Hübsche Singlewohnung in alter Villa zu vermieten. Mit einem Seufzen stoppte Jun den Wagen an der roten Ampel und griff nach dem Zettel, der neben ihm auf dem Beifahrersitz lag. Für einen Augenblick fühlte er das Papier der Wohnungsanzeige zwischen seinen Fingern und sah abwesend aus dem Fenster.
Die erste Hitzewelle des Jahres gab heute wirklich ihr Bestes, um die Welt zum Schmelzen zu bringen. In der Luft flimmerten die Abgase der vorbeifahrenden Autos, Passanten bewegten sich in Zeitlupe über den Bürgersteig. Die Klimaanlage des Wagens blies zwar unaufhörlich Luft in den Innenraum, doch die Wirkung war kaum stärker als die eines Eiswürfels, den man in die Sahara warf.
Jun stöhnte und strich sich eine schwarze Haarsträhne aus der Stirn. Dabei war er doch gerade erst vor den schwülen japanischen Sommertagen zurück nach Deutschland geflohen. Vorsichtig faltete er die Anzeige auseinander. Wie oft hatte er ihn schon betrachtet? Wartete dort sein lang ersehnter Neuanfang – oder wieder nur eine Zwischenstation?
Das Papier war mehrmals gefaltet und das Bild der Villa kaum noch zu erkennen. Was hatte sich sein Chef eigentlich dabei gedacht? Ihm die Anzeige einfach wortlos auf dem Schreibtisch zu hinterlassen. Wie seltsam.
Kopfschüttelnd legte er den Zettel zurück auf den Beifahrersitz. Er hatte keine Wahl! Länger konnte er Stef und Kevins Gastfreundschaft nicht strapazieren.
Die beiden waren so lieb gewesen und hatten ihn vor einem einsamen Monat im Hotel gerettet. Aber drei Männer in einer Wohnung mit nur einem Badezimmer, das war einer zu viel.
Das Haus in der Anzeige umgab ein Hauch von Geistervilla, aber es war zumindest ein Anfang. Er konnte sich ja nach der Besichtigung weiter umsehen. Vielleicht hatte einer seiner Ein-Tages-Eroberungen aus dem Club einen Tipp. So lange sie nicht zum Frühstück bleiben wollten, war jede Unterstützung willkommen.
Die Ampel schaltete auf Grün und Jun fuhr los. Im nächsten Augenblick stoppte er mit quietschenden Reifen. Ein kleiner Hund jagte eine Taube und lief dabei todesmutig auf die Straße. Hinter ihm hupte ein genervter Autofahrer. Doch da kam schon die vermutliche Hundebesitzerin mit Leine in der Hand angelaufen. Jun wartete geduldig, bis sie den Taubenjäger angeleint hatte, und fuhr weiter. Armer Hund. Der Drang, unbedingt hinter etwas herrennen zu müssen, endete oft böse. Im lauwarmen Gebläse der Klimaanlage flatterte die Anzeige auf dem Sitz.
Bald bog er in eine Seitenstraße ab und staunte. Links und rechts reihte sich eine prächtige Gründerzeitvilla nach der anderen auf. Viele beheimateten Rechtsanwaltskanzleien oder andere Unternehmen, einige wurden anscheinend als Wohnhäuser genutzt.
Die meisten der großen Häuser waren restauriert. Blumen und Sträucher verschönerten die Vorgärten, schmiedeeiserne Tore glänzten in der Sonne. Moderne traf auf alten Charme. Und diese verzauberte Straße lag kaum zehn Gehminuten von der Innenstadt entfernt? Ein Lächeln schlich sich auf Juns Lippen. Kurz sah er zu dem achtlos hingeworfenen Zettel mit der Anzeige, überprüfte die Hausnummer.
Schließlich hielt er vor einer Villa am Ende der Straße. Ungläubig glich Jun die Hausnummer erneut mit der auf dem Papier ab. Er war tatsächlich angekommen.
