopf. „Dann nimm wenigstens die Blätter. Sie helfen gegen den Husten! Wenn du frierst und dich aufwärmen willst, dann geh draußen vor der Stadtmauer zum Schmutzhof. Nur ein Stück am Wald entlang und über die kleine Brücke. Sag, dass Finn dich schickt. Sie geben dir etwas zu essen und lassen dich dort übernachten.“
„Danke. Finn“, flüsterte der Fremde.
Für was bedankte er sich denn? Jede Stadt in Grünthal besaß doch einen Schmutzhof, auf dem sich Bettler, Ausgestoßene, fahrendes Volk und Geschichtenerzähler zusammenfanden.
„Ich gehe jetzt hinein!“, sagte Finn bestimmt und drehte sich um.
Mit einem raschelnden Geräusch griff jemand nach dem Blättern. Finn grinste. Zumindest musste der Fremde bald nicht mehr husten. Schwere Schritte entfernten sich eilig. Finn drehte sich um.
Die Hauptstraße lag immer noch menschenleer vor ihm. Der Mann musste über die Felder hinter dem Wirtshaus geflüchtet sein. Aber dahinter lag doch nur der Finsterwald. Seltsam. Kopfschüttelnd hob sich Finn noch einmal auf die Stufe. Durch den offenen Türspalt sah er Lina, die immer noch mit geradem Rücken Wache hielt. Zwischen den Reihen konnte er Ansgar erkennen. Der Metzger saß vor zwei gefüllten Tellern. Über Rotkorn türmte sich ein ganzer Berg Spanferkel. Eine bräunlich schimmernde Biersoße umfloss das Gebilde.
Finns Herz schlug schneller. Noch einen Moment und er war der satteste und zufriedenste Geschichtenerzähler von ganz Grünthal!
Zwei Männer standen auf und schritten auf Lina zu. Jetzt beendete der Laierspieler sein Lied und legte das Instrument auf den Tisch. Prüfend betrachtete Finn die Kerle. Den Blick starr auf die Tür gerichtet bahnten sie sich ihren Weg durch die Tische und Bänke. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag auf den Kopf: Diese Fremden gehörten sicher zur Spitzeltruppe der Burg. Falken der Gerechtigkeit nannten sie sich. Verdammt! Er musste sofort weg!
Im nächsten Augenblick stieß einer der Männer Lina unsanft zur Seite. Sie landete am Türrahmen und gab einen spitzen Schmerzensschrei von sich. Ängstlich sah er sich um. Wenn er die Ecke des Hauses erreichen konnte, bevor die Männer ihn sahen, dann hatte er vielleicht eine Chance!
Er setzte seine Krücken in den Schlamm und hüpfte hinterher. Noch einmal und noch einmal. Seine Schultern schmerzten von der Anspannung. Gleich habe ich es geschafft!
„Wohin willst du denn so schnell, Finn Einbein?“, fragte eine hämische Stimme hinter ihm.
Die Panik hatte seinen Kopf noch nicht erreicht, da spürte er Stiefel in seinem Rücken. Der Tritt war so heftig wie der dumpfe Schmerz, der ihm folgte.
Finnlin keuchte und stürzte mit dem Gesicht voran in die Pfütze. Schlamm spritzte auf, er schnappte nach Luft, atmete Wasser ein und hustete heftig. Alle Muskeln in seinem Körper spannten sich an. Erschöpft schloss er die Augen. Er hatte keine Chance! Hilflos wartete er auf den nächsten Schlag.
Ich bin niemand, hörte er den Fremden in seiner schönen dunklen Stimme sagen. Aber Niemand war längst im Wald verschwunden.
Eine Weile hörte er die beiden Männer miteinander murmeln. Schließlich packte ihn jemand unsanft am Arm und riss ihn nach oben.
„Hilf gefälligst mit, Krüppel!“, rief der größere der beiden.
Umständlich kam Finnlin auf seinen Fuß und stützte sich an der Hauswand ab. Mit der Rückseite seiner Hand strich er sich den Matsch aus den Augen und blinzelte. Die Männer waren unauffällig gekleidet. Wie Reisende, die die bequeme Passage nach Nordstatt gewählt hatten. Saubere Kleidung, schwere Stiefel. Einer war größer und hatte dunkelblondes Haar. Den Kopf des Kleineren zierte eine Glatze.
Diese Truppe brachte wirklich alles, nur keine Gerechtigkeit! Richter gab es längst nicht mehr, niemand wagte es, sich diesen Kerlen zu widersetzen. Nur die härtesten unter den Mördern und Folterknechten wurden zu dieser Truppe berufen. Aber was konnten sie von ihm wollen?
„Ihr seid keine Stadtwachen!“, sagte er und versuchte sich gerade hinzustellen. Sehnsüchtig sah er zu seinen Krücken, die noch im Schlamm lagen. „Was wollt ihr denn mit einem kleinen Geschichtenerzähler wie mir?“
„Junge, du wirst uns gleich ein paar kleine Geschichten erzählen!“, sagte der Glatzkopf mit einem Grinsen und öffnete seine Lederweste.
Darin versteckt blitzten Messer und Dolche hervor und schienen Finn auszulachen. Er schluckte mehrmals. Wo blieb denn Ansgar? Unruhig blickte er an den Männern vorbei zur Tür.
„Wartest du etwa auf den spendablen Metzger?“, spottete der Große.
„Da kannste lange warten!“, mischte sich der Kleine ein. „Der glaubt nämlich, dass du für heute einen besseren Begleiter gefunden hast und wird sich sicher in den Schlaf weinen.“
Finns Unterlippe zitterte unkontrolliert. Luft wollte kaum in seine Lunge dringen und doch schwirrten Fragen in seinem Kopf umher.
