Inhalt

Cover

Widmung

 

 

 

Alle in diesem Buch geschildeten Handlungen und Personen,

sowie Orte sind frei Erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen

ist zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

Dieses Buch ist an alle gewidmet,

die trotz schlimmen persönlichen Ereignisse

noch immer an die Liebe und das Glück glauben können,

so wie ich es tue! 

Es gibt keinen Schmerz, der nicht zu übertreffen wäre, das einzig Unendliche ist der Schmerz.

 

  • Elias Canetti

 

 

Ein schmerzendes Brennen weckte mich aus dem Schlaf heraus. Sofort riss ich meine Augen auf. Über mich gebeugt sah mich mein Daddy mit lüsternen Augen an. Langsam spürte ich, wie die Angst über mich kroch.

„Bitte nicht, tu das nicht, Daddy.“, flehte ich ihn an. Seine Antwort war ein weiterer Schlag in mein Gesicht. Mein Kopf fuhr herum und ich umfasste mit beiden Händen meine Wangen. Leise fing ich an zu weinen. Während Daddy weiter zu mir herrückte, rutschte ich so weit weg von ihm, wie es nur ging. Doch irgendwann presste ich meinen Körper an die Wand neben meinem Bett und fing leise an zu wimmern. Daddy gefiel es nicht, wenn ich wimmerte und deshalb boxte er mir in den Magen. Nach Luft ringend hielt ich mir meinen Bauch, dabei verrutschte mein Oberteil. Daddy packte meine Hände und zog mich auf das Bett. Ich versuchte mich zu wehren, aber auch das mochte Daddy nicht. Nachdem ich erneut den brennenden Schmerz auf der Wange fühlte, versuchte ich mich zusammen zu reißen.Es ist nur für heute, nur heute lasse ich es Daddy tun. Jedes mal sagte ich mir dasselbe und jedes mal hasste ich mich dafür.Mommy wusste nichts davon, da ich es nicht sagen durfte und sie noch bei der Arbeit war.Mommy arbeitete viel. Glitschige Finger fuhren unter mein Oberteil und berührten meine Haut. Ich mochte es nicht. Daddy sollte damit aufhören. Obwohl ich mir vorgenommen hatte, es ihn machen zu lassen, schrie ich und versuchte mich aus seinem Griff zu befreien. Daddy tat mir immer mehr weh und ich verspürte nur noch Schmerz. Aua.

Ich hörte ein Geräusch, aber als Daddy mich wieder anfasste, sah ich aus dem Fester hinaus. Es war Vollmond. Ich hatte die Dunkelheit am liebsten. Sie war immer da für mich, wenn es mir nicht gut ging und sie zeigte niemandem meine Gefühle. Sie war wie eine Decke und der Vollmond wie ein Schleier um mich gebunden, der mir jeden Tag die Kraft gab, mir nichts Schlimmes anzutun. Aber ich hatte Angst. Ich wollte nicht, dass Daddy das immer machte, wenn Mummy bei der Arbeit war. Ich wollte es nicht.

Irgendwo schrie jemand. Daddy ließ mich los und schmiss mich gegen die Wand. Meine Augen taten weh. Ich war mit ihnen gegen den Bettpfosten gestoßen und nun brannten sie. Zuerst sah ich gar nichts, dann immer mehr, aber sie taten immer noch weh. Aua. Ich sah auf. Meine Mummy und Daddy kämpften. Schon wieder. Ich habe Mummy noch nie Lächeln sehen, wenn Daddy da war. Ich habe auch noch nie gelächelt, wenn Daddy da war. Immer schlug er mich oder machte in meinem Bett Dinge mit mir, die ich nicht wollte. Ich wollte nicht, dass Mommy das wusste. Leise weinte ich, lautlos schluchzte mein Mund

.„Du Mistkerl. Meine Tochter. MEINE TOCHTER!“, schrie Mommy und knallte auf Daddys Kopf etwas Großes. Es gab einen ganz lauten Knall, dann explodierte etwas und es fiel mit Daddy auf den Boden. Alles war still. Wie Schnee lagen die Scherben um Daddy. Daddy rührte sich nicht mehr. Mommy schnappte sich meine Sachen aus dem Schrank und schmiss sie einfach so in die Taschen. Verwirrt sah ich ihr dabei zu. Will Mommy sie nicht erst Bügeln?„Geh und zieh dich an, Schatz.“, rief sie mir zu, während sie aus dem Zimmer rannte. Ich hörte Jamie wütend weinen. Armer Jamie, jetzt war er wach. Ich tat was Mummy wollte und wartete später an der Haustür. Jemand an der Tür klopfte. Ich sah, wie Mommy mit Jamie an der Hand zur Tür schritt. Ihre Haare waren unordentlich zusammen gebunden, sodass manche Haare herausfielen. Mommy strich sich einige Strähnen weg. Meine Augen taten wieder weh.

„Verhaften sie diesen Mann! Mir reicht es. Er schlägt mich und meine Kinder, aber heute habe ich ihn im Bett meiner Tochter entdeckt. Dieser scheiß Mistkerl hat meine Tochter angefasst. Und dann hat er wieder angefangen mich zu schlagen, aber ich habe es diesem Perversling gezeigt. Ich will, dass er in den Knast kommt, Lebenslänglich und wenn ich dafür mein Leben aufgeben muss.“, schimpfte meine Mummy vor sich hin, während die beiden Polizisten auf meinen Daddy zuliefen und ihn mitnahmen. Ich hatte aber immer noch Angst und meine Augen taten weh. Plötzlich wurde mir schwarz vor den Augen und ich sah gar nichts mehr. Ich blieb lange stehen und wartete, aber das Schwarze vor meinen Augen wollte nicht mehr weg.

„Mommy, meine Augen tun weh. Alles ist schwarz. Mommy, ich sehe nichts.“, schrie ich und fing an zu weinen. Langsam setzte ich mich in die Hocke und weinte. Man hörte mein Schluchzen im ganzen Zimmer, während niemand mehr bei mir war.

Man erstickt den Verstand der Kinder unter einem Ballast unnützer Kenntnisse.

 

  • Voltaire, Jeannot und Colin

 

 

Das Klingeln meines Weckers holte mich aus meinem Schlaf. Mein Atem ging schnell, laut hörte ich mein Herz pochen. Stirnrunzelnd dachte ich über den Traum nach. Warum kam gerade diese Erinnerung wieder hoch?Ich fuhr mir durch die Haare. Ich musste los zur Schule. Ich stand auf und fing langsam an die Schritte zu zählen, die ich eigentlich auswendig konnte. Doch ab und zu ließ ich Sachen auf den Boden fallen und ich konnte an beiden Händen abzählen, wie oft ich in diesem Monat schon gefallen war. Ich lief ins Badezimmer und wusch mir als erstes mein Gesicht. Ich sah auf und stellte mir vor, dass vor mir ein Spiegel stand, aber ich sah nur die Schwärze. So wie immer. Ich erledigte meine Morgentoilette, ging duschen und putzte mir gründlich meine Zähne. Als nächstes kämmte ich mir die Haare und band sie so wie immer zu einem hohen Pferdeschwanz. Ich hatte mir von Sophie sagen lassen, dass ich rabenschwarze Haare hatte und Augen in einem tiefen Tintenblau, doch sie meinte auch, dass es Tage gab, an denen sie in einem wunderschönen leuchtenden Dunkelblau waren, dass man meinte, das Universum darin zu erblicken. Ich wusste nicht genau, was sie damit meinte, aber so wie sie es gesagt hatte, war es schön. Sophie war Französin und sie pflegte mich schon, seitdem ich zwölf war. Sie war nur achtzehn Jahre älter als ich und ich sah sie jeden Tag. Sie war, wie eine große Schwester und beste Freundin zugleich für mich

.„Oh, du bist schon wach. Gut. Wir fahren in vierzig Minuten los, unten ist Frühstück und dein Pausenbrot ist auf der linken Seite der Theke neben der Mikrowelle.“, hörte ich die mir ziemlich vertraute Stimme sagen. Ich drehte mich in die Richtung und lächelte.

„Dir auch einen guten Morgen.“, schelmisch grinste ich und spürte den Stoß, den sie mir verpasst hatte.„Aua, so geht man nicht mit Leuten um, die nicht wissen, wo sie gerade stehen.“, hielt ich ihr schmunzelnd vor, obwohl der Stoß nichts Lebensbedrohliches darstellte.

„Du willst mir jetzt wirklich weismachen, dass du in dem Haus, in dem du seit über neun Jahren lebst, nicht in und auswendig kennst?“

Sie und ihre rhetorischen Fragen. Kopfschüttelnd ging ich wieder in mein Zimmer und zog mich an. Wie jeden morgen auch, hatte Sophie meine Sachen schon heraus gelegt, sodass ich es einfacher hatte und nicht minutenlang überlegen musste, was ich wohl anziehen sollte. Ich tastete nach der Unterwäsche und zog sie mir rasch an. Schließlich wusste ich nicht wirklich, ob Sophie noch im Badezimmer war. Klar hatte sie mich schon einige Male entblößt gesehen, aber ich hatte nie davon gesprochen, dass ich es mochte und griff hastig nach der Hose. Langsam zog ich mir die - Lederhose? - an und rückte sie an die richtigen Stellen. Als nächstes zog ich mir den Pullover über, der sich schön an meinen Körper schmiegte und mich mit seiner kuscheligen Wärme in sich einschloss. Ich setzte mich behutsam auf mein Bett, achtend darauf nicht herunter zu fallen und zog mir noch zuletzt meine Strümpfe und Straßenschuhe an. Wie sie aussahen wusste ich nicht, aber ich wusste, dass sie ziemlich bequem und praktisch waren. Sie hatten die Gabe sich an jedes Wetter anzupassen und nie zu zerreißen. Einfach traumhaft diese Schuhe. Ich tastete nach meiner Jacke, doch egal wie lange ich nach ihr suchte, sie war nicht aufzufinden

.„Sophie. Hast du irgendwo meine Jacke gesehen? Sie ist nicht auf meinem Stuhl.“, schrie ich fragend und wartete einige Sekunden lang auf ihre Antwort.

„In der Wäsche, genauso wie die anderen. Du musst heute ohne gehen, aber das Wetter ist schön und schon ein wenig wärmer, also mach dir keine Sorgen.“, meinte sie neben mir und ich zuckte leicht zusammen.„Wie lange bist du schon im Zimmer?“, fragte ich sie überrascht und erschrocken, dabei versuchte ich gleichmäßig weiter zu atmen.

„Als du dir die Schuhe angezogen hast.“, meinte sie trocken und lief aus dem Zimmer. Diese Frau war verrückt. Ich würde mich nie an sie gewöhnen, obwohl sie mich schon ziemlich lange im Leben begleitete. Wahrscheinlich wäre ohne sie, meine Mutter und Jamie einiges anders verlaufen. Der Gedanke an meinen großen Bruder ließ mich traurig auflächeln. Ich hatte schon lange nichts mehr von ihm gehört. Ich schnappte mir meine Schultasche, die eigentlich eher mehr wie ein einfacher Rucksack war, aber ich benutzte ihn gerne für die Schule oder wenn ich wegging. In der Küche setzte ich mich auf meinen Stammplatz und suchte mit den Händen nach meiner Tasse Tee. Ich gehörte zu den wenigen Menschen, die Kaffee hassten, aber heiße Schokolade um ihr Leben vergötterten und genauso war es bei mir. Doch in der nächsten Zeit musste ich wieder Tee trinken, da ich viel zu viel von dem süßen Zeug trank und endlich etwas Gesünderes im Körper brauchte. Ich schmeckte die Kamille aus der Tasse schon heraus, bevor ich sie trank und dies war eine der besonderen Dinge, die ich konnte. Meine Geruchssinne waren weiter ausgeprägt, als bei den meisten Menschen, doch selbst ich vergaß manchmal durch die Nase zu atmen und schwächte somit meine Sinne. Ich schmierte eine Scheibe Brot mit Frischkäse, aß lustlos, dabei hörte ich nebenbei Musik. Leise summte ich bei Lil Waynes Lied-How to Love. Ich schloss meine Augen und öffnete sie erst wieder, als das Lied vorbei war, danach ich saß einfach da und tat nichts. 

Irgendwann zerrte mich Sophie aus dem Stuhl und murmelte etwas vom „Zuspätkommen“ und „Beeil dich“, sodass ich meine Tasche schnappte und mir an der Haustür mein Pausenbrot griff.

„Vergiss deinen Blindenstock nicht!“, schrie sie mir hinterher und ich machte kehr zur Küche und schnappte mir das kleine Etwas.Im Auto ließ ich meine Sachen auf meinen Schoß fallen und zurrte den Gurt fest. Während der Fahrt hörte ich den Geräuschen des Autos zu und wäre sogar beinahe eingeschlafen, wenn Sophie nicht so abrupt gestoppt hätte.

„Scheiß Fans. Die versperren ja den ganzen Weg.“, murrte sie vor sich hin, während sie immer wieder hupte. Anscheinend hatte sie Platzt zwischen den Menschen Schrägstrich Fans gefunden, denn kurz darauf brauste sie wieder los.

Ich hielt mich an der Tür fest und hatte plötzlich Sorgen um mein Leben. Jedoch traute ich mich nicht, meinen Mund zu öffnen, da ich wusste, dass Sophie etwas gestresst war und ich sie nicht ärgern sollte.Erneut bremste sie eine Spur zu hart und ich spürte den Gurt in meine Brust schneiden. Fröhliche Stimmung ihrerseits schwebte nun im Raum, während meine noch bei ihrem Herzinfarkt blieb.

„Wir sind da. Soll ich dir noch helfen?“, fragte mich Sophie und sofort schüttelte ich den Kopf. Sophie von wütend zu fröhlich zu erleben bedeutete nichts Gutes. Schnell stieg ich aus dem Auto und warf mir meine Tasche über die Schulter, dann streckte ich das kleine Ding aus und siehe da, da hielt ich schon einen Blindenstock in der Hand. Ohne dieses Teil würde ich in der Schule nicht überleben. Ich ging in die zehnte Klasse eines Gymnasiums mit achtzehn Jahren, war aber mehr oder weniger der Außenseiter. Ich redete selten mit den Leuten und der Unterricht war mir zu wichtig, als mich mit irgendjemandem zu unterhalten. Lediglich in die Cafeteria begleiteten mich Lehrer oder ein Mädchen Namens Luisa.

Ich mochte sie. Sie war einer der wenigen Menschen, der mich nicht bemitleidete und schon von Anfang an zu mir nett war. Das schätzte ich sehr an Leuten, die wie sie waren. Dafür hatten sie immer etwas gut bei mir. Vor allem wegen ihrer Ehrlichkeit.Ich fuhr mit dem Blindenstock über den Boden, hörte dabei einige Leute zur Seite laufen und zählte die Schritte. Es waren immer Schritte, die ich jeden Tag zählte, aber ich brauchte sie, um ohne Hilfe weiterzukommen. Wenn ich eines nicht mochte außer bemitleidet zu werden, dann war es, wenn man mir helfen musste.An meinem Spind angekommen, schloss ich diesen auf und nahm mir meine Geschichtsunterlagen heraus, nachdem ich über die Blindenschrift am Buchrand und den Heften gefahren war. Mit ihnen in der Hand, knallte ich meinen Spind wieder zu und lief zum Unterricht, nachdem ich abgeschlossen hatte. Ich lernte einige Dinge über Otto von Bismark und den Kaiser Friedrich Wilhelm II. und welche Folgen der junge Kaiser ausgelöst hatte. Den ersten Weltkrieg. Und das nur, will er nicht auf Bismark gehört hatte. Dummer Junge. Der Tot von so vielen Unschuldigen ging auf seine Kappe und ich musste darüber nachdenken, was damals in Ypern passiert war. Die Deutschen hatten ja mit Giftgasen gekämpft und die Feinde hatten keine Chance sich zu wehren. Kopfschüttelnd dachte ich darüber nach, dass die Leute auf Tücher gepisst hatten und sie sich vor der Nase gehalten hatten, um sich vor dem Gas zu schützten, aber sie wussten damals auch nicht, dass Urin das Gas nicht davon abhielt, die Leute auszuätzen.

Mich gruselte es bei dem Gedanken und ich schrieb die Fragen auf, die wir beantworten sollten, die uns die Lehrerin mündlich auftrug. Sie machte es immer mit Absicht für mich, auch wenn ich es nicht mochte, war ich ihr sehr dankbar dafür. Das einzige Fach, das mir ein wenig Probleme bereitete, war Mathematik, aber in allen anderen war ich nicht schlecht. Selbst in Sport war ich besser als der Durchschnitt und es machte mich stolz, trotz meiner Einschränkung gute Leistungen abliefern zu können. Das war ich immer, wenn ich es schaffte trotz meiner Blindheit gut zu Recht zu kommen.Die darauffolgenden Stunden verbrachte ich aufmerksam und bewältigte den Schultag ohne ein einziges Mal gegen etwas zu stolpern. Ein wahrer Erfolg.Erschöpft vom langen Schultag, stieg ich ins Auto ein mit Sophies Hilfe.

„Deiner Mutter geht es wieder schlecht. Wir werden sie heute Abend besuchen.“, drangen die Worte während der Autofahrt in meinen Kopf ein und verwundert wandte ich meinen ihn in Sophies Richtung.

„Ihr geht es wieder nicht gut? Aber sie wäre doch nächste Woche entlassen worden. Die Ärzte haben doch alles überprüft und mir versichert, dass alles in Ordnung sei.“, aufgebracht hob ich die Hände und machte irgendwelche Bewegungen damit, die zeigen sollten, wie mich das alles ganze aufregte.

„In ihrer Lunge hat sich Wasser angesammelt. Du weißt ganz genau, dass man nie vorhersehen kann, was bei ihr im Körper vorgeht.“, unterbrach sie meine aufgebrachten Bewegungen, dabei klang ihre Stimme ziemlich streng. Hilflos ließ ich meine Hände in meinen Schoß fallen und spürte die Tränen in mir aufkommen, doch ich drängte sie weg. Ich weinte nicht allzu oft und wenn, dann nur um die Personen, die mir mein Leben bedeuteten. Und meine Mutter war eine dieser Personen.

„Warum hat man bei ihr den Krebs nicht früher entdeckt? Ich meine, sie ging doch immer alle paar Monate alles checken und nun liegt sie dort und hat Schmerzen. Sie hat doch schon genug in ihrem Leben durchgemacht.“, meine zitternde Stimme war kaum zu vernehmen, aber als ich Sophies Hand auf meiner fühlte, hielt ich sie dankbar fest.

„Es war Gottes Entscheidung. Und wenn der Herr meint, dass deine Mutter Schmerzen haben muss, dann wird er einen guten Grund dafür haben. Aber wir können nicht immer darauf warten, dass es deiner Mutter besser geht. Sie ist krank und wird vielleicht nie wieder gesund werden. Es kann alles passieren.“, warnte sie mich und ich musste zugeben, dass sie Recht hatte. Langsam nickte ich.

„Könnten wir bitte gleich zu ihr? Ich würde gerne bei ihr bleiben.“

Optimist: Ein Mensch, der die Dinge nicht so tragisch nimmt, wie sie sind.

  • Karl Valentin

 

 

Die Glastüren öffneten sich von selbst, sobald ich unter dem Blick des Sensors gesichtet wurde und das Privatkrankenhaus betreten konnte. Die schwarze Sonnenbrille, die ich aufhatte, drückte leicht auf mein Nasenbein und ich hatte das Gefühl, als würde sie einen Abdruck hinterlassen. Die Stille im Gebäude war vielleicht für andere etwas Alltägliches, doch ich nahm sie als den Tod auf. Mir war klar, dass hier viele Leute gerettet wurden, aber hier roch es so sehr nach Tod, dass man am liebsten überall mit einem Parfum herum sprühen wollte.

Ich lief zur den Fahrstühlen, zählte heimlich die Schritte und wartete bis einer kam. Ich hatte meinen Blindenstock versehentlich im Auto liegen gelassen, aber zum Glück brauchte ich ihn hier nicht wirklich. Ein glockengleiches Geräusch ertönte, ließ die Fahrstuhltür aufgehen und ich konnte mich in die Metallbox stellen. Ich fühlte mich nie wohl mit dem Fahrstuhl. Vielleicht war der Grund dafür ja auch, dass ich mehr fühlte, als die anderen Menschen und auch nichts sah. Es war wie bei einer Achterbahn die Augen zu schließen. Es war der Horror. Mit meinen Fingern fuhr ich neben den Knöpfen herum, bis ich die Blindenschrift gefunden hatte und die Taste für den zweiten Stock drückte.

„Halt!“, schrie eine Stimme, die durch das ganze Krankenhaus hallte und sofort hielt ich die Aufzugstür fest, die dabei war sich zu schließen. Jemand lief in den Fahrstuhl und stieß leicht gegen mich, sodass ich instinktiv einen Schritt zurück in die Metallbox machte.

„Welches Stockwerk?“, fragte ich höflich, obwohl ich es liebend gerne nicht gewesen wäre. Nicht einmal bedankt hatte sich die Person.

„Das Zweite.“, hörte ich die leicht raue Stimme eines Mannes sagen und da der Fahrstuhl ohnehin schon in den Zweiten Stock fuhr, lehnte ich mich leicht an die Wand.

„Danke.“, vernahm ich die Stimme hinter mir und ich wandte leicht den Kopf in die Richtung und nickte. Anscheinend war er doch noch nett genug, um sich zu bedanken. Die Fahrstuhltür glitt auf und wir beide traten gleichzeitig heraus. Ein Gefühl sagte mir, dass der Kerl mich beobachtete, doch ich achtete nicht darauf, sondern lief weiter. 75 Schritte geradeaus, 20 nach rechts und 5 nach links, die zweite Tür.

„Frau Jones. Warten Sie einen Moment.“, rief die Stimme des Chefarztes nach mir und ich blieb mitten in meinem Schritt stehen, mit der ich mich in die Richtung der Tür zuwenden wollte.

„Guten Tag. Ich wollte Ihnen etwas Wichtiges sagen.“, sprudelte es aus ihm heraus.

„Hallo. Was ist denn los, Dr. Meier?“, meine Gesichtszüge mussten einen überraschten Ausdruck angenommen haben, denn so fühlte ich mich auch.

„Es geht um Ihre Mutter. Ich habe vor einer halben Stunde noch einmal eine Röntgenaufnahme ihrer Lunge gemacht. Es tut mir leid, aber ich habe schlechte Nachrichten für Sie.“, er machte eine kurze Pause und mein Herz fing immer schneller an zu schlagen. Bitte, keine schlechte Nachrichten. Alles, nur keine schlechten Nachrichten.

„Ihr Lungenkrebs ist im Ende des vierten Stadiums erlangt und es sieht nicht gut aus. Wir geben ihr höchstens noch einige Wochen oder Monate, aber mehr nicht. Ihre Mutter hat mit der Chemo aufgehört und hat befohlen ihr keine Medikamente mehr zu geben, die sie heilen sollten. Höchstens Morphium gegen die Schmerzen.“, die leicht belegte Stimme des Arztes ließ mich ahnen, dass es ihm auch ans Herz ging, doch ich war im Moment nicht dazu fähig etwas zu tun oder zu sagen. Ich biss mir fest auf die Unterlippe, bis ich das Blut schmeckte, das aus der Wunde hinaus tropfte.

„Danke.“, tonlos drehte ich mich um und wünschte dem Arzt noch einen schönen Tag. Leicht klopfte ich an der Zimmertür und öffnete sie.

„Ich hatte dich erst später erwartet, Rose.“, krächzte meine Mutter und ich beeilte mich zu ihr zu kommen. Ich hörte die Geräusche ihres Herzschlages und die eines automatischen Luftbeutels, der meine Mutter wahrscheinlich wieder einmal mit Sauerstoff versorgte. Seit etwa einem Jahr konnte sie nicht mehr richtig atmen, aber zu viel des Sauerstoffes tat ihr auch nicht gut. Ich rückte den nächsten Stuhl in der Nähe an ihr Bett und setzte mich hin. Im selben Moment griff ich nach ihrer Hand. Sie war eiskalt.

„Ja. Als Sophie mir erzählt hat, dass es dir schlechter ginge, wollte ich unbedingt hier her.“, klärte ich sie auf und versuchte irgendwie mit meinen beiden Händen ihre kalten Finger aufzuwärmen.

„Wie geht es dir? Hast du Schmerzen?“, besorgt sah ich sie an.

„Mir geht es besser. Und jetzt wo du da bist, fühle ich mich fabelhaft.“, ihre sanfte, liebevolle Stimme trieb mir Tränen in die Augen. Jedoch konnte die Sonnenbrille meine Tränen nicht verdecken, welche von meiner Wange hinab fielen.

„Lüg mich nicht an Mummy. Bitte, lüg mich nicht an.“, schluchzend hielt ich ihre Hand fest, als wäre sie mein Anker. Meine Mutter war die wichtigste Peron in meinem Leben. Ohne sie hätte ich niemals all das geschafft. Sie war diejenige, die jeden Tag, ein Jahr lang an meinem Bett gesessen und mich nie alleine gelassen hatte. Aber eine Welt ohne meine Mutter war genauso schlimm, wie noch einmal zu erblinden.

„Ich will nicht, dass du stirbst.“, weinend legte ich meinen Kopf in ihre Hände und versuchte schluchzend Luft in die Lungen zu bekommen.

„Rose, ich werde immer bei dir bleiben. Egal ob tot oder lebendig. Meine Seele ist in deinem Herzen und das ist alles, was du brauchst. Mehr nicht.“, flüsterte sie mir zu und ich spürte das Lächeln aus ihrer Stimme heraus. Ich setzte mich auf, nahm die Sonnenbrille ab und wischte mir die Tränen mit dem Ärmel meines Pullovers weg. Ich atmete kräftig durch und vertrieb damit die Tränen. Meine Lippen zitterten noch immer, doch schon bald fingen meine Mutter und ich an über unwichtige Dinge zu reden, die mich davon ablenkten erneut zu weinen. Irgendwann war meine Mutter eingeschlafen, das Radio lief währenddessen im Hintergrund. Ein sehr trauriges Lied von Christina Auguilara fing an und leise sang ich mit.

„She was so young with such innocent eyes. She always dreamt of a fairytale life. And all the things your money can´t buy, she thought daddy was a wonderful guy. Then suddenly, things seemed to change. It was the moment she took on his name. He took his anger out on her face. She kept all of her pain locked away.” Ich flüsterte leise mit und nach und nach wurde meine Stimme lauter, obwohl es noch immer ein Flüstern war. „Oh Mother, we´re stronger, from all of the tears you have shed. Oh Mother, don´t look back. Cause he´ll never hurt us again. So mother, I thank you for all you´ve done and still do. You got me, I got you. Together we always pull through. We always pull through.” Eine einfache Träne, die gleichzeitig all meinen Schmerz ausdrückte, tropfte von meiner Wange hinunter. „We always pull through. Oh mother, oh mother, oh mother.” Pause. „It was the day that he turned on his kids that she knew she just had to leave him. So many voices inside of her head, saying over and over and over, “You deserve much more than this.” She was so sick of believing the lies and trying to hide, covering the cuts and bruises. (Cuts and bruises). So tired of defending her life, she could have died. Fighting for the lives of her children. From all of the tears you have shed (all of the tears you have shed). Oh mother, don't look back. Cause he'll never hurt us again (he'll never hurt us again). So mother, I thank you (thank you). For all that you've done and still do (still do). You got me, I got you, (yeah you got me and I got you). Together we always pull through. We always pull through. We always pull through. Oh mother, oh mother, oh mother. All of your life you have spent. Burying hurt and regret, but mama, he'll never touch us again. For every time he tried to break you down. Just remember who's still around. It's over, and we're stronger and we'll never have to go back again. Oh mother, we're stronger. From all of the tears you have shed. Oh mother, don't look back (oh mother don't look back again). Cause he'll never hurt us again (cause he'll never hurt us again). So mother, I thank you (and I thank you for everything you've done). For all that you've done and still do (together we always move on). You got me, I got you, (you got me, I got you) Together we always pull through (always pull through). We always pull through We always pull through”, flüsterte ich und sprach das letzte aus, was mir in diesem Moment ziemlich viel bedeutete.

„I love you mom.“ Ich erinnerte mich wieder an damals, an all die Momente, in denen meine Mutter uns immer beschützt hatte. Die Tränen liefen von meiner Wange herunter, während ich noch immer mit geschlossenen Augen mich zu den letzten Tönen mit bewegte. Das Lied hörte auf und ein Radiomoderator verkündete die Nachrichten

„…Man geht davon aus, dass es noch mehr Verletzte geben wird, jedoch konnte man die Ursache dafür noch nicht feststellen und…500 Tote bei dem Bombenangriff von… Beziehungsaus: Johnny Depp hat sich von Vanessa P… Die Band Black Rose hat dieses Wochenende einen neuen Rekord aufgestellt, drei ihrer Konzerte waren innerhalb 24 Sekunden ausverkauft…Gestern das Unglück. Er liegt im Krankenhaus, der begehrteste Single unter ihnen D…Nach der Werbung…“, ich schaltete das Radio aus, nachdem ich noch nicht einmal wirklich zugehört hatte, beugte mich über meine Mutter und gab ihr noch einen Kuss auf die Stirn.

„Ich werde dich immer lieben und niemals vergessen, Mummy. Du bist der Engel, der am hellsten strahlt und die stärkste Person, die mir je begegnet ist.“, damit rannte ich geradezu aus dem Krankenzimmer und schloss die Tür hinter mir zu. So schnell es ging, nahm ich den Fahrstuhl und flüchtete nach draußen. Die Glastür öffnete sich und ich atmete die frische Luft ein. Plötzlich hörte ich von irgendwo laute Schreie und Leute, die Namen riefen. Ich lief weiter und ignorierte die Menschenmasse, die sich irgendwo aufgestaut haben musste. Ich wusste nicht, wohin ich lief, aber es war mir auch völlig egal. Ich lief immer weiter und irgendwann, da roch ich die Natur. Ich streckte meine Hand aus und spürte etwas Hartes, aber morsches. Ein Baum, kam es mir in den Sinn. Ich lehnte mich dagegen. In meinem Kopf wiederholte sich, was Dr. Meier gesagt hatte und erneut war ich kurz davor schluchzend zusammenzubrechen. Meine Beine gaben nach und ich rutschte auf den Boden, die Arme umklammerten meine Beine. Müde ließ ich meinen Kopf gegen den Baumstamm fallen und schloss müde die Augen. Das alles tat mir einfach nicht gut.

Die Welt nötigt uns zur Angst. Angst ist nicht eine Schwäche des Urteils, sondern sie ist eine zutreffende Erkenntnis.

  • Carl Friedrich von Weizsäcker

 

 

Etwa Nasses tropfte immer wieder auf mein Gesicht und verwirrt öffnete ich die Augen und tastete um mich herum. Ich spürte den Baum hinter mir und langsam begriff ich, dass es regnete. Würden meine Tage auch so aussehen, wenn Mummy nicht mehr hier war? Ich wollte lieber nicht an den Tag denken. Ich hatte Angst davor, mich jetzt schon auf ihren Tod vorzubereiten, damit ich es ertrug, aber ich würde es niemals ertragen. Die Angst, dass ich meine Mutter nie wieder sehen würde, tat mir weh und ich spürte den Schmerz in meiner linken Brust. Ich fühlte mich zwar ausgelaugt, aber noch fähig aus dem Wald zu spazieren und suchte jemanden, um ihn darum zu bitten, mir ein Auto zu organisieren. Irgendwie schaffte ich es innerhalb zwanzig Minuten an den Straßenrand zu kommen und einen Spaziergänger zu bitten, für mich ein Taxi zu rufen. Sophie bezahlte die Rechnung für mich, erst dann sah sie auf meine matschigen und nassen Klamotten, wie ich annahm, denn sie rannt aus dem Zimmer und verdonnerte mich nur dazu, dass ich schnellstens unter die Dusche gehen sollte. Doch ich konnte mich nicht von der Stelle rühren und blieb wie angewurzelt im Wohnzimmer stehen. Draußen regnete es in Strömen und der Wind peitschte stark gegen das Fliegengitter außerhalb des Fensters. Dafür, dass es Mai war, hatten wir ein perfektes Regenwetter.

„Was stehst du noch hier rum, geh sofort unter die Dusche.“, donnerte Sophies Stimme in den Raum und dennoch blieb ich an der gleichen Stelle stehen und hatte nicht vor, mich fortzubewegen. Eine warme Hand legte sich auf meine Schulter, doch ich wischte sie von dort fort. Ich wollte keine Hilfe haben, ich wollte gar nichts mehr. Ohne meine Mummy zu leben, wäre mein eigener Tod.

„Sie wird sterben. Der Arzt gibt ihr nur noch Wochen, die Chemo wird nicht mehr weiter geführt und sie hat aufgehört Medikamente zu nehmen.“, während ich sprach, wurde ich immer wieder vom Donner unterbrochen. Es war beinahe so, als würde er meine Gefühle nach außen hin tragen. Ich drehte mich um und verließ das Zimmer, ging die Treppe hinauf, in meinen kleinen Wohnbereich. Der knarrende Holzboden beruhigte mich ungemein mit seinem natürlichen und schönen Klang. Das Traurige war, dass ich niemandem helfen konnte. Ich konnte Mom nie helfen, außer, dass ich vielleicht eine Last für sie war, die sie ihr Leben lang tragen musste. Und dennoch war ich jeden Tag so dankbar dafür, dass sie mich nicht irgendwo sitzen lassen hatte.

Nicht weinen, das macht dich auch nicht stärker.

Fest biss ich mir auf die Unterlippe und entledigte mich meiner verschmutzen Klamotten. Im Badezimmer ließ ich sie in den Wäschekorb fallen und dann stieg ich in die Badewanne. Um mich herum schloss ich den Vorhang, sodass ich eine provisorische Dusche hatte. Natürlich hatte ich irgendwo im Haus eine Dusche, aber ich benutzte schon immer die Badewanne. Wieso wusste ich auch nicht.

