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Flo: Wenn der Schnee deinen Namen flüstert

Ich brauche ein Taxi, oder besser: einen Schneepflug! Florin spähte unter der Überdachung hinaus in die Dunkelheit. Wild tanzten die Schneeflocken durch den Winterabend, spiegelten sich in den Lichtern der vorbeischleichenden Autos. Der Bahnhofsvorplatz war nur noch zu erahnen. Wie eingefroren im kalten Herz des Winters wirkte die Stadt, eingenommen vom heftigsten Schneesturm seit vielen Jahren. Froh, den letzten Zug nach Hause erwischt zu haben, streckte er den Kopf ein Stück vor.
Dicke Flocken verfingen sich in Flos Wimpern, nur um kurz darauf wie Tränen über seine Wange zu rinnen. Aber er lächelte selig und streckte eine Hand aus. Die Schneeflocken segelten auf seine Finger, hinterließen einen kalten Augenblick, bevor sie schmolzen. So lange er sich erinnern konnte, hatte er den Schnee geliebt. Auch wenn er seit Jahren in Deutschland lebte, aber wenn man in St. Petersburg geboren war, dann liebte man die weiße Pracht besser, denn man entkam ihr ja nicht. Doch es war vor allem der erste Schneefall eines jeden Jahres, der sein Herz zum Schmelzen brachte. So viele Erinnerungen schwirrten in den Flocken.
Beherzt zog er seine Mütze etwas tiefer ins Gesicht, schlug die Kapuze der Winterjacke nach oben und trat unter der Überdachung hervor, hinaus auf den Platz. Aber so beharrlich drängten die Flocken zur Erde, dass Flos Jeans schnell durchnässte. Feucht und kühl klebte sie an seinen Beinen, ließ ihn frösteln. Seine Wangen glühten unter dem Ansturm der weißen Flockenarmee, die sich nicht einmal von seiner Kapuze abhalten ließ. Jetzt brauchte er aber wirklich ein Taxi! Denn so wie die Autos krochen, schien die Straße bald nicht mehr befahrbar zu sein.

Eilig hastete er zum Taxistand, vorbei an den wenigen Passanten, die noch unterwegs waren. Da! Tatsächlich scherte ein Taxi aus dem Autokorso und näherte sich langsam. Ein Geräusch war zu hören. Flo drehte den Kopf und stutzte. Eine ältere Dame im knöchellangen Wintermantel schob ihren Rollator durch den Schnee. Sie ächzte laut und blieb neben ihm stehen.
„Wollen wir uns das Taxi teilen, junger Mann?“, fragte sie außer Atem.
Der Fahrer rollte das Fenster nach unten. „Wo möchten sie beide denn hin?“
„Zum Rosenhof“, erklärte die Dame mit flehendem Blick.
„In die Steingarten-Siedlung“, sagte Florin.
Entschuldigend schüttelte der Fahrer den Kopf. „Das sind entgegengesetzte Richtungen. Tut mir leid, aber ich mache heute nur noch eine Fahrt, die Stadt ist ja praktisch dicht.“
Ohne zu zögern, nickte Florin. „Steigen Sie ein“, sagte er mit einem Lächeln zu der älteren Frau und griff nach ihrem Rollator, um ihn in den Kofferraum zu heben. „Warten Sie, ich helfe Ihnen.“ Nun, er konnte ja laufen, auf die Stunde käme es nicht mehr an. Vielleicht würde der Schnee ihm auf dem Weg etwas von einer Zeit erzählen, die er schmerzhaft vermisste.
„Vielen Dank!“ Erleichtert atmete die Dame aus. Florin half ihr in den Wagen. „Ich wünsche Ihnen einen wunderbaren Abend“, sagte sie freundlich, blinzelte ihn aus müden Augen an und tätschelte seine Hand, bevor er die Tür schloss. Langsam rollte das Taxi zurück auf die Straße, reihte sich erneut in den zäh fließenden Verkehr ein.
Das ist ein guter Wunsch. Florin schloss seine Jacke ein Stück mehr und rückte seinen Rucksack auf dem Rücken zurecht. Wunderbar? Es wäre schon ganz wunderbar, wenn dieser Abend einmal nicht einsam enden würde. Für einen Augenblick ließ er die Hand über das Handy in seiner Hosentasche gleiten.
Ein schnelles Date? Noch war er in der Innenstadt. Vielleicht hatte einer seiner Gelegenheitslover Zeit? Ob er jemanden anrufen sollte? Aber der Schnee, der um ihn wirbelte und ihn in eine weiße Wolke hüllte, ließ es nicht zu. Zu viele Erinnerungen umschwirrten ihn. Er schluckte das bittersüße Gefühl der Sehnsucht in seinem Hals herunter, kniff die Augen zusammen und sah sich um.
Die letzten Menschen strömten in die Cafés und Kneipen rund um den Bahnhofsvorplatz. Alle schienen auf der Suche nach Schutz und Wärme zu sein. Flo ließ seine Schultern kreisen und dachte an den langen Rückweg. Ein Mann im schicken, dunkelblauen Mantel und Anzug tauchte in seinem Blickfeld auf. Etwas Altes rührte sich tief in Flo, ließ seine Glieder unruhig zucken. Die Art, wie der Mann lief, wie er sich bewegte – die war ihm vertraut. Er sah genauer hin.
Der Mann kämpfte sich mit gesenktem Kopf in Richtung Bahnhof vor. Einen Business-Rucksack auf dem Rücken eilte er mit immer schnelleren Schritten auf ihn zu, doch er schien ihn nicht zu sehen. Mit schneeschweren Wimpern blinzelte Flo, wischte sich mit der Hand durchs Gesicht und starrte den Mann an. Das war er! Da gab es keinen Zweifel! Kai!
Mit einem Mal erwärmte sich Flos Seele, ließ seinen Körper von innen glühen. Das war erst das dritte Mal in all den Jahren, seit er wieder in der Stadt wohnte, dass er Kai sah. Und die anderen beiden Male hatte Flo ihn nur erahnen können. Immer näher kam er nun, den Blick stur auf die Straße gerichtet.

