Am See, unweit vom Dorf zwischen Feldern und Gärten, spielten Kinder, lagen faul in der Sonne und genossen den letzten Ferientag.
Im letzten Haus des Dorfes, gleich neben der Landstraße, war es dagegen still. Nur hin und wieder drang leises Murmeln und Kichern vom Dachboden herunter. Dort auf dem Speicher, der einer Werkstatt glich, bastelte ein dunkelhaariger Lockenkopf an einem Metallrahmen. Ständig musste er sich die Nickelbrille auf die Nase hinauf schieben und las dabei in den Aufzeichnungen, die vor ihm auf dem Boden lagen.
Das Gestell, an dem er sich abmühte und das einem Fahrrad ähnelte, ruhte auf zwei metallenen Ständern. Unter der Querstange, auf der dicht hintereinander drei Sitze montiert waren, hingen zwei schwarze Kästen, in die eine Antriebskette hineinführte. Sie wurden zusätzlich durch unzählige bunte Kabel und Drähte verbunden, die aus einem dritten Kasten mit vielen Kontrolllämpchen herausführten.
Neben ihm warteten ungeduldig zwei gleichaltrige Jungen und schauten gelangweilt zu. Kalle hatte große kluge Augen und strich sich immerfort die langen blonden Haare aus dem Gesicht. Mobbi, wie der Kleinste von ihnen genannt wurde, war etwas dick und hatte einen kurzen Igelschnitt. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Lutscher, den er genüsslich im Mund hin und her zog.
Sie gingen in die fünfte Klasse, in ein paar Tagen in die sechste. Dann waren leider schon die Ferien vorbei.
Mobbi dachte mit gemischtem Gefühl an das kommende Schuljahr. Er war kein besonders guter Schüler wie die anderen zwei, die sich oft trafen um zu knobeln oder irgendwelche Experimente durchzuführen.
Der Junge an dem Gerät blickte endlich auf, schob sich erneut die Brille zurecht und musterte seine Freunde.
„Ich bin gleich fertig“, sagte er. „Dann werdet ihr sehen, dass es funktioniert!“
Mobbi grinste und tippte sich an die Stirn. „Wären wir lieber zum See gegangen und hätten mit den anderen Wasserball gespielt!“ Er dachte an die vielen Versuche, die Doc schon durchgeführt hatte. Nichts klappte so, wie er es sich vorstellte. Entweder es begann zu qualmen oder zu brennen, oder aber es geschah überhaupt nichts.
Doc wohnte mit seinem Vater und dem Großvater zusammen in diesem Haus. Seine Mutter war kurz nach seiner Geburt gestorben. Der Vater – er lehrte an der physikalischen Fakultät als Dozent – war selten zu Hause und forschte gemeinsam mit seinen Studenten in irgendwelchen Grenzgebieten der Physik. Mehr wusste Doc nicht von seiner Arbeit. Er redete nicht viel darüber.
Auch jetzt war er wieder nicht daheim; zum zweiten Mal in kurzer Zeit war er wieder auf Dienstreise.
Dafür interessierte sich der Großvater für seinen experimentierfreudigen Enkel. Umso mehr war Doc erstaunt, als er ihm vor wenigen Tagen ein fast vollständig konstruiertes Gerät zeigte. Der alte, aber rüstige Mann händigte ihm noch dazu den Konstruktionsplan aus, und an der Handschrift erkannte der Junge die seines Vaters.
Doch warum zweigte er es ihm? Was bezweckte er damit? Und vor allem: Zu was war es fähig?
Doch auf all seine Fragen zuckte der alte Mann nur mit den Schultern, lächelte geheimnisvoll und war wieder vom Dachboden verschwunden.
Es war schon ein wundersames Gefährt. Fahren konnte man nicht damit, denn es fehlten die Räder. Doch warum hatte sein Vater Sitze darauf montiert?
Entgegen dem Konstruktionsplan brachte Doc einen dritten Sattel an. Er dachte dabei an seine zwei Freunde. Wenn er schon nicht wusste, was mit ihm geschah, sollten sie wenigstens dabei sein.
„Doc?“ fragte Kalle leise, um ihn nicht zu stören. „Was passiert überhaupt bei deiner Erfindung?“ Ihn ärgerte es ebenso wie Mobbi, dass sie bei diesem herrlichen Sommerwetter schon den ganzen Nachmittag auf dem verstaubten Dachboden hockten und sich langweilten.