Das prasselnde Wasser hörte sich in meinen Ohren laut an, als ich es anstellte, doch gleichzeitig spielte es eine Melodie, die nicht jeder hören konnte. Was ziemlich schade war, denn sie war wunderschön. Ich hielt meine Hand unter den Wasserstrahl und bewegte ihn auf und ab. Immer mehr Töne erzeugte ich und leise klopfte ich mit dem Zeigefinger der anderen Hand auf der Wand aus Fließen. 1,2…6,7…11,12… Immer nach diesem Takt, alle vier Sekunden zwei Mal, ließ ich meine Fingerspitzen gegen die Wand trommeln. Die Musik war schon immer etwas Besonderes in meinem Leben gewesen. Sie hatte mich eine Zeit lang wieder ins Leben zurück geführt, als ich am aufgeben war. Ohne sie und meine Mutter würde ich auf einem Friedhof in Frankfurt liegen, begraben unter einem Kirschbaum, den mir jemand nahes eingepflanzt hätte.

Kopfschüttelnd vergaß ich die Gedanken und Erinnerungen und fing an mich ein zu shampoonieren und zu rasieren. Meine Hände suchten nach dem Duschhahn und sobald ich ihn zu fassen bekam, drehte ich ihn zu. Die Wärme des Wasserdampfes hielt mich hier drinnen in der provisorischen Badewanne selig in seinen Armen. Die Augen geschlossen konzentrierte ich mich auf meine Atmung, bis sie regelmäßig ging. Das heiße Wasser tat mir nie gut. Ich mochte es nie auf meiner Haut, aber ich brauchte es an manchen Tagen. Am liebsten war es mir, wenn das Wasser zwischen lauwarm und kalt war. So tat es mir am meisten gut auf meiner Haut.

Ich nahm meine Haare in die Hand und drückte das letzte Bisschen Wasser aus ihnen heraus. Tastend ergriff ich den Anfang des Vorhanges und öffnete ihn mit einem Ruck. Im selben Moment umfing mich kalte Luft und augenblicklich bekam ich überall am nackten Körper eine Gänsehaut. Auch wenn ich die Kälte mochte, sie überraschte mich dennoch immer wieder aufs Neue, obwohl ich mich an sie gewöhnt haben sollte. Laut atmend stieß ich die angehaltene Luft aus und griff nach dem Bademantel, den ich auf das Waschbecken gelegt hatte, welcher direkt neben der Badewanne war. Der gemütliche Stoff des Mantels umfing mich wie ein Tiger seine Beute. Wenige Sekunden später stieg ich aus der Badewanne, schloss die Tür auf und setzte mich in meinem Zimmer auf das Bett. Ich ließ mich nach hinten fallen und zog die Beine wie ein Baby als Embryo zusammen, die Arme um meinen Oberkörper geschlungen. Irgendwann musste ich zwischen den Gedanken meiner Mutter und Gott eingeschlafen sein.

 

Gott will nicht, dass du ihn für den Nächsten um Hilfe anflehst, sondern dass du hingehst und hilfst.

 

  • Karl Heinrich Waggerl

 

 

 

Im Krankenhaus war die Hölle los. Irgendwo kreischten einige Menschen und dann waren dort auch noch andere, die weinten.

Doch sie weinten oder kreischten nicht vor Trauer, wie sie es in einem Krankenhaus tun sollten, sondern schrien vor lauter Freude.

Entweder ich hatte etwas verpasst oder mir gestern Nacht, ohne es zu merken, versehentlich zu fest den Kopf angeschlagen.

Ich zwickte mir in den Arm, um mich zu überzeugen, dass dies kein Traum, sondern die bittere Realität war und wurde nicht enttäuscht. Man schrie verschiedene Namen und es hörte sich an, als wäre eine Horde von Teenager hier und um das Krankenhaus versammelt.

Warum tat die Polizei nicht ihre Arbeit und brachte sie weg?

Dies war ein Krankenhaus, verdammt.

Ein kindliches Heulen ließ mich inne halten. Ich hörte noch einmal um mich herum zu, doch das weinen ging von dem plötzlich Lauten Geschrei unter.

„Wo ist meine Mami? Ich will zu meiner Mami.“, hörte ich die zitternde Stimme eines Mädchens in meiner Nähe sagen. Unwillkürlich sah ich mich selbst als kleines Kind vor Augen.

„Kann nicht jemand dem kleinen Mädchen helfen?“, rief ich, doch niemand antwortete mir, da das Gekreische wieder anfing. Wer auch immer hier war, ich würde mich beschweren, warum man seine Fans oder was auch immer diese Teenager da waren hier ausflippen ließ. Aber zuerst würde ich der Person erst einmal gehörig in den Arsch treten.

Soweit es ging.

Das Weinen des kleinen Kindes war ganz in der Nähe und sofort öffnete ich meine Arme weit für sie, dabei ging ich in die Knie.

„Komm her, Süße. Komm her.“, sprach ich leise sanft zu ihr zu, doch ich wusste, dass sie mich gehört hatte. Und das, obwohl sie einige Meter von mir weiter entfernt weinte und die Meute noch immer schrie.

Kleine zitternde Arme schlangen sich um mich und ich stand mit der Kleinen auf dem Arm auf.

Wir begaben uns zu den Fahrstühlen, wo nebendran eine Bank war, um sich bei Wartereien nieder zu lassen. Ich setzte sie hin und ging direkt vor ihr in die Hocke. Sie weinte noch immer und leise wimmerte sie hin und wieder vor sich hin.

„Hey, ich bin doch hier. Du brauchst nicht zu weinen. Ich helfe dir. In Ordnung?“, versprach ich ihr und ich spürte, wie sie sich beruhigte und ganz wild nickte. Lächelnd holte ich aus meiner Jackentasche ein Taschentuch heraus und hielt es vor dem Gesicht der Kleinen.

„Schnäuzen.“, sagte ich lächelnd und kurz darauf schnäuzte sie ins Taschentuch. Nachdem ich das Tuch weggepackt hatte, legte ich eine Hand auf ihre Wange und wischte ihre Tränen fort.

„Wie heißt du?“, flüsterte ich.

„Aphrodite.“, schluchzte sie. Schöner Name.

„Mit wem bist du hergekommen.“, neugierig wartete ich ihre Antwort ab.

„Mit meiner Mommy.“, schluchzte sie leise.

Ich fasste nach ihren Händen, die eiskalt waren und schnell zog ich meine Jacke aus und legte Sie ihr drüber, ließ mit leichten Bewegungen ihre kleinen Händchen durch die Ärmel hindurch schlüpfen. Genauso legte ich meinen schwarzen Schal um ihren Hals um. Zur Sicherheit.

Ich stand auf und setzte mich ebenfalls auf die Bank. Dann zog ich ihren kleinen Körper auf meinen Schoß und ich spürte, wie sie sich an mich schmiegte. Beruhigend führ ich ihr über den Rücken und die Schulter. Dadurch, dass die Jacke nicht so dick war, musste sie es hindurch spüren.

„Warum warst du hier?“

„Wegen meinem Bruder Damian. Er hat sich weh getan und Mommy hat gesagt, dass wir ihn heute besuchen sollen. Ich und mein großer Bruder sind runter gegangen, aber dann war Damien weg. Die vielen Leute haben mich weggestupst und wollten alle zu ihm.“, meinte sie mit brüchiger Stimme, die immer leiser wurde. Wie es aussah, wurde sie langsam müde vor Erschöpfung.

„Was wollten die von deinem Bruder?“, interessiert senkte ich meinen Kopf in ihre Richtung. Wie gerne würde ich wissen, wie dieses Mädchen aussah, das hier in meinen Armen lag. Sie hatte wahrscheinlich die schönste Stimme, die ich jemals gehört hatte. Einfach unglaublich.

„Er ist ein ganz großer Star. Alle kennen ihn und deswegen wollten die alle was von ihm. Er hat ganz viele Fans auf der ganzen Welt.“, verkündete sie voller Stolz in ihrer Stimme.

„Aber er hat so wenig Zeit für mich und kann nicht immer etwas mit mir machen, so wie früher. Obwohl er versprochen hat heute etwas mit mir zu unternehmen.“, meinte sie traurig und leise, sodass es mir beinahe das Herz zerbrach und zerriss.

Gut, der Superstar würde von mir angeschissen werden und zum Schluss würde ich ihm einen wunderbaren Arschtritt verpassen, den er sein Leben lang nicht vergisst.

Selbst Jeremy, der als Medizinstudent so wenig Zeit für mich gehabt hatte damals, hatte mich niemals nie im Stich gelassen. Mein Bruder war neun Jahre älter als ich und trotz dessen, dass er damals zur Schule ging, zwei Jobs hatte und sich ab und zu mit seinen Freunden traf, hatte er immer Zeit für mich gehabt und mir trotz meiner Blindheit die schönsten Stunden im Leben verschafft.

Und dieses kleine Mädchen wurde von ihrem Bruder weggestupst, obwohl sie ihn anhimmelte.

Das gleichmäßige Atmen des kleinen Mädchens in meinen Armen, holte mich zurück in die Realität. Noch immer strich ich über ihren Rücken und ihre Schulter und ich hatte den starken drang, die Kleine mit nach oben zu nehmen und sie von der Menschenmenge wegzubringen, da diese noch immer vor sich hin schrien. Nicht mehr so laut wie vorher, aber dennoch recht laut genug.

Ich stand mit Aphrodite in Armen auf und platzierte sie richtig auf meinem Oberkörper, sodass ihr Kopf auf meiner rechten Schulter lag.

Ich drückte den Knopf neben dem Aufzug, wartete einige Sekunden, bevor der vertraute Glockenton erklang.

Gemeinsam stieg ich mit ihr ein und fuhr in den ersten Stock. Dort traf ich auf eine Krankenschwester, die gerade einige Ordner abklapperte. Allein schon an der Art ihrer Bewegungen merkte man ihr an, was für einen Job sie hatte. Außerdem saß sie am Schreibtisch.

„Guten Tag. Kann ich etwas für Sie tun, Frau Jones?“, fragte sie höflich und ich merkte, wie sie aufhörte zu arbeiten. Im Krankenhaus war ich bekannt wie die Beatles oder Michael Jackson auf der ganzen Welt.

„Guten Tag. Ich suche die Mutter und den Bruder des Mädchens. Sie war unten und hat nach ihrer Mutter gesucht. Sie hat mir erzählt, dass ihr Bruder hier im Krankenhaus liegt und Damien heißt.“, erzählte ich ihr und fuhr mir mit der freien Hand über die Haare.

„Sie meinte, dass ihr Bruder ein berühmter Star wäre und sie unter den Fans verloren gegangen war. Könnten Sie mir bitte sagen, in welchem Zimmer der Bruder liegt, damit ich der Mutter nicht noch mehr Sorgen zubereiten muss.“, bat ich sie und ich hörte sie kurz darauf in einigen Tastaturen Hämmern.

„Er ist im Zweiten Stock, Raum 316. Wissen Sie, wo es ist?“, die Unsicherheit und Besorgnis in ihrer Stimme war kaum zu überhören, doch ich hob und senkte den Kopf.

„Ja, ich war schon einmal in dem Zimmer. Vielen Dank.“, verabschiedete ich mich bei ihr. Ihr Bruder war also in dem Zimmer, welches damals meinem Zimmer genau gegenüber lag.

Während ich also erneut in den Aufzug stieg, hörte ich auf den gleichmäßigen Atem der kleinen Aphrodite.

Ich war mir ziemlich sicher, dass die Kleine Bildschön war und sehr wahrscheinlich wie die Göttin der Schönheit und Liebe aussah.

Während ich im Zweiten Stock ausstieg und durch die Gänge spazierte, hörte ich aufgeregte Stimmen und einige Handys klingeln.

Ich lief weiter und wie sich herausstellte, kam die Lärmquelle genau von dort, wo sich das Zimmer von dem Bruder des Kleines Mädchens lag.

Irgendjemandem stockte der Atem, doch dann hörte ich das erleichterte ausatmen und Schritte kamen in meine Richtung, immer näher.

„Aphrodite.“, sagte jemand und bei dieser Stimme ergoss sich ein eiskalter Schauer meinen Rücken hinunter.

„Wer sind Sie?“, fragte ich den Kerl, der nun vor mir sein musste, da er stehen blieb und drehte mich vorsichtig mit Aphrodite im Arm um, damit sie außerhalb der Gefahrenzone war.

„Ihr Bruder, Damien. Könnte ich jetzt bitte meine kleine Schwester in den Arm nehmen? Ich habe mir Sorgen um sie gemacht.“, sagte der Bruder des Mädchens, Damien und ich spürte, wie er einen Schritt in meine Richtung machte. Sofort wich ich einen Schritt zurück.

„Was?“, die verwirrte Stimme von ihm reichte aus, dass die anderen Leute um ihn herum still wurden.

„Wo ist ihre Mutter?“, fragte ich stattdessen und horchte.

„Ich bin ihr Bruder, geben Sie sie mir.“, man hörte die leichte Wut in seiner Stimme mitschwingen, aber auch große Verwirrung.

 „Nachdem Sie dafür Schuld sind, dass sie beinahe von Ihren scheiß Fans zertrampelt wurde, geweint hat und alleine war, als Sie einfach weggegangen sind, können Sie das ziemlich schnell vergessen, mein Freundchen.“, zischte ich wütend und ich hörte ihn entsetzt stocken, genauso wie die anderen um ihn herum.

Aphrodite regte sich leicht in meinen Armen, weil ich versehentlich die Stimme heben lassen habe, doch ich strich ihr sanft beruhigend über das Haar, sodass sie sich erneut fallen ließ und weiterschlief.

„Aphrodite.“, schrie die brüchige Stimme einer Frau herum und ich spürte, wie die Kleine aus meinen Armen herausgerissen wurde. Natürlich nicht brutal, sondern so sanft, dass es mir beinahe Tränen in die Augen trieb.

Es war Aphrodites Mutter, die ihr Baby nun weinend umarmte und nicht mehr losließ.

Ich war froh, dass sie in den Armen ihrer Mutter war und seelenruhig weiterschlief. Sie musste müde und ziemlich erschöpft sein.

„Schimpfen Sie doch bitte mit ihrem Sohn. Anscheinend hat er seine Fans lieber als seine kleine Schwester, für die er nicht einmal seine Zeit opfern kann.“, gab ich ihr zu Rat und damit verschwandt ich von der Meute. Ich spürte noch immer den Blick einer Person in meinem Rücken, doch ich lief so lange weiter, bis ich ihn nicht mehr spürte.

Wer Kindern was verspricht, sei es ein Spiel, ein Geschenk oder sei es die Rute, der halte es wie einen Eid.

 

  • Peter Rosegger

 

 

Ich verbrachte den Tag wie immer bei meiner Mutter am Bett und schaffte es sogar nicht zu weinen, als sie erneut Schmerzen hatte und ab und zu sich erbrach.

Am Anfang war es noch Magensäure. Jetzt war es nur noch Blut.

„Was ist denn heute nur los mit dir? Du bist so in Gedanken versunken.“, unterbrach mich meine Mutter bei dem Gedanken an den Vorfall von heute Morgen.

„Wusstest du, dass hier im Krankenhaus ein Superstar ist und seine Fans nicht mehr aufhören zu kreischen?“, fragte ich sie neugierig.

„Ja.“, antwortete sie mir und ich war überrascht und verblüfft darüber.

„Warum hast du mir nichts gesagt?“

„Sollte ich dir davon erzählen?“, trocken sah sie mich an. Glaubte ich zumindest. Lachend gab ich ihr einen Kuss auf die Wange.

„Ich muss los. Wir sehen uns morgen. Aber ruf mich an, wenn es dir nicht gut geht. Versprochen?“, versicherte ich mich bei ihr und ich spürte, wie sie meine Hand drückte, als Zeichen, dass sie es tu würde.

„Versprochen.“

Während ich die Krankenhauszimmertür hinter mich zuschloss, hängte ich mir meinen Rucksack um die rechte Schulter. Auf die Lippe beißend lief ich die ersten Schritte los.

Sofort hielt ich an, als ich hinter mir das leise Geräusch von Schuhen hörte. Das Geräusch, das sie ausmachten, kam mir bekannt vor. Leise Schritte, die sich etwas schwer anhörten.

Stirnrunzelnd dachte ich schnell nach, kam jedoch nicht drauf, weswegen ich meinen Mund öffnete.

„Kann ich Ihnen helfen?“

„Helfen.“, hörte ich eine Stimme leise verächtlich nachsagen und sofort erkannte ich sie und wusste wieder, weswegen mir dieses Geräusch der Schuhe so bekannt vorkam.

„Mir nachzuäffen ist nicht besonders freundlich, wenn ich Ihnen doch Ihre Schwester gebracht habe. Aber ein Dankeschön würde es auch tun.“, meinte ich leise und versuchte nicht meine Stimme heben, da ich es nicht riskieren wollte, dass meine Mutter alles mitbekam.

Ein eisernes Schweigen hing in der Luft und ich wendete mich schon ab, als ich leise seine Stimme wahrnahm.

„Danke.“

Diese Stimme. Sie war wirklich beinahe so schön wie die seiner Schwester. Aber als die Stimme eines Mannes war sie etwas Wohltuendes.

„Kein Problem. Einen schönen Tag noch und grüßen Sie Ihre Schwester von mir.“, meinte ich und drehte ich mich um und ging.

„Von wem soll ich diese Nachricht bringen?“, rief seine Stimme nach mir und ich hielt kurz inmitten meiner Bewegung inne. Ich drehte mich leicht in seine Richtung.

„Ich habe ihr keinen Namen genannt. Sagen Sie Aphrodite einfach, dass das Mädchen, welches für sie ihre Kleidung geopfert hat, ihr gute Nacht wünscht.“, damit verschwandt ich ganz und verließ das Krankenhaus. Noch immer waren einige Fans draußen und warteten auf den Bewunderer und Bruder eines kleinen Mädchens, der anscheinend seine Rolle als großen Bruder noch nicht erkannte.

Während ich weiterlief und zur Bushaltestelle tappte, spürte ich das leichte nieseln des Regens auf der Haut. Frierend zog ich die Ärmel meines Pullovers über meine Hände und umarmte damit meinen Oberkörper.

Als nach fünf Minuten der Bus noch immer nicht kam, holte ich leicht zitternd mein Handy aus dem Rucksack und drückte auf das Sprachmemo.

„Frankfurt, Krankenhaus, Busfahrplan.“, sprach ich hinein und hörte die vertraute Stimme meines Handys. Es listete mir einige Uhrzeiten laut auf und ich fluchte, als ich hörte, dass der Bus erst in etwa zwei Stunden kommen würde.

Entsetzt überlegte ich, ob ich mir hier den Arsch abfrieren wollte oder wieder ins Gebäude gehen sollte. Natürlich entschied ich mich für Variante zwei.

Glücklicherweise fand ich in meinem Rucksack meinen Ersatz Blindenstock.

Stets findet Überraschung statt da, wo man´s nicht erwartet hat.

 

  • Wilhelm Busch

 

 

Der Gedanke an das Mädchen ließ mich nicht mehr los. Wie sie Aphrodite getragen hatte. Als wäre es das natürlichste der Welt.

Und wie Aphrodites Körper auf sie reagiert hatte, als sie mitten im Schlaf aufgewacht war.

Ich nahm einen weiteren Schluck aus meiner Tasse Kaffee und verbrannte mir leicht die Zunge. Leise Fluchend trank ich etwas von dem stillen Wasser, um den Schmerz zu bändigen.

Mein Blick wanderte zu dem Tablett auf dem Tisch, der aus einer Hühnersuppe und Zwieback sowie etwas frischem Brot bestand.

Nachdem ich von der Bühne gefallen war und mir dabei eine Rippe sowie meinen linken Schlüsselbein verstaucht hatte, war dies das tägliche Essen, seit ich in diesem Krankenhaus gelandet war.

Und ausgerechnet mir musste dies Mitten in unserer Tournee passieren.

Ich führte mir einen Löffel Suppe in den Mund, pustete jedoch vorher über die heiße Brühe, um meine verbrannte Zunge zu verschonen.

Anderseits war es auch eine Gewohnheit, da ich damals immer Aphrodite gefüttert hatte.

Mit Babys und warmen Essen war nie zu spaßen. Nie.

Ich hob meinen Kopf und schaute mich in der kleinen Cafeteria des Krankenhauses um, das mit einem Süßigkeitengeschäft und Petshop verbunden war, jedoch von einer Glaswand durchtrennt wurde. Durch die Scheibe konnte ich gut erkennen, wer einkaufte oder es sich gemütlich machte im Süßigkeitengeschäft.

„Hier bist du, Alter. Habe mir schon Sorgen gemacht, dass du wieder die Treppen hinuntergestürzt bist.“, rief die allseits fröhliche Stimme meines Kumpels Lukas. Ich sah ihn nur kurz an, als wäre er der größte Idiot der Welt und wandte mich dann wieder meinem Essen zu.

„Hast du vielleicht ein wenig Klebeband in der Nähe?“, fragt mich Lukas beiläufig, der im Übrigen auch der Schlagzeuger unserer Band Black Rose war. Noch immer glaubten wir alle, dass er zu oft mit dem Kopf auf seine Drums geknallt war.

„Wozu?“

„Für deine Schwester. Sie redet nur noch ununterbrochen von der Schönheit. Ich habe langsam das Gefühl, als müsste und wollte ich mit ihr mit schwärmen und du weißt, wie schlecht das draußen bei all den Fans ankommen würde.“, meinte er und nun sah ich doch auf, die Mundwinkeln verdächtig zuckend.

„Wirklich wunderschön.“, murmelte er weiter und sah in die Ferne, als würde er dort etwas Bestimmtes erkennen.  Ein merkwürdiges Gefühl machte sich in ihm breit. Als würde er nicht wollen, dass Luke über das Mädchen schwärmte.

Nicht umsonst war Lukas für seinen tollen Charme, aber vielen Affären bekannt.

Noch immer verwirrt merkte ich, wie sich Lukas Gesichtsausdruck veränderte, als er etwas Bestimmtes ins Auge fasste. Zuerst sah man ihm die Überraschung, dann die bloße Freude an und um dann zur Leidenschaft zu wechseln.

„Wie es aussieht, habe ich unseren Engel gefunden.“, murmelte er noch vor sich hin und sprang von seinem Platz auf. Ich sah ihm nach, wie er verschwand und drehte mich mit erhobenen Augenbrauen um. Mir stockte der Atem, als ich das Fremde Mädchen im Süßigkeitengeschäft Platz nehmen sah. Doch etwas stach mir dabei in die Augen. Einerseits, dass sie etwas zitterte und andererseits, der Stock, denn sie Minimierte und der nun die Größe eines Hot Dogs hatte.

Einer der Arbeiter ging auf sie zu und umarmte sie, dabei schien sie sogar sich wohl zu fühlen.

Ohne es zu merken, ballten sich meine Hände zu Fäusten.

Kluge Leute merken die Absicht.

 

  • Goethe

 

Während Timo wieder hinter der Theke verschwandt und  seiner Arbeit fortging, hörte ich der Musik im Hintergrund zu. Ich kannte das Lied nicht, aber die Melodie war berauschend. Ein wenig traurig darüber, dass man nicht den Sänger oder Titel des Liedes zur Auskunft gab, konzentrierte ich mich auf meine Umgebung, während ich mit meinem Blindenstock in der Hand spielte, den ich jedoch vorher zusammengezogen hatte.

Nicht, dass ich hier noch alles beschädigte.

„Hier. Deine Tasse Schokolade.“

Mit diesen wunderbaren Worten stellte Timo meine heiße Schokolade auf dem Glastisch ab und noch einen Teller mit seinen leckeren Butterkeksen mit Schokoraspeln.

Diese beiden Dinge miteinander verbunden war unglaublich lecker und gab einen süßen Kick.

„Dankeschön.“, rief ich ihm noch hinterher, als ein Kunde in den Laden schlenderte und Timo alles wieder mal mit Adleraugen verfolgte.

Man könnte meinen, dass ich die Hälfte meines Lebens in einem Krankenhaus verbracht hatte, so lange kannte ich die Leute hier schon und die, die mir zwar noch nie oder selten begegnet waren, mich aber dennoch durch die Gerüchte und Erzählungen über mich oder meiner Mutter sprachen, waren nie von schlechter Meinung von uns beiden.

Als bekannte Moderatorin, Modeikone und Geschäftsführerin sowie Schriftstellerin war es wohl ziemlich schwer für meine Mutter nicht aufzufallen.

Ich war schon immer stolz auf meine Mutter, dass sie es so weit geschafft hatte und würde es auch für immer sein.

Und dennoch lag sie in ihrem Zimmer und musste sterben.

Um mich von der den Gedanken abzulenken, nahm ich mir den Keks und tunkte ihn in die heiße Schokolade, so lange bis er vorne matschig wurde. Ich schob mir die Hälfte in den Mund und ließ kurz darauf den Rest mit wandern. Kauend nahm ich mir die Tasse auf Zwölf Uhr und schluckte die heiße Brühe mit den Keksen hinunter. Ich nahm erneut einen Schluck aus dem Französischen Becher, der extra nur für die heiße Schokolade erfunden wurde. Redete ich mir zumindest ein.

Ich musste lächeln bei dem Gedanken und hielt die Tasse weiterhin in den Händen. Die Wärme tat gut und ließ mich nicht mehr zittern.

Ich hörte jemanden neben mir stehen bleiben, weswegen ich einige Sekunden lang wartete und weiterhin horchte.

Dieser Jemand bewegte sich wieder und setzte sich mir gegenüber. Das Knarren des Stuhles sagte mir, dass er dem Tisch näher anrückte.

„Ein süßes Lächeln hast du.“, sagte die Stimme, die ich letztens im Fahrstuhl gehört hatte.

„Womit verdiene ich den Besuch?“, fragte ich und trank weiterhin aus der Tasse. Meine Neugier war geweckt und andererseits war mir Langweilig, sodass ich mir auch die Zeit mit einem Fremden totschlagen konnte. Ein süßes Lachen ertönte von meinem gegenüber und brachte mich dazu, die Mundwinkel zu heben.

„Nachdem du uns vorhin so überrascht stehen gelassen hast, mussten wir uns alle anhören, wie Aphrodite von dir ununterbrochen erzählte. Sie meinte auch, dass du wie ein Engel aussiehst und ich komme nicht umhin, ihr zuzustimmen.“, schmeichelte er mir, doch ich wusste, dass er auf einen Flirt aus war. Nicht mit mir, Freundchen.

„Und dann kamst du auf die Idee mich zu verführen, oder liege ich da falsch?“, stellte ich fest und sah in seine Richtung, jedoch  um nur schwärze zu entdecken. Wie gerne würde ich wissen, wie die meisten Menschen aussahen.

„Nun, verführen würde ich es nicht nennen, eher anschmachten.“, sagte er und ich hörte das grinsen hinaus.

„Also habe ich nun einen Stalker als Tischgeselle. Darf ich die Erste sein, die dich ihren Fan nennen darf?“, fragte ich hoffnungsvoll und wartete seine Antwort ab. Es blieb einige Sekunden lang still, dann erst hörte ich ihn wieder atmen.

„Du bist anders. Weißt du eigentlich wer ich bin?“, die Verwunderung in seiner Stimme war kaum zu verhören und ich musste lächeln.

„Die bittere Wahrheit, nein. Wie denn auch, ich kann dich nicht sehen.“, antwortete ich traurig und trank einen weiteren Schluck aus der beruhigenden Wärme.

„Wie meinst du das?“

„Ich bin Blind. Wärst du so freundlich und würdest mir sagen, wer du bist?“, bat ich ihn, damit ich ihn von dem Thema Blind sein ablenken konnte. Doch anscheinend war er doch nicht so dumm, wie ich erhofft hatte.

„Wie Blind? Du bist höchstens 19 oder 20 Jahre alt und…“, fing er an, doch ich unterbrach ihn schnell.

„Ich bin 18. Könnten wir bitte das Thema sein lassen. Und ich wäre dir äußerst dankbar, wenn du es niemandem sagst. Ich gebe meine Blindheit nicht gerne von zweiter Hand wieder, sondern sage es immer der Person direkt ins Gesicht.“, bat ich und beantwortete gleichzeitig seine Frage, die gleich darauf in der Luft lag

Es blieb lange Still zwischen uns und ich spürte, wie der Kerl mir gegenüber nachdachte.

„Wie heißt du eigentlich?“, fragte ich ihn und riss ihn damit aus den Gedanken.

„Was?“, fragte er nach und hatte meine Frage offenbar nicht mitbekommen.

„Ich würde gerne deinen Namen wissen und wer du eigentlich bist.“

„Nun, ich bin Lukas Bergman und 24 Jahre alt, Schlagzeuger der Band Black Rose und studiere nebenbei an der Musikhochschule, wenn wir nicht auf Konzerten oder Tourneen sind. Warte mal, wie heißt du eigentlich?“, fragte er mich mitten seines Lebenslaufes.

„Rose.“

„Schöner Name, Rose. Beinahe wie unser Bandname. Okay, wo war ich stehen geblieben…“, er machte eine kurze Pause.

„Ich habe geschiedene Eltern und zwei kleine Brüder. Da Max und Jochen jedoch eineiige Zwillinge sind, habe ich manchmal das Bedürfnis einen Edding zu nehmen und ihre Namen auf die Stirn zu schreiben. Man kann sie wirklich nur selten unterscheiden. Es ist zum Verrücktwerden. Lass mich Nachdenken…“, es blieb zwischen und still, während er weiter nachdachte, doch meine Mundwinkeln zuckten äußerst amüsiert.

„Ob du es glaubst oder nicht, aber ich habe meine Bandkollegen und Besten Freunde auf einer Beerdigung kennengelernt. Das sind Ich, Brien, Luis und Damien. Damals haben wir immer nur aus Spaß gespielt, doch wie bei jeder Band wurde aus Spaß ernst. Wir bekamen die ersten Verträge, landeten Nummer Eins Hits auf etwa 80 Ländern und unser erstes Album wurde 23 Million Mal verkauft, vom Download brauchen wir erst einmal nicht zu sprechen. Zu hohe Zahlen. Das ist etwa ein Jahr her und seitdem sind wir überall bekannt. Du hast nicht zufällig einmal etwas von uns oder unserer Band gehört, oder?“, fragte er vorsichtig nach, um etwas nachzugehen, von dem ich keine Ahnung hatte, es aber ignorierte.

„Nein. Erst Aphrodite hat mir gesagt, dass ihr Bruder ein Superstar ist und durch dich habe ich erst jetzt von eurer Band erfahren. `Tschuldige“, gab ich zu und lächelte verlegen.

„Ich hätte nicht gedacht, dass es in Deutschland jemand gäbe, der uns nicht kennt und vor allem in Frankfurt. Weißt du, zwei unserer Bandmitglieder sind hier aufgewachsen und ich und Luis sind in einer kleinen Stadt in der Nähe geboren. Jedoch sind wir erst hier zu einer Band gegründet worden und nun ja, es wundert mich, dass du dennoch nichts von uns erfahren hast.“, murmelte er ehrlich überrascht und seltsamerweise konnte ich ein Lächeln nicht mehr aus dem Gesicht bekommen, während er erzählte.

Er erzählte mir noch von seinen beiden Brüdern, die ihn öfters mit Ketschup bespritzten oder mal mit Schaumstoffpistolen beschossen haben, während er ein paar meiner Kekse stibitzte.

„Hallo, weißt du wie die wehtun. Diese Dinger sehen vielleicht harmlos aus, aber wenn du am nächsten Morgen mit dem Gefühl tausender blauen Flecken aufwachst, würdest du nicht mehr so sehr über mich lachen.“, aufgebracht, aber anderseits auch belustigt, schimpfte er darüber, dass ich nur noch über seine Erzählungen lachte.

Es tat gut wieder zu lachen und ich spürte die Tränen in meinen Augen aufsteigen. Kichernd hielt ich mir meinen Bauch fest und musste mich dazu zwingen, mich nicht als nächstes auf dem Boden zu Kugel.

„Hast du mal überlegt, ob du Komiker werden möchtest. Irgendwie hört sich eine einfache Erzählung von dir so lustig an.“, kichernd sah ich ihn an, meinte meine Worte jedoch ernst. Durch den Leichten Wind, der zu mir kam und dem Geräusch seines Kragens her, nahm ich wahr, dass er den Kopf schüttelte.

„Dasselbe hat auch Damien gemeint, als er mich kennen gelernt hatte.“, grinste er und lachte, sodass ich mich mit anstecken ließ.

„Was habe ich gemeint?“, meinte eine Stimme plötzlich hinter mir, dass ich erschrocken heftig zusammenzuckte und mein Lachen und Lächeln verblasst war. Ich atmete die angehaltene Luft aus und meine Hände fingen an zu zittern.

„Alles in Ordnung?“,  die besorgte Stimme von Timo ließ mich aufhorchen. Ich sah in seine Richtung.

„Ja. Ich habe mich nur erschreckt. Ich habe vergessen hinzuhören“, entschuldigte ich mich bei ihm und stand auf.

„Hey, ich muss jetzt auch wieder los. Der Bus wartet schließlich nicht auf mich und wenn, dann ist es ein Wunder. Einen schönen Tag noch.“, verabschiedete ich mich von ihnen und stand auf. Ich griff nach meiner Tasche und lief aus dem Geschäft.

„Unglaublich.“, hörte ich Lukas noch sagen, bevor ich aus seiner Hörweite war. Lächelnd wartete ich auf den Bus, fuhr die neun Stationen und stieg direkt vor meiner Haustür wieder aus. Dies war der Grund weswegen uns das Haus für immer gehörte und dank mir gekauft wurde.

