Love of Stars
Der Gesang des Lichts
Von Alice Camden
Jake trat hinaus in den Garten und ließ sich von der Dunkelheit verschlucken. Für einen Moment hielt er inne, versuchte zu erkennen, was vor ihm lag. Zuerst sah er nur die Wolken, die sein Atem in der kühlen Nachtluft bildeten. Doch bald schon konnte er Umrisse wahrnehmen.
Ein gewundener Weg führte durch die Parkanlage, vorbei an hohen Bäumen und gestutzten Sträuchern. Im Sommer von Eden blühten sie in bunten Farben, bedeckt von großflächigen Blumen und verströmten einen betörenden Duft. Doch jetzt, in der Winternacht, standen sie nackt und kahl da.
Leuchtkugeln in unterschiedlichen Größen schwebten über der Anlage. Sobald ihre Sensoren einen Menschen erkannten, näherten die Kugeln sich, erhellten die Nacht. Doch ihr Schein glich eher dem schwachen Licht eines Mondes, als der hellen Sonne.
Ein großer schlanker Mann stand unweit der Villa auf dem Weg und schaute hinauf zum Himmel. Den Oberkörper gestrafft, die Füße standen im leichten Abstand, und er hielt einen Arm hinter dem Rücken. Seine Hand war zur Faust geballt.
Jake schlich ein Stück näher, setzte seine Schritte so vorsichtig, dass sie keinen Lärm verursachten. Je langsamer er sich bewegte, desto lauter schien sein Herz zu schlagen. Das verdammte Organ wollte ihn verraten!
Der Mann auf dem Weg blieb unbeweglich stehen. Den Kopf leicht in den Nacken gelegt, beobachtete er etwas am schwarzen Himmel. Die Nachtbrise strich ihm durchs dunkle Haar. Jake folgte dem Blick, doch er konnte nichts als das sanfte Licht der Sterne erkennen. Sachte setzte er seinen Fuß auf, tat den nächsten Schritt. Für einen Augenblick hielt er den Atem an. Fast hatte er den Mann erreicht.
Der war in ein kostbares Wildleder gekleidet, das es nur auf dem Nachtmarkt zu kaufen gab. Wasser und kälteabweisend schmiegte es sich an den wohlgeformten Körper. Über der Hose trug er eine kurze Jacke aus dem gleichen Material. Und jetzt hatte Jake ihn erreicht. Er hob die Hand und lenkte sie zu der fremden Schulter.
„Vergiss es, Ranger!“, sagte der Mann plötzlich und drehte sich um. „Ich habe dich schon gehört, als du nur daran gedacht hast, mich anzuspringen!“
Ein Hauch von Unsicherheit flackerte für einen Augenblick über sein Gesicht. Oder bildete Jake sich das nur ein? Geschlagen nahm er die Hände nach oben. Dann konnte er das Grinsen nicht mehr unterdrücken.
„Ich werde nicht aufgeben!“, verkündete er entschlossen. „Eines Tages bist du reif.“
Wahrscheinlich würde er seinen Freund niemals erschrecken können. Immerhin besaß der geschärfte Sinne und als Empath fühlte Kinan alles, was in seinem Umfeld geschah. Aber gerade das war ja der Reiz an diesem Vorhaben.
Kinan trat zu ihm, legte einen Arm um seine Hüfte. „Vielleicht lass ich dich später gewinnen“, murmelte er und schon wanderte sein Blick zurück zum Himmel.
Jake ließ seine Hand über die Schultern seines Freundes gleiten und zog ihn näher. Ein friedlicher Augenblick kam und ging, begleitet vom Surren der Leuchtkugeln über ihren Köpfen. Diese Teile dröhnten heute laut!
Kinan seufzte schwer. „Ich könnte eine Aufmunterung gebrauchen“, gab er zu. „Diese endlose Winternacht macht mich fertig. Seit drei Monaten sitzen wir hier schon fest! Wo ist das verdammte Licht?“ Er sah sich um, bereit, mit jedem Dieb um ein wenig Helligkeit zu kämpfen.
„Es liegt an der geringen Größe des Planeten“, erklärte Jake geduldig. „Durch die Neigung Edens zur Sonne herrscht für ungefähr drei Monate Dunkelheit auf der bewohnten Seite des Planeten.
Kinan schnaufte abwehrend. „Ich bin der Captain eines verdammten Raumschiffs!“, sagte er mit einem Kopfschütteln.
Jake grinste und küsste ihn auf die Schläfe. Sein Liebster war nicht nur schlau. Sie hatten ihm das Wissen vieler Völker eingetrichtert. Er und seine Brüder waren als hochintelligente Kriegersklaven gezüchtet worden. Doch bevor es zu einem Einsatz kommen konnte, waren sie geflüchtet und hatten sich als Piraten durchgeschlagen. Aber ohne diese Abenteuer könnten sie jetzt nicht alle zusammen auf Eden leben.
„Warum ist das Licht in der Villa eigentlich so schwach?“, fragte er und sah über seine Schulter zu dem weitläufigen Bau.
Hinter den Fenstern flackerten schwache Lichter, hier und da konnte man die Umrisse eines Bewohners erkennen. Aber Jake war sich ganz sicher, dass die Villa noch vor wenigen Wochen hell erleuchtet gewesen war.