Der Junge kniff die Augen zusammen und starrte wieder in die Aufzeichnungen des Vaters. Was sollte er erwidern? Er wusste ja selbst nicht, für welchen Zweck er dieses Gerät gebaut hatte!
„Lasst euch überraschen!“ Er war sich diesmal sicher, dass die Erfindung funktionierte.
Mobbi sah auf die Uhr. „Ich muss spätestens zum Abendessen zu Hause sein“, und mit einem vielsagenden Blick zu Kalle: „Und vorher will ich noch Baden fahren.“
Er wollte gehen, doch Doc hielt ihn zurück. „Noch ein paar Minuten, bitte! Wir probieren das Maschinchen nur noch aus, okay?“
Er verlegte ein Kabel von einem Kästchen ins andere; dabei zischte es leise. Dann richtete er sich auf, betrachtete den Apparat noch einmal von allen Seiten und schien mit seiner Arbeit zufrieden zu sein.
„So, ich bitte Platz zu nehmen!“ rief er und lud sie mit einer überschwänglichen Geste ein, sich auf den Sitzen niederzulassen.
„So dicht müssen wir uns hier drängen?“ maulte Kalle und bestieg mit etwas Unbehagen seinen Sitzplatz. „Du hältst wohl nicht viel von Bequemlichkeit, was?“
Doch Doc ging nicht darauf ein. „Auf mein Kommando tretet ihr kräftig in die Pedalen!“ wies er sie an.
„Aber vorher musst du mir noch was versprechen“, forderte Kalle und versuchte sich so bequem wie möglich zu setzen.
„Und das wäre?“ Doc räumte das Werkzeug zusammen und verstaute es in einem kleinen Täschchen am Gestell.
„Wenn dein Versuch heute nicht klappt, bauen wir uns aus dem Rahmen ein Tandem für uns drei. Dann können wir zusammen zum See fahren. Was glaubt ihr, was die anderen da für Augen machen!“
„Der Versuch klappt, verlass dich drauf!“ Er setzte sich ebenfalls auf seinen Platz und wollte noch etwas hinzufügen, als sich die Dachbodentür öffnete und der Kopf des Großvaters erschien. Als er die Kinder erblickte wirkte er fast erleichtert.
In einer Hand hielt er einen prall gefüllten Rucksack, in der anderen ein verschnürtes Zelt.
Die Kinder sahen sich verständnislos an, als er es ihnen in die Hände drückte.
„Was sollen wir denn damit?“ fragte Doc verwundert und wollte es ihm zurückgeben, doch der Mann schob ihm erneut den Rucksack zu. Dabei legte er seinen Zeigefinger an die Lippen.
Was sollten sie denn hier auf dem Dachboden mit dem Rucksack oder dem Zelt?
„Wartet ab“, flüsterte der Mann geheimnisvoll. „Es wird etwas passieren, das ihr nie vergessen werdet. Ihr dürft nur keine Angst haben und müsst immer zusammenhalten. Das ist das Wichtigste!“
Und an seinen Enkel gewandt, so dass nur er es verstehen konnte: „Es geht um deinen Vater. Du musst ihm helfen! Er ist schon zu lange weg, und ich mache mir nun doch schon langsam Sorgen.“
Doc sah ihn an, als hätte er gerade behauptet, dass grüne Männchen auf die Erde geschwebt kämen. Er war schon etwas wunderlich. Wie sollte er denn seinem Vater helfen, wenn er auf Dienstreise war?
Doc wollte nachforschen, doch der Großvater hatte sich in angemessener Entfernung auf eine Kiste gesetzt und wartete darauf, dass die Kinder mit ihrem Versuch begannen.
„Na dann“, kommandierte Doc schließlich und sah noch einmal zu seinem Großvater. Ob er wusste, was geschehen würde?
Kräftig traten die Kinder in die Pedalen, immer schneller surrte die Kette durch die schwarzen Kästchen. In dem Moment, als Kalle eine spöttische Bemerkung machen wollte, begann es leise zu knistern. Zarter, hellgrüner Rauch stieg ihnen in die Augen und ließ sie schwindlig werden. Allmählich drehte sich alles um sie herum: der Großvater, der wissend dreinschauend auf der Kiste saß, die Werkbank und die Hocker, und sie drehten sich immer schneller, bis ihnen schwarz vor Augen wurde.-
Als erster erwachte Mobbi. Er hob den Kopf und ließ seinen Blick über die unbekannte Landschaft schweifen.
Träumte er oder war es Wirklichkeit?
Sie standen mit ihrer Maschine inmitten einer blumenübersäten Wiese, die sich bis zum Horizont erstreckte.