Ich schloss die Haustür auf und legte den Schlüssel in die Schüssel neben der Tür. Damit ich nicht jedesmal nach ihm suchen musste, legte ich ihn in die Schlüssel und konnte jedesmal beim hinausgehen ihn gleich in die Hand nehmen.

Ich ging direkt in mein Zimmer, Sophie brauchte ich nicht bescheid zu geben, denn sie war heute bei ihrer Mutter, die sie immer jeden dritten Donnerstag besuchte. Heute hatte ich früher Schluss gehabt und war mit dem ersten Bus zum Krankenhaus gefahren. Ich hatte Glück, dass alle Fans sofort ausgewichen waren sobald sie meinen Blindenstock gesehen haben und ich hoffte, dass in den nächsten Tag dies nicht mehr der Fall war.

In meinem Zimmer legte ich den Rucksack neben meinen Schreibtisch und holte die Schulsachen heraus. Ich war froh, dass es Bücher gab, die man mit der Blindenschrift übersetzte, diese jedoch ziemlich dick uns schwer war, da unsere Schrift viel Platz brauchte.

Aber ausmachen tat es mir nichts, schließlich musste ich nicht auf eine Blindenschule, sondern konnte auf eine normale gehen und ich mochte es, wenn ich zwischen normalen Menschen war.

Bei den anderen Blinden fühlte ich mich ein wenig unwohl. Schließlich hörten sie genauso wie ich auf jedes Geräusch und es kam vor, dass die Räume still waren.

Aber viele von ihnen hatten ein gutes Herz und sahen die innere Werte eines Menschen, nicht das Gesicht oder die Figur.

Das man nur noch auf die äußere Hülle heutzutage achtete, war traurig. Vor allem, wenn Menschen sich verstellten, nur um wie sie zu sein.

Ich wusste nicht wie ich aussah. Ich erinnerte mich nur noch, als ich mich mit 4 Jahren in einer Pfütze gesehen hatte. Ich erinnerte mich noch genau an meine schwarzen Haare und meine helle Haut, die roten Lippen und die leicht hellen Sommersprosse, die man nur im Sommer etwas zu Gesicht bekam. Jedoch kam das ziemlich selten vor.

Was mich jedoch traurig machte, war, dass ich noch nie meine Augen gesehen hatte. Immer wenn ich in einen Spiegel gesehen hatte, hatte ich nur die Schwärze gesehen.

Viele hatten mir gesagt, dass meine Augen etwas Wunderschönes oder atemberaubendes seien und schon immer wollte ich es wissen. Aber die Chancen mein Augenlicht in den nächsten 20 Jahren zurück zu erlangen lag bei 5 %.

Ich wandte mich an die Hausaufgaben und machte alle von heute und die, die für morgen auf waren. Ich tippte alles in den Computer oder zeichnete es auf ein Blatt Papier. Ich konnte zwar wie jeder andere Mensch auch schreiben, aber da ich keine Linien zur Vorlage hatte, schrieb ich schief und merkte nicht immer, wenn ich auf dem Tisch schrieb.

Ich war die einzige Schülerin, der es erlaubt war, mit dem Laptop den Unterricht zu begleiten oder mit einem Aufnahmerekorder alles aufzunehmen.

Wenn ich mal wieder nicht wusste, wie ich etwas zeichnen musste, brauchte ich nur alles wieder abzuspielen und schon machte es Klick in meinem Kopf.

Müde zog ich mir meinen Pyjama an und putzte mir die Zähne. Gähnend kuschelte ich mich in mein Bett, ließ den Tag noch einmal durch den Kopf gehen und schlief schließlich zufrieden ein.

In früheren Zeiten bediente man sich an der Folter. Heutzutage bedient man sich der Presse. Das ist gewiss ein Fortschritt. Aber es ist auch ein großes Übel; es schädigt und demoralisiert uns.

  • Oscar Wilde

 

 

Meine müden Augen wollten sich an diesem Morgen erst gar nicht öffnen.

Es war Samstag und seltsamerweise eines dieser Tage, an denen man seine Wärmequelle im Haus nicht verlassen wollte.

Aber ich wollte Mom wieder besuchen. Es waren nun zwei Tage her, seitdem ich im Krankenhaus war und irgendwie vermisste ich es.

Außerdem würde es mich auch freuen, wenn ich wieder auf Aphrodite stoßen würde. Aber vor allem machte ich mir um meine Mutter große Sorgen. Sie hatte mich bisher nur einmal angerufen und ich hatte erneut den Verdacht, dass sie Schmerzen hatte oder etwas vor mir verschwiegen hielt. Ich lief in mein Zimmer, schritt zum Ende des Raumes und nahm das einzige Bild in meinem Zimmer ab. Dahinter war ein Tresor, dessen Pin man dreimal eingeben konnte. Meine Mutter war so freundlich gewesen und hatte die Ziffern in Blindenschrift um meißeln lassen.

Ich gab die Zahlen 0-9-1-1-5-1-2 ein.

Die Zahlen waren in einer Logischen Reihenfolge. Am 9. November kam ich auf die Welt, mit 5 Jahren fing meine Blindheit an. Mit 12 Jahren erblindete ich vollkommen.

Ich konnte nichts sehen, meine Augen jedoch bewegen sich, da die Nerven noch voll intakt waren. Aus diesem Grund hielten mich viele nicht für Blind.

Aber man stelle sich vor, man ist ein normaler Mensch, der zwei Sekunden nach dem Schlaf ruckartig aufsteht und sich dann im selben Moment vor einem Spiegel setzt. Er wird nur die Schwärze vor Augen haben, kann aber dennoch die Augen bewegen. Erst einigen Sekunden später würde das Augenlicht wieder zurückkommen.

Bei mir war es jedoch so, dass ich für immer diese Schwärze nicht mehr aus den Augen bekommen würde.

Ich nahm die Ledermappe aus dem Tresor und holte einige Geldscheine heraus. Ich hatte heute vor den ganzen Tag im Krankenhaus zu sein und könnte genauso gut nebenbei heute dort einige Dinge kaufen und es mir gemütlich machen.

Ich rief mir ein Taxi und bat ihn vor der Bäckerei zu warten. Ich stieg aus und lief in die feine Backstube. Ich war ziemlich oft hier. Es war eines meiner Lieblingsorte.

Der Raum hatte immer diesen intensiven Geruch nach Erde und Wald, sodass es mit dem Duft des frisch gebackenen Brotes herrlich wirkte.

Ich kaufte Quarkbällchen, Croissants, Nussschnecken und zu guter Letzt einige Brötchen.

In der Cafeteria war das Essen zwar lecker, aber ich brauchte auch wieder einmal Abwechslung. Außerdem mochten Kinder süße Sachen und manchmal schaute ich bei ihnen vorbei und unterhielt mich über sie mit ihnen.

Die Krankenschwestern und -Pflegern waren immer froh, wenn ich auftauchte, denn dann schien jedes Kind sich ruhig zu verhalten und die große Last von allen fiel ab.

Bei dem Gedanken an die Kinder, drehte ich mich um und kaufte noch einmal viele Quarkbällchen und Schokocookies ein.

Ich stieg wieder in das Taxi und bat ihn bei Ellas Laden anzuhalten, die hervorragende Milch und andere Produkte auch herstellte.

Ich kaufte bei ihr fünf Liter Milch und Schoko- sowie Kaffeepulver. Der Kaffe würde für das Personal und die Ärzte des Krankenhauses sein. Das war jedesmal ein Dankeschön von mir, dass sie sich so gut um meine Mutter sorgten.

Ich hielt nirgends mehr an, sondern fuhr direkt zum Krankenhaus. Ich gab dem Taxifahrer ein wenig Trinkgeld obendrauf, da er mir half die Sachen ins Krankenhaus zu bringen, in Timos Geschäft.

Ich lagerte hier immer meine Sachen.

„Hey, wie ich sehe warst du einkaufen.“, begrüßte mich die Freudige Stimme von Timo und ich umarmte ihn herzlich, als er seine Arme um mich ausbreitete.

Er war ein toller Kerl und wahrscheinlich eines der besten Geschäftsführer, dem ich je begegnet war. „Könntest du etwas von der Milch und vom Schokopulver in meine Box hineintun?“, bittend sah ich ihn an und ich spürte sein grinsen.

„Ist doch selbstverständlich.“, meinte er nur und zum Dank gab ich ihm einen Kuss auf die Wange. Er war so etwas wie mein bester Freund und ich hatte ihn gern.

„Lass den Kindern aber etwas übrig. Ich habe vor sie heute zu besuchen.“, bemerkte ich nebenbei.

„Geht klar.“, rief er mir zu und machte sich an die Arbeit.

 Mit der Box war gemeint, die Schachtel in der mein Schokopulver war. Ich kaufte sie, genauso wie die Milch, immer ein und Timo bereitete sie mir zu.

Er hatte mich einmal gefragt, weswegen ich ihm das Geld für eine heiße Schokolade gab, obwohl ich es immer einkaufte und ich hatte ihm geantwortet, dass ihn mir doch jemand zubereiten musste und dieser auch noch eine Schlagsahne hatte, die mehr als nur Preiswert war.

Seit diesem Tag gab es ohne einen Mucks meine heiße Schokolade.

„Möchtest du etwas von den vielen Sachen?“, fragte ich ihn und deutete in die Tüte hinein, die ich gerade in den Händen hielt.

„Klar.“, meinte er schlicht und schnappte sich mir die Tüte aus der Hand. Ich hörte das Öffnen der Bäckertüten und vernahm kurz darauf, wie Timo auf etwas herum kaute.

„Mmm. Wo findest du nur diese göttlichen Croissants?“, fragte er verzückt, doch ich grinste nur.

„Ist ein großes Geheimnis.“

„Das glaube ich dir. So gut wie die sind, würdest du doch niemals verraten, wo der Laden liegt.“

„Verdammt richtig. Aber lass den Kindern noch etwas übrig.“, breit grinsend trank ich aus meiner heißen Schokolade, die er mir zubereitet hatte.

Samstags blieb ich des Öfteren immer den ganzen Tag oder kam schon früh morgens, weswegen man immer für mich eine warme, leckere Brühe bereithielt.

„Weißt du, wie ich diese Sachen rüber transportieren könnte? Ich habe mehr eingekauft als sonst.“, nachdenklich berührte ich die anderen Tüten.

„Und dafür danke ich dir. Komm, ich helfe dir einfach. Wir tragen sie einfach in das Essenszimmer von den kleinen Kinder, bereiten alles vor und dann kannst du ihnen wie sonst auch den Mund versüßen.“, schlug er vor und genauso, wie er es gesagt hatte, taten wir es.

Doch heute merkte ich, dass viel in den Zimmern der Kinder los war und ich hörte Erwachsene Leute reden und Fotos schießen.

„Gabi. Was machen Fotografen und Reporter in dem Zimmer der Kinder?“, fragte ich sie etwas wütend.

„Die Band Black Rose besucht sie gerade. Wir haben versucht die Presse wegzuschicken, aber diese Superstars sind wie Magneten. Dabei wollten sie den Kindern nur etwas vorsingen.“, die Enttäuschung ihrer Stimme ließ mich sofort mitreißen und so lief ich direkt in das Zimmer der Kinder.

Ich knallte die Tür auf und überall wurde es still.

„Verlassen Sie sofort das Krankenhaus.“, zischte ich laut und wütend ins Zimmer und sah in die Richtung, aus der noch immer einige Fotogeräusche kamen.

„Zu diesem Raum haben nur die Bandmitglieder eintritt, nicht sie. Und sollten sie nicht schleunigst das Krankenhaus verlassen, werde ich die Sicherheitsleute rufen müssen.“, drohte ich ihnen, als noch immer keiner sich bewegte.

„Hören Sie, wir wollen nur die Jungs aufnehmen und über sie berichten. Wir tun den Kindern schließlich nichts.“, meinte eine Stimme mit leichtem Akzent, die ich nur einem älteren Mann zuordnen konnte.

„Sie haben mich wohl nicht verstanden. Diese Kinder haben Angst vor ihnen und vor den Kameras. Manche von ihnen sind halb erblindet und sie blitzten auch noch tausende Fotos von ihnen. Wenn sie alle sich nicht zügig verpissen, schwöre ich bei Gott, dass ich sie alle so anzeigen werde, sodass sie nie wieder einen Job finden werden in ihrem ganzen Leben. Und jetzt machen Sie, dass sie alle miteinander verschwinden.“, schrie ich wütend.

Eiserne Stille herrschte nun im Raum und ich nahm die Geräusche wahr, die die Presse machte, als sie ihre Sachen einpackten und an mir vorbei gingen, direkt aus der Tür hinaus.

Manche von ihnen grummelten vor sich herum, doch gaben keinen wirklichen Kommentar von sich.

Ich wandte mich wieder an die Kinder und die Band.

„Kinder, ihr dürft erst ins Esszimmer, wenn diese Kerle sich entschuldigt haben. Nicht eher.“, mit diesen Worten knallte ich die Tür hinter mir zu und lief – noch immer – wütend in das Esszimmer der Kinder. Der Duft hier drin beruhigte mich ungemein, denn hier roch es nicht nach Arzneimittel oder Desinfektion für die Hände.

Hier roch es wie bei einer Familie Zuhause und das war das Gefühl, welches ich den Kindern übermitteln wollte. Ich wollte, dass sie sich wohl und herzlich aufgenommen fühlten.

Hinter mir hörte ich die Kinder laut reden und musste bei diesem wunderbaren Klang lächeln. Ich atmete die wütende Luft aus und atmete dafür die Zufriedenheit ein.

„Setzt euch doch bitte.“, bat ich sie sanft, nachdem ich mich zu ihnen umgedreht hatte.

Anscheinend war die Band mitgekommen und nahm Platz, sodass ich nun anfangen konnte.

„Danke Rose.“, hörte ich die Stimme von Gabi neben mir sagen und ich tätschelte leicht ihren Arm.

„Du weißt, dass ich für die Kinder alles tun würde.“, erinnerte ich sie und ich spürte, wie sie leicht meine Hand drückte und dann verschwandt.

Die größte Ehre, die man einem Menschen antun kann, ist die, dass man zu ihm Vertrauen hat.

 

  • Matthias Claudius

 

 

Ich sah dabei zu, wie das unbekannte Mädchen vor einer Tischreihe stand, die mit leckeren Dingen aufgefüllt war und ziemlich kurz mit einer Krankenschwester redete.

Wenn man daran zurück dachte, dass sie erst vor wenigen Minuten noch die Presse - die aus vielen Teilen der Welt ankamen - angeschrien hatte und sie nun so sanft mit den anderen sprach, konnte man nur noch den Kopf schütteln. Sie hatte es geschafft binnen zwei Minuten fünfzig Mann aus dem Zimmer hinaus zu werfen.

Ich fragte mich, ob man sie buchen konnte. Sie wäre definitiv empfehlenswert.

Der erneute Schmerz in meiner Brust, als ich mich etwas bückte, stach mir durch den ganzen Körper und ich versuchte ruhig zu Atmen. Der Verband, der fest um mein Schlüsselbein und der verstauchten Rippe umwickelt war, nahm mir geradezu den Atem weg. Blöde Schiene, oder was auch immer das war.

Ich bereute es jetzt schon, heute aufgestanden zu sein und nun hier in einer Kantine für kranke Kinder zu sitzen, welche mit bunten Farben übersät wurde.

Mein Blick wanderte über die Kinder, die hier leise redeten und immer wieder nach vorne Blickten, bis sie endgültig leise wurden und schließlich verstummten.

Gerade dies war ein Zeichen für mich aufzuschauen und zu der Person zu sehen, die im Mittelpunkt aller zu sein schien.

„Ich danke euch, dass ihr alle hier seid. Es tut mir leid, was gerade eben passiert ist. Zur Entschädigung habe ich heute Morgen für euch eingekauft und ich hoffe es schmeckt euch. Ich wünsche euch allen einen sehr guten Appetit.“, beendete sie ihre kurze Ansprache mit gefasster Stimme und alle Kinder standen auf und stellten sich in eine Reihe vor. Keiner drängelte.

Ich fragte mich, wer dieses Mädchen war. Sie schien überall zu sein und dennoch nirgends hinein zu passen. Und ein Gefühl sagte mir, dass sie hier nicht arbeitete.

Was tat sie dann also hier?

Lukas wusste irgendetwas, aber er sagte es mir nicht. Dabei war er einer, der gerne über alles plauderte.

Ein kleines Mädchen kam mit einem großen Lächeln und einem Vollgestapelten Teller zu uns.

„Ich soll euch sagen, dass ihr auch etwas essen sollt. Es gibt ganz viel.“, glücklich ging sie wieder davon und strahlte ihr Teller an, als sei ein ganz großer Wunsch in Erfüllung gegangen.

„Wollen wir?“, fragte Luis und somit standen wir auf.

„Damien.“, schrie die Stimme eines Kindes, die ich keinen einzigen Tag meines Lebens vergessen würde. Ich drehte mich um und sah zu der kleinen rennenden Gestalt, die mich glücklich anstrahlte. Dabei flogen ihre Goldblonden Haare um sie herum.

Ich packte ihren kleinen, zierlichen Körper hoch und setzte sie an meiner Taille ab. Den schlimmen Schmerz dabei ignorierend, strich ich ihr übers Haar und sah sie einfach nur an.

Das süße Lächeln, mit welchem sie mich nun ansah, ließ mein Herz zerschmelzen. Sie war die einzige Frau in meinem Leben, die dies schaffte und darüber war ich glücklich. So würde sie immer etwas Einzigartiges bleiben, auch wenn sie es schon war.

Jedoch störten mich ein wenig die großen Augenringe unter ihren Augen, welche erst auf dem Zweiten Blick zu erkennen waren.

Mom hatte mich heute Morgen angerufen und gesagt, dass sie so gut wie nicht geschlafen hätte und die ganze Nacht lang durch weinte. So wie immer.

„Hast du Hunger?“, fragte ich sie, um mich von den Gedanken abzulenken und sie fing an, wild mit dem Kopf zu nicken.

Ich lief mit ihr zur Schlange und sah zu den Jungs, die schon dabei waren ihre Teller voll zu stapeln. Mir fiel auf, dass es einige süße Dinge gab, aber auch Müsli und leckere Brötchen, sowie Frühstücksaufstrich. Ich ließ Aphrodite auf den Boden gleiten und drückte ihr ein Teller in die Hand.

Sie sagte mir, was sie wollte und ich tat es ihr auf den Teller. So war es schon immer gewesen. Vor allem auf Konzerten, wenn sie mich begleitete.

Wir liefen zum Tisch zurück, als Aphrodite plötzlich an meinem Oberteil hefig zog, sodass es mich beinahe dazu brachte, meinen Teller fallen zu lassen. Zur Sicherheit hielt ich es mit beiden Händen.

„Damien, nimm mein Teller. Ich bin gleich da.“, meinte sie und drückte mir ihren Teller in die Hand, welchen ich gerade noch rechtzeitig auffing, bevor er die Bekanntschaft mit dem Boden machen konnte.

Sie rannte mit ihren süßen kleinen Füßen davon und ich lief zu unserem Tisch zurück, während ich die Blicke meiner Bandkollegen ignorierte. Als sie nach einigen Minuten noch immer nicht kam, sah ich auf.

Sie stand abseits in der Ecke mit dem Unbekannten Mädchen und saß auf ihrem Schoß. Sie schienen sich prächtig zu amüsieren und ich sah immer wieder die erstaunten Blicke meiner kleinen Schwester.

Über was sprachen sie denn so intensiv?

Stirnrunzelnd sah ich dabei zu und bemerkte erst gar nicht, dass die anderen ebenfalls in die Richtung sahen, bis mich Lukas darauf ansprach.

„Unglaublich, was?“, hörte ich ihn sagen. Noch immer sah ich ihnen zu.

Aphrodite freundete sich eigentlich an niemanden so schnell an. Sie war ein schrecklich schüchternes Mädchen und seitdem unser Vater vor elf Monaten in Irak spurlos verschwunden war, traute sie sich nicht mehr in die Nähe anderer Menschen. Meistens war dies ein Problem, da ich und meine Band überall bekannt waren und der Menschenschwarm uns immer verfolgte.

Sie nun so zu sehen, wie vertraut sie auf dem Schoß des Mädchens sah, versetzte mir einen Stich.

Die Wahrheit ist vorhanden für den Weisen, die Schönheit nur für ein fühlendes Herz.

  • Friedrich Schiller

 

 

„Du kannst nichts sehen?“, fragte Aphrodite noch einmal nach, als würde sie ernsthaft versuchen es zu begreifen.

„Ja.“, versicherte ich ihr. Sie lehnte ihren Kopf gegen meine Brust und ich zog sie näher, damit sie es gemütlicher hatte.

„Dann weißt du ja nicht, wie ich aussehe.“, sagte sie und klang dabei traurig und enttäuscht.

„Falsch. Ich sehe, dass du wunderschön bist. Genau hier.“, damit tippte ich auf ihre Nase.

Leise fing sie an zu kichern.

„Und hier.“

Ich kitzelte sie am Bäuchlein, wobei sie sich ein wenig in meinen Armen wandte, um meinen Fingern zu entfliegen, lachte jedoch aus ganzem Herzen.

„Aber vor allem hier.“, sagte ich und legte meine Hand auf ihr kleines, klopfendes Herz.

„Weißt du, man muss nicht immer alles sehen, um zu wissen, dass jemand wunderschön ist. Man muss es nur fühlen und spüren. Dann kann man sich erst sicher sein.“, erklärte ich ihr und spürte Aphrodites Blick auf mir.

„Können das viele, die so sind wie du?“

„So in etwa. Sie können Dinge wie ich, die aber ein wenig anders sind.“, versuchte ich ihr zu erklären, doch es misslang mir ziemlich.

„Was für eine Augenfarbe hast du eigentlich, Aphrodite?“

„Blaue Augen, die so hell wie ein wolkenloser Himmel im Sommer strahlen.“

„Das hast du schön gesagt. Und deine Haarfarbe?“

„So Hell wie gesponnenes Gold. Meine Mommy sagt immer, dass ich auch Rapunzel oder Aurora sein könnte. So hell sind sie.“, meinte sie begeistert und drückte mich an sich, um ihre Begeisterung zu zeigen.

„Das glaube ich dir aufs Wort. Also siehst du doch aus, wie dein Name lautet?“

„Wie meinst du das?“, fragte sie verwirrt und ich musste lächeln.

„Aphrodite ist die Griechische Göttin der Liebe und der Schönheit. Selbst ein Blinder kann sehen, wie wunderschön du bist und was für eine Liebe du ausstrahlst.“

„Ja, aber du bist du auch echt schön. Wie ein Engel. Du solltest auch Aphrodite heißen.“, flüsterte sie und ich konnte hören, wie ernst sie dies meinte.

Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn und lächelte sie an.

„Ich danke dir, meine Göttin.“

Damit saßen wir eine Weile so da, während ich sie leicht in meinen Armen wiegte. Irgendwann musste sie eingeschlafen sein, denn das vertraute, gleichmäßige Atmen kam wieder zum Vorschein.

Wie lange ich sie in den Armen hielt, wusste ich nicht, aber ich fühlte mich so glücklich, wie schon seit langem nicht mehr zuvor. Dank dem Mädchen spürte ich, wie mein Herz sich seit langer Zeit wieder erwärmte und in ihrer Nähe sich versüßt zusammenzog.

„Elli, könntest du bitte zu den Männern dort hinten hingehen und ihnen sagen, dass Damien kommen soll, um seine Schwester ins Bett zu bringen? Danke.“, bat ich das Mädchen, dass einige Meter weiter weg von mir saß, nachdem ich den Engel weitere Minuten im Arm gehalten hatte.

Jeder hatte seinen Platz und so konnte ich mir leichter merken, wer wo sich gerade aufhielt. Ich hörte ihren Stuhl quietschen und kurze Zeit später kam sie wieder angelaufen.

Aphrodite sollte in einem gemütlichen Bett schlafen. Es würde besser für ihren Rücken sein und sie hatte bestimmt einen sehr schönen Traum, den sie im Schlaf ausleben konnte.

„Er kommt.“, rief sie zu mir hinüber und ich nickte ihr dankbar zu. Trotz der Lautstärke im Raum, wachte Aphrodite nicht auf und ich fuhr mit meiner Hand unter ihre Augen, als ich eigentlich über ihre Wange streichen wollte. Ich spürte die leichten Augenringe und traurig sah ich sie an. Die Kleine hatte Schmerzen im Herzen.

Ich hörte die kräftigen Schritte eines Mannes immer näher kommen und vorsichtig stand ich auf und wandte mich in die Richtung.

„Hier.“, flüsterte ich und gab die kleine Gestalt in Damiens Arme, sobald er nahe genug an mich heran getreten war. Ich spürte wie Aphrodite sich regte, doch ich fuhr ihr sanft über das Gesicht, bis sie erneut einschlief und drückte ihr einen Kuss auf die Schläfe.

„Danke.“, hörte ich den Kerl mir gegenüber sagen und ich nickte nur.

„Sie hatte es gebraucht. Anscheinend hatte sie heute Nacht nicht viel Schlaf gehabt. Ich gebe Ihnen einen Tipp. Geben Sie ihr abends immer eine Tasse heiße Schokolade und lesen Sie ihr im Bett eine Geschichte vor oder tun sie irgendetwas, was sie mag. Das macht müde und beruhigt einen. Und außerdem hat sie dann mehr von Ihnen.“, gab ich mit einem kleinen Lächeln zu verstehen und wandte mich in die Richtung, aus der ein Mädchen nach mir rief.

Ich lief zu ihr und als ich kurze Zeit später wieder aufsah, spürte ich, wie Damien eben noch mit Aphrodite durch die Tür verschwandt.

Ich blieb noch lange bei den Kindern, besuchte dabei zwischendurch meine Mutter, der anscheinend nichts fehlte. Doch ich ließ mir noch einmal vom Arzt versichern, dass alles in Ordnung war und die Werte stimmten.

Am Abend, als die Kinder zu Bett gehen mussten, schaltete ich in dem Großen Raum die Lichter aus und schaltete die Nachtlichtlampen an, die leise Glockenklänge von sich gaben.

Ich hörte dem Schlaflied zu und lächelte leicht.

„Welche Geschichte möchtet ihr heute hören?“, fragte ich sie und alle riefen Aschenputtel. Es war ihre Liebl­ingsgeschichte und meine zufälliger Weise auch.

In diesem Zimmer waren 17 Kinder, die alle schwer Krank waren oder dasselbe Schicksal mitteilten. Manche von ihnen hatten Krebs, mache waren körperlich behindert und andere, die waren beinahe Blind und konnten sich ohne Hilfe nicht bewegen.

Ich hatte den Ärzten geraten, die Kinder in ein Zimmer hineinzustecken, egal was für verschiedene Krankheiten sie hatten. Solange jemand bei ihnen war, würde es ihnen gut gehen.

Und ich hatte recht gehabt.

Keiner von ihnen hatte in den letzten zwei Monaten einen Anfall gehabt. Einsamkeit war nichts für Kinder. Das mussten die Leute langsam verstehen.

„Es war einmal ein wunderschönes Mädchen, sie hieß Aschenputtel. Ihre Mutter verstarb eines Tages und man begrub sie hinter dem Haus auf einer Wiese und man Pflanzte einen Kirschbaum an. Aschenputtel besuchte jeden Tag das Grab ihre Mutter und mit jeder Träne die sie vergoss, wuchs der Baum…“

Eine Weile rührte ich mich nicht, sondern hörte dem gleichmäßigen Atem der Kinder zu. Dies war  eines meiner Lieblingsorte.

Im Schlaf hörten sich die Kinder an wie normale Kinder. Nicht wie Kinder, die jeden Moment sterben könnten, erblindet oder körperlich eingeschränkt sein würden.

Tränen liefen mir von der Wange herunter, doch ich wischte sie nicht weg, aus Angst die schlafenden Kinder zu wecken.

Ich blieb im Zimmer, bis die Schwester zur Visite kam und mir zuflüsterte, ich solle Nachhause gehen. Ich nickte und nahm meine Sachen. Leise ging ich aus dem Zimmer und spazierte so geräuschlos wie möglich hinaus.

Draußen blieb ich einige Sekunden lang stehen und atmete die frische Abendluft ein. Der Wald, der hier in der Nähe war, versetzte jemanden wie mich in einen Ruhigen Zustand. Seltsamerweise konnte ich nicht nach Hause gehen, da mich ein starkes Gefühl davon abriet. Im Moment fühlte ich mich hier draußen im frischen Wind gut und so lief ich zu eines der vielen Bänken und setzte mich hin.

Ich stellte mir einen Sternenhimmel vor, während ich meinen Kopf in den Nacken legte.

Jemand setzte sich neben mich und sofort versteifte ich mich etwas.

„Hast du was zum Anzünden?“, fragte mich eine unbekannte Stimme. Irgendwo hatte ich sie mal gehört, nur konnte ich sie im Moment nirgends zuordnen. Dabei merkte ich mir alle Stimmen.

„Ja, Moment.“, antwortete ich und tastete nach meiner Tasche. Ich legte sie auf meinen Schoß und begann mit meiner Hand über die Reisverschlüsse zu gehen, bis zu der vordersten Tasche. Ich öffnete den Reisverschluss und hielt den Blick nach vorne gerichtet, dabei wühlte ich  mit den Fingerspitzen in der kleinen Öffnung herum.

Ich hörte ein vertrautes Rascheln und holte mit einem Lächeln die Streichhölzer heraus und hielt sie der Männlichen Person neben mir hin. Ich spürte, wie er sie nahm, sich ein Streichholz anzündete und sie mir wieder in die Hand zurücklegte. Ich ließ sie durch die Öffnung fallen und schloss die vorderste Tasche wieder zu, dabei ließ ich die Tasche zurück auf  den Boden wandern.

„Du bist blind.“, hörte ich die Stimme neben mir, die nicht fragend, sondern feststellend klang. Überrascht wandte ich mich in die Richtung der Person.

„Woher hast du es gewusst?“, ungläubig sah ich ihn an und atmete tief durch. Versehentlich hatte ich die Luft angehalten.

„Wer sieht schon beim Suchen nach vorne, statt in die Tasche und das auch noch, wenn eine Straßenlampe über einem leuchtet? Außerdem war meine Schwester blind.“, erklärte er und versuchte seine Stimme gelassen klingen zu lassen, doch ich hörte das zittern und schnelle atmen heraus. Ich legte meine Hand auf die Schulter des Kerles.

„Es tut mir leid. Wie ist es passiert?“

„Sie hat sich die Pulsadern aufgeschnitten, hat gemeint, dass sie ihre Gefühle nicht mehr aushielt, weil sie zu laut waren.“, meine er kurz gefasst.

„Warum Selbstmitleid?“

„Warum denn nicht. Schließlich hätte ich ihr helfen können, aber ich war ja selber zu blind um etwas zu merken.“, zischend stand er auf und tigerte vor mir im Kreis herum.

„Ich heiße Rose. Und du?“

„Was…? Brien.“, er hielt in seiner Bewegung inne und ich roch den Rauch der Zigarette, den er durch den Wind in meine Richtung blies.

„Du bist also auch eines dieser Bandmitglieder. Was spielst du?“, lächelnd sah ich zu ihm. Alles was ich im Moment tat, war nur zu seinem Besten. Ich wusste nur allzu gut, was Blinde Geschwister bei einem auslösen konnten.

„Keyboard und Klavier.“, atemlos antwortete er und ich spürte, wie er zu mir hinüber sah.

„Ach, tut mir leid wegen der Presse heute. Keine Ahnung wie die das heraus bekommen haben. Bestimmt von irgendeinem Fan.“, entschuldigte er sich bei mir und ich nahm es Schulterzuckend hin.

„Ihr konntet ja nichts dafür und außerdem werden die nun ohnehin ohne meine Erlaubnis nicht mehr das Krankenhaus betreten dürfen.“, mit einem Siegeslächeln verschränkte ich meine Arme ineinander.

„Und das Krankenhaus erlaubt es dir einfach so?“

„Ja.“

„Und aus welchem Grund, wenn ich fragen darf?“

„Sagen wir es mal so. Sie Schulden mir einige Gefallen.“

Ich spürte seine Frage in der Luft schon hängen, bevor er sie auch nur stellte.

„Ohne mich würden einige Kinder nicht mehr Leben oder in einem schlimmeren Zustand liegen. Außerdem gebe ich mein bestes, den Leuten ein gutes Gefühl und Hoffnung zu vermitteln. Ich zeige Ihnen, dass man trotz einer Krankheit oder Behinderung doch noch im Leben klar kommen kann. Die Schwestern meinen, dass sie in mir alle ein Vorbild sehen würden. Jedoch bin ich vor allem im Krankenhaus hier, da meine Mutter hier drinnen liegt.“, ich machte eine kurze Pause und fuhr mir einige nervige Strähnen hinters Ohr.

„Meine Mutter ist im letzten Stadium Krebs und wird nicht mehr lange haben. Vielleicht einen oder zwei Monate, wenn nicht gar in ein paar Wochen.“

Warum ich ihm das erzählte, wusste ich nicht, aber das Gefühl es jemandem Fremden sagen zu müssen, ließ mich nicht in Ruhe.

Außerdem hatten ich und seine Schwester dasselbe Schicksal erleiden müssen.

Eine Weile lang sagte niemand etwas.

„Ich glaube du kennst sie sogar vielleicht. Sie heißt Angela Jones.“, gab ich zu.

„Du meinst die Nachrichtensprecherin und…“, weiter kam er nicht, da ich ihn sofort unterbrach.

„Ja. Die ganze Welt scheint sie zu kennen. Fast niemand weiß etwas davon und um ehrlich zu sein, ist es mir auch so lieber.“

„Ich weiß was du meinst.“, meinte er vertraut und ich nahm erneut das zittern in seiner Stimme wahr.