Kinan atmete hörbar aus. „Wenn Andra nicht ständig an den Solarreflektoren schrauben würde, hätten wir kaum genug Energie für das wenige Licht. Wir können nicht mehr dazu kaufen.“
„Und weshalb weiß ich nichts davon? Was ist mit den Konten auf Arkadia Prime?“ Tröstend strich Jake mit der Hand über Kinans Oberarm.
Jake wollte so viele Fragen stellen. Viele Jahre lang war sein Liebster es gewohnt gewesen, Entscheidungen allein zu treffen, höchstens mit seinem Bruder Andra zu klären. Und immer noch viel es ihm schwer, Informationen zu teilen.
„Warum soll ich meine Familie beunruhigen, wenn ich die Angelegenheit ohnehin bald regeln kann?“, erwiderte Kinan und straffte sich ein wenig mehr. „Die Konten auf Arkadia Prime sind eingefroren. Dort herrscht Chaos. Unsere Leute versuchen alles, um die Situation zu verbessern, aber der Kanzler ist tot, das alte Regime gestürzt. Unzählige Gruppen drängen jetzt an die Macht. Wir sollten uns fernhalten.“
Jake verstand. „Das haben wir schon besprochen“, bestätigte er. „Ich wusste allerdings nicht, dass du derzeit nicht einmal an die Konten kommst.“
„Ich habe genug Kunden, die auf linerianischen Kaffee warten. Und meine Quellen sind noch offen. Aber die Umrüstung der Love of Stars hat mich Unsummen gekostet. Und der Kaffee ist erst in ein paar Wochen reif.“ Er winkte ab. „Mach dir keine Sorgen“, sagte er in einem Plauderton. „Wir werden diese verfluchte Dunkelheit schon überstehen.“
„Keine Sorgen?“, fragte Jake skeptisch und befreite sich aus der Umarmung.
Mit einem fragenden Blick trat er vor Kinan.
Aber der schüttelte nur den Kopf. „Es ist alles unter Kontrolle!“ Er lehnte sich in einen Kuss. „Nur noch ein paar Wochen“, flüsterte er in einem verführerischen Ton. „Lass uns rein gehen. Mein Sohn schläft schon und diese Nacht wird noch lange nicht enden. Nutzen wir sie!“
Er steckte die Hände in die Hosentaschen und schlug den Weg zurück zur Villa ein. Langsam schlenderte er, sah noch einmal zurück. Ein seltenes Lächeln huschte über seine Lippen und dann streckte er die Hand nach Jake aus.
Wo gerade noch Zweifel und Fragen in seinem Kopf um die Oberhand kämpften, herrschte jetzt friedliche Stille. Jake ergriff die Hand seines Freundes. Eine endlose Nacht mit Kinan klang immer nach einer guten Option. Plötzlich erloschen alle Lichter.
Stockfinstere Nacht hüllte sie ein. Die Leuchtkugeln schwebten langsam zu Boden und blieben im Gras liegen, wo sie erloschen. Im fahlen Mondlicht war selbst die Villa kaum auszumachen.
„Ich bin unbewaffnet“, flüsterte Jake und sah sich um.
Sofort stieg die alte Aufmerksamkeit in ihm auf. Die Jahre als Planet Ranger hatten ihn geprägt, aber die letzten Monate hatten ihn unvorsichtig werden lassen. Sie lebten ein scheinbar friedliches Familienleben auf Eden.
„Ich nicht!“, erwiderte Kinan und zog einen kleinen Solarshooter unter seiner Jacke hervor. Dann beugte er sich hinunter und zog einen zweiten Shooter aus seinem Stiefel. „Verdammte Schmugglerbande“, fluchte er und reichte Jake die Waffe. „Dieser Planet ist eine Schlangengrube!“
Den Shooter im Anschlag drehte er sich um die eigene Achse. Etwas streifte Jakes Arm. Sofort riss er den Ellbogen nach oben und zielte. Angespannt bis in die Haarspitzen, versuchte er, den Angreifer auszumachen.
„Eine Nebelschlange!“, flüsterte Kinan. „Sie sind ungefährlich.“ Er seufzte leise. „Eine verdammte Schlangengrube ist dieser Planet!“, wiederholte er und fühlte sich offensichtlich bestätigt.
Mit verengten Augen versuchte Jake, durch den aufsteigenden Nebel und die Finsternis zu schauen. Schemenhaft war etwas zu erkennen, das sich von ihnen weg bewegte.
Nebelschlangen waren riesige, schwebende Kreaturen, die sich im Sommer ausschließlich im Urwald aufhielten. Nur im Schutz des Nebels und in den Winternächten kamen sie bisweilen nahe an Siedlungen heran, immer auf der Suche nach etwas Essbarem. Glücklicherweise ernährten sie sich von Baumrinde und Gras. Ein schmatzendes Geräusch drang zu ihnen.
„Lass uns ins Haus gehen! Ich muss nach Yari sehen!“, befahl Kinan und bewegte sich vorsichtig zum Eingang der Villa.
Natürlich wollte er seinen kleinen Sohn schützen! Sie sicherten die gegenüberliegenden Seiten des Gartens ab und bewegten sich langsam in Richtung Hauseingang. Ein leises Surren näherte sich. Jake lauschte und sah nach oben.