Aber dieses Gebäude besaß nur entfernt Ähnlichkeit mit seinen schicken Nachbarn. Längst durchzog ein grauer Schmutzschleier den Sandstein, die Fenster wirkten original aus der Gründerzeit und die Scheiben hatten schon lange kein Putzwasser mehr gesehen. Farbe blätterte davon ab und einige der großen Buntglasscheiben im Erdgeschoss waren nur notdürftig repariert worden. Auch das grüne Gartentor hatte bessere Zeiten gesehen.
Jun schluckte die aufsteigenden Bedenken herunter und stieg aus dem Wagen. Einen Moment später riss er die Augen auf. Ein mannshoher Troll aus Stein stand neben der Eingangstür und blickte Besucher grimmig an. Jun schnaufte leise.
Hinter diesen Mauern sollte sich also eine brauchbare Wohnung verbergen? Eher nicht! Nun, jetzt war er schon einmal hier. Morgen würde er weitersuchen! Aber wann bekam man schon die Gelegenheit, eine alte Villa zu besichtigen? Ein gewisser Charme haftete dem Gebäude durchaus an.
„Walburga!“, schrie plötzlich jemand nahe an seinem Ohr.
Erschrocken trat Jun einen Schritt zurück. Ein junger Mann stand mit einem Mal neben ihm und wedelte aufgeregt mit den Händen in Richtung Straße.
„Walburga!“, wiederholte er laut und sprintete los.
Perplex sah Jun ihm nach. Der Mann im roten T-Shirt und Jeansshorts rannte barfuß auf die Straße und beugte sich vor. Dann hob er etwas auf und trat gerade rechtzeitig zur Seite, um nicht von einem heranbrausenden Auto überfahren zu werden. Beherzt presste er etwas Weißes an seine Brust und lief mit einem erleichterten Lächeln auf Jun zu.
Schließlich blieb er stehen. Ein weißer Federberg bewegte sich auf seinem Arm und dann streckte ein Huhn seinen Kopf daraus hervor. Jun blinzelte irritiert.
„Sie liebt einfach ihre Freiheit“, bemerkte der junge Mann und strich dem Tier über das Gefieder. „Tun wir doch alle“, sagte er und strahlte Jun aus wunderschönen grünen Augen an.
Das merkwürdig flauschige Huhn, der schöne Mann, der es auf dem Arm trug – Jun brauchte einen Augenblick, um die bizarre Szene zu verstehen. Dann nickte er und grinste schief. Der Kerl im roten T-Shirt zwinkerte ihm zu, drehte sich um und hatte schon einen Fuß durch das Tor gesetzt.
„Oh, einen Moment bitte“, rief Jun ihm hinterher. „Sie wohnen hier?“
Der Mann mit Huhn wandte sich ihm wieder zu. „Richtig! Walburga und ich leben hier“, sagte er lässig. „Zusammen mit ihren Schwestern und meiner Großmutter. Was gibt’s?“
Ein Lichtschein schien augenblicklich über die alte Villa zu tanzen. Jun versuchte, seine Begeisterung hinter einem Businesslächeln zu verbergen. Eilig kramte er die Anzeige hervor.
„Ich bin wegen der Wohnung hier“, sagte er und hielt den Zettel hoch.
„Halt mal kurz“, murmelte sein Gegenüber und drückte ihm das Huhn gegen die Brust.
Jetzt wurde die Schrift auf dem T-Shirt des jungen Mannes sichtbar: Superman! Jun konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.
Behutsam hielt er das Tier fest. Wie ein flauschiger Federball fühlte es sich an. Es machte keine Anstalten, sich befreien zu wollen, gab leise Gurrlaute von sich und schmiegte sich gegen den Stoff seines teuren Hemdes.
Der Mann nahm den Ausdruck und studierte ihn. „Ah, verstehe“, sagte er schließlich. „Die Anzeige hat Anne, meine Großmutter, vor ihrer Abreise aufgegeben. Es ging alles so schnell, da hat sie wohl vergessen, sie zu stornieren.“
Enttäuscht ließ Jun die Schultern hängen. Die Henne steckte den Kopf unter die Flügel und begann ein Schläfchen zu halten.
„Dann tut mir die Störung leid“, sagte Jun und versuchte seine Enttäuschung zu verbergen.