„Danke für das Gespräch. Wir sehen uns ja vielleicht irgendwann.“, verabschiedete ich mich von ihm und stand auf. Er sagte nichts, doch ich drehte mich mitten im Weg um.

„Ach, Brien. Deine Schwester hat das Richtige getan. Weißt du, alles zu hören und zu fühlen ist eine Sache. Über alles Nachdenken zu können ist schlimmer. Immer wieder taucht da die Frage auf Was wäre wenn…? Und das macht einen verrückt. Ich selber habe manchmal das Bedürfnis, dasselbe zu tun. Und jedesmal wenn ich es nicht getan habe, habe ich mich gehasst und war Tagelang deprimiert. Jetzt habe ich mich ein wenig darüber abgefunden, aber das heißt nicht, dass ich es nicht noch lange tun möchte. Besonders, wenn ich niemanden mehr habe.“, damit wandte ich mich ab und lief zur Bushaltestelle. Der Bus fuhr bis spät in der Nacht hier her und somit stieg ich ein und fuhr Nachhause.

Die Musik drückt aus, was nicht gesagt werden kann und worüber es unmöglich ist, zu schweigen.

  • Victor Marie Hugo

 

 

Ich konnte nicht fassen, dass ich gerade dies tat, doch nun stand ich hier tatsächlich in der Cafeteria und kaufte eine heiße Schokolade mit extra viele Schlagsahne. So wie es Aphrodite gern hatte.

Wenn meine Schwester danach wirklich einschlafen konnte, dann war ich dem Unbekanntem Mädchen ziemlich dankbar und wenigstens für eine Nacht erleichtert.

Doch anfreunden würde ich mich mit ihr nicht. Irgendetwas war gefährlich an ihr. Was, wusste ich jedoch nicht und würde es gerne herausfinden wollen, doch dies würde bedeuten, dass ich mich ihr annähern müsste und gerade das musste ich vermeiden. Sobald jemand herausfinden würde, dass jemand meine Interessen erweckt hätte, dann würde sie nie wieder Ruhe finden und Tag für Tag von Kameras und eifersüchtigen Fans verfolgt werden.

Nicht die Mortddrohungen und Einbrüche zu vergessen.

Dass solch etwas ziemlich oft im Musikgeschäft vorka, damit hatte ich niemals gerechnet als wir berühmt wurden und würde jeden Kontakt damit am liebsten vermeiden.

Während ich wie imemr die Schmerzen in meinem Oberkörper ignorierte, trug ich das Tablett zum Fahrstuhl und fuhr hinauf, lief durch die Flure und Gänge und öffnete meine Zimmertür.

Überrascht fand ich Aphrodite auf Biens Schoß wieder und beide sahen ziemlich nachdenklich aus, während sie sich leise unterhielten.

"Schon Geheimnisse?", begrüßte ich sie mit forschendem Blick.

"Ist das für mich?", begeistert sah Aphrodite mich an und hüpfte sofort von Brien hinunter, sobald ich ihr den Wink gab sie sich zu nehmen.

"Heiße Schokolade, nur für dich. Leg dich schon einmal ins Bett. Ich komme gleich nach, mein Engel."

Vorsichtig hielt sie die warme Tasse in ihren Händen und versuchte nichts zu verschütten, während sie zum Ende des Zimmers lief und sich artig aufs Bett setzte und gleich darauf anfing aus der Tasse zu trinken. Sahneschaum haftete an ihrer Oberlippe und zufrieden sah ich zu Brien, der meinem Blick gefolgt war.

"Was ist los?", kam ich gleich zum Thema. Ich spürte es, wenn er etwas hate und vielleicht lag es auch daran, dass wir uns damals die Blutbrüderschaft auf Ewig geschworen hatten.

Damals waren wir in unser Baumhaus gegangen, hatten unsere Daumen aufgeschnitten und sie schließlich mit ernstem Blick aufeinandergedrückt.

"Jemand hat mich nur an meine Vergangenheit erinnert, sonst nichts.", versuchte er das Thema abzuwinken und obwohl es mir nicht gefiel, nahm ich seinen Wink an und versuchte nicht daran zu denken,  wer ihn wohl an seine Schwester erinnert haben mochte.

Die einzige Vergangenheit, die er hatte, war seine kleine Schwester Sandra.

Er schlug kurz auf die Armlehnen des Sessels und stand dann ruckartig auf, verabschiedete sich mit einem kurzen Handzeichen und knallte die Tür hinter sich zu.

Kopfschüttelnd sah ich auf die Hellbraune Krankenhaustür und lief kurz darauf ins Badezimmer, um mich umzuziehen.

Das Duschen war mir nicht wirklich erlaubt und die Katzenwäsche war mir nicht gut genug, weshalb ich mich auf den morgigen Tag freute, an dem mir die Verbände vorerst abgenommen wurden.

Vielleicht bekam ich einen Verband.

Im Pyjama und mit frisch geputzten Zähnen, schaltete ich das Licht aus und schlich mich leise an meine kleine Schwester.

Um sie zu ärgern, drückte ich ihr einen Kuss auf ihren Nacken, was sie immer kitzelig fand. Sobald ich ihr kichern hörte, strömten Glückshormone durch meinen Körper und legte mich neben sie aufs Bett.

„Alles ausgetrunken?“, hakte ich nach und zog sie näher an mich heran, sodass sie es gemütlich auf diesem Krankenhausbett hatte.

Sie nickte langsam, immer wieder und man sah ihr die Müdigkeit an.

„Singst du mir etwas vor? Egal was.“, bat sie mich mit geschlossenen Augen.

Ich tat es ihr nach und schloss sie ebenfalls, während ich anfing leise für sie in die Träume zu singen.

„When she was just a girl, she expected the world. But it flew away from her reach, so she ran away in her sleep. And dreams of Paradise, Paradise, Paradise. Every time she closed her eyes.”

Meine Augen wanderten über das Gesicht des Kindes.

„When she was just a girl, she expected the world. But it flew away from her reach and the bullets catch in her teeth. Life goes on, it gets so heavy. The wheel breaks the butterfly, every tear a waterfall. In the night the stormy night she´ll close her eyes. In the night the stormy night away she´d fly. And dreams of Paradise, Paradise, Paradise.”

Zum Takt der Melodie in meinem Kopf bewegte ich meinen Kopf und schloss meine Augen,  während ich mit meinem Zeigefinger über ihren Arm strich. Immer wieder, bis ich das Gefühl hatte, dass jemand bei mir dasselbe tat.

„Oh ohoh oh-oh-oh. She´d dream of Paradise, Paradise, Paradise. Oh.”

Ich sang leise immer wieder La im Takt der Melodie in meinem Kopf.

„And so lying underneath those stormy skies. She´d say, “Oh, ohohohoh I know the sun must set to rise.” This could be oh-oh oh-oooh oh-oh-oh, paradise oh-oh oh-oooh oh-oh-oh, paradise oh-oh oh-oooh oh-oh-oh, whoa-oh-oh-oh oh-oooh oh-oh-oh.”

Ich wiederholte die Strophe noch einige Male, bis ich nur noch ziemlich leise, für kaum ein Ohr hörbar, erneut einige Male Oh-oh oh-oooh oh-oh-oh sang. Irgendwann starrte ich nur noch aus dem Fenster hinaus, zum Mond hinauf und hörte Aphrodite beim Atmen zu.

Immer wieder machten sich Melodien in meinem Kopf breit, während ich erneut das Unbekannte Mädchen vor meinen Augen sah.

Als könnte mein Kopf ein Leben lang über sie Lieder schreiben und singen.

Die Melodien ließen mich nicht mehr los, sodass ich seufzend aufstand, nach einem Stück Papier griff und anfing Notenzeilen zu zeichnen.

Das konnte eine lange Nacht werden.

 

Nicht der Mensch hat am meisten gelebt, welcher die höchsten Jahre zählt, sondern der, welcher sein Leben am meisten empfunden hat

 

  • Jean-Jaques Rousseau

 

„Hast du es schon gehört? Black Rose ist in der Stadt.“, kreischte Luisa mir am Montagmorgen ins Ohr und ich verzog ein wenig das Gesicht.

„Ich weiß.“, kommentierte ich ihr bejubel.

„Das ist doch toll. Warte…woher weißt du das? Das weiß man doch erst seit ein paar Tagen.“

Ihre schockierte Stimme ließ mich innerlich aufseufzen.

Warum musste ich auch nur kommentieren?

„Weil sie im Krankenhaus meiner Mutter sind.“, vertraute ich ihr schulterzuckend an, während ich wahrnahm, dass jemand mir schnell aus dem Weg ging.

Jemand zerrte mich an meinem Ärmel, damit ich stehen blieb. Mit zusammengezogenen Augenbrauen hielt ich meine Beine an und wandte mich in Luisas Richtung.

„Black Rose ist im Privatkrankenhaus von Frankfurt, in dem auch deine Mutter liegt?“, schrie sie geradezu panisch durch den ganzen Schulflur und ich konnte nicht anders, als böse in ihre Richtung zu sehen.

Auch wenn ich sie nicht sah, hieß das nicht, dass ich ihre verkrampften Finger an meinem Ärmel nicht spürte.

„Musste das sein? Die ganze Welt soll doch nicht erfahren, wo sie liegt. Am Ende habe ich und nicht diese Boygroup die Presse am Hals. Nicht noch die Fanbriefe und Beileidskarten, oder Geschenke zu vergessen.“, schimpfte ich zischend und sofort ließ sie ruckartig ihre Finger von mir los.

„Es tut mir leid. Ich war nur so überrascht.“, flüsterte sie entschuldigend und nun bekam ich Schuldgefühle.

„Mir tut es auch leid. Vergessen wir es einfach. Weißt du was? Zur Entschädigung darfst du heute mit ins Krankenhaus und dann kannst du dort eines der Bandmitglieder ja kennenlernen. Jedenfalls scheinen manche von denen nicht gerade sehr Kontaktscheu zu sein.“, versprach ich ihr mit einem versöhnenden Lächeln und als mich freudige Arme umfingen und Luisa dann vor mir wie ein keines Kind jubelnd herumsprang, konnte ich nicht anders, als zufrieden zu lächeln.

Die Sirene der Schulglocke ertönte und wir beide machten uns auf den Weg zum Unterrichtssaal, nachdem ich mich bei ihr eingehakt hatte, damit ich nicht jeden – mit meinem Blindenstock – aus dem Weg scheuchen musste.

In der großen Pause setzte ich mich mit Luisa an einen Tisch und ich trank etwas aus meiner Tasse Kamille Tee.

„Hast du sie eigentlich schon getroffen?“

Ich hob meinen Kopf in die Richtung, aus der ihre Stimme beinahe lautlos klang und so nickte langsam. Vor Luisa hatte ich nicht wirklich Geheimnisse. Sie war schon seit langer Zeit an meiner Seite, obwohl sie es nicht hätte sein müssen.

Ich war keine Freundin, mit der man ins Kino oder zum Shoppen, zu irgendwelchen Spielen oder Sehenswürdigkeiten hingehen konnte, weswegen ich ihr eigentlich zu Last fiel.

Lediglich zu einem Musikfestival waren wir mal gegangen, aber dort war Luisa schnell die Lust vergangen.

Meinen Geschmack hatten sie auch nicht ganz getroffen, obwohl einige Lieder nett waren und die Bands einige gute Melodien parat hatten.

„Und?“, neugierig flüsterte Luisa, um ihre Aufregung zu vertuschen, oder um nicht allzu laut zu sein. Wahrscheinlich hatte sie noch immer Angst davor, dass ich sie erneut anfahren könnte.

Kopfschüttelnd konzentrierte ich mich wieder auf sie und erzählte ihr, was alles passiert war. Bis auf Briens Schwester. Das sollte bei ihm und seiner Vergangenheit ruhen.

Kein einziges Mal hatte sie hinein geredet und das war eine besondere Gabe von ihr.

Sie hörte jedem aufmerksam zu und hatte immer eine gute Antwort parat.

„Und Brien hatte sich dann bei mir entschuldigt, dass die Presse die Kinder und die Band überfallen hätten und es nicht mit Absicht passiert ist. Dann habe ich mich von ihm verabschiedet und bin Nachhause gefahren. Das sind jetzt zwei Tage her.“, beendete ich meine Erzählung und wartete darauf, was sie zu sagen hatte.

„Eigentlich ganz normale Menschen. Hätte ich nicht gedacht.“, gab sie zu und ich spürte, wie sie mit der Schulter zuckte. Wahrscheinlich hob sie sogar überrascht die Augenbrauen.

„Aber ich bin ein wenig enttäuscht von Damien. Er hat seiner Schwester das Versprechen gebrochen. Die Arme. Und wenn die wirklich wie Aphrodite aussehen sollte, würde ich sogar mit ihr Leiden wollen.“, traurig seufzte sie auf und zustimmend nickte ich leicht mit dem Kopf.

„Vielleicht hat er ja auf meinen Rat gehört und gibt ihr nun abends ihre heiße Schokolade. Das sie so müde war, war nicht zu verdenken. Die Kleine schläft nicht gut.“

„Du bist doch die Seherin von uns. Was meinst du, woran es liegen könnte?“

„Es liegt immer an der Vergangenheit und den Erlebnissen. Jemand den sie ziemlich gern hat. Oder hatte. Man weiß eben nie, ob es jemand ist, der ihre Vergangenheit ausgemacht hat oder jemand, der die Gegenwart und Zukunft von ihr ist. Dafür kenne ich sie noch nicht zu gut.“

Wir hingen beide unseren Gedanken nach, doch irgendwann hielt ich die Stille nicht mehr aus und wollte gerade ansetzen etwas zu sagen, als es auch schon Läutete.

Lautlos packten wir unsere Sachen zusammen und schlenderten zum Geschichtsunterricht.

Nach Schulschluss einigten wir uns beide darauf, dass wir jetzt gleich zum Krankenhaus losfahren sollten, bevor die ganzen Fans wieder Schlange standen und die Sophie uns hinfahren würde, wir aber mit einem Taxi oder dem Bus zurückfuhren.

Man konnte Luisas Aufregung und Glücksgefühle nicht entgehen. Selbst Sophie fielen sie auf.

„Na da ist ja einer mal gut drauf. Schönen Tag gehabt, was?“, begrüßte sie uns, nachdem ich und Luisa auf der Rückbank Platz genommen hatten. Bald plauderten die beiden daraufhin los und redeten vom Alltag oder von irgendwelchen Filmen, sowie Schauspieler, die ich nicht kannte.

Irgendwann quietschten die Reifen und wir hielten vor dem Krankenhaus an.

„Ich wünsche euch noch einen Aufenthaltsamen Tag, ihr Süßen. Grüß deine Mutter von mir, Rose.“

Ich knallte die Tür hinter mir zu, nachdem ich ihr mein Einverständnis zugemurmelt hatte und lief gemeinsam mit Luisa ins Krankenhaus.

Mit eingehaktem Arm besuchten wir zuallererst meinen Freund, den Süßigkeiten Geschäftsführer.

Eine Tasse heiße Schokolade später, besuchten wir meine Mutter.

Luisa war schon öfters hier und lenkte meine Mutter besser ab als ich. Dafür war ich ihr ziemlich dankbar, da ich dieses Talent nicht hatte.

Zufrieden lehnte ich mich zurück und lauschte ihnen zu und den Geräuschen des Windes, welches gegen die Fensterscheiben schlug.

Wenige Minuten später schloss jemand das Fenster und ich vernahm die Geräusche von tausenden Kieselsteinen, die gegen die Scheibe prasselten. Regen.

„Oh, Mist. Sieht nach einer schlimmen Strömung aus. Hoffentlich wird es kein Hochwasser oder Hagel geben.“, meinte Luisa besorgt und meine Mutter stimmte ihr leise zu.

„Würdet ihr es ein wenig offen lassen? Ich mag das Geräusch so gerne.“, bat meine Mutter und wenige Sekunden danach hörte ich das laute Prasseln der Regentropfen auf der Fensterrinne.

Es vergingen Minuten und ich lauschte konzentriert dem ungleichmäßigen Prasseln zu, während ich die anderen im Raum abschaltete. Die Musik spielte ihre eigene Musik.

Bäume raschelten im Wind, der Regen plantschte auf den matschigen Boden, von den Rinnen floss das Wasser in Strömen, gegen das Fenster der anderen Zimmer prasselte der Regen und mit einem Mal schien das Leben dort draußen ausgestorben zu sein.

Jemand kreischte.

Sofort stand ich ruckartig auf.

„Rose. Was ist los?“, die besorgte Stimme meiner Mutter ließ mich mit schnell klopfendem Herzen Aufsehen.

Erneut ein kreischen. Diesmal eines, welches mir einen kalten Schauer einbrachte und mich an eine sehr bekannte Person erinnerte.

Schnell stürmte ich aus dem Zimmer und ließ mir keine Zeit die Schritte zu zählen, sondern lief schnell die Treppen hinunter, da ich nicht auf den Fahrstuhl warten konnte und machte mich auf in Richtung Ausgang, direkt zum Wald.

„Hilfe.“, schrie Aphrodite, was ich jedoch nur unverständlich verstehen konnte und sofort rannte ich so schnell ich konnte in die Richtung, aus der ihre Stimme kam.

Unter meinen Schuhen wurde es schwer und matschig und ich hatte Mühe, in Aphrodites Nähe zu kommen, da mich auch noch der Regen und der starke Wind daran hinderten.

„Verfluchter Mist.“, fluchte ich und erneut hörte ich sie nach Hilfe rufen. Diesmal war sie ganz in der Nähe, wenn nicht gleich neben mir.

„Aphrodite. Wo bist du?“, rief ich nach ihr, dabei drehte ich mich um meine eigene Achse.

„Hier. Ich…hier.“

Ein Schluchzen, rechts von mir, ließ mich aufatmen und ich tappte dorthin, bis ich mit den Beinen gegen etwas Weiches stieß, was sich kurz darauf hin an mich krallte.

Vorsichtig hob ich sie hoch, was einige Versuche benötigte, da sie tief im Schlamm saß und um sie herum sich eine Wasserpfütze gebildet hatte. Ihr Körper war eiskalt.

Der Schock in mir saß ziemlich tief, da die Kleine ziemlich zitterte, voller Schlamm war und nur ein Sommerkleid trug, nachdem ich sie ertastet hatte.

So schnell es ging, zog ich mein Pullover und Top aus und zog es ihr Nacheinander drüber, dann machte ich mich auf den Weg mit ihr auf den Armen, zurück zum Krankenhaus.

Mir war es egal, ob ich klitschnass wurde oder nur einen BH trug. Die einzige und größte Sorge meinerseits galt nun dem kleinen Engel, welches sich zitternd an meinen Hals festklammerte.

Von irgendwoher vernahm ich das Hupen eines Autos. Ich lief in die Richtung, bis ich bei der Straße ankam und irgendwie schaffte ich es trotz des Regens die Geschreie der Fans zu hören.

Aufatmend beeilte ich mich mit großen Schritten zum Eingang und ich musste einige Leute wegstupsen, um durchzukommen, da sie alle miteinander einfach nicht fortgehen wollten. Irgendwann wurde es mir selbst mir zu blöd und ich schlängelte mich zum Hintereingang durch, gab den Code ein und rannte mit der Kleinen auf dem Arm schnell zur nächsten Krankenschwester.

„Oh mein Gott, Rose.“

Die bestürzte Stimme hinter mir ließ mich ruckartig umdrehen.

„Du muss Aphrodite sofort aufnehmen, Gabi. Sie war draußen im Regen und ist stecken geblieben. Sie ist eiskalt. Bitte hilf ihr schnell.“, bat ich sie mit zittriger Stimme.

In weniger als Zwanzig Sekunden waren zwei weitere Krankenschwester, ein Arzt und eine Trage für Aphrodite bereit, um sie in einem anderen Raum hinter einem Glasfenster mit Jalousien zu untersuchen.

Zitternd legte ich sie auf die Trage und hielt ihre Hand fest, während ich mit den Krankenschwestern  und dem Arzt den Flur hinunter rannte.

Irgendwo wurde ein Tür geöffnet und wir fuhren einige Meter weiter, nur um gleich darauf anzuhalten.

Geräte wurden gebracht, manche Dinge weggeschoben, man zog Aphrodite die Kleidung aus und schließlich baten sie mich, dass ich draußen warten sollte.

Man gab mir meine Kleidung wieder zurück, dazu einige frische Kleidungen und ein Handtuch. Nachdem ich trocken war, zog ich ein Oberteil an, welches die Krankenschwestern normalerweise anzogen und stopfte meine nassen Sachen in eine Tüte, die mir jemand mit gereicht hatte.

„Da bist du ja endlich. Was um Himmels willen ist passiert?“, rief Luisa nach mir, nachdem ich mich vor der Tür hingesetzt hatte und unruhig darauf wartete, dass es Aphrodite besser gehen würde.

Jemand stürzte vor mir auf die Beine und hob mein Gesicht zu sich hoch und ich konnte das Parfum von ihr riechen. Luisas Parfum von Burberry.

„Aphrodite hat eiskalt im Schlamm gesessen und hatte sich nicht befreien können. Ich habe sie hierher gebracht, aber vorher habe ich noch im Regen geirrt. Sie

hat sich an mich geklammert, als ob…“, mitten im Satz brach ich ab, da mir beinahe die Tränen aufkamen.

Ich verdeckte mit einer Hand mein Gesicht und atmete tief durch.

„Sie war so eiskalt.“, wiederholte ich leise und ungläubig.

Der kleine Engel hätte sterben können. Wenn ich ihren Bruder in die Hände bekommen würde, oder denjenigen, der nun daran Schuld war, dass sie schnell behandelt werden musste, den würd ich zur Schnecke machen.

Eiskalte Wut machte sich in mir breit, die ich unterdrückte.

Durchatmen.

Immer wieder Atmete ich ein und aus, bis mein Körper nicht mehr zitterte und ich nicht mehr den Tränen nahe war.

Die Tür wurde geöffnet und sofort standen ich und Luisa auf. Leise klapperten meine Zähne.

„Dem Kind geht es besser, aber sie hat hohes Fieber. Wahrscheinlich wird sie eine Lungenentzündung und eine langzeitige Erkältung davon forttragen. Ich brauch den Namen der Familie des Mädchens, um sie benachrichtigen zu können.“, hörte ich Gabi und sagen.

Erleichtert lehnte ich mich an die Wand - hinter mir -als ich hörte, dass es Aphrodite gut ging. Ich hatte sie jetzt schon ins Herz geschlossen und ich hatte das Gefühl, als würde sie noch vieles in meinem Leben mitbestimmen.

Mein Mund versagte dabei, auch nur sich zu öffnen oder einige Wörter zu sagen, als sie etwas von Aphrodites Familie wissen wollte.

„Das ist Damien Kayes kleine Schwester Aphrodite. Er liegt hier ebenfalls im Krankenhaus.“

Zum Glück war Luisa in meiner Nähe und wusste Bescheid.

„Ruf die Mutter an. Bitte.“, krächzte ich mit etwas Nachdruck und sofort verschwandt Gabi wieder.

Weiter an der Wand gelehnt, vergingen Minuten und bald darauf eine Stunde, bis sich etwas tat.

Eine weinende Frau kam in unsere Richtung mit einigen Leuten und ich hörte Schwester Gabi mit ihr reden.

„Ihr geht es schon viel besser und sie wird wieder gesund werden. Und das ist das Mädchen, von dem ich Ihnen erzählt hatte.“

Ich stieß mich von der Wand ab und drehte mich in die Richtung um aus der sie kamen, nur im selben Moment von zwei Armen umklammert zu werden.

„Ich danke Ihnen, dass sie meine Tochter zum zweiten Mal gerettet haben. Ich bin Ihnen so unendlich dankbar. Ohne meine Tochter…danke“, schluchzte sie in meinen Armen und ich strich ihr über den Rücken, um sie zu beruhigen, obwohl mir selbst die Tränen in den Augen brannten.

Die Frau war etwas kleiner als ich, sodass ich mich etwas bücken musste, um ihre Umarmung zu erwidern. Sie hatte einen leichten ausländischen Akzent, der mir ziemlich bekannt vorkam, doch ich verwarf schnell wieder den Gedanken und konzentrierte mich auf die Mutter.

„Es wird alles wieder gut werden. Ihr geht es gut und abgesehen von einem leichten Fieber, Schnupfen und einer roten Nase wird in wenigen Stunden nichts mehr übrig bleiben.“, sprach ich ihr mit sanfter Stimme gut zu und als sich jemand räusperte, löste sie sich von mir.

„Tut mir Leid.“, entschuldigte sie sich bei mir, doch ich schüttelte nur den Kopf, bis mir etwas einfiel.

„Verzeihen Sie bitte, aber könnten Sie mir bitte sagen, wer die Aufsicht auf ihre Tochter hatte? Ich würde gerne ein paar Dinge mit dieser Person besprechen.“, bat ich sie und versuchte die Wut in meiner Stimme zu verbergen.

„Mein Sohn Damien. Er hat vorhin auf Aphrodite acht gegeben.“, schniefte sie.

Einige Meter weiter weg hörte ich ihn leise etwas murmeln, was wohl kaum jemand gehört hatte, aber in meinen Ohren hallten sie ziemlich laut.

„Es tut Ihnen Leid?“, gab ich sarkastisch und wütend von mir und lief auf die entsprechende Person langsam zu.

„Es tut Ihnen Leid, dass Sie Ihre Schwester bei einem eiskalten Gewitter auch noch mitten in einer Schlammschicht feststeckend liegen lassen haben? Es tut Ihnen Leid, dass sie beinahe gestorben wäre vor Kälte, wenn ich sie glücklicherweise nicht schreien gehört hätte?“, schrie ich ihn nun endgültig an und versetzte ihm wütend einen Stoß.

„Was…?“, setzte er an, doch ich unterbrach ihn.

„Was sind Sie denn nur für ein Verantwortungsloser Bruder?“, fassungslos hob ich den Kopf.

„Erst wird Sie beinahe von Ihren Fans zertrampelt und weggeschubst, dann halten Sie Ihre Versprechen ihr gegenüber nicht ein und nun wäre sie wegen Ihnen beinahe gestorben. Und alles was Sie sagen ist ein: Es tut mit Leid!?“, aufgebracht hob ich die Hände und hatte große Lust ihm eine Ohrfeige zu verabreichen.

„Was mussten Sie so dringendes Erledigen, dass Sie Ihre Schwester draußen haben stehen lassen?“. Fragte ich äußerst interessiert und wartete seine Antwort ab.

Vor mir hörte ich ihn schwer einatmen, bevor er zögerlich Antwortete.

„Ich musste Telefonieren.“

Tränen der Wut schafften es sich auf die Oberfläche zu schummeln und nun von meiner Wange zu tropfen, während ich den Kopf und die Arme senkte.

„Es macht mich traurig und wütend zugleich, dass sie solch einen Bruder wie Sie verdient haben soll, wogegen sie wie ein Engel strahlt.“, flüsterte ich weinend und hob langsam den Kopf, bis ich mit gesenkten Augen auf Brusthöhe von ihm war.

„Wissen Sie Damien, sie ist ein Kind. Kein Teenager. Niemand, den man hätte allein draußen lassen sollen.“

Leise schniefte ich.

„Ich möchte Ihnen auch nicht die ganze Schuld in die Schuhe schieben und behaupten, dass es Sie nicht mitnehmen würde, da Sie bestimmt Ihre Schwester gern haben, aber ich möchte Sie warnen. Vielleicht lieben Sie sie, aber man kann genauso gut ein Teller Spagetti lieben. Tun Sie mir den Gefallen und bringen Sie ihre Schwester nicht wieder hier her, wenn Sie keine Zeit für sie haben.“

Kurze Pause zum Luftnehmen.

„Aber vor allem, stellen Sie sich doch einmal vor Augen, was passiert wäre, wenn ich nicht da gewesen wäre. Keiner hat mir geholfen Ihre Schwester zu retten, weil man sie nicht gehört hat. Und das, obwohl diese sich die Seele aus dem Leib geschrien hat. Ich bin froh, Ihre Schwester gerettet zu haben, aber ich habe es nicht für Sie oder andere getan, sondern nur für den Engel selbst. Sie hat es verdient zu leben. Denken Sie doch nach, was das Leben für einen Menschen wie Aphrodite bedeutet, bevor Sie sie besuchen.“, beendete ich die längste, gleichzeitig wütendste und enttäuschtest, sowie traurigste Ansprache, die ich jemals gehalten hatte und lief um Damien herum, immer weiter, bis ich vor der Zimmertür meiner Mutter stand und anschließend meinen Kopf an der Wand lehnte.

Irgendwann hörte ich auf zu weinen und nachdem ich mehrere Minuten später noch an der Wand gelehnt stand, beschloss ich ins Zimmer zu gehen und wenigstens bei meiner Mutter an der Seite zu sein.

Blinzelnd öffnete ich die Augen und richtete mich vom Bett auf und bewegte ein wenig meine Tauben Arme. Noch müde fasste ich mir an den schmerzenden Rücken und unterdrückte ein Gähnen, während ich mich auf dem Bett von meiner Mutter abstützte, um vom Sessel aufzustehen.

Wie es aussah war ich eingeschlafen, ohne es zu merken.

Ich lief ins Badezimmer meiner Mutter und wusch mir erst einmal gründlich das Gesicht mit eiskaltem Wasser.

Langsam kam mir die Erinnerung an den gestrigen Abend oder heutigen Tag zurück. Wie viel Uhr und welchen Tag wir hatten, wusste ich im Moment nicht und ich fragte mich, wo Luisa war.

Vielleicht war sieNachhause gegangen? Am besten ich rufe sie an.

Gedacht, getan.

Sie war Zuhause und wünschte mir Gute Nacht, nachdem sie mir erzählt hatte, dass Frau Kaye ihre Tochter mit Nachhause genommen hatte und alle dann weggegangen sind, nachdem sie sich bei Aphrodite und Damien erkundigt hatten.

Ich dachte kurz darüber nach, ob ich nicht gestern zu hart zu Aphrodites Bruder war, doch dann besann ich mich wieder und war der festen Überzeugung, dass er es verdient hatte.

Nach dem gleichmäßigen Atem im Raum zu urteilen, schlief meine Mutter noch friedlich vor sich hin und ich drückte ihr noch schnell einen Kuss auf die Stirn, bevor ich mit meinen Sachen aus dem Krankenhaus verschwandt.

Zu viel kann man wohl trinken, doch nie trinkt man genug.

 

  • Gotthold Ephraim Lessing

 

 

Was sind Sie denn nur für ein Verantwortungsloser Bruder?

So sah sie mich also. Eine Fremde Frau, die überhaupt nichts über mich wusste und mich nicht einmal kannte, nannte mich verantwortungslos.

Automatisch ballte ich die Hände zu Fäusten.

Warum ließen mich ihre Worte nicht mehr in Ruhe?

Immer wieder wiederholten sich ihre Worte in meinem Kopf wieder. Ich griff schnell nach dem Whiskey, den ich mir großzügig in ein Kristallglas goss und mit einem einzigen Schluck austrank. Kurz verzog ich das Gesicht und hoffte, dass ihre Stimme leiser wurde oder ich endlich über den Schmerz hinweg kam, den sie mit jeden ihrer Worte auslöste, doch wie immer wollte nie jemand meine Wünsche erfüllen.

Allein schon dieses fremde Mädchen weinen zu sehen, weil ich Mist gebaut hatte, tat in der Seele weh. Beinahe so sehr, wie wenn ich Aphrodite nachts weinend im Schlaf auffand.

Sie hat es verdient zu leben. Denken Sie doch nach, was das Leben für einen Menschen wie Aphrodite bedeutet.

Erneut schlichen sich die Worte von ihr in meinen Kopf ein und ich bekam Angst. Woher wollte sie wissen, was das Leben für meine Schwester bedeutete?

Ich wusste es und ihr Leben bedeutete, jeden Tag darauf zu warten, dass unser Vater wieder Nachhause kommen würde.

Etwas woran sie noch Hoffnung hatte, wogegen ich sie mit jedem Tag verlor. Falls ich diese Hoffnung jemals hatte.

Aber vor allem, stellen Sie sich doch einmal vor Augen, was passiert wäre, wenn ich nicht da gewesen wäre.

Als ob es ein Befehl von ihr war, schloss ich langsam die Augen und stellte es mir vor.

Je weiter ich ging, desto mehr musste ich mich dazu zwingen, die Augen nicht zu öffnen und nicht sofort alles vor Qual, Schmerz und Selbsthass zu zerstören.

Schnell schlug ich die Augen auf, als ich es nicht mehr aushielt und hasste mich dafür, dass ich es mir überhaupt vorgestellt hatte.

Ich dankte zwar diesem Mädchen das Leben meiner Schwester, aber ich begann sie zu hassen. Sie gab mir das Gefühl, als ob sie etwas verursachen würde, was mich dazu brachte durchzudrehen.

Wenn mein Zustand nicht schon zum Durchdrehen war, dachte ich sarkastisch.

Ich goss mir immer mehr Alkohol ein, doch es brachte nichts.

Es kam mir geradezu vor, als würde sie überall sein und immer wieder auf mich drauf schimpfen.

Als ich torkelnd ins Badezimmer ging, sah ich mein eigenes Gesicht im Spiegeln.

Wie sehr ich mich doch hasste.

Mit einem festen Schlag zerbrach das Glas und Blut floss in den Waschbecken.

Nur ich allein war daran schuld, dass meine Schwester beinahe gestorben wäre.

Jemand kam ins Zimmer und kurz darauf sah ich nur noch schwarz vor Augen. Diese Schmerzen.

„Damien, Alter. Komm wieder zu dir.“

Was machte Brien hier?

Blinzelnd versuchte ich die verschwommene Sicht wegzubekommen, doch es gelang mir nicht wirklich, sodass ich mir öfters über die Augen rieb.

Brien stand nun ganz vor mir und sah dabei nicht ganz so unscharf aus. Endlich.