„Ey, Captain Astrala!“, sagte plötzlich eine Männerstimme im spöttischen Ton.
Und im nächsten Augenblick konnte Jake das Skybike deutlich hören. Fast lautlos schwebte es über ihnen. Weitere näherten sich, blieben aber in einiger Entfernung zurück.
„Zeig dich, du feiger Hund!“, rief Kinan in die Nacht. „Wir sind bewaffnet!“
Jake blieb dicht neben ihm. Sollte es zu einem Schusswechsel kommen, könnte er Kinan zu Boden reißen und zumindest mit seinem Körper schützen.
Ein lautes Lachen ertönte und plötzlich landete eines der Bikes knapp vor ihnen auf dem Schotterweg.
„Große Worte für einen Piraten, der sich am liebsten im finsteren All versteckt“, rief ein stämmiger Mann, ganz in schwarzes Leder gekleidet. Der dunkle Vollbart war von grauen Strähnen durchzogen. Er schmunzelte überlegen.
„Niehls Rider“, presste Kinan durch seine Zähne. „Liebst wohl immer noch den großen Auftritt.“ Er ließ die Waffe sinken.
„Kinan Astrala“, erwiderte Niehls lässig. „Wie ich sehe, bevorzugst du es immer noch in einem Villenanwesen zu residieren.“
Kinan ließ den bärtigen Mann nicht aus den Augen. Nur leicht drehte er den Kopf. „Niehls ist ein Kollege“, erklärte er. „Er und seine Bande decken den westlichen Bereich der freien Zone und einen Teil der Nebelzone ab. Und wie mir scheint, hat er den Neutralitätspakt von Eden vergessen!“
Ein Schmuggler also. Jake verengte die Augen zu Schlitzen und sah hinauf, wo die Räder unzähliger Skybikes zu sehen waren. Aber was wollten sie hier? Eden war die Heimat vieler Schmuggler und Piraten und galt als neutral. Angriffe, Kämpfe um Beute erfolgten nie auf Heimatboden. Jetzt hob Niehls die großen Hände und machte eine beschwichtigende Geste.
„Wir kommen mit den besten Absichten“, erklärte er, doch sein Grinsen verriet ihn. „Es geht mir um einen kleinen Handel.“
Kinan schnaufte verächtlich. „Natürlich“, sagte er und nahm die Schultern zurück. Dabei vergisst du, dass ich ein Kind habe, das sich fürchtet, wenn ihr einfach das Licht ausknipst!“
Niehls neigte den Kopf zur Seite. Dann rieb er über sein Comarmband und ein transparentes Pad zeigte sich, schien in der Luft zu schweben. Sofort wollte Kinan danach greifen.
„Nicht doch!“ Niehls schlug seine Hand weg.
„Dein Kleiner ist dort oben“, stellte er schließlich fest und zeigte auf eines der Fenster im ersten Stock. „Wenn du auf meinen Handel eingehst, wird das Licht in seinem und den angrenzenden Zimmer wieder leuchten.“
„Da kommst du zu dem Falschen“, erklärte Kinan und trat genervt von einem Fuß auf den anderen. „Ich habe nichts!“, fügte er wahrheitsgemäß an.
„Oh doch“, säuselte der massige Niehls. „Du hast sogar genau das, was ich brauche.“ Er richtete sich mehr auf. Kinan war ein eleganter, feingliedriger Mann und dieser Kerl ein beeindruckender Bär, der auf ihn heruntersah.
„Ich brauche dein Haus und deinen Garten!“, erklärte der Bär. „Nun, nur für eine gewisse Zeit. Wir sind gestern aus unserer Unterkunft geflogen, weil es, nun ja, ein wenig laut war. Das Hotel wird von Administralen betrieben. Diese Großköpfe verstehen einfach keinen Spaß!“
Kinan lachte laut. „Aber jetzt soll ich euch aufnehmen? Vergiss es!“, erwiderte er und lachte noch lauter. „Das hier“, sagte er und zeigte mit dem Finger auf das umliegende Gelände „ist das Zuhause meiner Familie! Gäste werden eingeladen oder können fortbleiben! So wie ihr! Gebt sofort wieder Energie auf die Verteiler! Sonst vergesse ich nämlich den Neutralitätspakt!“ Er hob die Waffe erneut an. „Und mein Bruder Andra grillt dich auf genau diesen Verteilern, wenn du nicht gleich verschwindest.“
„Dein Mann ist ja ein herzlicher Gastgeber“, bemerkte Niehls in Jakes Richtung. Und zu Kinan gewandt: „Du verstörst deinen Ranger.“ Dann räusperte er sich. „Andra ist übrigens einverstanden.“
Kinan schüttelte den Kopf. „Ein Schmuggler, der versucht einen anderen anzulügen. Lächerlich“, sagte er.
Aber Niehls verschränkte die Arme vor der Brust und grinste breit.
Augenblicklich aktivierte Kinan sein Comarmband. „Andra!“, rief er bedrohlich in die Nacht. „Beweg deinen kleinen Arsch hierher.“
Ein leises Stöhnen war zu hören, dann ein Klicken.
„Aufgelegt“, stellte Niels fest und jetzt lachte er.
Doch da waren hinter ihnen schon Schritte zu hören. Kinan drehte sich nicht einmal um.