Jedes Jahr erzählt mir der Schnee von dir, flüstert deinen Namen. Aber in diesem Jahr werde ich ein Bild dazu haben. Flo lächelte unwillkürlich. Kai sah wirklich gut aus! Wie alt war er jetzt eigentlich? Anfang oder Mitte vierzig? Ja, Kai war ungefähr zehn Jahre älter als er. Aber die Zeit hatte es gut mit ihm gemeint. Damals, vor fünfzehn Jahren, war er schon ein schöner Mann gewesen. Inzwischen war interessant dazugekommen. Flo wollte alle Geschichten hören, die sich hinter den feinen Falten um Kais Augen versteckten.
Der Schnee erzählt mir auch die Geschichten, die nie geschehen sind. Jetzt konnte er Kais Gesicht genau sehen. Gleich würde er ihn passieren, ohne ihn erkannt zu haben. Aber die Kälte verschwieg, wie hoffnungslos diese Begegnung war. Der Schnee ist freundlich zu mir. Wie gebannt starrte Flo zu Kai, der auf den Eingang des Bahnhofs zusteuerte.
Ich erinnere mich an dich. Du riechst nach Moos und Sonne. Und manchmal, da riechst du nach diesem heißen Kakao mit den bunten Marshmallows, den du so liebst. Aber das darf niemand wissen, weil du es albern findest. Deshalb kaufst du ihn immer in einem undurchsichtigen Pappbecher. Aber im Büro nimmst du den Deckel ab und starrst wie ein kleiner Junge auf die Sahne mit der bunten Verzierung. Dann lächelst du glücklich und ich freue mich. Du riechst nach Liebe. Und jeder Mann seither sollte wie diese Liebe riechen und schmecken, aber keiner hat es je getan.
Flo presste die Lippen zusammen und schluckte hart. Schneeflocken attackierten sein Gesicht. Aber er spürte sie nicht. Heute Nacht würde er sich noch einsamer fühlen, das war ihm bewusst. Denn in diesem Moment stieg die Gewissheit in ihm auf, dass er nie einen Mann treffen würde, der wie Kai roch.

Dann zuckte er zusammen. Kai hatte ihn erreicht, sah aber nicht auf. Im nächsten Augenblick rutschte er auf der weißen Schneedecke aus, trat an der Bordsteinkante vorbei und taumelte nach hinten. Ohne nachzudenken, machte Flo einen großen Schritt nach vorne und packte ihn an den Schultern, ließ sich mit ihm nach hinten fallen.
Unsanft landete Flo auf dem Hintern und schnaufte erschrocken. Ein Schmerz durchzuckte seine rechte Backe, schoss bis in die Beine. Aber seine Muskeln schützten ihn. Denn nach dem ersten Schock war nur noch die Feuchtigkeit irritierend, die nun auch von dieser Seite durch seine Jeans drang. Hastig kam er auf die Füße, straffte sich und zog Kai nach oben. Entgeistert starrte der ihn an.
„D… danke“, stotterte er und schüttelte den Kopf. Jetzt! Jetzt hat er mich erkannt! Flos Herz hüpfte vor Freude in seiner Brust. „Das war sehr aufmerksam von Ihnen.“ Sichtlich verwirrt klopfte Kai sich den Schnee von Mantel und Hose und blickte über seine Schulter. „Die Straßenbahnschienen. Ich wäre ja fast mit dem Kopf darauf geknallt.“ Voller Dankbarkeit blinzelte er Flo an.
Dieselben haselnussbraunen Augen, der gleiche wache Blick. Aber früher war er nie dankbar gewesen, immer nur liebevoll. Flo nickte und wartete. Wartete auf die Erkenntnis, die sich sicher gleich auf Kais Gesicht zeigen würde. Aber da tat sich nichts. Schließlich atmete er tief ein und aus.
„Du …“ Er räusperte sich. „Sie hatten Glück. Ich stand nur zufällig hier. Sicher hätte jeder geholfen.“
Kai neigte den Kopf zur Seite und griff nach seinem Rucksack, der bei dem Sturz auf dem Gehweg gelandet war. Auch er musste vom Schnee befreit werden.
„Wer weiß, ob jeder so eine gute Reaktion gehabt hätte“, bemerkte er. Etwas zuckte durch seine Miene. Der Hauch einer Erinnerung? Im nächsten Augenblick straffte er sich. „Vielen Dank! Jetzt sollte ich mich wirklich beeilen. Wer weiß, wie lange die Züge noch fahren“, sagte er in seiner wunderbar tiefen Stimme, die Flo Schauer über den Rücken jagte.
„Zu spät“, erwiderte Flo und zeigte mit dem Kinn in Richtung Bahnhof. „Ich bin mit dem letzten Zug in die Stadt gekommen. Danach haben sie den Bahnverkehr eingestellt.“
Kai stöhnte und schloss für einen Augenblick die Augen. „Also ein Taxi“, murmelte er mehr zu sich selbst.