„Jetzt spuckt es schon aus“, rief er plötzlich. „Was soll ich wissen?“
Der Große zeigte auf die Ecke. Der Kleinere nickte. Sie packten Finn und zerrten ihn weiter von der Tür weg und um die Hausecke.
Ein Kirschbaum stand dort. Die reifen Früchte waren im Mondlicht gut zu erkennen. Finns Magen gab ein hoffnungsvolles Geräusch von sich, bevor er Übelkeit nach oben schickte. Und dann sah er das kleine Fenster, das in den Gastraum schauen ließ. Davor waren Fußspuren im Matsch zu erkennen. Und sie stammten von großen Füßen!
Im nächsten Augenblick stieß der große Falke ihn gegen die Hauswand und richtete sich vor ihm auf. Er öffnete seinen schwarzen Mantel und zwei Peitschen wurden sichtbar. Finn presste den Kopf fest gegen die Hauswand. Dieses Spiel hatte er verloren und vielleicht würde es sein letztes werden. Vierundzwanzig Jahre hatte er dieser Mördertruppe aus dem Weg gehen können. Aber die Begegnung mit ihnen überlebten die wenigsten.
„Wollt ihr Taler?“, fragte er müde und bewegte sich so, dass die Münzen in seinem Beutel klimperten.
Beide lachten laut. Der Kleinere machte eine abwertende Handbewegung.
„Was weißt du über den verborgenen Magier?“, fragte er schroff.
Finn riss die Augen auf. Ungläubig blickte er von einem Falken zum anderen.
„Was soll ich denn wissen?“, fragte er so unschuldig wie möglich. Sein Herzschlag raste davon. „Dass ein Irrer im Tempel von Valan lebt und sich für den verborgenen Magier hält, weiß doch jeder in Grün…“
Die Ohrfeige kam so unvermittelt, dass Finns Kopf zur Seite schnellte. Eingeschüchtert strich er über seine brennende Wange.
„Niemand kann sich für den verfluchten verborgenen Magier halten!“, fuhr ihn der größere Mann an. „Das ist nur ein Märchen der alten Religion! Und die Erwähnung dieser dummen Sage steht unter Strafe in Grünthal!“
„Aber ich habe doch nie behauptet, dass er wirklich der verborgene Magier ist!“, protestierte Finn schwach. „Es ist doch nur eine Geschichte“, fügte er flüsternd an.
„Es ist euch Schwaflern erlaubt, über die Gräueltaten von König Talin dem Schrecklichen zu berichten! Und wir wollen Blut und Tod darin hören! Aber niemand erwähnt die alte Religion ungestraft!“
Finn atmete schwer und sah nach unten. Sein Körper schmerzte, sein Magen war leer und er konnte den verdammten Stiefel immer noch in seinem Rücken spüren.
„Einverstanden“, murmelte er und sank an der Wand nach unten.
Schließlich saß er im feuchten Schlamm und strich mit dem Finger über die fremden Fußspuren. So groß! Vielleicht hätte er mich retten können. Aber er ist fort. Er lächelte bitter.
„Es gibt keine alte Religion mehr und keinen verborgenen Magier. Ich werde es mir merken“, erklärte er so demütig wie möglich. „Eure üblichen Drohungen hätten es auch getan.“
Die Männer sahen sich an. „Du kennst die Anweisung“, sagte der Glatzkopf. „Und der Krüppel weiß sicher mehr, als er zugeben will.“
Der Große zuckte mit den Schultern. „Dem tun wir ein bisschen weh und lassen ihn liegen. Der ist doch harmlos!“
Hoffnung brandete in Finn auf. Hastig nickte er.
„Geht uns doch nichts an, wer harmlos ist!“, drängte der Glatzköpfige. „Der Befehl war eindeutig!“ Er atmete tief ein und aus. „Wir haben schon mal Mist gebaut. Sonst müssten wir jetzt nicht wie die Schmutzleute durchs Land tingeln und uns mit solchem Gesindel abgeben!“
Der Große rollte mit den Augen. Langsam nickte er. „Dann mach es gleich jetzt!“
Finn schloss die Augen. Würde er seinen kleinen Bruder in der Welt des Lichts wiedersehen? Sicher würde es wehtun! Seine Brust wurde unerträglich eng. Aber bestimmt konnte er den Kleinen bald wieder in die Arme schließen.
Jemand riss sein Leinenhemd auf. Dann herrschte erschrockene Stille!
„Das Amulett“, flüsterte der Glatzkopf entsetzt. „So eines haben wir dem anderen abgenommen! Ein grünes Auge!“
Überrascht öffnete Finn die Augen und sah auf seine schmale Brust. Natürlich war es eine Todsünde, ein grünes Auge zu tragen. Ein klares Zeichen des Weges der alten Geister. Aber viele Grünthaler trugen noch dieses Symbol der alten Religion unsichtbar unter ihrer Kleidung. Man konnte ja nie wissen. Ein Grund mehr, ihn zu töten.
„Es ist aus dem gleichen blassen Stein gefertigt wie seines! Ich sehe es noch vor mir“, flüsterte der Große ehrfürchtig.
„Ich greife den da nicht an!“, erklärte der Glatzkopf entschlossen und drehte sich zu seinem Kumpan. „Du bist doch aus dieser Gegend? Wir müssen ihn irgendwo beseitigen!“
Der Große sah in die Ferne und sein Blick verlor sich im Finsterwald. Dann grinste er breit.