„Komm her!“, rief er seinem Bruder zu. „Und stell diese Angelegenheit klar.“
Noch im Laufen schloss Andra seine Hose. Eng saß sie ihm auf den Hüften. Das Funktionsshirt hing verdächtig weit an seinem Körper. In der Eile hatte er sich wohl eines von Benns Shirts übergezogen. Wieso lagen die beiden so ruhig im Bett, wenn das Licht ausging? Jake verstand nichts mehr. Gespannt lauschte er auf das, was Andra zu erzählen hatte.
„Niehls! Diese Show war nicht abgesprochen!“, protestierte er und strich sich eine lange, blonde Haarsträhne hinters Ohr. „Und warum zweigt ihr jetzt schon Energie ab?“
Niehls machte eine entschuldigende Bewegung mit den Händen. „Aber die Show ist doch lustig!“, antwortete er. „Zumindest für uns.“ Er atmete durch. „Wir müssen so viel Energie wie möglich umleiten. Nur für ein paar Tage. Ich habe es dir erklärt.“
Jake trat einen halben Schritt zurück. In den nächsten Sekunden würde Kinan explodieren und dabei so viel Energie produzieren, dass sie mehrere Villen damit erleuchten konnten.
„Könnte mir bitte jemand erklären, was hier vor sich geht?“, fragte Kinan leise und ein wenig zu beherrscht. „Was bei allen bösen Göttern in meinem Haus los ist?“, fügte er in einer Lautstärke an, die wohl Niehls Männer auf den Skybikes erschütterte. Hier und da war eine Bewegung zu hören.
Andra stemmte die Hände in die Hüften. „Ich versuche nur, unsere Familie vor dem Hungertod zu retten“, verkündete er und warf sein langes Haar schwungvoll zurück. „Oder glaubst du, die Edenbank gibt uns noch mal Kredit, um über die letzten Wintertage zu kommen?“
„Wenn ich diesen verbrecherischen Bankern einen Anteil an unserer Beute verspreche – ja!“, erwiderte Kinan aber Jake konnte die Unsicherheit in seiner Stimme hören.
Andra schüttelte den Kopf. „Wir kochen unser Essen seit fast einem Monat!“, sagte er eindringlich. „Auf einem Herd, Kinan! Jake musste uns zeigen, wie das funktioniert, weil wir die Energie für die Lebensmittelautomaten nicht mehr bezahlen können!“ Er trat näher an seinen Bruder heran. „Letzte Woche haben wirarüber gesprochen, ob wir die Love of Stars verpfänden sollen! Als würde in diesem Teil des Universums irgendein Pfandleiher ein Raumschiff je wieder rausrücken!“
„Was hat das mit diesem Überfall zu tun?“, fragte Kinan irritiert.
Andra straffte sich. Neben den bärtigen Bandenchef wirkte er geradezu zierlich.
„Niehls hat mich gestern über das Comarmband kontaktiert. Er und seine Leute brauchen bis zum Ende der Winternacht eine Unterkunft. Dafür zahlt er einen angemessenen Preis. Die Hälfte habe ich schon erhalten.“
Skeptisch verzog Kinan den Mund. „Mal davon abgesehen, dass es eine schlechte Idee ist, eine konkurrierende Bande aufzunehmen, noch dazu, wenn wir geschwächt sind – Was soll die Verdunklung? Und warum erzählst du mir das alles erst jetzt?“
Andra sah von Niehls zu seinem Bruder. „Es ging alles so schnell. Sie waren gerade aus dem Hotel geflogen und brauchten dringend Hilfe“, erklärte er. „Es war noch keine Zeit mit dir zu reden!“ Er räusperte sich. „Für ein paar Tage brauchen sie eine große Menge Energie, um ihre Maschinen zu warten, und ...“ Er zuckte mit den Schultern. „Was weiß ich, wo sie sich die Energie hinschieben“, spuckte er Kinan schließlich verärgert vor die Füße. „Das interessiert mich auch nicht. Sie zahlen gut und wir kochen ja ohnehin derzeit wie unsere Ahnen!“
„Wie viel?“, fragte Kinan knapp, offensichtlich musste er sich zurückhalten, um nicht doch aus Versehen seine Waffe zu nutzen.
Sein Bruder kam noch näher und beugte sich vor, bis seine Lippen fast Kinans Ohrmuschel berührten. Dann flüsterte er etwas hinein. Jake konnte die Szene nur erkennen, weil er genau neben seinem Freund stand. Der Rest des Anwesens lag inzwischen unter dem Mantel der Dunkelheit begraben.
Kinan atmete gefährlich flach. Eine Weile war nur das Geräusch der schwebenden Bikes zu hören.
„Von mir aus!“, brummte er endlich. „Aber wer keinen Platz in den Gästezimmern im Erdgeschoss bekommt, schläft im Garten! Verhaltet euch gefälligst wie zivilisierte Schmuggler!“ Er wandte sich ab und eilte mit großen Schritten in Richtung Eingangstür. Noch einmal drehte er sich um. „Und schaltet das verdammte Licht im Haus wieder ein! Jetzt!“, befahl er und verschwand durch die Tür.