Er stieß die anderen an, die noch immer auf ihren Sitzen schliefen, und stieg ab. „He, wollt ihr nicht endlich aufstehen und euch umschauen?“
Mit geröteten Augen, offenen Mund und wirr um sich blickend, kniffen sie sich gegenseitig in die Arme.
„Das ist kein Traum, das ist Wirklichkeit!“ Mobbi hatte sich gebückt und strich mit der Hand über das Gras. „Das ist alles echt!“
„Wie kommen wir denn hier her?“ stammelte Doc.
„Das fragst du uns? Hauptsache du weißt auch, wo wir hier sind und wie wir wieder zurückkommen.“ Kalle lief ein paar Schritte in die Wiese hinein und drehte sich zu ihnen um.
Doc, der selbst von der Wirkung des Gerätes überrascht war, rieb sich nervös mit dem Zeigefinger unter die Brille. „Wo wir uns hier befinden, weiß ich nicht..., wirklich, ich weiß es nicht. Keine Ahnung. Aber ich hoffe, dass wir wieder zurückkommen...“ „Du hoffst es nur?“ riefen Kalle und Mobbi wie aus einem Mund. „Glaubst du, dass wir es nicht schaffen könnten -?“
Doc schüttelte energisch den Kopf, obwohl er sich nicht sicher war. „Nein, nein, nein!“ Was sollte er ihnen antworten? Ihn beschlich eine Ahnung, was der Großvater mit seiner Bitte meinte.
War sein Vater ebenfalls hier gelandet? Brauchte er ihre Hilfe?
„Ich muss in aller Ruhe die Maschine überprüfen, dann steht einer Rückkehr nichts mehr im Wege“, versuchte er sie zu beruhigen.
In der Ferne donnerte es.
„Dann fang endlich an!“ forderte Kalle. Doch Doc wies hinter sie. Der Himmel hatte sich schon bedrohlich verfinstert. „Das wird jetzt nichts mehr. Wir müssen es auf später verschieben. Deshalb schlage ich vor, dass wir so schnell wie möglich das Zelt aufbauen und auch die Maschine abdecken.“
Bedrückt, aber dennoch seiner Anweisung folgend, errichteten sie das Zelt und deckten ihre Maschine ab. Sie durfte auf keinen Fall nass werden.
Sorgenvoll krochen die Kinder ins Zelt. Sie wussten, dass ihre Eltern auf sie warteten. Doch was sollten sie tun?
Doc zurrte den Rucksack auf, den ihnen der Großvater mitgegeben hatte, und sie staunten. Es kamen alles Dinge zum Vorschein, die sie jetzt gebrauchen konnten: drei dicke Kerzen, zwei Taschenlampen, ein Taschenmesser, Streichhölzer, eine Flasche Tee, einige Konserven, ein Kompass und noch einiges mehr. Selbst eine kleine Handangel hatte er ihnen eingepackt.
„Ich glaube, dass dein Großvater mehr weiß als wir“, argwöhnte Kalle. „Sonst hätte er uns das alles nicht mitgegeben.“
Doc nickte zögernd. Sollte er ihnen jetzt schon verraten, was ihm der Großvater noch gesagt hatte? „Es kann sein. Er hat ja gesagt, dass etwas passieren wird, das wir nie vergessen werden.“
„Ja“, bestätigte Mobbi. „Und wir sollen immer zusammenhalten.“
Sie sahen sich an. „Das werden wir auch, abgemacht?“ Doc hielt die Hand hoch und die anderen schlugen ein. „Abgemacht!“
„Aber ich sollte bis zum Abendessen zu Hause sein“, jammerte Mobbi anschließend.
„Wir hätten heute alle zu Hause sein müssen“, versuchte ihn Kalle zu trösten und legte ihm den Arm um die Schulter. „Außer bei dir.“ Er sah zu Doc. „Dein Großvater wird wissen, dass wir heute nicht mehr zurückkommen, oder?“
„Ich weiß es nicht, Kalle. Ich weiß es wirklich nicht.“
Sie glaubten ihm, legten sich in dem engen Zelt nebeneinander, um sich besser wärmen zu können und vernahmen das Donnergrollen, das an Intensität nachgelassen hatte und weiter gezogen war.
Allmählich hüllte die Nacht alles ein.
Unbemerkt von den schlafenden Kindern näherte sich dem Zelt plötzlich eine Gestalt und verharrte horchend vor dem Eingang. Krumm und bucklig zeichnete sich ihre Silhouette im Mondschein ab.