Er nahm die Anzeige zurück und übergab das schlafende Tier seinem Besitzer.
„Passt schon!“, erwiderte der gut gelaunt. „Komm doch rein! Meine Oma wollte das Mansardenzimmer auf jeden Fall vermieten. Schau’s dir ruhig mal an.“
Ein breites Lächeln schlich sich auf Juns Lippen. Der junge Mann strahlte ihn an und über den Hitzetag schien mit einem Mal eine kühlende Brise zu wehen.
Mit guten 1,85 Meter war sein Gegenüber nur etwas größer als er selbst, besaß dunkles Haar und diese unglaublichen grünen Augen. Und ein Gesicht, dem man nicht ansah, ob er fünfundzwanzig oder dreißig war. Mit einem leichten Bartschatten und feinen, aber männlichen Gesichtszügen. Seine Arme zierten diverse Lederarmbänder, teilweise mit bunten Steinen verziert. Die Sonne hatte seine Haut gebräunt und gab ihm ein verwegenes Aussehen.
„Okay“, sagte Jun langsam und wusste nicht genau, was er gerade zustimmte. Seinen Gedanken über den Fremden oder der Besichtigung.
„Prima“, sagte Mister Superman und streckte den Daumen in die Höhe. „Dann komm mit, ich bringe Walburga nur schnell ins Bett.“ Er hielt Jun die freie Hand hin. „Ich bin übrigens Alex. Alex Fabre.“
„Okay“, wiederholte Jun. Dann verbeugte er sich leicht und rollte im nächsten Augenblick mit den Augen. Wann würde er sich das endlich abgewöhnen? Japan lag hinter ihm!
„Junichiro Christmann“, sagte er höflich. „Ich bin gerade erst in die Stadt gezogen und arbeite für die Agentur Create als Art Director. Ich plane Werbekampagnen.“
Alex nickte ihm freundlich zu, ging durch das Tor und an der Villa vorbei in Richtung Garten.
„Junichiro?“, murmelte er interessiert.
„Es ist ein japanischer Name“, erklärte Jun. „Meine Mutter ist Japanerin, mein Vater Deutscher. Aber ich bin Düsseldorfer und die meisten nennen mich nur Jun.“
Alex lachte. „Das passt ja schon mal. Meine Oma ist Französin und Otto kommt aus Norwegen“, sagte er und zeigte auf den Steintroll. „Aber keine Angst, der tut nichts. Der steht hier nur so rum.“
Kopfschüttelnd sah Jun dem Supermann namens Alex nach. War er gerade durch einen Hühnerstall ins Wunderland gefallen? So ein Typ fehlte ihm eindeutig noch in seiner Sammlung! Die Wahrscheinlichkeit, dass der schwul war, bewegte sich im Rahmen von zehn Prozent. Genug, um aufmerksam zu sein! Verwirrt und neugierig zugleich folgte er Alex in den Garten des Anwesens. Diese Besichtigung versprach interessanter zu werden als gedacht.
Erstaunt stellte er fest, dass der Garten nicht besonders groß war. Er bestand aus einem hübsch angelegten Freisitz, einem Wiesenstück und einigen Beeten. Dahinter wurde er von einer Mauer abgegrenzt und der anschließende Hang mündete in den Park am Fluss. Auf der Wiese befand sich ein Hühnerstall mit Auslauf. Interessiert sah Jun sich um. Zwischen den Beeten ragten Figuren aus Stein und Ton hervor, glotzten den Betrachter mal neugierig, mal frech und ab und an bedrohlich an. Geflügelte Drachen, Gnome mit zu Fratzen verzogenen Gesichtern und ein kniehoher Greif bewachten die Wiese.
„Meine Oma Anne ist Bildhauerin“, erklärte Alex, während er das Huhn in den Stall schob und die Tür schloss. „Das ganze Haus ist eine Art Ausstellung. Sag Bescheid, wenn du einen Drachen brauchst. Sie hat gerade welche im Angebot.“
Jun nickte und schwieg. Was ich brauche, ist ein Supermann, keine Drachen! Unauffällig versuchte er, den hübschen Alex zu betrachten. Da vibrierte sein Handy in der Hosentasche. Überrascht zog er es heraus. Eine Nachricht von Frank? Was konnte sein Chef nach Feierabend von ihm wollen? Jun öffnete die Textnachricht.