„Geh zu ihm“, forderte Andra und klopfte Jake freundschaftlich auf den Arm. „Captain Astrala wird heute Nacht unter Kopfschmerzen leiden. Der braucht dich.“
Fast musste Jake lächeln. Nichts hasste Kinan mehr, als die Kontrolle abgeben zu müssen. Nun, abgesehen, von seiner bevorzugten Rolle im Bett. Aber diese Angelegenheit war zu seltsam. Noch einmal sah er sich um.
„Ich werde in den nächsten Tagen bewaffnet sein!“, bemerkte er leise.
Niehls nickte ihm zu. „Hoffentlich“, erwiderte er ruhig. „Denn wir werden unsere Waffen ablegen. Jemand sollte das Anwesen schützen. Neutralität hin oder her, aber dieser Planet wird von komischem Volk bewohnt.“
Jetzt schlich sich doch ein Grinsen auf Jakes Lippen. Verwirrt schüttelte er den Kopf und wandte sich zu Andra.
„Sie sind deine Verantwortung. Du solltest sie im Auge behalten“, erklärte er und folgte seinem Freund.
Was steckte nur hinter diesem sonderbaren Handel? Na, zumindest schien er lukrativ zu sein. Aber was gab es eigentlich an seinen Kochkünsten auszusetzen?
***
Der gleichmäßige Klang eines Bohrers erfüllte das ganze Haus. Ab und an wurde er von einem Hämmern und einem Sägegeräusch begleitet.
„Mir platzt gleich der Schädel!“, stöhnte Kinan leise und presste den Handballen gegen die Stirn. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Beruhigend strich Jake ihm über die andere Hand und streckte seine Beine auf dem Boden aus.
„Nicht mehr lange, Liebster“, murmelte er. „Ein paar Tage, haben sie gesagt.“
„Vier“, erwiderte Kinan und atmete lange aus. „Seit vier Tagen leben wir zusammengepfercht in vier Räumen und haben vielleicht fünf Stunden Licht am Tag!“ Er drehte den Kopf zu seinem Bruder. „Danke, Andra!“, sagte er erschöpft.
Andra saß auf der breiten Fensterbank, ein Bein angezogen. Ihm gegenüber saß Kinans Sohn Yari mit gekreuzten Beinen. Ein Spielbrett lag vor ihnen, Holofiguren stolzierten darüber. Gerade sah ein König mit schiefer Krone nach oben zu Yari und erzählte ihm eine Geschichte.
„Ich finde es toll“, verkündete er mit einer Begeisterung, wie sie nur ein Sechsjähriger aufbringen konnte. „Wir sind alle zusammen und können den ganzen Tag spielen.“
Andra nickte zustimmend. „Siehst du, Yari hat Spaß!“, sagte er und zwinkerte seinem Neffen zu.
Kinan schmiegte sich tiefer in den weißen Sessel und legte seine Beine auf einer Kiste voller Spielsachen ab. Schließlich lächelte er milde und griff nach Jakes Hand. Jake sah sich um. Tatsächlich lag über Yaris Zimmer ein Hauch von Familientreffen.
Elon, Kinans jüngster Bruder, saß auf dem Boden, den Rücken gegen die Wand gelehnt und studierte Navigationskarten. Die Karten schwebten als Hologramme um ihn herum.
Der friedliche Anblick täuschte. Elon überstand keinen Tag ohne Drogen. Wo auch immer er das Color Candy herbekam, aber seine roten Pupillen verrieten, dass er etwas genommen hatte. Und trotzdem wirkte selbst er zufriedener als gewöhnlich. Entweder war er in seine Aufgabe als Navigator vertieft oder er lief unruhig durch das Schiff. Im Haus auf Eden sah man ihn kaum. Aber die letzten Tage hatten ihn aus seinen Räumen getrieben und mit der Familie vereint.
Ein großer Mann mit breiten Schultern saß in einem weiteren Sessel und spielte eine Runde Basi gegen den Computer. Ab und zu lachte er auf und rieb sich die Hände. Er schien fast so viel Spaß wie der kleine Yari bei diesem Spiel zu haben.
Und am Fenster stand ein hübscher junger Mann mit langem Haar. In dunklen Wellen fiel es ihm über die Schultern, einige Zöpfe waren eingeflochten und mit bunten Steinen verziert. Juno gehörte zum Volk der Tre, den Ureinwohnern von Tamaran. Bei ihrem letzten Abenteuer hatte er die Astralas tatkräftig unterstützt und am Ende war er ihnen sogar auf ihr Raumschiff gefolgt.
Als sich der Rest der Mannschaft vor Wochen schon über den Planeten verteilt hatte, war Juno bei der Familie geblieben. Aus ihm war der erste raumfahrende Tre geworden und ein Astrala ehrenhalber. Jake lächelte. Wie gut er Juno verstehen konnte.
Viele Jahre war die Einsamkeit sein bester Freund gewesen. So vertraut war sie ihm gewesen, dass er sich oft am Morgen vergewissern musste, dass Kinan wirklich neben ihm lag. Er war nicht mehr allein! Heute gehörte er zu einer großen ungewöhnlichen Familie.
Ein zweites Bohrgeräusch mischte sich unter das Hämmern und Sägen, ließ das Haus leicht vibrieren. Kinan stöhnte auf und Elon zog den Kopf zwischen die Schultern. Nur Yari grinste.
„Vielleicht bauen sie ein Raumschiff im Erdgeschoss?“, mutmaßte er.