„Da drin gibt es einen Ort, der erledigt diese Aufgabe für uns!“, sagte er und deutete auf den Waldrand. „Aber wir sollten uns beeilen. Der Kerl hier ist mir nicht geheuer!“
„Dann trag du ihn!“, forderte der Kleine.
Der große Mann mit dem dunkelblonden Haar und den versteinerten Gesichtszügen trat an Finn heran. Unvermittelt packte er ihn unter den Achseln und hob ihn über seine Schulter. Wie ein Sack Mehl hing Finn dort, die spitze Schulter des Mannes bohrte sich in seinen Magen.
„Gut, dass sie den Schmutzleuten kaum etwas zu essen geben“, brummte der Große gut gelaunt. „Ist leicht wie eine Feder, der Krüppel.“
„Dem fehlt ja auch ein halbes Bein“, belehrte ihn sein Kollege.
Und dann stapften sie los. Finn schwankte auf der fremden Schulter hin und her. Steif vor Angst sah er hoch. Sie näherten sich unaufhörlich dem Waldrand. Schweiß trat ihm aus allen Poren. Was konnte er jetzt noch tun? Er musste einfach überleben! Er hatte es doch versprochen.
Kapitel 2
Die Kälte verbündete sich mit Panik, kroch in seine Knochen und ließ ihn zittern. Finn versuchte durchzuatmen, aber die Luft wollte kaum in seine Lungen dringen. Verzweifelt hustete er. Doch der große Kerl schleppte ihn unbeeindruckt weiter, immer tiefer in den Wald.
Zweige knackten unter den schweren Stiefeln. Finn hob den Kopf und sah Thalweiler in einiger Entfernung. Die prächtigen Steinhäuser der reichen Einwohner warfen lange Schatten. Allesamt Unterkünfte von treuen Gefolgsleute der Herren von Grünthal bewohnt. Und nichts regte sich in den windschiefen Holzhäusern, in denen die bettelarme Bevölkerung der Stadt lebte. Das fahle Licht des Halbmondes beschien die verräterische Ruhe.
Finn sog jeden Eindruck tief in sich ein. Hoffentlich würde es nicht das Letzte sein, was er lebend sah! Sein Körper spannte sich von den Haarspitzen bis zu den Zehen an. Ganz so, als könne er wirklich weglaufen. Er verzog den Mund zu einer bitteren Grimasse.
Seine Mörder waren dumpfe Einfaltspinsel. Und was faselten sie von dem anderen? Wer sollte das sein und was hatte der mit ihm zu tun? Warum schreckte sie ein grünes Auge ab? Nun, dieser merkwürdige andere hatte ihnen wohl einen Schrecken eingejagt. Recht so! Aber das war sicher ein gesunder junger Mann gewesen – kein Krüppel. Mit einem letzten Aufbäumen seines Willens sah er sich um.
Mal hing ein Ast tief genug, dass er sich daran festhalten konnte. Mal bot eine Vertiefung im Boden eine Gelegenheit. Er konnte zappeln und den Großen zu Fall bringen. Nur was sollte er dann tun?
Finn schluckte hart. Er würde einfach hilflos auf dem Boden sitzen und darauf warten, dass sie ihn gleich an Ort und Stelle töteten. Die Ausweglosigkeit seiner Lage erfüllte ihn und färbte alle Gedanken schwarz. Mutlos ließ er den Kopf hängen.
Der große Falke trabte unaufhörlich weiter, hinein ins tiefe Unterholz. Stöcke brachen unter seinen schnellen Schritten. Ein Käuzchen schrie in die Nacht. Aufgeschreckte Vögel flatterten von ihrem Schlafplatz auf. Sein glatzköpfiger Begleiter schob Äste und Sträucher mit einem langen Messer beiseite.
Wie lange liefen sie schon? Finn stöhnte leise. War es nicht egal, ob er sofort oder erst am Ende der Nacht sterben musste? Der letzte Widerstand in ihm wich der Gewissheit seines Endes. Aber wenn sie ihn nicht selbst töten wollten, was hatten sie dann vor?
Da! Zeigten sich dort Augenpaare zwischen den Bäumen oder bildete er sich das ein? Finn konnte die hungrigen Wolfsrudel des Finsterwaldes schon schnauben hören. Der erste Wolf, der ihn fand, würde heulen und seine Familie herbeirufen. Ein eisiger Schauer rann über Finns Rücken. Mit einem Mal verlangsamte der Große seine Schritte.
Finn konnte die Umrisse des Waldrandes erkennen und versuchte sich zu orientieren. Der modrige Geruch des Waldbodens mischte sich mit dem frischen Duft von Gras. Im nächsten Augenblick landete er unsanft auf dem Boden. Nur mit Mühe konnte er einen Schmerzenslaut unterdrücken.
„Warum?“, fragte er. „Warum ich?“ Er bewegte seine schmerzende Schulter und rieb über sein Knie, das in einem Stumpf endete. „Ich verstehe es einfach nicht.“
Der Glatzkopf rollte mit den Augen und der Große schüttelte abwehrend den Kopf.
„Wir sind Falken und handeln auf Anweisung der Herren von Grünthal“, sagte er brav auf. „Und wir werden nicht den gleichen Fehler zweimal machen. Dieses Mal gehen wir auf Nummer sicher!“
Finn atmete schnell und flach. Das ergab doch alles keinen Sinn! Aber so starb man heutzutage eben in Grünthal. Die wenigsten lebten bis ins hohe Alter. Wen der Hunger nicht dahinraffte, den fanden früher oder später die Falken und hängten ihm ein Vergehen an.