„Was willst du?“, fuhr ich ihn an und nahm mir die Whiskey Flasche in die Hand. Nach einem großzügigen Schluck, starrte ich ihn wütend an.

Man packte mich an der unverletzten H         and und zog mich aus dem Badezimmer. Brien schleuderte mich geradezu aufs Bett und mit zusammengebissenen Zähnen versuchte ich nicht auf ihn loszugehen.

Er entriss mir die Flasche aus der Hand, nachdem ich einen weiteren Schluck genommen hatte, um mich zu beruhigen, aber langsam zweifelte ich daran, dass ich jemals meine Wut in seiner Gegenwart zügeln könnte. Vor allem, wenn ich betrunken war.

Überhaupt, was tat er hier? Sollte er nicht Zuhause sein und sich in seiner verdammten Ecke verkriechen?

„Was willst du?“, wiederholte ich zornig.

Anstatt mir meine Frage zu beantworten, setzte er sich auf den Stuhl mir gegenüber und trank selber etwas aus der Flasche.

Einen Moment lang war ich sprachlos. Ich hatte Brien seit dem Tod seiner Schwester nicht mehr trinken gesehen und seinem Gesicht nach zu urteilen, brauchte er es dingend wieder.

„Sie erinnert mich immer wieder an sie.“

Erneut ein Schluck.

„Sie scheint dich ja echt zerstört zu haben.“, stellte er grinsend fest, als er mich ansah und ich schüttelte nur den Kopf, während ich mich wieder auf das Bett legte. Fluchend bemerkte ich meine Schmerzen, als ich die Arme hinterm Kopf verschränken wollte, aber daraus wurde nichts, sodass sie wenige Sekunden später schlaff neben meinem Körper lagen.

„Halt die Klappe.“

Es blieb kurz ruhig, bis Brien wieder anfing zu reden.

„Weißt du, sie fühlt und hört unser Inneres. Also sei nicht angepisst, weil sie mit manchen ihrer Anschuldigungen recht hatte. Rose weiß schließlich wovon sie spricht.“

Rose hieß sie also, die unbekannte Frau. Der Name passte zu ihr.

„Du meinst, sie sieht unser Inneres. Und sie weiß gar nicht, wovon sie spricht“, verbesserte ich ihn und fragte mich im selben Moment, woher er ihren Namen kannte.

„Nein, ich habe mich schon richtig ausgedrückt. Sie fühlt und hört alles, aber sieht es nicht.“

Sofort erstarrte ich und wandte meinen Kopf langsam in seine Richtung, bis sich unsere Augen trafen.

„Du meinst sie ist…“, weiter kam ich nicht, da der Schock zu tief saß, als das ich es aussprechen könnte.

„Ja. Sie ist Blind. Sie teilt dasselbe Schicksal wie Sandra.“, flüsterte er leise und ich sah traurig auf den gefliesten Boden.

Sie war jung gestorben. Sie war noch ein Kind. Gerade einmal 15, als sie sich ihr Leben nahm.

Ich liebte sie wie meine eigene Schwester. Schnell stand ich auf und schnappte mir die Flasche.

Mein Blick hing an der Flasche, sah das kleine Blinde Mädchen vor Augen und versuchte die Bilder loszuwerden.

Noch ein Grund mich weiter zu betrinken.

Der nächste Schluck kam und irgendwann schaltete ich ab.

Endlich.

 

Der Verstand kann uns sagen, was wir unterlassen sollen. Aber das Herz kann uns sagen, was wir tun müssen

 

  • Joseph Joubert

 

Seit über zweieinhalb Tagen hatte ich das Krankenhaus nicht mehr besucht und seufzend versuchte ich kein schlechtes Gewissen zu haben. Schließlich war meine Mutter allein im Krankenhaus und Einsamkeit tat niemandem bekanntlich gut.

Meine Hand tastete sich nach vorne, direkt zu meinem Wecker und ich drückte auf den Knopf neben der Anzeigetafel der Uhr.

„Dreiundzwanzig Uhr Einundvierzig.“, ertönte aus der kleinen Box und müde ließ ich mich rückwärts aufs Bett fallen, nachdem mein Hintern vom langen sitzen schon wehtat.

Ich beschloss einfach morgen früh hinzugehen und da ich am Freitag ohnehin keine Schule hatte, passte es ja.

Manchmal waren Lehrerkonferenzen ziemlich praktisch.

Sobald dies beschlossen war, entledigte ich mich -eine halbe Stunde später- meiner Kleidung und zog mir meine Schlafsachen über.

Mein kuscheliger Teddybär wartete schon im Bett auf mich und sobald ich unter der Decke war, fiel ich ins Reich der Träume.

Mies gelaunt lief ich mit einer Tasse heißer Schokolade ins Krankenhaus.

Sophie hatte vergessen, dass die Schule für heute nicht stattfinden würde und hatte mich in aller herrgottsfrühe aus dem Bett geschmissen und mich nicht erklären lassen, warum ich kein Bock hatte auszustehen.

Und nun stand ich hier und versuchte nicht daran zu denken, dass ich in meinen Träumen Schneeflocken fallen gesehen habe. Erinnern tat ich mich nicht mehr an den ganzen Traum, nur eben daran, dass ich mit Schneeflocken herumgespielt hatte.

Mehr war da nicht.

Selbstmitleid kannst du auch noch später haben, Rose. Beweg jetzt deinen Arsch erst einmal zu deiner Mutter und dann kannst du dich weiterhin in dein Bett kuscheln.

Sobald ich mir gut zugeredet hatte, lief ich zu den Fahrstühlen und fuhr mit der Hand über die Punkte auf den Knöpfen.

Der zweite Stock war schnell gefunden und wenige Sekunden später stieg ich schon wieder aus.

Gerade aus, rechts, links, die zweite Tür.

Bevor ich eintrat, klopfte ich kurz an und hielt verwirrt inne, als ich andere Stimmen wahrnahm.

„Oh. Schön, dass du da bist, Rose.“, begrüßte mich meine Mutter fröhlich. Mein Herz stockte etwas. Ihr ging es gut.

„Deine Freunde sind auch hier.“, bemerkte meine Mutter nebenbei und ich hob eine Augenbraue.

„Und wer sollten diese Freunde sein?“

Überrascht lief ich ins Zimmer, am Badezimmer vorbei und drückte meiner Mutter einen Kuss auf die weiche Glatze.

„Guten Morgen.“, flüsterte ich, bevor ich mich an die Besucher wandte.

„Wir sind´s. Brien und Lukas.“, stellten sie sich vor und erneut hob ich verwundert die Augenbrauen hoch.

„Oh! Mit euch beiden hätte ich niemals gerechnet.“, gab ich zu und wünschte ihnen auch einen guten Morgen.

„Ich hoffe es stört dich nicht, wenn wir unangemeldet hier aufgetaucht sind, aber wir benötigen deine Hilfe.“, meinte Lukas sofort, als wir aus dem Zimmer gingen, nachdem wir noch einige Minuten lang drinnen gesessen und geredet hatten.

Sofort stoppte ich.

„Wobei?“, misstrauisch sah ich in die Richtung des einen und des anderen. Rechts und links neben mir.

„Es geht um Damien.“, gab Lukas zu und schon lief ich weiter.

„Ich will nichts von ihm wissen.“, stellte ich sofort klar, als Lukas wieder ansetzten wollte, etwas zu sagen.

„Könnten wir bitte kurz stehen bleiben, damit du uns zuhörst? Du kannst dann noch immer entscheiden, ob du ihm helfen möchtest, oder auch nicht. Aber wir wären dir dann ziemlich dankbar.“

Kurz atmete ich durch und hielt schließlich neben dem Fahrstuhl an und setzte mich auf die Bank, die es in jeder Etage gab.

„Ich höre.“

„Seitdem du ihn zusammengeschissen hast, geht Damien nicht mehr aus seinem Zimmer…“, fing Lukas an, wurde jedoch von seinem Handyklingelton unterbrochen.

Sofort zückte er es hinaus und keine Millisekunde später stand er auf und verschwandt entschuldigend.

Mein Kopf ruckte langsam zu Brien.

„Er betrinkt sich, isst kaum noch etwas und schlägt auf Gegenstände ein. An dem Abend, als du gegangen bist, hat er im Badezimmer mit der Faust den Spiegel zerstört. Gestern waren es einige Vasen und Schränke.“, erzählte er und wurde immer leiser.

So ging es auch mit meiner Wut. Sie verschwandt mit jedem Wort immer mehr.

„Er nimmt seine Medikamente nicht mehr zu sich und wenn, dann hat es Folgen, wegen des Alkohols. Er möchte mit niemanden mehr reden, schreit die Krankenschwestern an und ist dabei durchzudrehen. Rose, ich bitte dich darum mit ihm zu reden und ihn wieder zur Vernunft zu bringen.“

„Warum sollte ich? Und warum gerade ich und nicht jemand anders?“

Kurzes Schweigen.

„Deine Worte haben ihm ziemlich zugesetzt. Ich glaube kaum, dass er es sich jemals verzeihen kann, solch ein…warte, wie hast du es genannt…verantwortungsloser Bruder zu sein?“

Kopfhängend nickte ich. Erneutes Schweigen.

„Warum gehst du nicht zu ihm?“

„Weil ich ihm wohl kaum etwas sagen kann, was ihn wieder zurecht biegt. Rose. Ob du es mir glaubst oder nicht, aber Damien scheint auf dich zu hören. Als du Aphrodite zum ersten Mal gerettet und ihn angeschrien hast, da hat er auf dich gehört. Er hat mehr Zeit mit seiner Schwester verbracht, sich tausendmal dafür entschuldigt, dass er sein Versprechen gebrochen hat und hat noch dafür gesorgt, dass die Fans darauf acht geben sollten, ob jemand im Weg ist, bevor sie sich nach vorne drängen.“, zählte er auf und ich sah stirnrunzelnd auf.

„Als du ihm in diesem Essenraum geraten hast, Aphrodite eine heiße Schokolade am Abend zu trinken zu geben und ihr vorzulesen oder so, hat er es getan. Und jetzt bleibt er in seinem verdammten Zimmer, wie du´s befohlen hast und kommt nicht mehr raus oder besucht seine Schwester, weil er sich alles ausmalt, was für Aphrodite die Zukunft bedeuten würde oder wie es wäre, wenn du seine kleine Schwester nicht gerettet hättest.“ Aufgebracht stand er auf und atmete einige male tief durch, während ich es im Stillen nachtat und konnte nicht fassen, dass meine Worte diesen Rockstar härter getroffen hatten als beabsichtigt.

Na toll, jetzt bekam ich auch noch Schuldgefühle. Für einen Kerl, der beinahe seine Schwester auf den Gewissen hatte.

„Was auch immer du willst, ich gebe es dir. Solange du meinen besten Freund zurückholst und er wieder der Alte wird.“

„Na gut. Ich tue es ja schon. Aber ich verlange nichts für etwas, was ich anscheinend angerichtet habe.“, sprudelte es aus meinem Mund, bevor ich nachdenken konnte und sah böse durch die Gegend.

Na toll. Ich hätte im Bett bleiben sollen.

„Moment. Woher wusstest du, dass ich ihm geraten habe Aphrodite etwas Warmes zu trinken zu geben?“, misstrauend sah ich zu ihm, die Arme nun verschränkt.

„Ich stand nur einen halben Meter weiter entfernt. Der Tisch für den Orangensaft ist ziemlich weit hinten.“ Die Belustigung aus seiner Stimme war kaum zu überhören und ich schüttelte den Kopf.

„Soll ich jetzt gleich zu ihm?“

„Wenn du möchtest. Aber er ist nicht gerade der Morgenmensch, wenn er einen Kater hat.“, meinte Lukas, als er wieder zu uns stieß.

„Tut mir den Gefallen und besorgt Wasser, Orangensaft, richtiges Frühstück und vor allem Handtücher. Er war bestimmt kein einziges Mal unter der Dusche, oder?“

Schweigen. Keine Antwort war auch eine Antwort.

„Falls Müll oder weitere Scherben im Zimmer liegen sollten, holt einen Kehrbesen und Abfalltüten. Geht am besten zur Rezeption und sagt, dass ihr von Rose Jones kommt. Ihr müsstet dann alles bekommen.“, verordnete ich sie an und stand auf.

„Bringt mir am besten doch bitte auch etwas zum Frühstücken mit. Gebt in der Cafeteria bescheid, dass ihr von mir kommt“, bat ich sie.

„Dann wird es wohl Zeit euren Freund aufzuwecken.“, murmelte ich leise und ließ die beiden hinter mir, während ich den Flur entlang lief und bald darauf an seiner Zimmertür ankam.

Ohne anzuklopfen, stieß ich die Tür auf und lief ins Zimmer.

Ohne irgendwie nachzudenken, lief ich zu seinem Krankenbett und zog mit einem Ruck die Decke von ihm. Nun lag sie auf dem Boden.

„Es ist Morgen. Zeit zum Aufstehen.“

Ich tastete mich um sein Bett herum und lief zum großen Fenster und der Balkontür. Wie ich es vermutet hatte.

Mit einem Lauten Geräusch zog ich die Vorhänge beiseite und öffnete die Balkontür, kippte jedoch die anderen Fenster nur.

Sobald etwas frische Luft ins Zimmer kam, fühlte ich mich schon viel wohler.

Vom Bett aus gab jemand Schmerzensgeräusche von sich, doch ich erkannte vom Laut her, dass es nur der Kater und der frühe Morgen waren. Es war eher mehr ein Brummen, als ein Zähneknirschen. Außerdem Roch das Zimmer viel zu sehr nach Alkohol.

„Ich hoffe Sie haben ausgeschlafen.“, meinte ich trocken und drehte mich um und lief durchs Zimmer. Es war genau wie mein altes Zimmer strukturiert, nur verkehrt herum und mir ein, zwei Möbeln mehr. Das fand ich alles hinaus, indem ich unauffällig mit den Fingerspitzen an der Wand und über die Regale fuhr.

„Was tun Sie hier?“, fragte Damien verschlafen und ich konnte hören, wie er sich auf dem Bett leise bewegte. Setzte er sich gerade auf?

„Ihnen einen Gefallen tun. Und jetzt gehen Sie sich duschen und schlucken Sie so viel Wasser wie Sie nur können. Das hilft gegen den Kater und man fühlt sich gleich darauf viel besser.“, belehrte ich ihn. Ein Geräusch vom Rückwärtsfallen war zu hören.

„Trauen Sie sich nicht einzuschlafen. Ansonsten werde ich einen Kübel mit eiskaltem Wasser über Sie schütten. Und jetzt gehen Sie duschen.“, drohte ich ihm wütend zu. Bald darauf hörte ich das Bett quietschen und Füße, die den Boden berührten.

Bevor ich noch mit ihm zusammenstieß oder ihn versehentlich berührte, tappte ich mit leisen Schritten zum Balkon und stützte die Arme auf der Brüstung ab, während ich dem Gezwitscher der Stadtvögel anhörte.

Ich glaubte sogar einen Specht irgendwo hämmern zu hören, aber dies könnte genauso auch eine weit entfernte Baustelle für ein Hochhausgebäude sein.

Die Tür vom Badezimmer ging zu und ich stand noch einige Minuten draußen, über dem Geländer gelehnt, als Stimmen außerhalb der Zimmertür kamen.

„Pass doch auf, du Idiot.“

„´Tschuldige.“

„Ich geb dir gleich dein ´Tschuldige.“, knurrte die Stimme und man klopfte an der Zimmertür.

Innerlich amüsiert öffnete ich die Tür und konnte mit meinen guten Ohren wahrnehmen, wie die beiden einen Schiebewagen? in das Zimmer einfuhren, sobald ich zur Seite gewichen war.

„So, ist alles da.“, meinte Lukas etwas stolz. Für die wenigen Minuten, die sie gebraucht hatten, waren sie wirklich schnell gewesen. Aber wahrscheinlich hat Gabi ihnen ausgeholfen.

„Warte mal…wo ist Damien?“

Die verwirrte Stimme von Brien ließ mich aufhorchen und ich hörte, wie er im Zimmer herum lief.

„Duschen.“, meinte ich und deutete mit dem Zeigefinder auf die Badezimmertür.

Einer von den beiden stieß den anderen.

„Jaja, ich hab´s verstanden. Braucht’s mir nicht unter die Nase zu reiben.“, murmelte Luke genervt und ich fragte mich, was er wohl meinte und worauf Brien angedeutet hatte, dass Luke so antwortete. Entweder hatte ich etwas nicht mitbekommen, oder die beiden meinten etwas, von dem ich keine Ahnung hatte, da ich sie nicht gut genug kannte.

Die zweite Option traf ziemlich gut zu.

Vielleicht hatten die beiden auch nur ihren eigenen Kopf.

„Würdet ihr beide bitte den Tisch anrichten und das Zimmer ein wenig aufräumen?“, bat ich sie lächelnd und es vergingen nur einige Atemsekunden bis ich hörte, wie einer die Sachen aufhob und sie in die Tüte hinein fallen ließ, während der andere sie hielt.

Luke hielt, Brien räumte auf.

Konzentriert lauschte ich, ob Damien noch in der Dusche war und als ich das Wasser noch immer prasseln hörte, nahm ich die Handtücher und ging hinein, sobald ich kurz angeklopft hatte.

Während ich zum Waschbecken ging, hörte das Wasser mit einem Mal auf zu prasseln und Stille erfüllte den Raum.

„Ich lege Ihnen die Handtücher aufs Waschbecken.“, informierte ich ihn schnell und beeilte mich aus dem Bad zu kommen, ohne dass es panisch aussah.

Nur weil ich nichts sehen konnte, hieß es nicht, dass mir manche Dinge nichts ausmachen würden. Und ein Mann ohne Kleidung machte schließlich jeden unruhig, wie wenn es bei einer Frau gewesen wäre. Und die Kabinen waren aus Glas, wenn ich mich nicht täuschte.

„Ich bin gleich wieder da.“, gab ich den beiden bescheid und lief hinaus.

Die Tür schloss sich hinter mir zu, während ich schon den langen Flur hinunter ging und zum Zimmer meiner Mutter lief. Am besten wäre es, wenn ich erst in einer Viertelstunde dort aufkreuzen würde und weiter mache.

Auf ein Peinliches Schweigen hatte ich keine Lust.

„Mama, tut mir leid, dass ich nicht eher gekommen bin, um dir zu sagen, dass ich noch jemandem aushelfen muss.“, entschuldigte ich mich sofort, sobald ich an ihrem Bett war und nach ihren kalten Fingern griff, die meine beinahe kraftlos umfassten.

„Besser später als nie, Rose. Was musst du denn tun?“

Ich erzählte ihr von allem, selbst von meinem ersten Treffen mit den Jungs und von Aphrodite, sowie von der bitte der Jungs und dem geschehenen.

„Dann geh schnell hin, bevor Damien sich wieder ins Koma betrinkt. Das ist nicht gut für solch einen jungen Mann.“, meinte sie mahnend und scheuchte mich nach einem Kuss auf der Wange aus dem Zimmer.

Zum Glück hatte ich mir vorher noch meinen Rucksack geschnappt und lief den Weg wieder zurück ins Zimmer.

Im Raum roch es nun angenehm und der frische Mai Wind tat auch etwas gut und hinterließ angenehme Luft um einen herum, sodass man sich wie auf einer Feldwiese vorkam.

Am liebsten wollte ich hier noch länger stehen, aber die Tür vom Badezimmer öffnete sich und ich hörte eine Person hinaus spazieren, die jedoch in der Bewegung innehielt und dessen Atem auch stockte.

„Sind Ihre Bandmitglieder schon gegangen?“, begrüßte ich ihn und wandte mich mit dem Körper leicht in seine Richtung, während der Wind über meine offenen Haare fuhr.

„Ja, sie sind gegangen.“, meinte er etwas verwirrt und ich nickte langsam. Gut zu wissen.

Als keiner von uns etwas sagte, lief ich zum Tisch im Zimmer und nahm auf eines der beiden Stühle Platz, welche sich gegenüber standen. Ich wählte den in Richtung Fenster, da dort mein Frühstück abgestellt war und weil Brien mir vorhin noch gesagt hatte, dass er es dort abstellen würde, als ich kurz weggetreten war.

„Setzten Sie sich doch. Nach dem Kater wäre es besser, wenn Sie etwas zu sich zunehmen würden.“

Schritte kamen in meine Richtung, hielten an, ein Stuhl wurde zurück geschoben und er setzte sich hin. Sein Blick brannte auf meiner Haut.

Ich nahm meinen Croissant vom Teller und biss hinein. Kauend leckte ich mir leicht über die Lippen, da ich Brösel drauf befürchtete, aber dem nach war es nicht so.

Noch immer rührte Damien sich nicht und ich sah zu ihm auf, während ich alles hinunter schluckte. „Alles in Ordnung mit Ihnen?“

„Hm?...Äh, ja. Alles bestens.“, brachte er gedankenversunkend heraus. Ich hörte, wie er sein Brötchen aufschnitt und spürte immer wieder seine Blicke auf mir.

„Brien hat Ihnen von mir erzählt.“, stellte ich fest und nahm einen Schluck von meinem Tee.

Jeder in der Cafeteria wusste, wie ich mein Frühstück haben wollte und richtete es immer so an, dass ich wusste, auf welcher Uhrzeit etwas wo lag.

„Woher…?“, setzte er an, doch sprach nicht zu Ende. Wir kannten beide das Ende.

„Instinkte. Außerdem schauen Sie mich die ganze Zeit an und bewegen Ihren Körper viel zu auffällig. Sie machen sich ziemlich viel Mühe mich jedes Geräusch wahrnehmen zu lassen.“, gab ich schulterzuckend zu und rückte den Stuhl näher an den Tisch, sodass ich meine Ellenbogen bequemer abstützen konnte.

„Und woher wollten Sie wissen, dass es Brien war?“, seine Neugier brachte mich beinahe zum lächeln.

„Weil er der einzige war, den ich nicht darum gebeten habe es weiter zu sagen. Ihre Schwester und Lukas haben nichts ausgeplaudert.“

„Hm…“, meinte er nachdenklich und während ich schweigend weiter frühstückte, strich er noch immer sein erstes Brötchen.

Irgendwann war selbst mein Magen satt und ich lehnte mich zurück, während ich ab und zu von meinem Tee trank.

Irgendwann lehnte auch Damien sich zurück und erneut spürte ich seinen Blick auf mir.

„Dürfte ich Sie etwas fragen?“

Überrascht sah ich zu ihm.

„Es kommt ganz auf die Frage an.“

Ich spürte, dass er zögerte. Stirnrunzelnd wartete ich die Frage ab.

„Sie sehen nicht aus, als ob Sie hier arbeiten würden und dennoch tanzt jeder nach Ihrer Pfeife. Als…als Aphrodite in Behandlung war, da hatten sie ein Krankenschwesterkostüm an…Und nun bin ich ein wenig verwirrt. Sind Sie hier jetzt angestellt?“, fragte er ab und zu stocken nach und ich lächelte leicht.

„Nein, bin ich nicht. Ich bin keine Angestellte.“, meinte ich schulterzuckend und lehnte mich leicht zurück.

„Wissen Sie. Ich bin in dieses Krankenhaus mit sieben Jahren gekommen, als meine Blindheit frisch anfing. Meine Mutter, sowie mein Bruder und ich zogen hier her. Dies war das einzige Krankenhaus in der Nähe, welches mich behandeln konnte und zudem auch noch von der Krankenversicherung abgenommen wurde. Ich habe hier fünf Jahre meines Lebens gewohnt, bis ich vollkommen erblindete. In diesem Krankenhaus kannte man mich. Vor allem, weil ich die meisten hier angerempelt habe. Es dauert aber seine Zeit, um Schritte zählen zu können, die Beine in einem Gleichmäßigen Abstand aufzusetzen und sich auf die Geräusche um einen herum Vertraut zu machen. Aber ich habe es irgendwie geschafft.“

Ich nickte leicht, während ich nachdenklich erzählte.

„Irgendwann habe ich mir unbewusst einen Namen im Krankenhaus gemacht. Seitdem respektieren mich viele Leute und nehmen meine Meinungen viel ernster, als von anderen. Jedoch kennt auch keiner das Krankenhaus, die Ärzte oder Krankenschwestern und Patienten so gut wie ich.“

Lächelnd trank ich einen Schluck aus meiner kalten Tasse und stellte sie ab.

„Jetzt besuche ich jeden zweiten Tag meine Mutter und stehen ihr beiseite, während der Tod an ihr sich einen Narren gefressen hat.“, flüsterte ich leise und sah nach unten.

Wie gern würde ich wieder meine Mutter von damals haben.

Wie gern hätte ich es, wenn sie nicht mehr leiden musste.

Wie gern wollte ich, dass sie nicht sterben musste.

Aber leider wollte man mir nie meine Wünsche erfüllen, wenn es um meine Mutter ging.

Sie hatte ihr Leben lang nicht viel Glück gehabt und wurde immer wwieder mit Schlimmen Dingen konfrontriert. Und dennoch biss sie jedesmal die Zähne zusammen, wenn ich da war. Sie war eine Kämpfernatur und wollte nie, dass ich von ihren Schmerzen etwas mitbekam.

Sie sollte Leben und nicht sterben. Ich würde sogar freiwillig für sie sterben, nur damit es ihr gut ginge, aber wahrscheinlich würde meine Mutter mich an einen Baum fesseln, damit ich nicht einmal die Gelegenheit dazu hatte.

Traurig sah ich nur die Schwärze vor Augen, die ein Teil von mir geworden war.

„Tut mir leid.“, meinte er leise und ich zuckte leicht zusammen. Ich hatte tatsächlich vergessen, dass er noch im Raum war. Seine Stimme. Ich war mir sicher, dass ich sie niemals in meinem Leben vergessen würde. Im Gegensatz zu seiner Anwesenheit.

„Es muss Ihnen nichts Leid tun. Sie haben sie noch nie getroffen, um dies ehrlich meinen zu können.“, wehrte ich sein Mitleid ab und schüttelte den Kopf.

„Aber ich merke doch, wie es Sie mitnimmt. Da kann ich einfach nicht wegsehen und so tun, als wäre nichts.“

„Danke. Und mir tut es auch leid.“, flüsterte ich kaum hörbar und biss unsicher auf meine Unterlippe.

„Was tut Ihnen denn Leid?“, verwundert erklang seine Stimme im Zimmer und ich atmete kurz durch, bevor ich anfing zu sprechen.

„Ihr Zustand, an dem ich Schuld bin.“

Stille.

„Ich bereue kein Wort, welches mein Mund verlassen hat, aber ich war zu hart und habe meine Wut ganz an Ihnen ausgelassen. Dies hatte Folgen und ich hoffe Sie können mir verzeihen.“, meinte ich ehrlich und wurde bei den letzten Worten immer leiser.

„Sie hatten recht. Ich war ein riesen Arschloch, als ich Aphrodite spielen lassen habe und weggegangen bin, als ein Anruf kam. Weder habe ich bemerkt, dass sie nicht mehr da war, oder als es stürmte. Erst als ich eine Stunde später nach ihr in meinem Zimmer sah, bekamen wir den Anruf, dass sie sich in der Notaufnahme befinden würde.“

Ich konnte hören und spüren, dass er sich ziemlich schlecht fühlte.

„Sie haben das Leben meiner Schwester gerettet und ich habe mich noch nicht bei ihnen bedankt.“, meinte er traurig und ich sah auf den Tisch.

„Ich danke Ihnen, Rose. Mehr als Sie vermuten können.“, bedankte er sich und ich lächelte leicht.

„Das habe ich gern getan.“, winkte ich bescheiden ab und versuchte mein Herz zu beruhigen.

Kaum nahm er meinen Namen in den Mund und ich fühlte mich, als würde ich noch kaum sitzen können. Außerdem floss mein Blut zu schnell zu meinem Puls, welches mit meinem Herz im schnellen Takt pochte.

Zwar fühlte es sich nicht lebensbedrohlich an, aber ich war dennoch verwirrt über dieses angenehme Gefühl.

„Wie geht es Aphrodite?“, fragte ich, um auf andere Gedanken zu kommen.

„Soweit ich weiß, war sie seitdem noch immer etwas Erkältet und gestern Abend ging es ihr schon so gut, dass sie mit meiner Mutter und unserem Hund spazieren gegangen sind.“, informierte er mich und ich war erleichtert.

„Wie heißt Ihr Hund?“

„Flips. Er ist dauern ausgeflippt, sobald er uns gesehen hat und als Aphrodite erst gelernt hatte zu sprechen, kam der Name heraus, als sie versucht zu sagen, dass er ausflippt. Er ist Flips, hat sie jedes Mal gesagt und seitdem blieb der Name. Noch heute rennt er rum wie am ersten Tag ihrer Geburt.“, erklärte er und ich konnte das Grinsen aus seiner Stimme heraus hören.

Selbst ich musste lächeln, während ich zuhörte.

„Wie hieß er vorher?“

„Ob Sie es glauben oder nicht, aber wir haben ihn Benjamin Franklin getauft. Er fraß immer die Aufsätze über Benjamin – für die Schule – auf. Außerdem schien er ziemlich begeistert von Ben zu sein. Vor allem, wenn er einen Hundert Dollar Schein fand, den mein Vater Zuhause liegen lassen hatte, wenn er wieder mal aus dem Ausland zurück kam. Manchmal spinnt der Hund aber auch nur.“, meinte er leise lachend und ich bekam das Lächeln nicht mehr aus meinem Gesicht.

Plötzlich klopfte jemand eine Spur zu heftig an der Tür und ich zuckte leicht zusammen. In letzter Zeit wurde ich echt unaufmerksam.

Die Tür wurde geöffnet und ich konnte Schritte von hohen Absatzschuhen wahrnehmen. Es schien geradezu, als hätten diese Schuhe ein Echo, denn sie schienen viel  lauter, als sie eigentlich sein sollte. Kurz darauf explodierte die Bombe.

„Habe ich dir nicht gesagt, dass du nicht noch mehr Skandale aufdecken solltest? Jetzt haben wir eine Titelseite von einem Mädchen im BH, welches deine Schwester durch die Gegend trägt. Was soll die Scheiße?“

Es musste eine Frau Mitte Zwanzig oder gerade erst Dreißig sein, nicht älter oder viel jünger. Dafür waren ihre Bewegungen zu gewohnt, ihre Stimme noch normal und sie war jemand der gerne hohe Schuhe trug. Anscheinend war sie auch noch Single. Fürs Krankenhaus hätte man auch flache Schuhe anziehen können, aber diese Frau war bestimmt darauf gewappnet jemand Neuen kennenzulernen.

Erst jetzt ratterte mir ein, was sie gesagt hatte und mir klappte der Mund auf, dann wieder zu.

Warum musste denn nur eine berühmte Band im Krankenhaus sein und nicht Leute, die hier einfach Lebten und unbekannt auf der Welt, oder zumindest in Deutschland waren?

Leise stöhnte ich auf und stand auf. Ich hatte Anrufe zu erledigen.

„Dein ernst? Noch eine Schlampe, die es nur auf deine Berühmtheit abgesehen hat? Wer ist sie, damit ich sie wegschicken kann?“, wollte sie angepisst wissen und ich wandte mich in ihre Richtung um.

„Das Mädchen auf der Titelseite.“, meinte Damien und in Gedanken verfluchte ich ihn. Konnte er sich nicht besser ausdrücken.

Stille herrschte im Zimmer.

Ich kam nicht umhin zu denken, dass sie die Managerin war. Dazu waren meine Instinkte viel zu gut, als das ich mich täuschen könnte.

„Ich denke, ich muss Sie verbessern. Ich habe Aphrodite an dem Tag davor gerettet in einer Schlamm- und Wasserschicht stecken zu bleiben. Ich habe ihr meine Kleidung über gezogen, damit sie nicht unterkühlt und weit höhere Lebenschancen hatte, als mit durchnässten Sachen. Außerdem habe ich nicht mit ihm geschlafen, sondern ihn davor bewahrt sich ins Koma zu Saufen. Und nun werde ich dafür sorgen, dass die Titelbilder verschwinden, damit Sie ihre Ruhe haben und ich nicht von der Presse verfolgt werde.“, stellte ich gerade hin und lief zum Krankenbett, auf dem ich meine Tasche abgestellt hatte.

„Glauben Sie mir, Süße. Ich habe schon alles versucht, aber ein Unbekanntes Mädchen wie du wird wohl kaum so etwas schaffen, wenn selbst ich es nicht hinbekommen habe. Als Managerin der bekannten Band Black Roses.“, meinte sie spöttisch und ich hob kurz meine Augenbraue.

Schnell kramte ich mein Handy heraus und wählte eine Nummer auf meinem Handy, dabei deutete ich mit dem Zeigefinger auf den Lippen, dass sie ruhig sein sollten.

„Wagner.“, meldete sich die gut gelaunte Stimme im Zimmer, da ich auf Laut gestellt hatte. Es knisterte meistens in meinem Ohr, wenn ich beim Telefonieren das Handy ans Ohr hob.

„Ich bin es, Rose Jones. Tun Sie mir den Gefallen und schaffen das Bild von mir aus allen Zeitungen, Internetseiten und Mobilen Geräten. Setzten Sie allen ein Strafgeld aus, die dieses Bild hinausgebracht haben. Nehmen Sie die Summe, die wir für ein eigentliches Foto von mir bekommen und verdoppeln Sie es, wenn Sie schon das Strafgeld rausschicken.“, begrüßte ich ihn und wartete ab.

„Das würde klar gehen, wenn Sie mir nur noch sagen, um welches Bild es sich handelt.“, bat er eiligst und ich atmete kurz ein.

„Soweit ich erfahren hab, bin ich mit nur einem BH zu sehen und trage die Schwester vom Bandmitglied Damien Kaye der Band Black Roses. Verbrennen Sie von mir aus die Restlichen Zeitungen, die es auf jedem Kontinent gibt. Schicken Sie mir eine Quittung von allen gekauften Zeitungen Weltweit. Geht das klar?“, abwartend sah ich in die Richtung meines Handys.