Hast du die Wohnung bekommen?, stand dort.
Danke für den Tipp. Ich bin gerade erst angekommen, schrieb Jun zurück, während Alex noch mit dem Hühnerstall zugange war.
Mit deinem Aussehen und deiner charmanten Höflichkeit machst du das doch locker, antwortete Frank.
Jun stutzte. Warum war es so wichtig, dass er ausgerechnet diese Wohnung bekam?
Ich gebe mein Bestes, tippte er.
Ich will nur die Villa!, kam kurz darauf zurück.
Abwehrend schüttelte Jun den Kopf. Was hat der denn genommen? Frank war ein genialer Agenturchef, aber auch ein Exzentriker und manchmal liefen seine schrägen Ideen Amok. Jun zuckte mit den Schultern. Besser er dachte über die wirren Worte seines Chefs nicht mehr nach und konzentrierte sich darauf herauszufinden, in welchem Team Mister Superman spielte.
„Die Führung beginnt“, sagte Alex und zeigte mit einer schwungvollen Geste auf eine Metalltreppe, die von einem großen Balkon aus hinunter in den Garten führte.
Während Jun versuchte, nicht auf den schönsten Hintern der Stadt zu starren, fragte dessen Besitzer: „Wusstest du, dass sie dieses Haus in der Stadt Geistervilla nennen?“
Jun schüttelte den Kopf, blieb stehen und verlor sich für einen Moment im Anblick des Flusses, der ruhig unter ihnen dahinfloss. Dann folgte er seinem Begleiter, unaufhörlich sog er die Eindrücke der Villa ein.
Sie durchquerten einen Raum voller alter Möbel mit abgenutztem Parkettboden. Aber die Wände zierten moderne Gemälde, teils abstrakt, teils Collagen. Aus jeder Ecke starrte ein anderes Fabelwesen. Jun wunderte sich nicht mehr.
Vielmehr atmete er auf. Skurril war die Villa, aber sicher nicht gruselig. Das Mobiliar wirkte zusammengewürfelt. Hier stand eine bunte Chaiselongue, dort ein Sessel, der mit rotem Samt überzogen war. Zusammen ergab alles eine chaotisch-gemütliche Atmosphäre, die zu einer Künstlervilla passte.
Und dann hatten sie den Flur erreicht und stiegen die nächste Treppe hinauf. Sie führte in den ersten Stock. Die Türen säumten einen breiten Flur und waren verschlossen.
„Hier wohne ich, wenn ich im Land bin“, erklärte Alex und zeigte auf eine Tür, die im rechten Flügel lag. „Anne wohnt auf der linken Seite.“
Jun nickte. Dann war Alex also beruflich viel unterwegs. Was wohl hinter den restlichen Türen verborgen lag? Ein Hauch von Märchen und Sagen umwehte diesen Ort und er wollte mehr darüber erfahren.
„Es gibt zwei Gästezimmer, aber die sind in den letzten Jahren meist leer geblieben“, erzählte Alex, als könne er seine Gedanken erraten.
Zwei genutzte Schlafzimmer, zwei Gästezimmer – Jun zählte eine fünfte Tür, auf die man direkt zusteuerte, wenn man die Treppe nach oben nahm.
„Und hier ist das Bad?“, fragte er interessiert.
Für einen Wimpernschlag huschte ein Schatten über Alex’ Gesicht. Dann lächelte er unverbindlich und schüttelte den Kopf.
„Jedes Schlafzimmer hat ein eigenes Badezimmer“, sagte er, ging nicht weiter auf die Frage ein und stieg die Treppe hinauf in den zweiten Stock.
Der Flur hier oben war schmaler als der erste, vier Türen gingen von ihm ab.
„Zwei der Räume nutzt Anne als Atelier und Unterrichtsraum“, sagte Alex und steckte den Schlüssel in eine der beiden Türen in der Mitte des Flurs.