Der Glatzkopf nickte. „Jetzt befass dich doch nicht mit diesem Krüppel“, bellte er ungehalten. „Und was ist das hier eigentlich für ein verdammter Ort? Lass es uns endlich erledigen!“
„Das ist die verbotene Lichtung!“, erwiderte der Große und Finns Blut gefror in seinen Adern. An diesen schrecklichen Ort hatten sie ihn zum Sterben geschleppt? Nein! Er durfte nicht aufgeben!
Der Große winkte ab. „Die Leute hier in der Gegend reden allerhand Unsinn über diese Lichtung“, sagte er abschätzig. „Dabei gab es dahinten im Nebelgrund einmal einen Waldhof. Aber unsere neuen Herren möchten eben nicht, dass Bürger im Wald leben und womöglich heimlich die alten Geister ehren. Man sagt, hier wohnte einst eine Heilerfamilie.“ Er lachte schallend und der Glatzkopf fiel mit ein.
„Die hat man doch längst von ihrem Unglück befreit“, sagte er unter seinem Lachen und deutete mit dem Finger einen Schnitt durch die Kehle an.
Finn kämpfte gegen den Drang, aufzuspringen und die beiden Scheusale zu verprügeln. Traurig starrte er auf seinen Stumpf. Als kleiner Junge hatte er so schnell wie der Wind rennen können.
Er schloss die Augen. Wäre das nicht ein schönes Ende für diese schlimme Geschichte? Er würde einfach aufstehen, den beiden mit einem der herumliegenden Äste auf die dummen Köpfe schlagen und wie ein Hirsch durch den Wald davonrennen. Irgendwann würde er am Schmutzhof ankommen und sie würden zusammen lachen und den Wein trinken, den er von seinen Einkünften gekauft hatte. Er lächelte versonnen zu seiner Vision. Da packte ihn der Große und riss ihn nach oben.
„Vom alten Heilerhof steht nicht mehr viel. Aber etwas haben sie uns hinterlassen!“, verkündete er erfreut. „Ihre Bärenfalle!“
„Bei allen Geistern!“, rief Finn, ohne nachzudenken. „Ihr verfluchten Dreckskerle! Lasst mich doch nicht in diesem Loch verrotten!“ Er begann mit den Armen zu rudern und rutschte ein Stück auf dem feuchten Gras. Aber der Große hielt ihn an der Schulter fest.
„Vergiss es“, blaffte er und schlug ihm fest ins Gesicht.
Der Schmerz hallte eine Weile in Finns Kopf wider. Plötzlich griff ihm der Glatzkopf ins Haar und zog seinen Kopf mit einem Ruck zurück. Er spuckte ihm ins Gesicht.
„Halt gefälligst still! Hier hört dich ohnehin niemand!“, rief er aufgebracht. „Wir überlassen dich dem Wald. Die Bären finden dich schon bald und glaub mir, die werden das tiefe Loch nicht gerne mit dir teilen.“
„Die nehmen ihn auseinander wie ein Hühnchen“, bestätigte der Große kalt.
Finns Herz schlug bis hinauf in seinen Hals, wollte ihm aus der Brust springen. Tage, vielleicht zwei Wochen würde es dauern, bis er in diesem Loch verreckt war. Aber der Fall würde ihn vielleicht erledigen? So eine Bärengrube war gut und gerne fünf Armlängen tief und drei breit.
Der Große trat einige Äste zur Seite. Finn krallte die Fingernägel tief in die Innenfläche seiner Hand, bis es wehtat. Er beugte sich vor und starrte in die Dunkelheit hinunter. Der Boden des Loches war nur zu erahnen. Dort unten würde sein junges Leben enden?
„Bitte“, flüsterte er verzweifelt. „Ich werde nie mehr etwas über den verborgenen Magier erzählen. Ihr könnt auch mein grünes Auge haben! Meine Großmutter hat es mir geschenkt. Ich brauch es nicht mehr!“
Der schwere Stiefel traf ihn unvermittelt am Oberarm. Finn schnaufte laut und bog sich vor Schmerz. Schützend hielt er eine Hand an die Stelle. Da folgte schon der nächste Tritt. Er traf seine Hand.
Finn presste einen Schmerzlaut aus seiner Kehle und sah nur den Fuß des Glatzkopfs aus den Augenwinkeln. Dann spürte er den Tritt an seiner Hüfte und rutschte über den feuchten Boden, hinein in die Bärengrube. Angefüllt mit nichts als Schmerz und Angst krümmte sich sein Körper noch im Sturz. Der Tod würde ihn gleich erlösen!
Hart knallte Finns Kopf gegen die erdigen Wände, landete schließlich in der trockenen Grube. Kein Ton wollte über seine Lippen kommen. Lebte er noch? Er blinzelte und hörte, wie die Widerlinge hoch oben Reisig über dem Loch verteilten. Plötzlich ertönte ein unsägliches Gebrüll über ihm. Er versuchte, den Laut einem Wildtier zuzuordnen, doch er wollte zu keinem passen. Nur seine Peiniger konnte er eindeutig ausmachen. Denn sie riefen laut um Hilfe. Dann entfernten sich ihre Stimmen.
Finn lauschte eine Weile, doch kein weiteres Geräusch wollte zu ihm vordringen. Flüssigkeit rann aus seiner Nase und floss über seine Lippen. Er streckte die Zunge heraus und kostete den metallischen Geschmack von Blut. Sein Kopf dröhnte, jeder Muskel, jeder Knochen in seinem Körper schrie laut nach Hilfe. Höllenschmerzen durchströmten die Stelle, an der sie ihn getreten hatten.