„Ich fürchte, die Stadt ist für heute dicht. Taxis fahren ebenfalls nicht mehr“, sagte Flo. Er musste sich zurückhalten, dem erschöpften Mann nicht über den Arm zu streichen. So viel Zeit war vergangen und offensichtlich erkannte Kai ihn nicht.
Müde fuhr der sich über das nasse Haar. „Dann werde ich mir eben ein Hotel suchen müssen“, brummte er und drehte sich in Richtung Innenstadt. „Oder ich schlafe einfach in der Kanzlei“, fügte er leise an.
„Wir …“, sagte Flo so schnell, dass er sich nicht sicher war, wie der Satz enden sollte. Wir? Sie waren seit fünfzehn Jahren nicht mehr wir und im Grunde waren sie es nie gewesen! „Wir könnten noch etwas zusammen trinken? Weil …“ Er überlegte angestrengt. Was klang für einen Familienvater nicht zu schwul? „Ich muss später noch durch die ganze Stadt bis zur Steingarten-Siedlung. Könnte eine kleine Pause gebrauchen. Was meinen Sie?“
Skeptisch verengte Kai die Augen zu Schlitzen. Flo konnte fast sehen, wie er nachdachte, die Worte prüfte, so wie es ein Jurist eben tat. Was könnte hinter dieser Einladung stecken, das überlegte er sicher gerade. Wie damals – ich irritiere dich nur. Entmutigt sah Flo nach unten über die geschlossene Schneedecke, die sich inzwischen gebildet hatte. Aber er würde immerhin an Kai denken, während er nach Hause stapfte, daran gab es keinen Zweifel. Hier mit ihm zu stehen, sogar mit ihm zu reden, war ein kleines Wunder – aber das Wunder schmerzte in seiner Brust.
„Warum nicht“, schnaufte Kai schließlich und zuckte mit den Schultern. „Sie sind eingeladen. Immerhin schulde ich Ihnen etwas.“
Flo musste strahlen und mit ihm leuchtete sein Herz. „Es gibt ein hübsches Café am Rande des Marktplatzes, ich kenne den Besitzer. Das Café Cinnamon. Ich könnte jetzt wirklich eine heiße Schokolade gebrauchen. Was meinen Sie?“

 

Flo strahlte unwillkürlich und mit ihm leuchtete sein Herz. „Es gibt ein hübsches Café am Rande des Marktplatzes, ich kenne den Besitzer. Das Café Cinnamon. Ich könnte jetzt wirklich eine heiße Schokolade gebrauchen. Was meinen Sie?“
Kai stutzte und nahm den Kopf zurück. Die Erwähnung seines Lieblingsgetränks verunsicherte ihn sichtlich. Dann entspannten sich seine Züge und er nickte mit einem schmalen Lächeln.

„Wunderbar“, murmelte er.
Flo zeigte mit der Hand in Richtung Marktplatz und setzte sich in Bewegung. Kai folgte ihm, holte schnell auf. Und schließlich stampften sie schweigend durch den schneeverwehten Winterabend, hielten die Köpfe gesenkt und achteten auf ihre Schritte. Vorbei an den beleuchteten Schaufenstern der Geschäfte liefen sie. Die Buden in der Mitte der Fußgängerzone waren geschlossen, kein Mandelduft wehte zu ihnen, keine leuchtenden Kinderaugen sahen sie an. Nur die winterliche Stille begleitete sie.
Ich will nur deinen Blick sehen, wenn du in die heiße Schokolade mit Marshmallow starrst. Da geht die Sonne in der Nacht auf. Flo blinzelte zu Kai hinüber. Der schien seinen Gedanken nachzuhängen. Aber in ihm glühte diese Wärme, die er so viele Jahre vermisst hatte. Nur einen wunderbaren Moment, der nach Liebe riecht, mehr will ich gar nicht. Dann gehst du zurück in dein Leben und ich in meines und nichts ist geschehen. Nur in meinem Herz wird es etwas wärmer sein.

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Texte: Alice Camden
Bildmaterialien: Alice Camden/shutterstock
Cover: Alice Camden
Tag der Veröffentlichung: 22.12.2017

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