„Eine ganze Flotte!“, erwiderte sein Vater mit einem Schnaufen. „Bis die alle Bikes gewartet haben, bin ich taub!“
„Vielleicht können wir mal nach den Skybikes schauen?“, schlug Yari vor, sprang von der Fensterbank und lief zu seinem Vater.
Der zog ihn auf seinen Schoß. „Schätzchen, ich will nicht, dass einer von euch da unten rumläuft“, erklärte er. „Ehrlich gesagt, will ich nicht einmal wissen, was die Jungs treiben. Hauptsache sie sind bald wieder weg.“
Yari kuschelte sich an die Brust seines Vaters. „Nur einmal kurz?“, fragte er leise.
Kinan schüttelte den Kopf. „Wir haben doch hier oben alles, was wir brauchen. In den Garten kommen wir über den Lift an der Rückseite des Hauses. Aber es ist ohnehin viel zu dunkel draußen. Onkel Andra backt gleich einen Kuchen mit dir.“
„Onkel Andra freut sich schon, wenn er bald die Lebensmittelautomaten aufladen kann!“, verkündete Kinans Bruder und winkte ab.
Jake saß vor dem Sessel auf dem Boden und seufzte leise. Kinan hatte sich in den Kopf gesetzt, dass sie Niehls und seine Leute auf keinen Fall stören sollten. Je besser die Jungs arbeiten konnten, desto eher würden sie verschwinden.
Im nächsten Augenblick kletterte Yari von seinem Vater und landete mit den Füßen auf Jakes Oberschenkeln. Der Kleine genoss die Familienzusammenkunft sichtlich.
„Erzählst du mir eine Geschichte?“, fragte er Jake mit großen Augen. „Eine mit Drachen und Halbwölfen.“
„Mal sehen“, überlegte Jake. „Was haben Drachen und Halbwölfe gemeinsam?“, fragte er schließlich.
„Ich weiß nicht“, erwiderte Yari aufgeregt.
„Sie trampeln zu Tausenden seit Tagen durch mein Haus, wenn du mich fragst“, brummte Kinan.
„Schhh! Papa!“, rief Yari und legte einen Finger an den Mund. „Jake, sag schon. Was haben Drachen und Halbwölfe gemeinsam?“
Jake öffnete den Mund. In diesem Augenblick erlosch das Licht. Kurz darauf verstummten die penetranten Geräusche. Angespannte Stille lag über dem Raum und dem ganzen Haus. Unruhig strich Jake über seine Waffe.
„Jetzt reicht es!“, rief Kinan verärgert und sprang auf. „Heute hatten wir höchstens für drei Stunden Licht! Jetzt gehe ich da runter!“
Er stürmte zur Tür, riss sie auf und schon war er im Gang verschwunden.
„Aber nicht allein!“, erwiderte Jake und beeilte sich, seinem Freund zu folgen.
Vorsichtig tastete er sich im dunklen Gang voran, die Hand immer noch an der Waffe. Einen Augenblick später stieß er gegen Kinan. Sie mussten genau vor der breiten Treppe stehen, die hinunter ins Erdgeschoss führte.
„Hier stimmt etwas nicht“, flüsterte er in Kinans Ohr.
„Tatsächlich“, gab der knapp zurück und ein surrendes Geräusch war zu hören. Kinan hatte seine Waffe entsichert!
„Andra?“, fragte Kinan leise, ohne sich umzudrehen.
„Hier!“, erwiderte sein Bruder in einem Flüsterton. „Benn und ich sichern das obere Stockwerk. Seht ihr euch unten um. Aber seid vorsichtig.“
Angespannt drehte Jake den Kopf so, dass er nach unten lauschen konnte. Wo waren die lärmenden Kerle nur geblieben? Mit jeder Sekunde Stille beschleunigte sich sein Puls. So lautlos wie möglich nahm er seine Waffe aus dem Halfter, fühlte das kühle Metall unter seinen Fingern.
„Ist Juno bei Yari?“, fragte Kinan und trat einen Schritt auf die Treppe.
„Ich bin hier“, piepste eine Kinderstimme und gleich darauf schob sich eine kleine Hand in Jakes.
„Ich wollte ihn gerade einfangen“, war jetzt Junos Stimme zu hören.
Kinan seufzte leise. „Geht zurück! Wir sichern den Weg“, sagte er besorgt.
„Sagt Captain Astrala, dass er so laut flüstert, dass mir die Ohren weh tun“, drang plötzlich Niehls tiefe Stimme zu ihnen hinauf.
Jake spürte, wie Kinan unruhig mit der Schulter zuckte.
„Was soll dieses Dunkel-Theater?“, rief sein Freund ungehalten. „Seit vier Tagen raubt ihr uns den letzten Nerv, müsst ihr jetzt auch noch meinem Sohn Angst machen?“
„Eigentlich meint der mächtige Pirat sich selbst“, erklärte Niehls im Erdgeschoss. „Er fürchtet sich wohl im Dunkeln.“
Seine Männer lachten. Jakes Rückenmuskulatur entspannte sich ein wenig. Niehls Bande war also noch im Haus und diese Kerle hätten sicher andere Eindringlinge aufgehalten.