Langsam versuchte er, den Kopf zu drehen und stieß einen kehligen Schmerzenslaut aus. Aber etwas in seinem Hirn funktionierte noch! Denn ein Gedanke übertönte alle anderen: Allein! Er saß hier unten mit gebrochenen Gliedern und keiner seiner Freunde wusste, wo er sich befand.
Natürlich würden sie ihn auf dem Schmutzhof vermissen. Für einen Augenblick blitzte Hoffnung in ihm auf. Till würde nach ihm suchen, ganz sicher! Till war doch der Hauptmann und er hatte viele Freunde!
Nun, er war nur der Hauptmann der Schmutzleute von Thalweiler und die Stadtwachen quälten ihn ebenso wie alle anderen Schmutzleute. Im Grunde war er machtlos. Finn blinzelte. Selbst seine Augenlider schmerzten.
Die Finsternis der Bärengrube gab ihre Geheimnisse nicht preis. Er saß bis zu den Hüften im Regenwasser und konnte nicht einmal die Hand ausstrecken, um die Wände zu betasten. Es roch nach einem kläglichen Rest von abgestandenem Wasser, Schlamm und Tod. Hilflos schloss er die Augen.
Wie lautete das Gebet an die Geister, das seine Großmutter ihm beigebracht hatte? Finn versuchte sich an die Worte zu erinnern, doch jeder Gedanke brachte mehr Schmerzen mit. Sein Kopf schien zwischen zwei schweren Steinplatten eingeklemmt zu sein und auf seinem Körper lasteten zehn Felsen. Plötzlich bewegte sich etwas neben ihm.
Erschrocken zuckte er zusammen. Dann hörte er ein leises Geräusch und es kam eindeutig aus der Grube. Krochen Schlangen nicht gerne in diese dunklen Löcher? Finns schmerzende Glieder spannten sich an und er lauschte verzweifelt. Was auch immer mit ihm in diesem Loch saß, es befand sich in seiner Nähe! Kalte Schauer rannen über seinen Rücken.
Ängstlich drängte er sich zur Wand. Seine Augen gewöhnten sich an die Finsternis, fingen jetzt das wenige Mondlicht ein. Ein Umriss gewann immer mehr an Gestalt, bis er endlich erkennen konnte, was sich nur eine Armlänge neben ihm befand. Blut tropfte nach wie vor aus seiner Nase und sein Mund stand vor Entsetzen offen.
Ein kleines Mädchen hockte dort. Sie mochte kaum älter als zehn Jahre sein und trug ein Kleid, dessen Farbe er im Halbdunkel ebenso wenig ausmachen konnte wie die ihrer langen Haare. Genau wie er saß sie auf der Erde und hatte die Beine angezogen, die Arme um die Knie gelegt. Wie dunkle Sterne funkelten ihre Augen, während sie ihn anstarrte.
Entsetzt von dem Anblick streckte Finn die Hand nach ihr aus und stöhnte augenblicklich vor Schmerz. Er musste seine Hand sinken lassen, doch das brackige Wasser umspielte sie kühlend. Nur eine kleine Pfütze war nach den Wochen der Trockenheit geblieben.
„Hab keine Angst“, sagte er das Erste, das ihm einfiel. „Bald findet uns jemand.“ Doch die Panik hatte dem Kind wohl die Glieder versteift. Starr haftete ihr Blick auf ihm. „Bist du auch in dieses Loch gefallen?“, fragte er leise.
Da hob sie den Kopf langsam und sah nach oben. Für eine Weile verlor sich ihr Blick dort. Bei den Verfluchten, sicher konnte sie sich nicht mehr an ihren Sturz erinnern. Mitgefühl durchdrang Finn und für einen Moment vergaß er sein eigenes Leid.
„Wie lange bist du schon hier unten?“, fragte er vorsichtig.
Da drehte das Mädchen ihr Gesicht zu ihm und blinzelte. Aschfahl wirkte sie und Finn war sich sicher, dass es nicht nur das Mondlicht war, das ihr die Farbe genommen hatte.
„Sie haben mich vergessen!“, antwortete sie mit einem Mal. „Tief im Wald. So lange warte ich schon auf dich!“ Ihre Stimme klang kindlich. Eindringlich sah sie ihm in die Augen. „Bärenherz“, sagte sie mit ihrem glockenhellen Stimmchen. „Du musst mich vor den anderen finden. Sonst ist alles verloren.“
Die Kleine hatte eindeutig Fieber. Finn versuchte, seine Schulter zu bewegen. Die Hustenblätter besaßen auch eine schwache Wirkung gegen Fieber. Wenn er doch nur in seine Tasche greifen könnte! Doch es war, als würde ein glühender Dolch in seiner Schulter landen und sich weiter in seinen Arm bohren.
„Du hast mich sicher auf dem Marktplatz gesehen“, brachte er keuchend hervor. Er musste das kleine Mädchen unbedingt beruhigen! „Aber mein Name ist nicht Bärenherz– ich bin Finnlin Einbein! Der Geschichtenerzähler.“ Er zwang sich zu einem dünnen Lächeln. „Soll ich dir vielleicht eine Geschichte erzählen, während wir warten?“
„Finnlin?“, wiederholte sie fragend und schien zu überlegen. Dann schüttelte sie den Kopf. „Du bist Bärenherz und du musst mich finden! Bald!“, erwiderte sie mit Nachdruck und ihre Augen schienen noch größer zu werden. „Sonst kommen sie und holen sich alles! Und das ist das Ende!“
Kein Wunder, dass sie vom Ende fantasierte. Finn atmete so flach, wie möglich. Alles, was ihnen drohte, war das Ende in der verfluchten Bärengrube!