Jun atmete tief ein und aus. Welches verstaubte Sammelsurium an Stein- und Tonwesen würde ihn gleich erwarten? Unter einem Ächzen öffnete sich die alte Holztür und jetzt war Jun sich ganz sicher – er war ins Wunderland gefallen! Denn was er sah, war beeindruckend.
Alex trat zur Seite und ließ ihn zuerst eintreten. Erstaunt sah Jun sich um. Die beiden Zimmer der Mansardenwohnung waren durch einen Durchbruch verbunden. Weiß und dezentes Blau herrschten vor. In der Nähe des Fensters im ersten Raum stand eine moderne Couch. Ein paar Sideboards befanden sich an den Wänden und ein großer Schreibtisch vor dem Fenster.
Jun betrat den zweiten Raum. Ein weißes Doppelbett aus Metall befand sich mittig an der Wand, ein Kleiderschrank, eine Kommode und die Beistelltische am Bett. Davon abgesehen war das Zimmer leer, wirkte frisch und einladend.
„Der WLAN-Empfang hier oben ist super“, sagte Alex und blickte aus dem Fenster hinunter auf die Straße. „Lärm hört man so weit oben kaum. Nicht mal von den Rave-Partys meiner Oma“, murmelte er selbstvergessen.
Dann drehte er sich um und grinste Jun an. „Ein Scherz“, erklärte er munter. „Und hier ist übrigens das Badezimmer.“ Er zeigte auf eine Tür, die vom Schlafraum abging.
Jun öffnete und spähte vorsichtig hinein. Auf den Armaturen und dem Boden lag Staub, ansonsten wirkte alles ebenso einladend wie der Rest der Räume. Hier würde ich gerne einziehen.
„Habt ihr eine Warteliste für die Wohnung?“, fragte er vorsichtig. „Dann kannst du mich vormerken.“
Alex lachte. „Wenn du sie willst, kannst du sie haben“, sagte er und blinzelte. Oder hatte er ihm gerade zugezwinkert, Jun war sich nicht sicher. „Anne vermietet meist nur für drei Monate, wenn das für dich okay ist?“, fragte er. „Sie will sich nicht langfristig binden.“
Verständlich! Wer will das schon! Jun nickte schnell. „Perfekt!“, sagte er und versuchte, nicht so breit zu grinsen. „Könnte ich am Samstag einziehen?“, überlegte er laut.
„Klar“, erwiderte Alex, ohne den Blickkontakt zu brechen.
Wunderbar. Jun freute sich still. Für einen Augenblick vergaß er die merkwürdige Umgebung und den schönen Mann, den er einfach nicht einschätzen konnte.
Er hatte kaum etwas zu transportieren und am Ende würde er nicht mal Stef und Kevins Hilfe brauchen. Prima! Denn dann müsste er niemanden belasten. Jun atmete auf. Aber bevor er eine Entscheidung treffen konnte, brauchte er noch eine Antwort.
„Wie sieht es mit Besuch aus?“, fragte er und versuchte sich dem Thema langsam zu nähern.
Alex hob die Augenbrauen. „Ist doch deine Wohnung“, sagte er irritiert. „Mach, was du willst.“
Mit etwas mehr Mut fragte Jun: „Und Männerbesuch?“
Nervös rieb er die Finger gegeneinander. Die Antwort würde bestimmt das Alex-Geheimnis lüften. Na, sag es schon: Kein Problem, solange du mich in Ruhe lässt! Das war doch die übliche Antwort von heterosexuellen Männern. Jun schluckte den Kloß in seinem Hals herunter.
„Kein Problem. Solange …“, sagte Alex und neigte den Kopf zur Seite. „Dich mein Männerbesuch nicht stört.“ Dann lachte er und schüttelte ungläubig den Kopf, als könnte er die Frage nicht verstehen.
Juns Herz setzte einen Schlag aus. Verdammt! War sein Gaydar in den Aufregungen der letzten Jahre eingerostet? Bei Mister Superman hätte es doch anschlagen müssen! Er lächelte siegessicher und straffte sich.