„Natürlich, Frau Jones. Morgen sollten alle Beiträge und Fotos dazu verschwunden sein. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag und grüßen Sie Angela von mir.“, meinte Herr. Wagner geschäftsmäßig und ich nickte. 

„Meine Mutter wird Sie bestimmt zurück grüßen wollen. Auf Wiederhören.“, damit legte ich auf und steckte das Handy in meine Tasche zurück.

„Jetzt sind Sie die Titelblätter los.“, meinte ich seufzend und setzte mich wieder hin, da mir das herumstehen zu blöd wurde.

„Moment. Sind Sie doch nicht etwa die Tochter von Angela Jones?“, erschrocken lief die Frau zu mir herüber und ich konnte spüren, dass sie vor dem Tisch stand und mich anstarrte.

„Doch, die bin ich.“, meinte ich leise und verschränkte meine Hände auf meinem Schoß.

„Ich muss mich für mein Auftreten entschuldigen. Ich bin Gina van Hamington, die Managerin der Band. Es ist mir eine Ehre Sie kennen zu lernen.“

Ich spürte einen Windhauch vor mir und wusste, dass sie mir ihre Hand reichte.

Innerlich seufzend schüttelte ich die ihre und lächelte sie höflich an.

„Nett Sie kennen zu lernen.“

Kaum sprach ich die Worte aus, da klopfte es erneut an der Tür. Stirnrunzelnd sah ich zur Tür auf.

„Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber könnte ich bitte Rose entführen? Wir brauchen Hilfe.“, sofort war ich Alarmiert und stand auf.

„Was ist passiert?“

„Eines der Säuglinge kann sich nicht mehr beruhigen und wir haben Sorgen, dass einige Organe vielleicht falsch zusammengewachsen sind, aber wir können ihn nicht ruhig stellen. Die Mutter ist nahe an einem Nervenzusammenbruch. Außerdem isst das Baby nichts, selbst Muttermilch verweigert es.“, ratterte Isabella, die italienische Krankenschwester hinunter und ich schnappte schnell meine Tasche.

„Dann sollte ich mich wohl mal beeilen. Sind die anderen Babys aufgeschreckt?“

„Nein, noch nicht. Ich hätte dich nicht gerufen, wenn es nicht wichtig wäre.“, entschuldigte sie sich, doch ich winkte ab.

„Die Patienten sind wichtiger als meine Freizeit.“

„Warten Sie. Ich komme mit.“, hörte ich Damien sagen und erstaunt drehte ich mich um.

„Wenn Sie möchten. Aber beeilen Sie sich lieber.“, meinte ich etwas ungeduldig und bald darauf fuhren wir mit dem Fahrstuhl nach unten.

Ich atmete einige Male durch, erst dann stieg ich aus und besann mich zur Beruhigung.

Nun konnte ich helfen.

 

Eine Kleinigkeit verrät oft mehr von dem Charakter eines Menschen als eine große Tat.

 

  • Friedl Beutelrock

 

Mein Blick konnte sich einfach nicht von ihr Abwenden. Viel zu sehr war ich erstaunt darüber, was gerade geschah.

Rose hob das schreiende und um sich herum strampelnde Kind hoch und sprach leise auf es ein, während sie es vorsichtig auf ihre Brust legte und leicht wiegte.

Das Baby war vielleicht erst einige Wochen alt und schrie wie ein Weltmeister, doch sobald es auf Roses Armen war, verstummte es nach und nach.

Alle Erwachsenen im Raum hielten den Atem an und ich sah kurz zu der Mutter des Kindes, welche erleichtert in den Armen ihres Mannes sank.

Als ich jedoch wieder zu Rose sah, fiel mir auf, dass jeder im Raum lächelte. Man musste nicht der letzte Idiot auf Erden sein, um zu begreifen, dass Rose die Gabe hatte mit jedem Kind klar zu kommen, selbst wenn es noch ein kleines Baby war.

Während ich sie genauer betrachtete, fiel mir auf, dass sie nun leise tonlos lachte und dann zu uns aufsah.

Sie kam mir keines Weges Blind vor. Dafür strahlte die blaue Farbe ihrer Iris eine zu schöne Farbe aus. Jedoch wurde ich davon abgelenkt, als sie den Mund öffnete, um etwas zu sagen.

„Tun sie mir alle den Gefallen und Lachen nicht, wenn jetzt gleich etwas passiert. Dem Baby geht es gut, aber…“, sie ließ den Satz unvollendet und wir sahen Fragend zu ihr, während sie etwas mit dem Baby machte und bald darauf hörte ich das Geräusch von einem leisen Furz.

Ungläubig sah ich wieder hin und erneut ertönte das Geräusch.

Schnell bis ich mir auf die Lippen, um nicht loszulachen und sah zu den anderen.

Die Mutter des Kindes sah mit geröteten Wangen zu uns allen und musste sich selber anscheinend verkneifen zu Lachen, wie auch der Rest in diesem Raum.

„Gut gemacht, mein kleiner. Ich bin stolz auf dich.“, flüsterte Rose zum Baby und wandte sich wieder zu uns um.

„Man bekommt schlimme Krämpfe im Körperinneren, wenn man es nicht schafft zu Furzen. Deshalb ist ihr Baby auch so unruhig gewesen und hat herum geschrien. Am besten wäre es, wenn Sie ihn gleich Füttern. Er muss großen Hunger haben, nach all der Anstrengung.“, meinte sie an die Eltern gewandt und reichte ihnen ihr Baby.

„Du kleiner Stinker, du.“, schimpfte die Mutter mit ihm, aber sie hatte Tränen in den Augen. Sehr wahrscheinlich, weil es ihrem Baby gut ging und sie sich keine Sorgen mehr um seine Gesundheit machen musste. Ein schöner Anblick.

Ich sah dabei zu, wie Rose dem Baby kurz einen Kuss auf die Stirn gab und dann höflich einige Schritte zurück ging.

„Danke.“, flüsterte ihr die Krankenschwester zu, die Rose gerufen hatte und ich sah, wie das Mädchen die Hand hob und abwinkte.

„Du weißt, dass ich solch etwas gern tue. Ich bin froh, dass es nicht mehr war. Der Arme musste ziemlich viel einstecken. Aber jetzt  können wir alle aufatmen.“

Es blieb still zwischen den beiden und dann legte Rose der Krankenschwester auf die Schulter.

„Wehe du weinst jetzt. Es geht ihm gut und er wird auch wieder richtig zu Kräften kommen.“

„Ich könnte es nicht sehen, wenn ein Baby stirbt. Du hättest dabei sein sollen, als er nur noch geweint hat und sich nicht mehr beruhigen konnte. Ich bin nur so…so Erleichtert.“, meinte die Krankenschwester mit zittriger Stimme und drehte sich schnell weg, bevor sie in Tränen aufbrechen konnte.

Unbewusst legte sich ein Lächeln auf meine Lippen und ich sah zum Baby, welches unter einem Tuch an der Brust der Mutter nuckelte.

Schnell sah ich zur Seite, damit keine weiteren peinlichen Momente auftauchen mussten und wandte mich zur Schwarzhaarigen Schönheit neben mir.

Heute Morgen hatte ich geglaubt zu träumen, als sie plötzlich vor meinem Bett stand und mich aufweckte. Doch als ich mich dann unauffällig in den Arm gezwickt hatte, merkte ich schnell, dass dies die Realität war und war umso überraschter.

Und als sie auch noch ins Badezimmer kam. Ich hatte für einen Moment vergessen, dass sie nicht sehen konnte, als sie aus dem Badezimmer beinahe geflüchtet war, auch wenn sie es nicht so aussehen lassen wollte.

Es war beinahe so, als wäre sie ziemlich Verlegen.

Alles was ich nur noch tat, war gleich darauf kalt zu duschen und hoffentlich normale Gedanken zu haben, als diese Schönheit in meinen Armen.

Ich hoffte bloß, dass ich nicht lange auf dies Art von Interesse an ihr hegte, ansonsten konnte ich den Rest der Zeit hier kalt duschen gehen. Und angenehm war das nicht immer. Vor allem jetzt im Mai, wo alles noch so frisch. Einerseits verfluchte ich die Glastüren der Dusche und andererseits würde ich eine kalte Dusche gerne in Kauf nehmen, wenn sich dieser Moment wiederholen sollte war vom Winter.

Innerlich schüttelte ich heftig den Kopf und versuchte zu begreifen, worüber ich hier eigentlich nachdachte. Was war nur mit mir los?

Kaum tauchte Sie auf, dachte ich schon ununterbrochen von ihr. Und dank dessen, das ich an sie dachte, wuchs mein Interesse ihr gegenüber immer mehr.

Das durfte ich nicht mehr zulassen und musste aufpassen. Mehr als zuvor.

Warum ich mein Blick jedoch nicht von ihr lassen konnte, war noch immer ein großes Fragezeichen für mich.

Jedoch wusste ich nicht, ob ich jemals die Antwort darauf wissen wollte.

 

Die Welt nötigt uns zur Angst. Angst ist nicht eine Schwäche des Urteils, sondern sie ist eine zutreffende Erkenntnis.

 

  • Carl Friedrich von Weizsäcker

 

 

Erschöpft lief ich die Stufen der Treppe hinauf und versuchte nicht im gehen oder stehen einzuschlafen.

Irgendwann war ich einfach gegangen, ohne mich bei Damien zu verabschieden und hatte kurz bei meiner Mutter vorbei gesehen.

Schließlich bin ich den Weg Nachhause gelaufen und hing die ganze Zeit in Gedanken daran, dass heute ein Merkwürdiger Tag war. Abgesehen von den Autos, die noch immer verärgert hinter mir hupten, da ich an einer falschen Stelle den Zebrastreifen vermutet hatte. Eine Person sagte mir, dass er gute Zehn Meter weiter weg ewesen sei.

Ich musste wirklich aufpassen. Vor allem das Nachdenken machte mir sorgen und mein Kopf schwirrte nur noch davon, sodass ich nicht einmal mehr im hier und jetzt war.

Ich hatte diesem Damien Key ein Teil meines Lebens erzählt. Normalerweise wusste so gut wie niemand etwas von mir und ich erzählte zum zweiten Mal in diesem Monat zwei Fremden Menschen etwas von mir.

Na gut, was ich Brien erzählt hatte, war etwas anderes, aber es ging dennoch in diese Richtung. Sobald ich die beiden wieder sehen sollte, oder Lukas, dann musste ich auf Abstand bleiben.

Außerdem verwirrte mich noch immer dieses Gefühl.

Sobald ich die Stimme von Damien hörte, schlug mein Herz schneller und ich hatte Angst ihn zu berühren.

Angst davor etwas zu spüren, was nicht da sein sollte?

Ich verstand es nicht, aber alles in meinem Inneren warnte mich davor. Als würde es nichts Gutes und gleichzeitig etwas Unbeschreibliches bedeuten. Hoffentlich verstand ich bald, was mein Verstand und Herz mir sagen wollten.

Irgendwann mussten sie zu einem gemeinsamen Klang kommen.

Gestresst und kaputt von all den verwirrenden Gedanken, die mich seit dem Nachhauseweg verfolgten, stieg ich die letzten Stufen auf und verschwandt in meinem Zimmer.

Meine Hand wanderte zu meinem I Pod, welcher wie immer auf der Kommode lag und steckte mir die Ohrstöpsel in die Ohren.

Mit geschlossenen Augen ließ ich mich auf mein Bett fallen und genoss das Gefühl der weichen Federn unter mir.

Müde wie ich war, schlief ich mit der Musik in meinen Ohren ein und träumte, was es zu Träumen gab.

 

Mein Zwölfter Geburtstag.

Ich seufzte und sah aus dem Fenster. Ich konnte kaum noch die Bäume erkennen. Nur die Umrisse und das schlechte grün, welches mehr grau und veraltet wirkte. Dabei hatten wir Ende Sommer.

Bald würde ich gar nichts mehr sehen.

Ich hatte Angst. Nein, Angst war das Falsche Wort.

Viel eher hatte ich das Gefühl Rückwärts in eine tiefe Grube zu fallen und nie zu wissen, wann ich am Boden ankomme.

Gleichzeitig habe ich Angst vor den Schmerzen, die mich erwarten werden, sobald ich auf dem Betonboden aufkomme.

Wer sagt denn, dass es ein Betonboden sein muss, wenn ich doch in eine Grube falle?

Und genau das machte mir Sorgen.

Genauso gut könnte es Wasser sein. Was, wenn ich durch den Schock vergessen hatte zu atmen oder mich nicht von der Starre lösen konnte?

Ich kann einfach nicht vorhersehen, was als nächstes geschieht oder passieren wird.

Ich sah wieder aufs Bett, wo meine Mutter mit verschränkten Armen im Sessel eingeschlafen war.

Meine Augen wanderten von ihr zur Uhr.

Tack, Tack, Tack, Tack, Tack…

Leicht pendelte ich zum Takt hin und her.

Nun war eine Minute vergangen. Ich war  nun zwölf Jahre und eine Minute alt.

Wie alt würde ich wohl werden?

Traurig sah ich auf meine Kommode. Familienfotos waren drauf. Wie wir alle in die Kamera lächelten.

Jeremy, Mom und ich. Und dann war dort noch eines mit Oma.

Sie war erst letzte Woche gestorben. Und Ich, ich durfte nicht zur Beerdigung gehen.

Dabei wollte ich so sehr noch ein letztes Mal Omas Lieblingsplatz sehen, wo sie begraben wurde. Oma hasste Friedhöfe.

Sie meinte immer, dass dort schon genug tauschende Tote lagen, die keinen wichtigen Ort für sich selber hätten.

Meine Augen fingen an zu schmerzen.

So fest ich konnte, biss ich die Zähne zusammen, damit Mama nicht aufwachte. Meine Hände und Fingernägel krallten sich tief durch die Decke und Matratze.

Ich wusste, dass es nun soweit war.

Warten wollte ich auch nicht mehr.

Dazu hatte ich schon zu viel durchgemacht.

Tränen fielen von meiner Wange auf meine Brust. Die Nässe störte und ich wollte sie am liebsten wegwischen, wenn nicht erneut ein Schmerzensstoß meine Augen durchfuhr.

Schließlich hörten sie mit einem Mal auf.

Die Augen noch immer zusammen gepresst, versuchte ich ruhig ein und aus zu atmen.

Wie ich mich beruhigte, die Tränen aber nicht fortschaffte, fand ich nicht heraus, aber als ich langsam blinzelte, hielt ich den Atem an.

Schwärze.

Sie hatte mich eingehüllt.

Nun war ich ein Teil von ihr und sie ein Teil von mir.

Endlich.

 

Keuchend schlug ich die Augen auf und versuchte irgendetwas zu sehen, doch da war nichts.

Nur Schwärze.

Gerade endete ein Lied von Feeder. Zittrig bewegte ich mich auf dem Bett und versuchte einiger Maßen mich zusammen zu reißen. In meinem Ohr spielte mein I Pod noch immer weiter vor sich hin die Lieder. Ich war anscheinend eingeschlafen.

Schweißnass legte ich mich zurück und lehnte meinen Kopf gegen das Kissen. Bei den ersten Melodien des neuen Liedes, versuchte ich atemlos mitzusingen ohne dabei zu weinen. Aber bald zitterten meine Lippen, die Tränen flossen schon.

„Call you up in the middle of the night. Like a firefly without a light. You were there like a blow torch burning. I was a key that could use a little turning. So tired that I couldn´t even sleep. So many secrets I couldn´t keep. Promised myself I wouldn´t weep. One more promise I couldn´t keep. It seems no one can help me now. I´m in too deep. There´s no way out. This time I have really led myself astray. Runaway train never going back. Wrong way on a one-way track. Seems like I should be getting somewhere. Somehow I´m neither here nor there. Can you help me remember how to smile? Make it somehow all seem worthwhile. How on earth did I get so jaded? Life´s mystery seems so faded. I can go where no one else can go. I know what no one else knows. Here I am just drowning in the rain, with a ticket for a runaway train. And everything seems cut and dry. Day and night, earth and sky, somehow I just don’t believe it. Runaway train never going back. Wrong way on a one-way track. Seems like I should be getting somewhere. Somehow I´m neither here nor there.”

Leise sang ich mit und bewegte den Kopf im Takt, während mir weiterhin die Tränen aus den Augen flossen.

„Bought a ticket for a runaway train. Like the madman laughing at the rain. Little out of touch, little insane. It´s just easier than dealing with the pain. Runaway train never going back. Wrong way on a one-way track. Seems like I should be getting somewhere. Somehow I´m neither here nor there. Runaway train never coming back. Runaway train tearing up the track. Runaway train burning in my veins. I run away, but it always seems the same.”

Der letzte Ton verklang und ich nahm die Ohrstöpsel aus meinen Ohren.

Mein Kopf pochte, mein Herz spielte noch ein wenig verrückt und ich versuchte nicht daran zu denken, was das Lied auszusagen zu hatte.

Noch mehr den Kopf über die Vergangenheit zu zerbrechen war nicht gut für mich. Vor allem für meine Seele.

Ich war auch nur ein Mensch. Ein Mensch mit einer Vergangenheit, die einen nicht mehr losließ. Wie denn auch, wenn ich doch jedesmal daran erinnert wurde, sobald ich die Augen öffnete.

Kopfschüttelnd versuchte ich den schlechten Sarkasmus in meinem Gehirn weg zu schütteln.

Wach und mit wenig Schlaf, stand ich auf und ging so leise wie möglich die Treppen hinunter.

Auch wenn ich im Moment nicht wusste, ob Sophie wach war, wollte ich nichts riskieren.

In der Küche bereitete ich mir heiße Schokolade zu, die ich in einen Reisebecher eingoss.

Es kam vor, dass mir die Tassen aus der Hand fielen und meistens bekamen die Wände und Teppiche etwas ab. Aus diesem Grund musste ich mit diesen Reisebechern im Haus trinken, wenn ich vorhatte herumzulaufen oder in mein Zimmer zu gehen. Meistens liebten die Treppen meine Füße viel zu sehr.

Beim Frühstücken kam die Tasse zum Einsatz. Eine nette Abwechslung.

Nachdem ich einige Schlucke getrunken hatte, meldete sich meine Blase und ich beeilte mich die Treppe nach oben zu gehen. Bald darauf konnte ich erleichtert ausatmen.

Irgendwo klingelte etwas. Ich konzentrierte mich auf das Geräusch und nach und nach kam mir das Geräusch vertraut vor.

Shit. Das war das Haustelefon.

Schnell stand ich auf, zog meine Kleider zu Recht, wusch mir die Hände und öffnete schnell die verschlossene Tür.

Die Mailbox meldete sich und ich hörte gebannt zu, während ich die letzten Stufen hinunter tapste.

„23.48Uhr-Hey, Rose. Ich bin´s Sophie. Deine Mutter hat vorhin angerufen, als du geschlafen hast und ich bin jetzt im Krankenhaus. Ich hoffe du hörst das und ich wollte dir nur sagen, dass jetzt alles wieder in Ordnung ist. Also bis später.“

Ein langes Piepen ertönte.

Genauso gut hätte dies mein Herzschlag sein können.

Schnell rannte ich die Treppen hoch, sobald ich wieder meinen Herzschlag gefunden hatte, rappelte mich schnell wieder auf, als ich eine Stufe vergaß. Die Zimmertür knallte gegen die Zimmerwand und ich schnappte mir schnell meine Tasche, Kapuzenjacke und meinen Blindenstock.

Kurz überlegte, ob ich noch Bargeld holen sollte.

„Ach.“, verzweifelt lief ich zum Safe und nahm einige Hunderte Scheine.

Wer wusste, ob ich dieses Wochenende überhaupt wieder nachhause kommen würde.

Der Gedanke daran ließ mich wieder inne halten und ich riss die Schubladen auf, während ich die Kleider, Strümpfe und Unterwäsche in den Rucksack stopfte.

Nebenbei rief ich eine Taxistation an und befahl, dass jemand in weniger als fünf Minuten da sein sollte.

Erneut in der Küche angekommen, floss mir das Blut regelrecht durch den Kopf und ich zwang mich zu einer kleinen Pause.

Mit der Hand griff ich nach dem Reisebecher und trank einen Schluck, von der heißen Schokolade, während ich den Hausschlüssel einsteckte und dann das Haus verließ, nachdem ich die Haustür verschlossen hatte.

Obwohl es so spät in der Nacht war, hörte ich einige Autos durch den Regen fahren und es dauerte nicht lange, als jemand schon neben mir anhielt mit einem merkwürdigem Quitschen anhielt.

Mit der Kapuzenjacke überm Kopf, stieg ich schnell ein und gab eiligst dem Fahrer die Adresse.

Mit beiden Händen klammerte ich mich an den Becher, die die einzige versöhnliche Wärme um mich herum war und tippte ungeduldig mit den Fußspitzen auf den Gummiboden.

Der Fahrer war so freundlich mich bis zum Eingang zu fahren und ich reichte ihm einen fünfziger, stieg schnell aus und schulterte meinen Rucksack zu Recht, bevor ich das Krankenhaus betrat.

Meine Schritte hallten als die einzigen im Krankenhaus Empfangssaal und zielten direkt zur Rezeption.

„Ist meine Mutter, Angela Jones, noch in ihrem Zimmer oder wurde sie verlegt?“, sprudelte es schon aus meinem Mund, bevor die Frau hinter der Glasscheibe und dem Tresen mich begrüßen konnte.

„Sie wurde vor drei Stunden in die Intensivstation gebracht, Frau Jones. Wenn ich mich nicht täusche, dann müsste sie dort noch sein. Soll ich Sie hinbringen?“, begrüßte mich die Krankenschwester Nina ebenso und ich nickte.

Es gab etwa fünf von diesen Intensivräumen, wenn ich mich nicht täuschte. Da konnte man sich schnell verirren.

Wir beide liefen durch die Gänge, bis ins Hinterste Winkel des Krankenhauses und irgendwann kamen wir in dem abgetrennten Raum an.

Ich hörte Sophie telefonieren. Anscheinend hatte sie mich noch nicht bemerkt.

Ich verabschiedete mich leise von Nina und dankte ihr noch einmal, bevor ich leise den Raum betrat.

Vorher sterilisierte ich jedoch meine Hände und zog mir Schutzkleidung über. Es war nicht mehr als eine Schürze, in der Art.

Die Geräusche von Schläuchen und Beatmungsgeräten gingen in einem gleichmäßigen Takt. Ganz wie das Piepen von ihrem Herzschlag, der jedoch Millisekunden früher zu hören war.

Ich bemühte mich die Tränen zu unterdrücken und lief weiter zum Bett und tastete nach der Hand meiner Mutter.

Ich griff nach ihrer Hand. Sie war eiskalt.

Alle fünf Minuten wechselte ich die Bettseite, um ihre Hände aufzuwärmen.

Wärmeflaschen konnten wir nicht benutzen, da die Haut meiner Mutter seit dem Krebs ziemlich empfindlich war.

Es kam vor, dass sie von Operationen oder Schläuchen im Magen Entzündungen bekam.

Einer hätte sie sogar beinahe umgebracht.

Mein Körper zitterte. Abrupt schloss ich die Augen und versuchte an das positive zu denken.

Meiner Mutter ging es nun gut. Ich war nun hier bei ihr und brauchte mir keine Sorgen zu machen etwas zu verpassen.

„Rose. Ich gehe Nachhause. Wenn du möchtest, sage ich, dass du im Krankenhaus übernachtest und dann sehen wir morgen früh weiter. Was meinst du?“, meinte Sophie, nachdem sie zu mir geschlichen kam und mir eine Hand auf die Schulter legte.

„Ich bleibe. Gute Nacht.“, damit beugte ich mich zu ihr rüber und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

„Ich bringe dir morgen einige Sachen noch mit. Ruf mich an, wenn etwas sein sollte.“, meinte sie und verließ leise das Krankenhauszimme, bevor ich noch etwas wegen den Kleidungen sagen konnte.

Ich wusste nicht wie lange ich noch hier herum stand und versuchte meine Mutter aufzuwärmen, aber irgendwann kam die Nachtschwester und bat mich ins Bett zu gehen.

„Später. Bitte. Ich möchte vorerst bei meiner Mutter bleiben.“, bat ich sie leise und bald darauf ging auch sie.

Vorsichtig setzte ich mich leicht an den Bettrand und legte die Hand meiner Mutter an meine linke Brust, mein Herzschlag laut und deutlich.

„Ich liebe dich, Mommy. Mehr als du glaubst zu wissen.“

Keine Antwort. Nur das gleichmäßige Piepen und Atmen.

„Ich träume wieder von damals. Es macht mir etwas Angst. Aber nicht so große, wie wenn es dir schlechter gehen würde oder…Mommy, bitte tu mir den gefallen und halte durch. Ich kann mich nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass es dich eines Tages nicht geben sollte. Ich will es noch nicht einmal versuchen.“, weinend nahm ich die andere Hand und legte sie ebenfalls auf die Hand meiner Mutter die noch immer an meiner Brust lag.

Schniefend gab ich ihr einen Kuss hinein und blieb die nächsten Stunden noch im Zimmer, wärmte ihren Körper so gut es ging und schaffte es erst um halb acht das Zimmer zu verlassen.

Auf der Besucher Toilette wusch ich mir erst einmal gründlich das Gesicht und band meine Haare zu einem einfachen langen Zopf, welcher auf meinem Rücken ruhte.

Erschöpft vom stehen, lief ich zu den Fahrstühlen und fuhr ins zweite Stocke.

Nina war noch einmal vorbei gekommen und hatte gesagt, dass ich ins Zimmer meiner Mutter gehen sollte. Dort hatten sie ein  Bett für mich hergerichtet.

Der Aufzug fuhr hoch und ich fuhr mir übers Gesicht. An Schlaf war gar nicht zu denken und ich hatte keine Lust mich mit den Gedanken zu konfrontieren, die nur darauf warteten mich zum verzweifeln zu bringen.

Ab liebsten würde ich mich ganz klein machen und die Augen vor der verschließen und an nichts mehr denken.

Die Tür sprang auf und ich trat heraus. Gleichzeitig stieß ich mit jemand an und hielt erschrocken den Atem, während mir drohte das Gleichgewicht zu verlieren.

Starke Arme hielten mich schnell auf, indem man nach meiner Kapuzenjacke griff und dankbar atmete ich aus.

Sobald ich auf beiden Füßen stand, hob ich den Kopf, um mich zu bedanken, da kam die Person vor mir zuvor.

„Ich hätte mit Ihnen nicht so früh am Morgen gerechnet, Rose. Was treibt Sie denn hier her?“, begrüßte mich Damien gut gelaunt und mein Herz konnte nicht anders, als schnell zu klopfen, als er anfing zu sprechen.

Irgendwie wurde mir seine Nähe zu sehr bewusst und ich trat einen Schritt zurück. Sein Geruch hatte etwas an sich, obwohl ich es nicht einmal etwas Bestimmtem Zuordnen konnte.

„Meiner Mutter ging es nicht gut.“, meinte ich etwas ausweichend und biss mir unsicher auf die Unterlippe.

„Hätten Sie Lust mich auf eine Tasse Tee zu begleiten, bevor ich zu meinem Termin mit dem Physiotherapeuten gehen muss?“, fragte er und ich war froh, dass er nicht gleich auf das Thema einging.

„Nur wenn es keine Umstände bereitet.“, meinte ich einverstanden und wir betraten beide erneut den Fahrstuhl.

„Wie lange sind Sie denn schon hier?“, fragte er in die Stille hinein und ich sah zu ihm auf. Er stand rechts von mir und ich musste den Körper in seine Richtung wenden.

„Ich bin hier um Mitternacht angekommen, oder so.“

„Sie waren die ganze Zeit bei Ihrer Mutter?“, fragte er verwundert und ich nickte, während ich die Hände in die Seitentaschen der Kapuzenjacke steckte.

„Das würden nicht viele tun.“, flüsterte er leise und ich sah auf die Stelle, wo sein Gesicht sein musste und sah traurig zu ihm.

„Sie hat Jahrelang an meinem Bett gesessen und darauf gewartet, dass es mir besser ging. Jetzt bin ich an der Reihe auf sie aufzupassen.“, meinte ich ehrlich und lief aus dem Fahrstuhl, als sich die Tür öffnete.

Schweigend liefen wir zur geöffneten Cafeteria und ich holte meinen Geldbeutel aus dem Rucksack.

„Das kommt nicht Infrage. Ich habe Sie eingeladen.“, meinte Damien kopfschüttelnd und ich musste nun Lächeln.

„Ich wollte eigentlich noch Frühstücken. Ich habe zuletzt mit Ihnen gegessen und es wäre jetzt dumm in Ohnmacht zu fallen.“

„Dann lade ich Sie dennoch ein.“, wehrte er meine Begründung ab und seufzend gab ich auf.

Ich nahm mir einen Teller Croissants, ein Obstsalat und zu guter letzt eine Tasse Kamillentee.

Sobald wir saßen, trank ich einen Schluck und spürte die Wohlige Wärme durch meinen rauen Hals fließen und schloss kurz erschöpft die Augen.

„Wie geht es Ihnen? Seien Sie ganz ehrlich.“, fragte Damien direkt und ich sah sprachlos auf.

Das hatte mich noch nie jemand, abgesehen meiner Mutter, so direkt gefragt. Ich musste kurz schlucken.

„Die Gedanken fressen mich auf und ich habe das Gefühl, als würde man mir im Leben nicht einen einzigen Wunsch erfüllen wollen. Und Ihnen?“

„So wie es jemandem mit einem halb gebrochenen Schlüsselbein und einer verstauchter Rippe geht.“

Wiederwillig musste ich lächeln.

„Sie freuen sich nicht wirklich auf ihr Termin, nicht wahr?“, hakte ich grinsend nach und ich erhielt ein theatralisches Seufzen als Antwort.

„Mein Bett hat mir eben noch die schönsten Träume beschert, bis mich mein Wecker daran erinnern musste, dass man mir meine Ganze rechte Seite mit irgendwelchen Übungen ausrenken wird. Glauben Sie mir, da würde ich lieber barfüßig über Feuer gehen, als zum Termin.“ Wehleidig seufzte er erneut lautlos und ich konnte einfach nicht mehr aufhören zu grinsen.

„Aber ohne Ihren Termin können Sie wohl kaum wieder auf die Bühne. Sie wollen doch sicher Ihre Fans nicht enttäuschen. Dann sollten Sie sich lieber anstrengen es über sich zu bringen, anstatt davor weg zu laufen.“, munterte ich ihn auf und ich glaubte sogar, dass er schmunzelte, aber ich war mir unsicher.

Genauso hätte er mir die Zunge heraus strecken können und ich würde es nicht wissen.

„Sie haben Recht. Außer man kann in den nächsten Zwanzig Minuten noch eine Flucht planen und darauf warten, dass der Körper von selbst heilt.“

„Und was ist, wenn die Knochen falsch zusammen wachsen? Und das alles dann nur, weil Sie nicht zu einem Termin erscheinen wollten, weil Sie vor einer Genesung Angst haben?“, warf ich ihm vor und nahm einen großen Löffel von meinem Obstsalat in den Mund.

Kiwi, Orange, Beeren, Apfel und Birnen füllten meinen Mund mit leckerem Fruchtsaft und erwartungsvoll sah ich zu Damien.

„Dann muss ich mit meinen Konsequenzen leben. Aber soll ich Ihnen ein Geheimnis von mir verraten? Etwas, da nur meine Mutter, Aphrodite und Brien wissen?“

Misstrauisch schob ich mir einen weiteren, diesmal kleinen, Löffel in den Mund und sah kauend auf. Nachdenklich legte ich den Kopf etwas schief.

„Sie würden mir, einer unbekannten und fremden Person, ein Geheimnis erzählen, was nur enge Bekannte von Ihnen wissen?“

„So unbekannt sind Sie nun auch wieder nicht, wenn jeder im Krankenhaus über Sie redet. Außerdem kann man nach all den Rettungsaktionen und Gesprächen wohl kaum sagen, dass Sie mir, meiner Familie und meinen Freunden fremd sind.“, wiedersprach er mir.

„Dann schießen Sie los. Ich bin gespannt.“, neugierig sah ich zu ihm und aß nebenbei weiter meinen Obstsalat auf.

„Ich habe Angst vor Nadeln und verabscheue Medikamente. Deshalb möchte ich nicht, dass man mir erneut Medikamente verschreibt und meide deshalb die Ärzte. Das ist auch eines der Gründe, warum ich mich nicht so oft oder liebend gern in meinem Zimmer aufhalte.“, gab er zu und ich sah wirklich überrascht zu ihm.

„Haben Sie schon einmal versucht etwas dagegen zu unternehmen?“

„Sie müssen wissen, dass meine Mutter und meine Schwester die einzigen Personen in meinem Leben sind, die mich beruhigen können. Sie wissen ja nicht, wie oft meine Schwester von mir beinahe zerdrückt wurde, weil der Arzt mit einer Spritze ins Zimmer kam. Selbst meine Mutter konnte nichts dagegen ausrichten und es scheint aussichtslos. Außerdem ist das eine Ziemliche merkwürdige Sache mit den Medikamenten. Kaum nehme ich sie in den Mund, verweigert sich alles in mir die Tablette aufzunehmen oder herunterschlucken und ich stehe am Waschbecken und spucke alles aus.“, gestand er und ich nickte.

„Haben Sie das seit Ihrer Kindheit?“

„Ja, leider. Und, haben Sie auch solch ein Geheimnis?“

Man hörte so ziemlich aus seiner Stimme heraus, dass er sich brennend dafür interessierte und ich dachte kurz nach.