Aber dieses Kind musste er doch trösten! „Wie heißt du denn?“, fragte er und unterdrückte den nächsten Schmerzenslaut.
Plötzlich stand sie auf. Das Wasser der Pfütze hatte Teile ihres Kleides durchnässt. So wie sie dort stand, nur mit dem dünnen Kleidchen auf dem schmalen Leib, wirkte sie noch kränker. Wirr hing es ihr bis weit in den Rücken. Für einen Moment stand sie ganz ruhig da. Dann beugte sie sich zu Finn.
„Du musst mich finden, bevor es die anderen tun. Ich warte schon so lange auf deine Rückkehr“, flüsterte sie in sein Ohr. Alle Härchen auf Finns Armen stellten sich mit einem Mal auf. Etwas stimmte hier nicht! Was war mit diesem Kind passiert? War sie hier unten etwa verrückt geworden?
„Du kennst mich doch!“, sagte sie und richtete ihren Blick erneut nach oben. „Ich bin Parvane!“
Finn traute seinen Augen nicht. Das Mädchen wurde von Augenblick zu Augenblick durchsichtiger und schließlich war sie verschwunden. Nicht sie, er war verrückt geworden! Es war eindeutig. So sehr wie sein Kopf dröhnte, war es kein Wunder, dass darin etwas zerbrochen war. Er hatte sich das kleine Mädchen natürlich nur eingebildet.
Mit der Klarheit kamen die Schmerzen zurück und brachten Übelkeit mit. Wie hatte er nur mit dem erfundenen Kind reden können?
Da raschelte etwas weiter oben über ihm. Finn verharrte für einen Moment. Kam jetzt die nächste eingebildete Erscheinung? War er dem Tod schon so nah? Da war das Geräusch erneut zu vernehmen.
Unter einem Stöhnen lehnte er schließlich den Oberkörper etwas zurück und versuchte nach oben zu schauen. Doch sein Hals ließ es einfach nicht zu.
Wer bei allen Höllen machte sich da am Reisig zu schaffen? Waren die Schlächter etwa zurückgekommen oder war es das wilde Tier mit dem schrecklichen Gebrüll? In diesem Wald gab es wirkliche Albträume, nicht nur die, die er in seinem Fieber erdachte.
Finn konnte nichts mehr fühlen, nichts mehr denken. Versunken in den Qualen seines Körpers drang selbst die Angst nicht mehr zu ihm durch. Langsam fielen seine Augenlider zu.
Benommen hörte er mehr Geräusche. Plötzlich landete etwas dumpf neben ihm. Unendlich erschöpft öffnete er die Augen und blinzelte erschrocken in eine Lampe, in der eine Kerze brannte. Woher kam plötzlich diese Kerze? Und dann sah er den Bären!
Riesig und breit stand er vor ihm, schwarzes Fell bedeckte seinen Kopf. Er streckte seine Arme nach ihm aus. Finn lächelte. Jetzt würde er seinen kleinen Bruder wiedersehen und nie mehr Schmerzen leiden! Sein Versprechen endete in einer Bärengrube.
Aber da packte ihn der Bär und hob ihn vorsichtig in seine Arme. Warm war die breite Bärenbrust. Finn schmiegte sich in das weiche Fell. Es gab wahrlich schlechtere Arten zu sterben.
Jetzt atmete er ruhiger und wartete gelassen auf die scharfen Zähne. Stattdessen strich ihm der Bär sanft übers Haar und bewegte sich behutsam mit ihm.
„Halte noch ein bisschen durch“, brummte eine tiefe Stimme nah an seinem Ohr.
Eine Frage wollte in Finns Kopf dringen. Aber im nächsten Augenblick wurde ihm schwarz vor Augen.
Der Geruch von getrocknetem Moos lag in der Luft. Mit geschlossenen Augen schnupperte Finn. Frisch roch die Umgebung und jetzt spürte er das weiche Moos auch unter seinem Rücken. Er bewegte sich behutsam auf der Unterlage. Im nächsten Augenblick stach ein heftiger Schmerz in seine Brust.
Dann war er also nicht gestorben und in der Welt des Lichts angekommen. Aber wo befand er sich jetzt? Für einen Moment dachte er an das sonderbare Mädchen. Wie eine Botin des Todes war sie neben ihm in der Bärengrube erschienen. Was für ein Albtraum war das überhaupt gewesen? Er solle das fremde Kind irgendwo im Wald suchen? Da war er aber gehörig auf seinen Kopf gefallen.
Verwundert öffnete er die Augen. Ein Lichtstrahl traf auf seine Pupillen und ließ ihn blinzeln. Nur langsam gewöhnte er sich an die Helligkeit. Über ihm öffnete sich der Himmel in wunderschönen Farben.
Ein helles Blau durchzog den Horizont, schneeweiße Wolken schwebten wie flauschige Schäfchen darüber und die Sonne strahlte mit Kraft. Doch etwas an diesem Bild wirkte eigenartig. Prüfend blickte er hinauf und schnaufte leise.
Er lag nicht wirklich im Freien! Vielmehr hatte jemand eine Zimmerdecke mit der beeindruckenden Himmelslandschaft bemalt! Und die Strahlen der Sonne fielen durch ein achteckiges Oberlicht. Jede Ecke verlängerte sich in gemalte Strahlen und verstärkte den Eindruck, dass man sich unter freiem Himmel befand.
Den Geistern sei Dank! Erleichtert schmiegte Finn seinen geschundenen Rücken tiefer in das Moos. Jemand musste im letzten Augenblick den Bären besiegt und ihn gerettet haben. Und dieser jemand wohnte in einem außergewöhnlichen Haus. Wer war in Grünthal so mutig und leistete sich solch auffälligen Schmuck für seine Räume? Das würde doch nicht nur den Neid der Nachbarn erregen, sondern auch die Aufmerksamkeit der Falken!