Unwillkürlich schaltete sein Körper in den Flirtmodus. Mit einem Kennerblick musterte er Alex vom verwuschelten Haar über das hübsche Gesicht und die trainierte Brust bis zu den strammen Waden. Er kam einen Schritt näher, bis sich ihre Schuhspitzen berührten.
Jun schluckte. Wenn er nur wüsste, warum er meist Erfolg bei den Jungs hatte. Im Grunde war es ihm schleierhaft. Er war eine gute Mischung aus seinem riesigen deutschen Vater und seiner winzigen japanischen Mutter. Mit einem Meter zweiundachtzig hatte er in Japan viele Männer überragt. Aber den feingliedrigen Körperbau hatte er von seiner Mutter geerbt und trotz Training war er sicher zu dünn. Hoffentlich stand Alex nicht auf breite Schränke. Na, dieser heiße Typ war einen Versuch wert und für ein bisschen Spaß war es ohnehin egal.
„Nicht, wenn ich dieser Männerbesuch bin“, sagte er mit tiefer Stimme und wollte im nächsten Augenblick unter den Dielen versinken.
Wo war denn dieser schlechte Spruch hergekommen? Alex unterdrückte ein Grinsen. Doch dann musste er prusten und lachte los. Mist! Warum labere ich ausgerechnet bei ihm so einen Blödsinn! Beschämt presste Jun die Lippen zusammen.
Aber Alex streckte seine Hand aus und legte sie auf Juns Unterarm. Ein langsames Blinzeln folgte der Geste. Dieser Typ flirtete eindeutig mit ihm. Juns Puls nahm Fahrt auf, seine Knie wurden weich. Ruhig bleiben! Hirn an Selbstkontrolle: bitte einschalten.
Alex zwinkerte ihm zu und öffnete den Mund. Doch da hallte eine andere Stimme durch die Villa.
„Alex?“, rief eine Männerstimme von unten. „Wo bist du?“
Augenblicklich trat Alex einen Schritt zurück.
„In der Mansardenwohnung“, rief er in Richtung Tür.
Von der Treppe war ein Poltern zu hören und kurz darauf steckte ein junger Mann mit blondem Haar seinen Kopf durch die Tür. Der sehnige Kerl, der etwas kleiner war als er selbst, kam ihm bekannt vor. Das Lächeln gefror dem jungen Mann im Gesicht. Jun sah ihn ebenso entgeistert an. Diesen Kerl kannte er doch aus dem Club!
„Jun?“, fragte der überrascht. „Was suchst du denn hier?“, ergänzte der Blonde skeptisch.
„Fabiano Milano, gehört quasi zum Haus“, stellt Alex den Neuankömmling vor. Verwundert sah er von einem zum anderen. „Aber ihr kennt euch wohl schon?“
„Hallo Fabiano“, sagte Jun. Was für ein schlechtes Timing. „Ich suche eine Wohnung und wie es scheint, habe ich eine gefunden“, erklärte er.
„Ausgerechnet hier?“, fragte Fabiano mit zu Schlitzen verengten Augen und kam näher, stellte sich vor seinen Freund. „Wir kennen uns aus dem Spears“, klärte er Alex auf.
Jun nickte und schnaufte. Verdammt! Was hatte Alex ihm sagen wollen? Und war Fabi etwa dessen Freund? Plötzlich brannten alle Lichter in seinem Kopf.
„Vielen Dank für die Führung“, sagte er schnell. „Ich will euch nicht länger stören. Kann ich den Schlüssel am Samstagmorgen abholen?“
Für einen Augenblick sah Alex ihn an. Dann nickte er und machte sich an seinem Schlüsselbund zu schaffen. Schließlich reichte er Jun einen der silbernen Schlüssel und gleich darauf den zweiten.