„Was sind das denn für komische Käuze?“ krächzte sie heiser, nachdem sie mit ihren dünnen, knorpeligen Fingern die Zeltplane zur Seite geschoben hatte. Dann lachte sie grell und rieb sich die Hände. „Ob sie auch etwas Interessantes dabei haben...“
Neugierig durchschnüffelte sie das Innere des Zeltes, ohne dass die Kinder sie bemerkten, und zog wieder enttäuscht die Plane zu. „Nichts, rein gar nichts haben sie!“ Sie trat zurück und erspähte die Maschine, die vorsorglich abgedeckt auf der Wiese stand. Neugierig beäugte sie das Gerät von allen Seiten, lachte grell und unheimlich und verschwand so schnell, wie sie gekommen war.
Es wurde wieder still. Das Grollen in der Ferne hatte aufgehört. Nur der Wind ließ die Blumen auf der Wiese hin und her wiegen, anfangs noch schwach, dann immer heftiger, bis er schließlich an den Leinen des Zeltes riss, als wollte er deren Festigkeit überprüfen.
Doc erwachte als Erster und schaltete seine Taschenlampe an. „Los, aufwachen!“ schrie er in das Getöse hinein, das mittlerweile so laut geworden war, dass es in den Ohren schmerzte. „Wir müssen das Zelt sichern, sonst wird alles fortgerissen!“
Er schob Mobbi ins Freie und drückte ihm einen Hammer in die Hand. „Hier, schlag die Erdnägel fester in den Boden!“
Doch in dem Augenblick, als Mobbi ausholen wollte, passierte es. Mit einem ungeheuren Knall hatte der Sturm die letzten Verankerungen aus dem Boden gerissen und das Zelt in die Luft geschleudert. Doc und Mobbi standen wie versteinert und starrten in die Finsternis, dorthin, wo eben ihr Zelt verschwunden war.
Der Sturm riss und fetzte an ihrer Kleidung.
„Mensch..., da war doch Kalle drin...“, fiel es Mobbi ein, und wie auf Kommando fingen sie an zu rufen. „Kalle! K-a-l-l-e?“ Doch die Schreie wurden ihnen sofort von den Lippen gerissen. Vom Zelt und ihrem Freund war nichts zu sehen.
Schlotternd vor Angst umklammerte Mobbi seinen Freund und weinte. So warteten sie bis zum Morgen. Erst dann erkannten sie das ganze Ausmaß der Verwüstung.
Außer einigen Konserven, die im Gras verstreut herumlagen, hatte das Unwetter alles mit sich fortgerissen. Auch ihre Maschine war verschwunden. Sie hasteten wie aufgescheuchte Hühner umher, in der Hoffnung, sie doch noch irgendwo zu finden. Doch wo sollte sie sein? Konnte ein Sturmwind das schwere Gerät einfach so mit sich forttragen? Und wo war das Zelt mit Kalle?
„Wir sind verloren“, weinte Doc plötzlich und warf sich ins Gras. „Und an allem bin ich schuld!“ Tränen rannen ihm übers Gesicht und tropften auf seinen Pullover. „Wir werden ihn nie wieder finden..., und auch nie wieder nach Hause kommen...“
Mobbi hockte sich zu ihm und versuchte ihn zu trösten. Doch was sollte er sagen? So schwieg er lieber und wartete, bis er sich etwas beruhigt hatte.
„In welcher Richtung wollen wir suchen?“ fragte er schließlich leise.
Doc zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.“ Er hatte sich erhoben, legte die Hand über die Augen und spähte in alle Richtungen. „Da hinten am Horizont scheinen Bäume zu stehen, da würde ich zuerst hingehen.“
„Gut, dann gehen wir.“
Doc lief voraus. Mobbi folgte ihm, nachdem er sich noch einige der Konserven eingesteckt hatte. „Warte noch eine Minute“, bat er. „Ich habe einen solchen Hunger, ich falle gleich um!“
Er öffnete umständlich eine Wurstdose.
„Komm, beeile dich!“ schimpfte Doc ärgerlich. „Du willst dir jetzt den Bauch voll schlagen und Kalle braucht irgendwo unsere Hilfe!“
Gleichgültig marschierte er weiter.
„Warte! Du willst mich doch nicht etwa in dieser Einsamkeit alleine lassen?“ Mobbi beeilte sich, hustete vor Hast und folgte ihm.
Sie wanderten über die riesige Wiese. Blumen in allen Farben und Formen wuchsen
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 23.06.2016
ISBN: 978-3-7396-6177-3
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