Finn versuchte, den Kopf anzuheben, doch im nächsten Augenblick stöhnte er leise vor Schmerz. Angespannt verharrte er in der Position und verengte die Augen zu Schlitzen.
Er lag in einem breiten Bett auf einer Moosschicht, die darüber ausgebreitet war. Unter seinem Kopf lagerte ein weiches Kissen. Finn wunderte sich. Das Kissen war nicht mit Stroh, sondern mit Federn gefüllt. Dann war er also in einem wohlhabenden Haushalt gelandet.
Großflächige Gemälde zierten die Wände ebenso wie die Decke. Wiesen mit mächtigen Weiden strahlten in schönen Farben. Tauben flogen über die Landschaft, und unter einem Baum saß ein kleiner Junge mit dunklem Haar. Alles war ebenso kunstvoll wie lebensecht wiedergegeben. Die Farben leuchteten und wer den Pinsel geführt hatte, war ohne Zweifel begabt.
Etwas drückte auf seine Brust. Finn senkte den Blick und sah die Bandagen, die um seinen Oberkörper gewickelt waren. Kräuter schauten hier und da daraus hervor. Sein amputiertes Bein war mit einem Stock geschient und ebenfalls bandagiert. Nur der Stumpf ragte unterhalb seines Knies heraus. Verwundert sah er sich weiter um.
Ein kleiner Tisch stand neben dem Bett. Er war aus einer Baumstammscheibe und Ästen angefertigt. Darauf stand ein Holzbecher, gefüllt mit einer Flüssigkeit aus der noch Dampf aufstieg. Dieser mysteriöse Jemand hatte ihm sogar Tee gekocht! Bei allen Höllen – wo war er hier gelandet? So sah doch kein Haus in Grünthal aus! Sein Atem ging schneller. Die Anspannung zuckte durch seine schmerzenden Glieder.
In der Mitte des Raums befand sich ein größerer Tisch, an dem vier Menschen Platz finden konnten. Ein gutes Stück dahinter an der Wand war ein breites Regal aufgebaut. Allerlei Werkzeug und Behälter aus Holz und Glas standen dort der Größe nach aufgereiht. Dazwischen lagerte dicke Bücher, keines davon zierte eine Staubschicht. Wer auch immer hier lebte, musste sie oft herausziehen. Aber wer konnte denn heute noch lesen? Die Schulen in Grünthal blieben doch seit einer Generation geschlossen.
Und das Besteck und die Schüsseln waren aus Holz gefertigt, nicht wie in den Haushalten der Reichen aus Steingut. Vor dem Regal war ein langes Holzbrett angebracht.
Rauch zog zu ihm herüber. Finn drehte den Kopf ein wenig, um die Feuerstelle sehen zu können. Entsetzt riss er die Augen auf. Dort am Feuer, mit dem Rücken zu ihm stand jemand. Der Bär! Finn schnappte nach Luft! Eisig sprang ihn die Panik an und hielt ihn fest im Griff. Er musste sofort hier weg!
Noch einmal atmete er unwillkürlich ein, doch die Luft stach ihm wie ein Dolch in die Rippen. Finn ächzte unwillkürlich und presste die Lippen fest zusammen. Er durfte sich nicht verraten! Und die Frage, wieso jemand einen Bären im Haus hielt, würde er später stellen können. Jetzt musste er aus diesem verdammten Bett kommen! Zu spät!
Finns Glieder spannten sich an. Hastig blickte er sich nach einer Tür um. Moment! Trug der Bär etwa Kleidung? Waren die Reichen von Grünthal jetzt völlig verrückt geworden und zogen ihre gefährlichen Haustiere an? Eine Wildlederhose zierte die geraden Beine. Ein grobes Leinenhemd steckte darin und er trug einen verzierten Gürtel. Die Hüfte war doch viel zu schmal für die eines Bären! Finns Auge zuckte unruhig.
Über das Hemd hatte der merkwürdige Bär eine enge Wildlederweste gezogen. Und seine Haltung entsprach nicht der eines Tieres! Das war eindeutig - ein Mann! Finn atmete seine Anspannung aus und sah genauer hin. Für einen Menschen war dieser bärige Kerl aber erstaunlich groß und breitschultrig. Und was bei den zotteligen Dämonen der fünften Hölle befand sich da auf seinem Kopf?
Skeptisch betrachtete Finn die schwarzen Locken, die dem Mann bis in den halben Rücken fielen und wild um seinen Kopf standen. Na, kein Wunder, dass er den für einen Bären gehalten hatte! Finn lachte leise über seine Dummheit. Da drehte sich der Bärenmann zu ihm um.
Mit großen Augen betrachtete Finn seinen Gastgeber. Das Gesicht war fast vollkommen von einem schwarzen Vollbart bedeckt. Die wilden Locken fielen ihm bis über die Augen und für einen Augenblick war Finn sich nicht sicher. Am Ende war das ein Dämon! Halb Mensch, halb Tier?
„Du bist wach“, stellte der Mann mit einer tiefen Stimme fest.
Er klang freundlich und etwas an seinem Tonfall kam Finn bekannt vor.
Finn stöhnte und musste den Kopf auf dem Kissen ablegen. Er hustete leise. Nur für einen Augenblick würde er das weiche Bett genießen! Was für eine Chance zur Flucht hatte er auch schon.