„Jungs!“, rief er beschwichtigend nach unten. „Ihr habt aus Versehen die Energieströme unterbrochen. Schaltet sie wieder an oder lasst Andra ran!“
„Yari?“, fragte Andra und tastete nach seinem Neffen.
Jake spürte einen winzigen Stromstoß, als sich Andras Hand auf der Höhe seines Bauchnabels befand. Offensichtlich war der Energetiker so aufgeregt, dass sein Körper unter Hochspannung stand.
„Ich halte ihn an der Hand“, raunte Jake.
„Und ich jetzt auch“, erwiderte Andra erleichtert.
Yari stand zwischen ihnen und gab keinen Ton von sich. Fest umfasste er Jakes Finger mit seiner Hand.
„Männer!“, rief Kinan im gleichen Tonfall, mit dem er ein ganzes Raumschiff befehligte. „Los jetzt! Wir brauchen Licht!“
Licht. Mit einem Mal erhob sich im Untergeschoss ein vielstimmiger Gesang. Jake taumelte zurück, ließ Yaris Hand nicht los. Doch was an ihre Ohren drang waren nicht die wilden Schlachtgesänge von Piraten. Sanft schwoll die Musik an, bestand nur aus einem einzigen Wort, das die Männer immer wiederholten: Licht.
Unter tiefe Bässe mischten sich starke Baritonstimmen und melodiöse Tenöre. Mehrstimmig intonierten sie das eine Wort. Ihr Gesang schwebte durch das Treppenhaus, hüllte Jake ein und trug ihn an einen wunderschönen Ort.
Den hinaufschwirrenden Tönen folgte – das Licht! Doch nicht etwa ihre gewöhnliche Beleuchtung. Die winzigen Lichter einer kleinen Kette, die um das Treppengeländer geschlungen war, erhellten sich zuerst. Mit jedem Ton folgte ein neuer Teil, weitere Lichter. Bald schwebte ihnen eine Kugel entgegen, um so vieles schöner, als ihre Gartenbeleuchtung. Warmes Licht durchzog sie, im Inneren bewegte sich etwas und jetzt zeigte sich ein geflügeltes Wesen darin, das fröhlich tanzte.
Und nun waren die Männer im Erdgeschoss erkennbar. In ihrer schwarzen Lederkluft standen sie dicht zusammen, Niehls neben der Gruppe und sie sangen, als wäre es ihr Lebensinhalt. Ebenso gekonnt wie hingebungsvoll gaben sie sich der Melodie hin. Inzwischen bildeten sie mit dem einzigen Wort ein ganzes Lied, das sanft dahin schwamm.
Inzwischen hatte Kinan sich überwältigt auf eine der Stufen gesetzt, Yari saß zwischen den Knien seines Vaters und bestaunte das Schauspiel mit offenem Mund. Vor ihnen warf ein Mann mit einer besonders schönen Baritonstimme eine Hand voller Glitzer in die Luft. Aber die winzigen Teilchen gehorchten der Schwerkraft nicht. Vielmehr hingen sie für einen Augenblick in der Luft, schwollen dann an und formten sich zu kleinen Leuchtkugeln. Schließlich stoben sie auseinander und verteilten sich über die Decke.
Das gesamte Untergeschoss strahlte unterdessen in sanftem Licht. Und noch bevor Jake alle Formationen ausmachen konnten, starrte er zu dem Chor der Piraten. Wie aus dem Nichts erhob sich davor ein Wesen, das entfernt an einen Drachen erinnerte. Und es bestand aus Licht. Als wäre es lebendig, schwebte es einmal um die Männer und begann sich dann im Klang der ruhigen Melodie zu bewegen. In einem faszinierenden Tanz schlängelte es sich um die eigene Achse, schlug Purzelbäume und strich mit der Schwanzspitze über die Köpfe der Sänger.
„Ein Drache!“, flüsterte Yari ehrfurchtsvoll.
Ein Kloß der Rührung saß in Jakes Hals fest. Er schluckte mehrmals und setzte sich zu Kinan auf die Treppe. Ergriffen strich er Yari übers Haar, bevor er seinen Arm um Kinans Schulter legte.
Links und rechts von dem Drachen erschienen menschenähnliche Lichtwesen. Auch sie tanzten im ruhigen Rhythmus des Gesangs, fassten sich an den Händen und nahmen das drachenartige Geschöpf in ihre Mitte.
Die Männer gaben alles. Der Gesang blieb harmonisch und sanft und doch wurde er eindringlicher. Jake war es, als würden die herrlichen Töne ein Licht in ihm anzünden. Gebannt verfolgte er eine der leuchtenden Kugeln samt tanzendem Bewohner. Sie glitt die Treppe nach oben und erhellte bald den Flur.
Andra hatte den Rücken gegen Benns breite Brust geschmiegt und lächelte entspannt. Auch sein Freund zeigte einen entrückten Gesichtsausdruck. Elon lehnte an der Wand am Übergang zur Treppe und selbst er betrachtete das Schauspiel ergriffen. Andra zwinkerte ihm zu, strich seinem Bruder über den Rücken.
Juno stand in kurzer Entfernung daneben und seine Augen vergrößerten sich mit jedem Augenblick.
Jake winkte ihn heran und zeigte auf die Stufe. Juno zögerte, dann setzte er sich neben ihn und atmete erleichtert aus. Am heutigen Tag würde niemand allein sein!