„Ich weiß es nicht. Ich sehe ja nicht, womit die Ärzte auf mich zugehen oder mir verabreichen. Würgreflexe habe ich nicht und ich denke, dass ich nicht so wirklich eine Phobie habe.“, ehrlich sah ich zu ihm auf und trank von meinem lauwarmen Tee, bevor ich in den Croissant hinein biss.

„Möchten Sie auch einen?“, bot ich ihm an und schob ihm die anderen Croissants zu.

„Danke, aber vor dem Termin bekomme ich nichts herunter.“, meinte er und diesmal hörte ich ein Lächeln aus seiner Stimme heraus.

Gleichzeitig machte sich auch eines auf meinen Lippen breit und ich frühstückte zu Ende.

Ich brachte das Tablett weg, während er neben mir her lief und ich begleitete ihn zu seinem Termin.

„Haben Sie heute sonst noch etwas vor?“, fragte er und ich hob und senkte die Schulter.

„Wahrscheinlich werde ich den Rest des Tages auf der Intensivstation verbringen und jetzt versuchen zu schlafen. Die Schwestern würden mir den Kopf ausreißen, wenn ich nicht irgendwann schlafen gehe.“, antworte ich leicht lächelnd und lief seufzend weiter.

Noch 72 Schritte.

„Übernachten Sie hier?“

„Ja. Oben im Zimmer meiner Mutter. Wahrscheinlich werde ich das Wochenende über bleiben, bis ich mir sicher bin, dass es ihr besser geht.“, murmelte ich leise.

„Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber Sie sehen schrecklich aus. Ich kann mir vorstellen, warum die Krankenschwestern Sie ins Bett scheuchen wollen.“, bemerkte er nebenbei und ich schenkte ihm einen wütenden Blick zu, bevor ich mich ein wenig beleidigt und enttäuscht abwandte.

„Ich will damit sagen, dass sie ziemlich blass im Gesicht sind und wahrscheinlich kaum geschlafen haben. Sie sehen aus, als würden Sie bald zusammen brechen und ich mache mir langsam wirkliche Sorgen.“, teilte er mir versöhnlich mit. Mein Herz klopfte schneller, als mir klar wurde, dass seine Stimme sich wirklich besorgt anhörte.

Vor allem vorhin, als er nach meinem Zustand gefragt hatte.

Seltsamerweise fand ich es ziemlich süß und nett von ihm, dass er sich tatsächlich Gedanken um meine Gesundheit gemacht hatte. Der  wenige Schlaf tat mir wirklich nicht gut.

„Ich lege mich ins Bett, sobald ich Sie zu ihrem Termin begleitet habe. Versprochen.“, versicherte ich ihm und lächelte ehrlich.

Bald darauf hielten wir an und standen vor der Tür, die zur Praxis führen sollten.

„Schlafen Sie gut.“, meinte  Damien noch, bevor er die Tür öffnete und verschwandt.

Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.

 

  • Antoine de Saint-Exupéry

 

 

 Langsam drehte ich mich erneut um und lief den ganzen Weg wieder zurück.

Ich schulterte den Rucksack wieder richtig, da er drohte herunter zu fallen und machte mich seufzend dran, ins Zimmer meiner Mutter zu kommen.

So kaputt wie noch nie legte ich mich auf das zweite Bett im Zimmer und hinterließ Sophie noch schnell eine Nachricht auf der Mailbox, worauf ich sprach, dass sich bei meiner Mutter nichts geändert hatte und ich erst einmal schlafen würde.

Und nun lag ich seit etwa zwei Stunden im Bett, versuchte einzuschlafen, doch es wollte einfach nicht klappen. Irgendetwas hinderte mich daran oder wollte mir einfach nicht Ruhe geben, aber ich wusste nicht was.

Unruhig schmiss ich mich im Bett hin und her, versuchte die eine oder andere Position, aber es wurde einfach nicht besser. Das Gegenteil wurde der Fall und ich setzte mich seufzend auf.

Irgendetwas stimmte hier nicht gewaltig. Irgendetwas musste passiert sein.

Wie von der Tarantel gestochen stand ich auf und lief mit weit aufgerissenen Augen schnell aus dem Zimmer, sobald ich meinen Rucksack geschnappt hatte.

Mit schnellen, aber gleichmäßigen Schritten lief ich zum Fahrstuhl und schulterte gerade den Rucksack auf meinen Schultern, als die Fahrstuhltür aufging.

Schnell stieg ich ein und knallte gegen eine weiche Wand.

Stirnrunzelnd tastete ich kurz mit meiner Hand an die Wand, nur um dann gleich darauf zwei Schritte zurück zu gehen.

„Tut mir leid.“, entschuldigte ich mich sofort etwas verlegen und sah überrascht auf, als Damien anfing zu sprechen.

„Womit bekomme ich erneut die Ehre, dass Sie mich zum zweiten Mal so überfallen?“, verwundert zog er mich amüsiert zurück ins Fahrstuhl und ging dann ein wenig auf Abstand, als ich etwas zusammen zuckte.

„Ich muss schnell zu meiner Mutter. Irgendetwas sagt mir, dass etwas nicht stimmt oder etwas geschehen ist.“, beeilte ich mich zu sagen, als Stille in die Metallbox eintrat und drückte auf die Tastaturen, wo Erdgeschoss stand.

„Sie werden mir jetzt aber nicht zusammen brechen, oder so. Oder? Sie zittern ziemlich.“

Tatsächlich. Er hatte recht. Mir war gar nicht aufgefallen, dass mein Körper bebte und ich musste mich dazu zwingen, nicht sofort loszuheulen.

„Kommen Sie. Ich bringe Sie lieber dort hin, als wenn Sie alleine hinlaufen und zusammenbrechen, bevor Sie ihr Ziel gefunden haben.“, meinte er, während die Türen aufgingen und legte seinen Arm um meine Taille, während wir hinausliefen.

Obwohl ich seinen Blick beinahe ununterbrochen spürte, konzentrierte ich mich darauf zu gehen und schon bald kamen wir vor der Intensivstation an. Überall kribbelte es in mir und das Adrenalin ging mit mir durch. Wie ich zumindestens vermutete.

„Ich warte hier auf Sie. Wenn Sie Hilfe oder so benötigen, dann zögern Sie nicht mich zu rufen.“, meinte Damien noch, bevor ich nickend hinein lief und mir die Schutzkleidung überzog.

Von innen hörte ich die Monitore verrückt spielen und mit aller Eile lief ich zu meiner Mutter ins Zimmer und nahm ihre Hand in die Meine.

„Bitte, Mama. Du musst es aushalten. Du musst kämpfen.“, schluchzend sah ich zu ihr und tastete mit meiner freien Hand nach dem Notrufknopf.

„Versuch weiter zu leben. Bleib bei mir.“

Sie hatte kaum noch einen Herzschlag. Weinend beugte ich mich über sie und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

„Du musst kämpfen. Ohne dich schaffe ich es einfach nicht. Hast du gehört? Kämpf.“, verzweifelt hielt ich mich schluchzend an ihr fest und ich hörte Stimmen vor der Tür, bevor man die Tür aufriss und mich zu Seite schob.

Obwohl ich am liebsten die Hand meiner Mutter halten würde, blieb ich in der Ecke stehen und versuchte nicht das Bewusstsein zu verlieren.

„Auf drei, Hände weg.“, meinte die Schwester beinahe schreiend.

Geschockt sah ich auf.

„Eins. Zwei. Drei.“

Ein gleichmäßiges Piepen erfüllte die Luft.

Erleichtert rutschte ich die Wand herunter und weinte.

Es waren Freudentränen und gleichzeitig Tränen der Trauer.

Hätte ich nicht das Gefühl gehabt, dass nicht etwas Stimmt, dann hätte ich sie sterben lassen. Allein.

Krabbelnd setzte ich mich auf und lief zum Bett meiner Mutter, wo die Schwestern und Ärzte die Geräte wegnahmen und noch einmal alles überprüften. Werte, Blutdruck und alles drum und dran, deren Namen ich nicht mehr kannte.

Schnell nahm ich die Hand meiner Mutter in die meine, sobald die Schwestern fertig waren und wartete darauf, dass sie irgendwann wach wurde. Erschöpft setzte ich mich auf das Stuhl, welches mir die Schwester hinzu schob.

„Es tut mir leid, dass Sie dies miterleben mussten.“, meinte eine Schwester leise, doch ich schüttelte den Kopf.

„Mir ist es lieber, wenn ich an ihrer Seite bin, sollte sie sterben. Ich hätte es mir niemals verziehen, wenn meine Mutter alleine wäre. Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen.“, traurig schluckte ich den Klos in der Kehle herunter.

Die Krankenschwester verließ das Zimmer, während ich alleine im Raum mit meiner Mutter zurück blieb. Hin und wieder wippte ich zum Takt ihres Herzschlages mit meinem Zeigefinger auf ihre Handrückenfläche, bis mir einfiel, dass dort draußen noch jemand auf mich wartete.

„Ich komme gleich wieder zurück, Mommy.“, flüsterte ich.

Mit geschlossenen Augen gab ich ihr einen federleichten Kuss auf die Stirn.

Der Stuhl knarrte über den Boden, als ich ihn zur Seite zog. Mit leichten Feder Berührungen fuhr ich über meine Augen und wischte die letzten Tränen vom Augenwinkel weg.

„Ihr geht es wieder gut.“, informierte ich ihn mit leicht brüchiger Stimme, während ich durch die Tür trat.

„Ihnen anscheinend nicht. Setzten Sie sich lieber hin und erzählen mir, was eben passiert ist. Ich habe nur noch mitbekommen, wie eine ganze Truppe mit Geräten angerannt kamen und die Bude stürmten.“

„Ich kann mich nicht hinsetzten. Ich muss gleich noch Sophie anrufen und ihr Bescheid geben, dass meine Mutter eben einen Herzinfarkt erlitten hat und dass sie sich nicht hier her beeilen muss.“, wisch ich Damien aus, da ich einfach vergessen wollte, was eben passiert war.

Ich fuhr über meine Haare und nahm mein Handy heraus und rief Sophie an. Nachdem ich ihr mit einigen Worten die Situation erklärt hatte, versprach sie in einigen Stunden zu kommen, doch ich lehnte ab.

Während des ganzen Gesprächs hatte Damien geschwiegen und bewegte sich noch immer nicht.

Sitzen tat er nicht-Warum auch immer- und war so still.

Ich hatte sogar für einige Sekunden gedacht, dass er nicht mehr hier wäre.

Dieser Gedanke hatte mich erschreckt.

Ich schob mein Handy in die linkere Vordertasche meiner Hose und verschränkte die Hände vor der Brust, während ich den Kopf gesenkt hielt.

„Werden Sie mir erzählen, was passiert ist?“

Es war ein leises Flüstern. Zu leise, als dass ich´s gehört hätte, wären wir in der gefüllten Fußgängerzone. Zum Glück waren wir hier im Krankenhaus.

„Sie haben doch gehört, was ich am Handy gesagt habe. Es zu wiederholen bringt niemanden von uns etwas. Jemand muss jetzt bei meiner Mutter bleiben und das mache ich jetzt. Vielen Dank, dass Sie mich begleitet haben und für mich da waren, aber es wäre besser, wenn Sie jetzt gehen. Ich werde ohnehin die nächsten Stunden bei meiner Mutter bleiben, da möchte ich nicht, dass Sie unnötig hier draußen warten.“

Bevor ich es mir anders überlegte, flüchtete ich zum Zimmer meiner Mutter und nahm wie immer neben ihrem Bett Platz und erwärmte mit meinen Händen ihre kalten Körperteile.

Alles um mich herum wurde irgendwann immer verschwommener, die Geräusche immer leiser und die Gedanken immer müder.

Meine Augenlieder blinzelten wie verrückt, als ich mich am Bettpfosten abstützte. Beinahe hätte ich das Gleichgewischt verloren und die Augen taten von dem langen Tag weh.

Der Schlafmangel tat nicht gut, aber ich musste bei meiner Mutter bleiben und auf sie aufpassen. Jemand musste bei ihr bleiben und darauf achten, dass es ihr an nichts fehlte. Hoffentlich wachte sie bald auf.

Dieser Komatöse Zustand bringt mich noch bald um den Verstand!

Blinzelnd versuchte ich wach zu bleiben.

Die Zeit verging und ich konnte das Gleichmäßige Auf- und Abgehen der Krankenschwester, Patienten und Besucher wahrnehmen.

Leise begann ich vor mich hin zu summen. Meine Mutter liebt es, wenn ich ihr immer im Schlaf vorsang. Sie meinte immer, dass es die Bösen Monster in ihrem Kopf verjagte.

„Welches Lied möchtest du hören, Mommy?“

Stille.

„Ein schönes oder trauriges Lied?“, versuchte ich weiter. Leider kam nie eine Antwort.

„Wahrscheinlich wärst du mit einem schönen Lied noch zufriedener und würdest mir morgen dann nicht mit einem Rohrstock hinterherjagen.“, schmunzelnd lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück. Mein lautes Seufzen erklang im Raum, als noch immer keine Antwort kam und so machte ich mich dran, ihr etwas vorzusingen.

„Your tuck me in, turn out the light. Kept me safe and sound at night, little girls depend in things like that. Brushed my teeth and combed my hair, had to drive me everywhere. You were always there when I looked back.” flüsterte ich leise und bettete langsam auf meinen Armen meinen Kopf und machte es mir auf dem Bett gemütlich, während ich weiter sang.

„You had to do it all alone, make a living, make a home, must have been as hard as it could be. And when I couldn´t sleep at night, scared things wouldn´t turn out right. You would hold my hand and sing to me. Caterpillar in the tree, how you wonder who you´ll be. Can´t go far but you can always dream. Wish you may and wish you might. Don´t you worry, hold on tight. I promise you there will come a day, Butterfly fly away. Butterfly fly away (Butterfly fly away…). Got your wings, now you can´t stay, take those dreams and make them all come true.”

Mein Gesange hallte im ganzen Raum wieder. Vorsichtig griff ich nach der Hand meiner Mutter und nahm sie in die meine. Noch immer sang ich leise weiter. Nun fehlten die letzten Verse, welche ich mit Tränen in den Augen vorsang.

„Butterfly fly away (Butterfly fly away…). You´ve been waiting for this day all along and know just to do. Butterfly, Butterfly, Butterfly. Butterfly fly away. Butterfly fly away.”

Meine Unterlippe zitterte, während ich noch die letzten drei Wörter sagte.

„Butterfly fly away.“

Mit den letzten Worten driftete ich ins Reich der Träume während ich im Geiste noch anwesend bei meiner Mutter blieb.

Als Absurd bezeichnen wir, was nicht möglich ist und trotzdem passiert; was möglich ist, aber nicht passiert, bezeichnen wir als typisch.

  • Gabriel Laub

 

 

Immer wieder tippte ich mit dem Zeigefinger im Takt des Sekundenzeigers der großen Uhr mit. Während mein Zeigefinger auf den rechten Oberschenkel tippte, wippte der rechte Bein gleich mit. Mein Fuß berührte jede Sekunde zweimal den Boden. Bisher war ich nur ein einziges Mal aus dem Takt gekommen, als die Krankenschwester eben in das Zimmer gegangen war.

Ich hoffte, dass alles in Ordnung war.

Obwohl mich Rose darum gebeten hatte zu gehen, war ich geblieben. Es lag nicht wirklich daran, dass ich Zeit hatte oder aus dem Grund, dass ich ihr einige Gefallen schuldete, sondern nur ganz allein daran, dass ich es wollte.

Ich machte mir schon seit heute morgen große Sorgen um sie. Beim Physiotherapeuten waren meine Gedanken immer wieder zu ihr geschliffen und die ganze Zeit ging mir einfach ihr Lächeln nicht mehr aus dem Kopf. Dass es möglich sein konnte, dass jemand solch ein wunderschönes Lächeln hatte, grenzte an ein Wunder.

Wahrscheinlich lächelte sie nicht allzu oft. Und der Grund dafür lag nur wenige Meter hinter einer Betonwand in einem Bett. Ein Schmerzendes Gefühl setzte in meiner linken Brust aus, als ich ihr Gesicht vor mir sah. Die Augen verweint, die Nase etwas gerötet und der volle Mund, der seltsamerweise beim Weinen so einladend aussah.

In der Cafeteria war dies noch nicht der Fall. Obwohl ich zugeben musste, dass ich wie ein verrückter auf ihre Lippen gestarrt hatte.

Noch nie hatte ich solch eine schöne Person gesehen, die von ihrer äußeren Erscheinungsform nichts wusste.

Wie denn auch, wenn sie mich noch nicht einmal sah.

Obwohl ich mich dagegen sträubte Mitleid zu empfinden, ging es nicht anders. Wie gern wünschte ich mir doch in diesem Moment, dass sie mir in die Augen blicken könnte, damit ich wusste, was sie dachte. Jedoch war ihr Gesicht so verschlossen, wie kein anderes. Sie war ein großes und ziemlich verschlüsseltes Rätsel.

Ein tippen an meiner Schulter ließ mich aus meinen Gedanken auf erwachen und ich sah hinauf zur Krankenschwester. Es war dieselbe wie vorhin.

„Entschuldigen Sie bitte, aber Rose ist auf dem Bett ihrer Mutter eingeschlafen. Würden Sie sie bitte ins Bett bringen, damit ich ihre Mutter waschen kann?“, bat sie mich höflich und sah mir lange in die Augen.

„Natürlich.“

Damit stand ich schnell auf und brachte damit die Schwester kurz aus dem Gleichgewicht, als diese einen Schritt zurück wisch. Ihre Wangen röteten sich, als sie wieder zu mir sah, doch ignorierte sie fließendlich, wollte nur noch in den Raum hinein und Rose ins Bett bringen, damit sie endlich wieder schlafen konnte.

Meine Hände kribbelten schon bei der Vorstellung allein nur ihre Hand anzufassen. Doch irgendwie machte ich mir gelichzeitig darüber sorgen, etwas dabei zu fühlen-mehr zu empfinden.

Mein Körper reagierte schon auf sie, mein Verstand ebenso, doch würde mein Herz sich diesen Schritt auch wagen lassen.

Unglaublich. Ich kannte dieses Mädchen nicht einmal ein paar Tage lang und schon dachte ich über solche Dinge nach.

Schweigend folgte ich der Schwester nach und betrat den Steril eingerichteten Raum, in dem ein einzelnes Bett zur Verfügung stand. Anscheinend brauchte ich keine Sicherheitsklammotten, da Roses Mutter wieder ins Zimmer zurück gebracht wurde. Anscheinend war alles soweit wieder in Ordnung. An den Geräten voreischauend, stach etwas am meisten im Zimmer heraus. Sofort wurde mein Herz weich.

Claire hatte den Kopf auf ihre Arme gebettet, die Hand ihrer Mutter an ihrer Wange, welche sie streichelte.

Mein Blick folgte der Hand und ich traf auf zwei neugierige blaue Augen. Sie waren nicht dieselben wie sie ihrer Tochter, aber zum Verwechseln ähnlich.

Obwohl die Frau keine Haare mehr auf dem Kopf besaß, war sie wunderschön. Nun konnte ich verstehen, warum ihre Tochter mich so sehr in den Bann zog. Ich würde sogar sagen, dass Rose viel hübscher war als ihre Mutter. Das Gesicht kam mir auch bekannt vor, konnte jedoch nicht sagen woher.

„Sie müssen Damien sein. Rose hat mir von Ihnen erzählt“, stellte die Frau fest, dabei bemühte sie sich zu sprechen, ohne zu stocken.

Sofort beeilte ich mich zum Bett und sah verblüfft zu Angela Jones.

„Sie hat Ihnen von mir erzählt?“

„Nur bisher die negativen Dinge. Sie scheinen ja nicht gerade ein toller Kerl zu sein.“

„Der ich leider auch nicht bin.“,

„Was auch nur die halbe Wahrheit ist.“

Wir sahen uns beide lange an, während ich unbewusst über ihren letzten Satz nachdachte.

„Sie sehen aus wie ein verdammter Rockstar.“, schimpfte sie entrüstet.

„Ich bin nur der Leadsänger in einer Band, kein Rockstar.“, verbesserte ich sie und lächelte.

„Und dennoch eine Jüngere Version von Johny Depp und der Mischung eines heißen Rockstars, wie die Red Hot Chili Pepper.“, trocken sah sie mich einem eindeutigen Blick an.

Mein Blick schweifte zu ihrer Tochter, die noch immer friedlich schlief.

Sah sie mich auch so? Als Rocker? Als jemanden, der eine Gestalt wie sie nicht verdient hätte?

Obwohl dieses Mädchen Blind war, interessierte es mich brennend, wie sie mich ansah und was sie an mir mochte, oder was sie zu meinem Aussehen sagen würde, wenn ich es ihr beschreiben würde.

Hoffentlich war ich für sie - wie für ihre Mutter – kein ein Rockstar.

„Passen Sie gut auf sie auf.“

Ertappt sah ich auf und erst jetzt ratterte mit ins Gedächtnis, was Angela Jones mir eben gesagt hatte. „Warum sagen Sie so etwas?“, flüsterte ich verwundert und verwirrt zugleich. Betroffen war ich auch, irgendwie. Schließlich war ich ein - geradezu - Fremder.

„Weil ich den Blick kenne. Nur allzu gut. Und Sie sind gerade dabei sich unbewusst in meine Tochter zu verlieben. Dabei sollten Sie wissen, dass Rose viele Lasten auf sich trägt. Mehr als Sie zu glauben mögen und mehr als ich wissen kann.“, brachte sie zittrig heraus. Ihr Blick brachte mein Herz zum Aussetzten.

Den Blick einer Mutter, wenn man nicht mehr weiter wusste und völlig verzweifelt war, keinen Sinn mehr im Leben fand. Den kannte ich nur allzugut. Und das schon seit Monaten.

„Eines Tages werde ich sterben. Ich möchte nicht, dass mein kleiner Spatz unglücklich sein wird und leidet oder um mich trauert. Sie möchte es nicht einmal hören, wenn ich darüber spreche, was sie dann aus ihrer Zukunft machen möchte. Könnten Sie mir etwas versprechen, Damien?“

„Es kommt ganz auf das Versprechen an.“

„Versprechen Sie mir, dass Sie meine Tochter vor Glück weinen lassen am Tag meiner Beerdigung. Ich könnte es nicht ertragen ihre traurigen Tränen auf meinem Grab zu spüren oder sie nicht im Arm halten zu können. Bitte Versprechen Sie mir auf Sie aufzupassen, selbst wenn meine Tochter und Sie nicht zusammen sein sollten. Bitte.“

Die Tränen flossen über ihr Gesicht und mit einem Mal sah sie ganz alt und zerbrechlich aus. Diese Sorgen, diese hatte Sie ganz bestimmt Monate lang gehabt, ohne dass es jemand wusste.

Entschlossen nickte ich.

„Sofern es in meiner Macht steht, verspreche ich es. Ich verspreche auf Ihre Tochter Acht zugeben und sie nach Ihrem Tod Lächeln lassen und vor Glück zu weinen.“

Erleichtert schloss sie die Augen zu und noch immer liefen die Tränen von ihrer Wange.

„Entschuldigen Sie bitte, aber wir müssen Sie bald zum CT bringen, Frau Jones. Bis dahin würden die Schwestern Sie gerne waschen.“, meinte die Krankenschwester leise und erst jetzt wurde mir bewusst, dass sie die ganze Zeit über anwesend war.

Anscheinend erging es nicht nur mir so, denn blaue Augen huschten überrascht in Richtung Tür. Sie nickte.

„Wo soll ich Rose denn hinbringen?“

„Jedenfalls nicht in mein Zimmer. Sie soll nicht mit einem schlechten Gewissen aufwachen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, Sie in ihrem Zimmer ausschlafen zu lassen?“

„Ihnen würde es nichts ausmachen, wenn Ihre Tochter bei einem Kerl im Zimmer übernachten würde, der wie eine Jüngere Version von Johnny Depp aussieht und den Rockstars von Red Hot Chili Peppers?“

Ein Lächeln stählte sich auf die Lippen der Frau und mit einem Mal wirkte sie so jung wie noch nie. Schade, dass sie ausgerechnet an einer Krankheit wie dieser Leiden musste. Das hatte keiner Verdient.

„Nein. Solange ich weiß, dass Sie bei Ihnen in Sicherheit ist, können Sie sein wer Sie sein wollen.“

Damit ließ ich mich nicht ein zweites Mal auffordern und stellte mich direkt neben Rose.

Ihre schwarzen Haare fielen ihr leicht ins Gesicht, der Mund leicht geöffnet. Ihre Lippen waren in einem geradezu satten kirschrot und man könnte meinen, dass er geschminkt war, doch ich wusste ziemlich genau, dass dem nicht so war. Ich könnte mich nie bei ihr sattsehen und wahrscheinlich gab es noch viele andere Dinge, die mich an ihr erstaunen ließen.

Vorsichtig legte ich meine Arme auf ihre Schulter und lehnte ihren Oberkörper langsam zurück, sodass er auf der Rückenlehne des Stuhles lehnte. Noch einmal atmete ich tief ein und hob sie dann hoch. Ihr Gesicht ruhte auf meinem Oberkörper, während sie sich im Halbschlaf regte und ihre Hand auf meine Brust legte.

Leise erklang ihr gleichmäßiger Atem und gleichzeitig klopfte mein Herz so schnell wie noch nie. Mein Körper kribbelte wie verrückt, ohne jedoch in Kontakt mit ihrer Haut zu kommen.

Vielleicht war es die jene Vorfreude auf etwas, dass noch auf mich zukommen würde. Das musste es sein.

Solche Gefühle schon so bald zu empfinden war absurd. Innerlich schüttelte ich den Kopf. Vorsichtig wie noch nie, trug ich Rose aus dem Zimmer, lief durch die Gänge, fuhr mit dem Fahrstuhl hoch und kam schließlich in meinem Zimmer an, was mit dem Türknopf ein wenig schwer gewesen war, was ich schließlich doch geschafft hatte ohne Rose aufzuwecken.

Eine wahre Meisterleistung.

Gut gelaunt legte ich sie vorsichtig aufs Bett, zog die Decke beiseite und schob auf dem Bett Rose zurecht, zog ihr die Schuhe aus und deckte sie mit der Daunendecke ein, welcher den Raum mit einem frischen Duft vom Persil versprühte.

Ich mochte den Geruch.

Wie in Zeitlupe setzte ich mich zu ihr ans Bett und beobachtete sie eine Weile, bevor ich leise seufzend ihr die Strähne aus dem Gesicht strich und hinter ihre Ohrläppchen schob.

Wie lange ich sie kurz darauf hin einfach nur ansah - die Hand noch immer an derselben Stelle an ihrem Gesicht -, wusste ich nicht mehr, denn die Zeit schien mit einem Mal egal zu sein. So gut wie alles im Leben war egal geworden.

Und das nur wegen dieses Mädchens hier.

Was auch immer sie war, ein Fantastisches Wesen oder ein Engel, sie brachte mich dazu zu fühlen und gerade das konnte ich mir nicht leisten.

Und Sie sind gerade dabei sich unbewusst in meine Tochter zu verlieben.

War es wirklich so weit mit mir schon gekommen? Dass ich mich bald in dieses Mädchen verlieben würde?

Kopfschüttelnd nahm ich traurig die Hand herunter und stand auf.

Ich durfte mich einfach nicht in sie verlieben. Nicht jetzt und nicht in den nächsten zehn Jahren. Sie würde jemand anderen finden und möglicherweise mit ihm eine Familie gründen.

Beinahe fuhr ich erschrocken zusammen, als sich etwas an mich heran tastete. Verwirrt und mit gerunzelter Stirn drehte ich mich um und sah auf Rose, welche die Hand nach mir steckte.

„Bitte, bleib.“

Zuerst verstand ich nicht, was sie gesagt hatte, doch nach und nach ergaben ihre Wörter in meinem Kopf einen Sinn.

Ich sollte bleiben? Nicht weggehen und sie nicht alleine lassen?

Sofort sprang mein Herz verwirrenderweise in die Höhe und ich freute mich plötzlich wie ein kleines Kind.

„Nicht…gehen.“, murmelte sie leise, die Augen noch immer geschlossen. Die Hand wanderte weiter nach unten, zu meiner zur Faust geballten Hand. Sie zog leicht an meiner Hand und ich kam der Aufforderung nach, mich neben sie zu setzten. Erneut zog sie.

Ohne überhaupt zu registrieren, was ich hier überhaupt tat, lag ich schon neben ihr auf dem Bett und zog sie in meine Arme.

Sie seufzte leise und kuschelte sich näher an mich heran, bevor sie sich nicht mehr rührte.

Einige Zeit blieb ich wach und sah ihr beim Schlafen zu, aber es dauerte daraufhin nicht lange, dass ich müde wurde und die Augenlieder flatterten, bis sie sich schlossen und ich ins Reich der Träume glitt, mit dem Engel in den Armen, der mich selbst im Traum verfolgte.

Fast alle Träume antworten auf Fragen, die wir uns stellen, mit einer verwickelten Inszenierung, bei der sich die Antwort auf Personen verteilt, die das Licht des folgenden Morgens nicht mehr erblicken

 

  • Marcel Proust

 

 

Ich wusste nicht wo ich war.

Obwohl alles um mich herum in Dunkelheit eingehüllt war, drehte ich mich wie eine Verrückte im Kreis umher, um nach einer kleinen Lichtquelle oder Person zu suchen.

Niemand da.

Wütend schrie ich frustriert auf. Warum antwortete mir nur keiner? Warum war niemand hier? Was hatte ich getan, dass die Menschen mich in dieser Dunkelheit zurück ließen?

Ein Blitz.

Meine Augen schellten nach oben und erneut sah ich hinauf. Erneut sah ich etwas vor meinen Augen, was dort nicht hätte sein sollen.

Warum sah ich?

Das bunte Licht, welches die Blitze von sich gaben, war so wunderschön.

Meine Augen schweiften mit den glühenden Blitzen hin und her, saugte alles mit ganzer Kraft ein, nur um nichts zu vergessen.

Ich fühlte mich so wohl, wie noch nie zuvor. Am liebsten würde ich für immer hier stehen bleiben und das Wunder betrachten.

Ich streckte meine Hand nach einem Funken aus, welches in meine Richtung flog. Es war wunderschön. Blinzelnd sah ich auf meine Hand.

War das möglich? Konnte ich wieder sehen?

Große Freude tat sich in mir auf und ich sah begeistert an mir herunter, während mir die Blitze Licht spendeten.

Ich hatte noch nie in meinem Leben von bunten Blitzen gehört, doch es war einfach nur atemberaubend und vor allem so schön hell. Als würde man die Dunkelheit überstrahlen wollten. Wunderschön.

Weiter weg von mir explodierte etwas. Jedenfalls nahm ich das an, denn mit einem Mal sprangen Funken durch die Luft und schwirrten wie tausende Leuchtkäfer durch die Dunkelheit herum. Fasziniert trat ich näher.

Das Feuer erlosch wieder und ich wartete sehnsüchtig auf das nächste, doch nichts kam.

Stattdessen sah ich die Umrisse einer Person. Es war die Form eines Mannes, wie ich feststellte.

Obwohl ich mir bei bestem Willen nicht erklären konnte, warum ein mir Fremder Mensch hier auftauchte, spürte ich die wohltuende Körperwärme der Person auf mir ruhen.

Nein. Sie strahlte geradezu förmlich aus ihm heraus. Langsam begriff ich.

Dieses Feuerwerk hatte nur diese Person zu verantworten. Warum tat jemand solch etwas Schönes für mich? Die Umrisse wurden immer schwächer und sofort streckte ich meine Hand aus und griff nach der Person.

„Bitte, bleib.“

Meine Stimme hallte in meinem Kopf wieder. Es war, als hätte ich ein Echo in mir. Jedes Wort wurde wiederholt, so lange, dass ich nichts anderes mehr wahrnahm.

"Nicht...gehen."

Es fiel mir schwer zu reden. So müde, erschöpft war ich schon seit langem nicht mehr und dennoch wollte ich diese Person keines Weges gehen lassen.

Nach einigen tiefen Atemzügen griff ich nach der Hand des Mannes und zog ihn zu mir.

Es war beinahe so, als ob er aus dichtem Nebel und Sandsturm bestehen würde. Wahrscheinlich gingen seine Gefühle gerade mit ihm durch, bemerkte ich verwirrt in Gedanken.

Meine Hand glitt zu die seiner und ich ertastete seine Faust. Mit einem leichten Ruck zog ich ihn zu mir. Vielleicht sollte man in diesem Moment Angst haben, Misstrauen verspüren, aber ich fühlte mich einfach wie Zuhause. Sicher und wohl, wie ich es am liebsten hatte.

Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass zwischen der Berührung unserer Hände eine bunte Explosion aufgehen würde. Es kam mir nicht nur so vor. Tatsächlich sprühten Funken, wo sich unsere Haut berührte.

Bald darauf spürte ich seinen Körper an meinem und ich machte es mir - halb auf ihm - gemütlich.

In meinem Inneren verspürte ich von allen Seiten ein merkwürdiges, dennoch wunderbares Kribbeln. Warum habe ich dieses Gefühl bisher noch nicht gekannt?

Wer auch immer dieses Gefühl in mir ausgelöst hat, musste eine besondere Auswirkung auf mich haben. Wie gern würde ich wissen wollen, wie er aussieht, wer er war und warum er in meinem Traum auftauchte.

Aber das Gesicht sah so aus, als hätte man ein dunkelgraues Stück Papier davor gehalten und mir keine Chance gelassen sein Gesicht genau zu inspizieren.

Bald darauf wurde mir erneut schwarz vor den Augen und ich fiel in einen tiefen Schlaf.

Nur noch die Frage, ob ich diesen Ort, diesen Mann, diese bunten Blitze oder dieses wunderbare Gefühl je wieder verspüren würde, klammerte sich an mein Gewissen.

 

Wer Hilfe nicht annehmen kann, wird niemals Hilfe geben können.