„Wer ...“, begann er und musste mehrmals schlucken. Staubtrocken war sein Mund und seine Zunge klebte am Gaumen. „Wer bist du?“
Immer noch suchte er das Zimmer nach einer Fluchtmöglichkeit ab.
Mit schweren Schritten kam der große Kerl näher, blieb vor dem Bett stehen.
„Lejan“, sagte er knapp. „Lejan vom Buntwasser.“
Finn blinzelte schwach. „Von diesem Ort habe ich noch nie etwas gehört.“ Misstrauen quoll in seinem Magen auf.
„Buntwasser ist der bekannteste Färberort in Valan“, erwiderte der eigenartige Mann.
Finn versuchte, den Kopf zu schütteln und stöhnte leise. Noch nie hatte er einen leibhaftigen Valaner gesehen. Aber es musste stimmen. Denn kein Mann in Grünthal erreichte diese Größe. Finn schnaufte leise. Für einen Ausländer sprach dieser Lejan wirklich sauberes Grünthalerisch, auch wenn er nicht verbergen konnte, dass er nicht in diesem Land geboren war. Viel weicher und melodischer, als die der Einheimischen, klang seine Aussprache.
Jetzt zuckte Aufregung durch Finns Magen. Groß und kräftiger als seine Landsleute sollten Valaner sein. Nun, so viel entsprach schon einmal der Wahrheit. Und nein, er glaubte den Geschichten über den schrecklichen König Talin nicht! Die Herren von Grünthal sorgten doch mit diesem Schauermärchen nur dafür, dass ihre Bürger nicht scharenweise die Reise durch die Todesssteine nach Valan antraten. Aber wenn König Talin nun tatsächlich diesem Mann ähnelte, dann war sein Beiname verständlich. Ob alle valanischen Männer so zum Fürchten aussahen?
„Und was treibt dich ausgerechnet nach Grünthal? Ihr Valaner seid doch freie Leute!“, fragte Finn skeptisch. „Sogar Schulen für alle gibt es bei euch!“
Nachdenklich legte Lejan den Kopf etwas in den Nacken und schwieg eine Weile. „Farben“, brummte er schließlich.
„Es gibt eine wichtige Zutat für Heiltränke, die nur in Grünthal vorkommt.“ Für einen kurzen Moment lag angespannte Stille über dem Raum. Meinte er eine Heilpflanze oder etwa einen Pilz? Ihm war es im Grunde gleich, was seinen Lebensretter hierhertrieb. Aber nur wegen einer Pflanze die beschwerliche Reise über die Todessteine anzutreten, war doch ein wenig aufwändig.
„Welche Pflanze soll das sein?“, fragte er skeptisch.
„Nachtgold“, erwiderte Lejan und seine Augen blitzten auf.
Wieso schaute er denn so angespannt? Finn zuckte mit den Schultern.
„Da kann ich dir nicht helfen“, gestand er. „Nachtgold? Habe ich noch nie gehört.“
Und mit einem Mal verwandelte sich Lejans Blick wieder. Sanftmütig und freundlich wie zuvor sah er Finn an.
„Ich brauche es für meinen kleinen Bruder“, erklärte Lejan leise. „Nachtgold verstärkt alle Heiltränke und wir haben nur noch geringe Vorräte in Valan.“
Mitgefühl schwappte augenblicklich durch Finns Adern. Und mit einem Mal schien Lejan ihm vertraut. Oder war es nur dessen Anliegen?
Er nickte leicht. „Ich wäre im Winter barfuß über die Todessteine gelaufen, wenn ich damit meinen Bruder hätte retten können“, murmelte er betroffen.
Und es gab keinen Handel zwischen ihren Ländern. Wenn dieses Nachtgold wirklich Lejans kleinen Bruder heilen konnte, dann verstand er gut, dass der all die Mühen und Gefahren auf sich nahm. Ein nächstes Husten schüttelte seinen Körper und schon musste er sich vor Schmerzen krümmen.
Mit einem Schritt war Lejan bei ihm und legte ihm sanft eine Hand auf die Brust. Riesig und schwer lasteten die fremden Finger in der Nähe seines Herzens.
„Bleib ruhig!“, befahl der große Valaner mit Nachdruck. „Deine Rippen sind gebrochen.“ Er suchte Finns Blick. „Du hast schon mit einem Fuß in der Welt des Lichts gestanden, als ich dich gefunden habe.“
Finn versuchte zu nicken. Und trotz all der Schmerzen schlich sich ein schiefes Grinsen auf seine Lippen.
„Dann war ich also wirklich tot und du hast mich aufgeweckt?“, fragte er. „Mit mehr als einem Fuß kann ich ja schlecht in der Welt des Lichts stehen.“ Der nächste Husten schüttelte ihn durch. „Hast du meine Wunden versorgt?“, fragte er und deutete auf die Verbände.
Lejan brummte ein leises Ja in seinen Bart.
Durch das Gewirr an schwarzen Locken konnte Finn braune Augen erkennen, die ihn neugierig betrachteten. Etwas Beruhigendes lag in dem Blick und für eine Weile versank er darin, ließ sich treiben. Die großen Augen des Valaners strahlten Wärme und Mitgefühl aus. Unwillkürlich musste Finn lächeln. Denn Menschen anhand ihres Blickes einzuschätzen, war seine Spezialität! Immerhin musste er erkennen, wie die Zuhörer auf seine Geschichten reagierten.
„Hier bist du sicher“, murmelte Lejan gerade so, als könne er Finns Gedanken erraten. Der Valaner richtete sich auf.
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Texte: Alice Camden
Bildmaterialien: Alice Camden
Cover: Alice Camden
Tag der Veröffentlichung: 30.03.2019
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