„Für die Haustür und die Wohnung“, sagte er. „Und du störst nicht!“
„Aber wir hatten doch etwas vor“, bemerkte Fabiano zwischen Enttäuschung und Abwehr. „Wir wollten gleich eine Runde zocken.“ Er sah zu Jun. „Und du musst dich sicher auf deinen nächtlichen Streifzug vorbereiten. Nicht, dass dir auch nur ein schwuler Kerl dieser Stadt in deiner Sammlung fehlt! Der hübsche Jun mit den schwarzen Haaren und den Glutaugen bekommt sie doch alle!“
Jun atmete langsam ein und wieder aus. „Der ein oder andere interessiert mich einfach nicht“, sagte er und sah Fabi in die blauen Augen. „Keine Sorge! Dein Schatz ist sicher vor mir. Keine gebundenen Kerle für mich.“
Alex öffnete den Mund, aber Fabi war schneller. „Alex ist heterosexuell!“, presste er hervor und betonte jede Silbe.
Jun lachte kurz, doch schließlich sank die Information in seinen Kopf. Der lässige Spruch, der Männerbesuch, die Berührung – das war ein Missverständnis gewesen? Jetzt war es Juns Hoffnung, die sich unter dem Dielenboden verkroch. Bereit zur Verteidigung seines Kumpels sah Fabi ihm in die Augen.
„Heterosexuell!“, wiederholte er und nickte dazu.
Verdammt, was sollte das? Jun rollte mit den Augen. Er hatte es beim ersten Mal verstanden! Was brachte den kleinen Fabiano eigentlich so auf? Wie ein niedlicher Minidrache stand er da, bereit, seinen Hetenfreund vor etwas zu beschützen, was der doch gar nicht wollte. Jun blinzelte. Mann! Was für eine Enttäuschung. Jun straffte die Schultern und steckte eine Hand in die Hosentasche, die andere hielt er Alex hin. Der nahm sie und sah aus, als wollte er etwas sagen. Doch dann nickte er.
„Alles prima“, sagte er und es klang gezwungen. „Anne kommt übrigens erst in vier Wochen zurück. Ich texte ihr, dass du einziehst.“
„Danke noch mal“, sagte Jun, befreit von allen Träumen über seinen neuen Mitbewohner.
Vielleicht war es ja besser so. Fabi war offensichtlich beliebt im einzigen Schwulenclub der Stadt. Mit ihm und seinen Freunden hatte er ab und zu vor der Tür geplaudert. Aber gerade mutierte der zur Oberglucke und hütete seinen Kumpel wie sein Küken.
Aber Alex war nun mal verloren für die Männerwelt, daran gab es keinen Zweifel. Zumindest würde er ein lässiger Mitbewohner werden, da war Jun sich sicher. Fast unmerklich schüttelte er den Kopf. Zeitverschwendung. Diese Art von Freundschaften waren einfach nicht sein Stil, die überließ er gerne Fabi.
„Bis bald“, sagte er so locker wie möglich und wandte sich zur Tür.
„Hey, Jun“, rief Alex ihm nach und seine tiefe Stimme jagte einen Schauer über Juns Rücken. „Du bist doch neu in der Stadt, oder?“
Jun nickte verwirrt.
„Falls du noch nichts vorhast – wir treffen uns am Samstag mit ein paar Leuten. Im Café Cinnamon, am Markt. Komm doch einfach vorbei“, fügte Alex an.
Ich brauche keine heterosexuellen Kumpel, die ich heimlich anhechele! Klar und deutlich wanderte der Satz durch seinen Kopf.
„Ich komme gerne. Danke“, sagte er stattdessen laut und konnte seine Worte nicht fassen.
„Super!“, sagte Alex und klang ehrlich erfreut. „Warte, ich gebe dir meine Handynummer, falls du das Café nicht findest.“
Benommen diktierte Jun ihm die Zahlen und Alex schickte ihm eine Textnachricht.
Dann bis Samstag um sieben im Cinnamon, stand dort.
Jun stöhnte leise und beeilte sich die Villa zu verlassen. Neben Otto, dem Troll, blieb er stehen.
„Der ist gefährlich“, murmelte er und sah dem Wesen in die grimmigen Augen. „Dieses Kumpel-Date muss ich unbedingt absagen!“
Texte: Alice Camden
Cover: Alice Camden
Tag der Veröffentlichung: 22.08.2018
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