In diesem Moment stimmten die Männer ein neues Lied an. Flotter als ihr Lichtgesang, weniger tragend. Fröhlich sangen sie und lachten sich dabei an. Jake verstand die Worte nicht. Die Jungs sangen nicht in Normsprache, das musste ein Lied aus ihrer Heimat sein. Wo lag die eigentlich? Die Lichtgestalten vor dem Chor veränderten ihren Rhythmus, wurden schneller.
Niehls löste sich von der Gruppe und stieg mit bedächtigen Schritten die Treppe hinauf. Er blieb vor ihnen stehen und verbeugte sich.
„Willkommen zum Lichtgesang“, sagte er fröhlicher und freundlicher als je zuvor. Er schien ihre fragenden Gesichter bemerkt zu haben und schmunzelte. „Es handelt sich um eine uralte Tradition aus unserer Heimat. Auch auf unserem Herkunftsplaneten gibt es eine lange Dunkelzeit, viel länger als die drei Monate auf Eden. Und dann herrscht wirklich Winter. Es wird so kalt, dass sich Eiskristalle in der Atemluft bilden. Manch einem ist dabei schon sein bestes Stück abgebrochen! Sein Bart!“ Sein tiefes Lachen erfüllte das obere Stockwerk. „Daher besingen wir am Ende dieser Jahreszeit das Licht und bitten es zurückzukommen und uns Helligkeit und Wärme zu schenken. Es ist das heiligste Fest aller Kulturen unseres Planeten. Die Familien kommen zusammen und singen und tanzen, bis sie heiser sind.“ Für einen Moment huschte Bedauern über seine Züge. „Unsere Bodenschätze sind aufgebraucht. Wir verdienen traditionell unseren Lebensunterhalt als Schmuggler. Aber so verbringen wir die meiste Zeit fern unserer Lieben.“ Er sah über seine Schulter zum Chor hinunter. Mindestens dreißig Männer standen dort unten und einige hatten inzwischen den Arm um ihren Nebenmann gelegt und sangen melodische Duette. „Nun, einige nehmen ihre Lieben auch mit auf die Reise“, fügte Niehls an. Dann verbeugte er sich erneut. „Unser Dank geht an die Brüder Astrala! Mit dem Lichtgesang habt ihr uns in diesem Zyklus ein Stück Heimat geschenkt.“ Er strich sich nachdenklich über den Bart. „Hotels sind meist wenig erfreut über die Vorbereitungen“, fügte er an, drehte sich um und schritt die Treppe hinunter zu seinen Männern.
Yari streckte die Hand aus und fing eine der kleineren Kugeln ein.
„Da ist jemand drin!“, sagte er beeindruckt und klopfte leicht dagegen.
Das Flügelwesen darin hielt in seinem Tanz inne. Dann streckte es einen dünnen Finger aus und klopfte von innen gegen die Kugelwand. Erschrocken ließ Yari das Leuchtelement los und schon schwebte sie wieder über ihnen.
„Haben wir noch etwas von diesem leckeren Kaktusbier von Gobi Prime?“, fragte Kinan in Andras Richtung.
Der nickte, machte aber keine Anstalten sich aus der Umarmung seines Freundes zu befreien.
„Ich hole es!“, erklärte Juno und wollte aufstehen.
Jake legte ihm eine Hand auf den Oberschenkel. „Gleich“, sagte er. „Die Jungs singen sich die Kehlen trocken. Ich schätze, wir brauchen ein paar Fässer Kaktusbier. Ich helfe dir. Warte kurz.“
Im Erdgeschoss stimmten die Männer eine muntere Melodie an, einige klatschten dazu in die Hände. Der Drache hatte sich offenbar in eines der Lichtwesen verguckt. Immerzu umschwebte er die gleiche Gestalt.
Jake strich Kinan liebevoll über den Oberarm. Der drehte den Kopf zu ihm und lächelte.
„Erstaunlich“, murmelte er und beugte sich in einen Kuss auf die geschlossenen Lippen. „Meine Brüder und ich sind als Sklaven geboren. Wir sollten nie etwas besitzen und keinen freien Willen entwickeln.“ Seine Hand zitterte. Jake umschloss sie mit seinen Fingern. „Und jetzt sitzen wir hier auf der Treppe, bestaunen das Licht und lauschen einem Chor von Piraten“, sagte Kinan betont lässig, doch die Rührung war deutlich herauszuhören. „Zusammen mit unseren Lieben, unserer Familie – als freie Menschen!“ Er beugte sich vor und küsste seinen Sohn aufs Haar. Dann richtete er sich auf und schmiegte seine Lippen auf Jakes. „Wir sollten daraus eine Familientradition machen“, sagte er überzeugt. „Nächstes Jahr besingen wir gemeinsam das Licht!“
Jake lachte. „Kein Kaktusbier für Captain Astrala“, sagte er laut. „Sonst fängt er an zu singen.“
„Schau mal, Papa“, rief Yari plötzlich aufgeregt und zeigte auf die große Glasfront des Erdgeschosses.
Jake folgte seinem Blick. Ein unwillkürliches Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Zum ersten Mal seit drei Monaten stieg die Sonne am Horizont empor.
Tag der Veröffentlichung: 25.12.2018
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