  •  Reinhold Bertsch

 

 

Seit genau anderthalb Tagen rätselte ich darüber was wohl passiert war, als ich am Bett meiner Mutter eingeschlafen war. Alles woran ich mich noch erinnern konnte, war, dass Sophie mich aus dem Zimmer gebracht hatte, ich ihr kaum folgen konnte, da wir in irgendeine Richtung gingen, die eigentlich verkehrt herum war und vor allem im 2. Stock.

Obwohl ich nichts verstanden hatte war ich ihr einfach gefolgt – so gut wie es zumindest ging und möglich war. Meine Arme hatten wahrscheinlich blaue Flecken, da es beim Antasten ziemlich wehtat. Ich war mehrmals gegen die Wand gestoßen, da ich weder links, noch rechts im Krankenhaus wusste. Erst als wir an den Fahrstühlen ankamen und ich mit Mühe die Schritte gezählt hatte, wusste ich, von wo wir kamen. Geradewegs von dem Zimmer gegenüber meinem alten Krankenbettzimmer.

Und nun versuchte ich die ganze Zeit heraus zu finden, was ich in Damien Kayes Zimmer zu suchen hatte und wie ich überhaupt dort hin gelangt war. Außerdem ließ mich der Traum nicht mehr in Ruhe. Die Fragen bauten sich immer mehr in meinem Kopf auf und ich verstand es einfach nicht. Es war beinahe unmöglich eine Antwort darauf zu finden, warum ich im Traum Dinge sehen konnte, die ich als Kind nur flüchtig gesehen hatte und was wohl der Fremde in meinem Traum wohl damit zu tun hatte.

Seufzend fuhr ich mir über die Harre und zuckte zusammen, als neben mir ein Auto laut hupte.

„Kommst du endlich, Mon Cherie?“

Sophie schrie geradezu über das ganze Schulgelände und in meinen Ohren machte sich ein nerviges Geräusch breit. Und das nur, weil sie direkt neben mir alles aus sich hinaus brüllte. Ich lief auf das Auto zu, streckte die Hand aus und taste mich heran, bevor ich sie vorbeischweifen ließ, während ich das Auto umrundete. Schnell fanden meine Hände die Autotür zum Beifahrersitz und ich nahm schnell Platz, bevor Sophie mich erneut anschreien konnte.

„Hast du deine Hörgeräte verloren oder warum schreist du mich so an? Soll ich etwa noch Taub werden!“

„Ach, sei doch nicht schlecht gelaunt. Freu dich doch. Deine Mom hat heute Geburtstag und wir werden so feiern wie noch nie. Und glaub mir, ich habe noch eine Menge zu tun, bevor wir aus dem Haus hinaus gehen werden. Kuchen, Muffins, kalter Buffet, Sandwiches,…all das muss ich in sieben Stunden fertig haben.“

„Ich mach ja schon die Sandwiches und einiges am kalten Buffet. Würdest du aber bitte losfahren, bevor wir hier nicht mehr vor Sonnenuntergang wegkommen und somit weniger Zeit zum Zubereiten haben?“, bat ich sie und gleich drauf hörte ich den Motor aufbrummen.

„Mann, ich liebe den Range Rover.“, murmelte sie vergnügt vor sich hin und ich neigte schmunzelnd den Kopf zur Seite und stellte mir wie immer eine schöne Landschaft vor.

Genau Fünfeinhalb Stunden später waren wir zufrieden mit unserem Ergebnis und luden die Sachen ins Auto. Besser gesagt, ich brachte die Sachen hinaus, während Sophie sie einlud, da ich nicht wusste, was wohin kommen musste. Der Kofferraum war nun vollgestopft und die Rückbank musste auch einiges an Gewicht auf sich nehmen, da die Sachen nie weniger wurden.

Wir hatten anscheinend zu viel Gebacken und zubereitet.

Sophie musste ja aber unbedingt meinen, dass bestimmt alle großen Hunger hätten und wir ja an einige Patienten den Rest verteilen könnten.

Zu erwähnen, dass es solche Sachen auch in der Cafeteria gab und andere auch noch etwas mitbringen würden, ließ ich lieber sein, denn dann befürchtete ich, dass sie mich dann um einen Kopf kürzer machen würde.

Plötzlich packte mich Sophie an der Hand und zerrte mich vom Auto weg, direkt ins Haus. Mehrfach stolperte ich und trotz dessen, dass ich die ganze Zeit über fluchte, lief Sophie weiter mit mir und achtete erst gar nicht darauf, dass sie eine Blinde Person hinter sich her zog.

Wehe sie hat keinen guten Grund dafür, dann kann sie einmal erleben, wozu ich fähig bin.

Beinahe machte mein Gesicht mit der Treppe die Bekanntschaft, wenn meine tolle andere Hand mich nicht rechtzeitig aufgefangen hätte.

„SOPHIE!“, schrie ich sie an.

Sofort hörten ihre Schritte und Hände auf mich die Treppen hoch zu zerren und alles blieb ruhig.

„Was soll die ganze Scheiße? Ich bin doch keine beliebige Puppe, die du durch das Haus schleifen und gegen jede Ecke und Kante werfen kannst. Falls es dir entgangen sein mag, aber ich kann nichts sehen und es wäre ganz freundlich von dir mir zu sagen, was das alles werden soll.“, wütend keifte ich sie an.

„Oh Gott, tut mir leid. Ich war nur so in Gedanken versunken, dass ich gar nicht darauf geachtet habe. Warte, ich helfe dir.“

Die versöhnliche Stimme von ihr brachte mich dazu, den Zorn in mir zu vergessen und ich spürte ihren Arm um meine Taille herum. Sie zog mich nach oben und sobald ich wieder auf der Treppe stand, drehte ich den Kopf in ihre Richtung.

„Was ist denn nur los mit dir?“, fragte ich besorgt und drückte leicht ihre Hand.

„Meinst du, du würdest dich trauen ein Kleid anzuziehen, dich von mir frisieren und schminken lassen? Ich wollte das schon immer bei dir tun. Und außerdem ist der Geburtstag deiner Mutter nicht Grund genug dazu?“, überging sie meine Frage und seufzend neigte ich den Kopf nach unten. Anscheinend wollte sie mich ihre Sorgen und Gedanken wissen lassen. Ich selber hatte meine Privatsphäre vor Sophie, aber da hatte ich noch nie versucht eine ihrer Fragen zu übergehen.

Nein, stattdessen habe ich sogar eine wage Beschreibung ihr geliefert.

Etwas gekrängt nickte ich vor mich hin und plötzlich hörte ich Sophie freudig Jubeln und Aufschreien. Mit einem Mal wurde ich erneut die Treppenstufen hochgeschoben – diesmal jedoch vorsichtiger – und direkt in Sophies Schminkzimmer gebracht. Dort setzte sie mich in einen Stuhl und ich hörte nur noch ein hin und her raschen, was mich verwirrt inne halten ließ.

Was…ein Kleiderschrank? Was sucht sie denn?

„Zu groß…zu hell…zu dunkel…igitt, orange…“ So ging es die nächsten Minuten weiter, bis Sophie mit einem Mal ein begeistertes Quietschen von sich gab.

„Das ist es.“

Ihr Flüstern war beinahe Ehrfurchtsvoll und ich fühlte mich etwas mulmig unter meiner Haut. Schnell ging ich in meinem Kopf durch, was ich wohl zugestimmt haben sollte und als es mir einfiel, riss ich erschrocken meine Augen auf.

Mehr Pech kann man heute eindeutig nicht haben. Naja, dann kann sich wenigstens Mommy darüber freuen, mich zum ersten Mal in einem Kleid zu sehen.

Die nächste Stunde verbrachte ich damit ruhig herum zu sitzen und mich schließlich in ein hautenges Kleid zu schlüpfen, welches mir gerade einmal bis zu den Knien reichte. Zum Glück konnte ich meine Beine darin gut bewegen und große Schritte machen, sodass es mir einfach fiel in dem Kleid herum zu laufen. Mit einer zur Hälften hochgesteckten Frisur und einem geschminkten Gesicht – welches mich vorhin mehr als einmal husten ließ – lief ich die Treppen hinunter, wobei ich ehr etwas seitlich gehen musste. Schulterzuckend nahm ich es hin und strich mir noch einmal über das Kleid über, sobald ich unten angekommen war.

Von irgendwoher vernahm ich ein überraschtes Keuchen und verwirrt hob ich den Kopf und wandte mich in die Richtung, aus der dieses Geräusch kam.

„Wow.“

Lächelnd lief ich auf ihn zu und gab ihm einen Kuss auf die Wange bevor ich ihn umarmte.

„Senna, du solltest lieber wegsehen. Nicht dass du noch eifersüchtig wirst.“, meinte Timo schmunzelnd zu seiner Freundin und ich spürte im selben Moment – als ich von Timo losließ – zwei Arme, die sich um meinen Hals schlangen.

„Ignorier dieses Arschgesicht, das sich mein Freund schimpft. Gott habe ich dich vermisst in den letzten zwei Monaten.“, flüsterte sie an meinem Hals und drückte mich noch einmal fest an sich, bevor sie mich losließ, jedoch die Hände an meinen Schultern ließ.

„Me too, Princess Senna. Wie war es in Frankreich? Neue Leute und Künstler kennengelernt?“, fragte ich sie lächelnd und legte den Kopf etwas schief. Meine Hochsteckfrisur rutschte leicht zur Seite, sodass ich wieder mit geradem Kopf vor ihr stand, damit an der Frisur noch alles heil blieb.

„Die gehen mir langsam alle am Arsch vorbei mit ihrem Französisch. Die ganze Zeit tun die nur so, als wäre ich die Heilige Maria mit meiner Kunstausstellung, nur um gleich darauf hinter meinem Rücken über mich zu spotten. Zu deren Glück, dass die nicht wissen, dass ich Französisch kann. Jetzt weiß ich wenigstens, wer meine Bilder nicht bekommen wird.“

Ich konnte mir ziemlich gut ihr fieses Grinsen vorstellen und kopfschüttelnd wandte ich mich von ihr ab und lief ins Wohnzimmer, nachdem ich ihnen mit der Hand eine Geste gegeben habe, damit sie verstanden einzutreten.

„Oh, meine beiden Turteltauben. Schön, dass ihr hier seid. Was sagt ihr zu meinem Experiment?“, durch die ganze Aufregung in ihrer Stimme, bemerkte sie noch nicht einmal, dass sie einen starken Französischen Akzent hatte und ich versuchte nicht loszulachen, als ich mir Sennas Gesicht vorstellte.

„Das ist das Erste Mal, dass ich in den ganzen zehn Jahren unsere Rose in einem Kleid gesehen habe. Gute Farbe. Das hätte ich nicht erwartet.“, meinte Timo noch immer verwundert.

„Ich denke, dass hätte keiner erwartet. Rose, du siehst in diesem Kleid einfach nur Hammermäßig aus. Es ist einfach für dich geschaffen.“, meinte Senna und ich wurde etwas verlegen. Am liebsten wünschte ich mir zu wissen, wie ich wohl auszuschauen vermag, doch die Schwärze vor meinen Augen verhinderte es. So wie immer.

„Aus der hässlichen Ente, haben ich gezaubert einen wunderschöne Schwan. Wobei das Wort hässlich so gar nicht stimmt. So atemberaubend, wie meine kleine Rose ist, ist das Wort nicht einmal in ihrer Nähe verwendbar.“, faselte Sophie vor sich hin.

„Atme erst einmaltief durch.“, meinte Timo schnell und ich hörte, wie die Person vor mir laut Luft einatmete.

„Lasst uns losgehen und einen schönen Geburtstag feiern.“

Sobald ich alles hatte, was ich benötigte, machten wir uns hin in die Autos einzusteigen und loszufahren. Die Fahrt verlief ruhig und die Musik veränderte immer wieder meine Stimmungen. Ich konnte geradezu spüren, wie mein Herz immer wieder zu der Musik im selben Takt pochte. Ich liebte dieses Gefühl und dieses Wissen mit der Musik eins zu sein.

Sobald die Quietschenden Reifen und das Geruckel aufhörten, gab mir Sophie bescheid, dass wir da waren. Wir steigen aus und sie drückte mir einige Dinge in die Hand.

„Du kennst den Weg ja.“, meinte Sophie und gab mir einen leichten Stoß. Etwas aus dem Gleichgewicht gebracht versuchte ich sie irgendwie besser in meine Arme zu rücken, indem ich mich in alle erdenklichen Richtungen bog und jedesmal auch aufpassen musste, dass nichts hinunterfiel. Sobald alles saß und stand, wo es sein sollte, lief ich los. Der – mir vor allem sehr bekannte – Weg bis zum Eingang des Krankenhauses dauerte eine lange Ewigkeit und freundlicherweise drückte jemand den Knopf des Fahrstuhles für mich, während wir nach oben fuhren.

Sobald ich im Zimmer meiner Mutter ankam, fingen mich Timo und Senna dort noch rechtzeitig ab und brachten mich in einen anderen, aber freien Raum. Schließlich sollte es eine Überraschungsgeburtstagsfeier, -party – je nachdem – werden. Ich vernahm von allen Seiten und Ecken, Gemurmel und Getuschel. Wie ich später erfuhr, waren einige Krankenschwestern, Ärzte, Patienten und eingeladene Gäste dabei.

Mit einem Punsch in der Hand, nippte ich immer wieder daran, um die Langweile zu überspielen. Immer mehr Gäste trafen ein und da es mir zu laut und zu voll wurde, tastete ich mich an der Wand entlang zum Buffet und sobald ich dort sicher angekommen war, musste ich die nächste Hürde meistern. Meine Finger tasteten auf dem Tisch nach den Tellern, doch stattdessen traf ich auf das Besteck zu. Seufzend fuhr ich vorsichtig über die Klingeln, bis ich mir letztendlich eine Gabel und einen Löffel, sowie ein Frühstücksmesser mit der Serviette in die Hand nahm. Einige Zentimeter weiter entfernt, fanden meine Finger die Teller und ich musste mich leicht nach vorne beugen, um das Teller in die Hand zu nehmen.

Sobald nichts herunter fiel, tastete ich mich weiter bis zum Essen durch. Ich hatte seit gestern Abend nichts mehr gegessen du heute Morgen war mir der Schulalltag ein weniger hektischer vorgekommen, als sonst irgendwann.

„Hey, kann ich dir etwas auf den Teller tun?“, fragte mich Timo leise, sodass ich etwas erschrocken zusammenfuhr.

„Ja, bitte. Am Ende denken die noch ich bin ein Tier, weil ich an allem meine Nase hineinstecken muss.“, meinte ich lächeln. Obwohl ich es nie mochte Hilfe anzunehmen, wusste ich, dass es Situationen gab in denen man sie annehmen sollte. Wie diese hier auch.

Um das Essen zu erkennen, musste ich etwas dazu in die Reichweite meiner Nase bringen und daran riechen. Bisher war ich ziemlich gut darin das Essen zu erkennen, doch ich war ziemlich fertig vom heutigen Tag und all den Gestolperten Momenten.

Timo listete mir auf, wo was stand und tat mir immer wieder etwas auf den Teller. Im Moment war ich ziemlich froh, dass er dies übernahm und nicht irgendeine Fremde Person.

Zu oft hatte meine Mutter gesagt, dass es eine Selbstverständlichkeit sei mir zu helfen, aber ich Schämte und Ärgerte mich darüber.

Hilfe angeboten zu bekommen, da man selber nichts auf die Reihe bekam, war etwas Beleidigendes für mich. Am liebsten würde ich alles ohne Hilfe bewerkstelligen, doch manchmal da benötigt selbst jemand wie ich Hilfe.

Wir nahmen am Tisch Platz und aßen auf, während wir uns über alles Mögliche redeten, bis sich Hände auf meine Augen legten.

„Dreimal darfst du raten, wer hinter dir steht.“

Im Elend bleibt kein andres Heilungsmittel als Hoffnung nur.

 

 

  • William Shakespeare

 

 

„Nein.“

Schockiert klappte mein Mund auf. Ein leiser Hauch, der einem tonlosen Kreischen ähnelte, verließ meinen Mund, bevor ich meine Hände auf die seine legte. Fest biss ich mir auf die Unterlippe, damit die Tränen nicht die Wange hinunterflossen.

Mein Stuhl knarrte, als ich ihn zurückschob und aufstand, doch ich vernahm diesen Laut kaum. Seine Hände lösten sich von meinen Augen und umarmten mich, sobald ich aufgestanden war und mich in seine Arme geschmissen hatte.

„Wie geht es dir? Ich…Mom wird sich freuen.“

„Du etwa nicht? Du enttäuscht mich, Rose. Blinde werden mir langsam zu blöd.“, schimpfte er.

Meine Faust rutschte kurz aus.

„Autsch.“

Das Grinsen aus seiner Stimme war nicht zu überhören. Auch nicht das Zittern. Er konnte mir einfach nichts verheimlichen.

„Idiotische Brüder leider auch.“, konterte ich und sog seinen Duft ein.

„Hast du schon mal deine Figur gesehen? Du bist fett geworden.“

Seine Finger stocherten meinen Bauch. Empört hob ich den Kopf und hielt seine nervigen Finger fest. Ein Schmunzeln machte sich in meinem Gesicht breit.

„Noch immer Single, Jamie? Armselig, wenn du bei mir die Fehler suchst.“

Fiese Worte verließen meinen Mund, doch sie taten mir nicht leid. Stattdessen konnte ich nicht aufhören mich zu Freuen und Zufriedenheit zu empfinden.

„Noch immer einen großen Mund, was? Fehlt nur noch, dass deine Augen für sich sprechen.“, neckte mich und ließ mich schließlich los. Es war schön ihn wieder hier zu haben.

„Komm, lass uns tanzen.“, meinte er, als er kurze Zeit lang still war. Er war schon immer das Gegenteil von mir gewesen und dennoch der ein und derselbe wie ich.

Er führte mich zur improvisierten Tanzfläche, wie ich herausfand, nachdem Jamie darüber geschimpft hatte, dass es in einer hässlichen, verwahrlosten Disco noch viel hübscher gewesen wäre. Kopfschüttelnd folgte ich ihm und ignorierte seine Lästereien.

Diese Diva.

Damals haben wir darüber spekuliert, ob Jamie zum anderen Geschlecht wechseln würde oder einfach nur Schwul war. Meine Mutter und ich hatten und immer einen Spaß damit erlauben lassen, wenn seine Freunde oder Bettgeschichten zu Besuch waren.

Da hatten wir so getan, als wäre er Transvestit und haben regelmäßig ihm einige Abendkleider in den Schrank gesteckt, wenn er zu einer Party gehen wollte. Als frischer Teenager hat man da gerne bei allem mitgemacht, nur um den großen Bruder zu ärgern.

Seine Hände legten sich leicht auf meine Taille und wir begannen uns leicht zum Rhythmus der lauten Musik zu bewegen. Mein Bruder war es, der mir das Tanzen beigebracht hatte, bevor ich vollkommen erblindete. Er hatte gewollt, dass er wenigstens eine coole Blinde Schwester hat, damit er seinen Ruf nicht verlor. Den Gefallen hatte ich ihm einfach getan, obwohl ich mehr als einmal etwas Beleidigendes zu seinem Ruf geäußert hatte.

„Da komm ich dich nach einem Jahr besuchen und du denkst an irgendeine Scheiße.“, warf er mir vor. Schief legte ich den Kopf und blieb stehen.

„Tut mir leid. Wie kam es eigentlich dazu, dass du hier bist?“, erkundigte ich mich und drehte eine kleine Pirouette.

„Mom zu verabschieden. Ist doch ihr letzter Geburtstag.“

Abrupt hörte ich auf zu tanzen und biss fest die Zähne zusammen, doch die Tränen entschieden ihren eigenen Weg, als sie meine Wange hinunter tropften.

„Sag so etwas nicht.“, beharrte ich und senkte den Kopf. Ein Mensch hätte jetzt den weißen Fliesenboden gesehen, doch bei mir tauchte nur die verschwommene Erinnerung daran auf.

„Hast du dir mal ihre Werte angesehen?“

Er hatte anscheinend auch aufgehört zu tanzen, denn er beugte sich zu mir hinunter.

„Sie wird sterben. In ein oder zwei Monaten, wenn sie Glück hat, weniger als ein halbes Jahr. Aber es ist kein Glück weiterhin zu leiden, findest du nicht auch?“, stellte er klar.

Blinzelnd versuchte ich nicht die Augenlieder zu schließen und mich der Dunkelheit hinzugeben.

„Was hat sie getan, dass du so über ihren Tod redest? Sag es mir.“, schrie ich ihn an und ging auf Abstand.

„Sie hat sich für ihn entschieden, Rose.“

Die Musik verstummte und alle wurden leise.

„Überraschung.“, schrien alle plötzlich und sangen. Das Geburtstagslied hörte sich für mich an, wie der nächste Schritt in die Verdammnis.

Manche Klatschen, dann hörte ich immer wieder, wie Fotos geschossen wurden und meiner Mutter Komplimente machten, die nicht stimmten.

Sie sah nicht gut aus.

Sie war nicht wohlauf.

Sie würde es nicht schaffen.

Sie sollte sich nicht auf ein weiteres Jahr freuen.

All das sollte nicht sein. Und dennoch hörte ich es immer wieder die Leute sagen, während sie lachten.

Jamie legte seine Hand auf meinen Arm, doch ich entzog sie ihm sofort und lief auf meine Mutter zu, die heute anscheinend in einem Rollstuhl saß, als ich mich herunter beugen musste, um sie zu umarmen. Sobald ich ihr einen Kuss auf die Stirn gedrückt hatte, ihr meine Glückwünsche zusprach, entschuldigte ich mich und verließ das Zimmer so schnell es ging in gleichmäßigen Schritten.

Mir war klar, dass Jamie mir folgen würde, doch im Moment war es mir egal.

Da der Fahrstuhl einfach nicht kommen wollte, nahm ich kurzerhand die Treppen und eilte sie schnell herunter. Den herunterfahrenden Fahrstuhl konnte ich dennoch im Hintergrund wahrnehmen.

Kaum war ich in der kalten, frischen Luft, da hielt mich Jamie schon auf. Er schnappte sich meine Hand und zwang mich dazu stehen zu bleiben.

„Sie darf einfach nicht sterben. Nicht sie.“, flüsterte ich weinend und nickte vor mich hin.

„Sie nicht, Jamie. Versteh das doch.“

Sein Daumen strich mir beruhigend über den Handrücken, doch es regte mich nur umso mehr auf. Ich nahm meine Hand von ihm weg und verschränkte die Arme vor der Brust, die bebte.

„Es ist mir egal, ob du Arzt bist und schon tausenden Menschen beim Sterben zugesehen hast. Sie ist unsere Mutter, verdammt.“, fuhr ich ihn in meiner Wut an und schlug ihm auf die Brust. Vielleicht war es auch der Arm, ich wusste es nicht und es war auch nicht wichtig. Es reichte mir, wenn er die Botschaft Verstand.

„Was soll ich tun, Rose? Sag es mir. Hoffnung habe ich keine mehr. Ich will es nicht einmal versuchen, welche zu haben. Denn ich habe gesehen, was mit den Leuten passiert ist, nachdem ihre Hoffnungen sich nicht erfüllt haben. Das waren keine Menschen mehr. Das waren Alkoholiker, die ihren Schmerz und ihre Trauer mit einer Flasche Bourbon versuchten zu lindern.“, schrie er zurück und ich konnte spüren, wie seine Hände vor mir sich Bewegten, als könne er die Situation mit ihnen erklären.

Dabei wussten die meisten Menschen nicht einmal, dass es nur allein ihr Körper und die Stimme waren, die mir alles sagten, was ich zu wissen brauchte.

Jamie bewegte sich nicht wütend auf und ab. Nein, stattdessen stand er so still, dass nur seine Stimme und sein herum gefurchte mich ihn nicht ignorieren ließen.

Aber was er sagte trocknete meine Kehle aus, damit noch mehr Wasser in meine Augen fließen könnte.

„Das nennt man Liebe, Jamie. Es tut mir leid für dich, wenn du das nicht mehr für Mom empfindest. Oder für mich. Denn selbst wenn du keine Hoffnung mehr hättest, würdest du für uns kämpfen.“

Sein Atem stockte, sobald die Worte aus meinem Mund hinaus sprudelten.

Ich trat einen Schritt zurück und leckte das Blut von meinen Lippen weg. Der brennende Schmerz war nichts zu dem, was in diesem Moment meinem pochenden Herzen an Schmerz es zusetzte.

„Ich werde nicht mehr zurückkommen. Die Beerdigung musst du leider selber regeln und alles danach. Sag Mom es tut mir leid.“, flüsterte er.

„Das ist alles? Die Frau hat ihr Leben lang für uns gekämpft, nur damit du ihr den Rücken zudrehst? Kein Lebewohl von Angesicht zu Angesicht? Will du mich verarschen?“

Panik stieg in mir auf, während ich schluchzend nach Worten rang.

„Du solltest dich schämen, Jamie. Vielleicht erinnerst du dich nicht mehr dran, aber sie hat drei Jobs angenommen, nur um es dir ermöglichen auf die Schule zu gehen, die du schon immer besuchen wolltest. Sie hat es dir ermöglicht zu Studieren, weiter weg zu leben, ein neues Leben zu führen. Jeden Schlag hat sie von Dad ertragen, nur damit wir ein Dach überm Kopf haben. Ist das dein Dank dafür? Wenn ja, dann brauchst du nie wieder hier aufzutauchen.“

Meine Beine gaben zitternd unter mir nach und fest presste ich mir die Hand vor den Mund, um den Schrei zu unterdrücken, der aus meiner Brust hinaus wollte.

„Rose.“, flüsterte er gequält, doch ich schüttelte einfach nur den Kopf und wisch zurück, als er mich erneut anfassen wollte.

„GEH EINFACH. Tu doch einfach das, was FÜR DICH am Besten ist. Denk ja nicht wieder an Mom oder mich, wenn du uns wieder allein zurücklässt.“, brüllte ich ihn enttäuscht und verletzt an.

Quietschende Reifen hielten einige Meter weiter und eine Tür wurde aufgerissen. Normalerweise hätte ich es ignoriert, doch die Stimme, kam mit lauten Schritten näher.

„Wer bist du, verdammtest Arschloch? Hat er Ihnen was angetan?“

„Nein.“, krächzte ich tonlos, bevor sich hier jemand prügeln konnte. Obwohl ich gerne meinem Bruder eine Ohrpfeife verteilen würde, tat ich es nicht. Solch ein Mensch war ich nicht und zulassen würde ich auch nicht, dass hier irgendwer hier die Fäuste hob.

„Es ist alles in Ordnung. Nur eine schlechte Nachricht.“

Damit brachte ich den Mann zum Gehen, obwohl er kurz zögerte. Er fuhr wieder mit dem Wagen weg.

Schnell wischte ich mir alle Flüssigkeit aus dem Gesicht fort und zwang meine zitterten Arme dazu sich am Boden abzustützen. Kaum hatte ich es geschafft mich in Hüftenhöhe zu erheben, da sackte ich schon wieder zusammen.

Heute war wirklich mein Tag und seltsamerweise wollte er einfach nicht besser werden.

Meine Augenlieder senkten sich, bis ich die Augen ganz verschlossen hatte und versuchte den Schmerz in meiner Brust zu dämmen, indem ich meine – zur Faust geballten – Hand gegen mein schlagendes Herz drückte.

Das ständige, gleichmäßige Klopfen machte mich verrückt. Der Herzschlag verlief wieder normal, obwohl nichts mehr normal war. Mein Leben war nicht normal.

Aber welches Leben ist das denn schon.

„Au.“, überrascht löste ich meine Hand von meiner Brust und bemerkte, dass ich versehendlich vor lauter Wut die Fingernägel als Krallen benutzt hatte.

Der Mann hatte mich gefragt, was Jamie mir angetan hatte.

Ein erneut zerstörtes Herz traf am Besten zu.

Obwohl ich es vermeiden wollte, schien heute ein Tag der Tränen zu sein, denn sie flossen erneut. Frustrieret biss ich in die Innenwange, bis ich selbst dort glaubte Blut zu schmecken.

Arme legten sich um mich, sodass ich erschrocken zurückfuhr.

„Geh weg, Jamie.“, verlangte ich schniefend und vernahm, wie er einen Schritt näher kam und die Hand auf dem Boden stützte, um sein Gleichgewicht nicht zu verlieren.

„ICH LIEBE DICH. Aber ich kann das…es geht einfach nicht mehr. Tu mir nur den Gefallen und verabschiede dich von ihr, ohne, dass sie es wahrnimmt. Sie soll wenigsten nicht noch ihre Hoffnung verlieren.“

„In Ordnung.“, flüsterte er und zog mich in eine letzte Umarmung. Eng umschlang ich ihn und drückte ihn ein letztes Mal, damit er verstand, wie viel er mir eigentlich bedeutete.

„Ruf wenigstens ein paar Mal an, egal wann. Du bist mir nicht egal und selbst wenn sie…ich brauche dich, Jamie. Okay.“

Schluchzend ließ ich ihn los und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn.

„Ich liebe dich auch, Rose. Aber ich kann nicht mehr.“, gab er leise zu.

„Jedesmal kann ich nicht mehr, Jamie. Obwohl ich jedesmal durchdrehe, wenn sie leidet und um ihren Tod fleht. Niemand würde das aushalten können. Aber wir müssen.“

„Warum tust du dir das an, Rose? Sag mir warum? Willst du dich in den Tod stürzen, wenn sie nicht mehr da sein wird? Sag mir, was du tun wirst, wenn sie nicht mehr in ihrem Bett liegt und atmet. Sag es mir.“

Seine Wut war zu spüren und zu verstehen, doch ich zuckte einfach nur mit den Schultern.

„Mein Leben ist doch ohnehin nicht mehr mit Licht erfüllt. Jeden Tag tue ich dasselbe, weil in mir einfach nichts mehr ist, was es Wert ist zu kämpfen. Keine Träume, keine Wünsche. Einfach…nichts. Warum sollte ich dann der Tatsache nichts ins Gesicht sehen?“

Traurig blinzelte ich die Tränen weg, die sich wie Blei anfühlten.

„Hast du auch nur eine Sekunde lang darüber nachgedacht, was du gesagt hast, Rose? Bist du noch von allen Geistern?“

Seine Fassungslose Stimme ließ mich zusammenzucken, doch es änderte nichts dem dran, was ich zu sagen hatte.

Leise lachte ich, dabei füllten sich meine Augen immer mehr mit Tränen. Mein Mund öffnete sich, doch nichts kam heraus.

Es auszusprechen tat einfach nur viel zu sehr weh.

„Du bist noch jung, schön und klug. Deshalb musst du doch nicht alles wegwerfen.“

Seine Stimme zitterte schlimm, als er sprach, doch die Worte schlüpften ihm fehlerfrei aus dem Mund.

„Du warst nicht bei mir, als ich dich brauchte. Kein einziges Mal. Mom war immer nur arbeiten und erkrankte bald darauf. Selbst sie hätte mir nicht helfen können. Niemand war da. Egal wie viele Menschen in meinem Leben sein werden, sie werden nie da sein, wenn ich sie brauche. Dank der Dunkelheit habe ich angefangen Sachen mir vorzustellen, nur um daraufhin in Selbstmitleid zu versinken. Hoffnungen verschwanden und nach und nach auch das Leben in mir. Also sag mir nicht, dass du nicht mehr kannst. Denn obwohl ich schon lange alles verloren habe, kämpfe ich um sie. Seit drei Jahren, JEDEN VERDAMMTEN TAG!“, brüllte ich ihn an und umschlang die Arme um mich, als könnten sie mich trösten. Mich in Sicherheit wiegen, doch das taten sie nicht. Sie hatten nicht mehr die Fähigkeit dazu, nachdem ich selber mir nicht einmal das Gefühl vermitteln konnte in Sicherheit zu sein.

„Du hast nie etwas gesagt. Kein einziges Mal.“

Verschiedene Gefühle krochen in mir auf und wollten sprechen.

„Doch, das habe ich. Immer wieder, aber du hast es nie beachtet. Du hast mich nie gefragt, wie es mir geht. Kein einziges Mal hast du dich nach mir erkundigt, wenn du weg warst. Dann habe ich angefangen die Schuld bei mir zu suchen, sodass alles nur noch schlimmer wurde. Aber um ehrlich zu sein, geht es mir jetzt viel beschissener.“

Meine Kehle war so trocken, dass ich eine kurze Pause einlegen musste.

„Erst als ich alles verloren hatte, was mir halt gab, verstand ich mein Leben. Die Gedanken sind immer wieder gekommen, haben mich innerlich zerfressen. Und dann hatte Mom Krebs. Anstatt mir ein wenig zur Hand zu gehen, hast du deine Sachen durchgezogen. Irgendwann bist du umgezogen und ich habe an ihrem Bett gewartet, dass es ihr besser ginge.“

Enttäuscht strich ich mir die losen Strähnen aus dem Gesicht.

„Hab keine Schulgefühle, es ist lange her. Selbst wenn mir jemand zugehört hätte, wäre mein Entschluss ein und derselbe gewesen. Da bin ich mir sicher.“

Keiner von uns sagte mehr etwas. Selbst als sein Handy vibrierte, nahm er den Anruf nicht an. Wir rührten uns nicht, selbst als die Luft um uns herum kühler wurde.

Wahrscheinlich war es sogar schon spät abends, als ich mich aufrappelte und das Kleid sorgsam vom Schmutz befreite.

„Bleib wenigstens noch eine Weile bei Mom. Sie braucht dich.“, gab ich ihm zu rat.

„Hast du etwas Geld dabei? Ich will Nachhause,  aber Sophie wird mich umbringen, wenn sie mich so sieht.“, bat ich ihn und er reichte mir kurzerhand einige Scheine in die Hand.

„Rose, warte.“

Ich drehte den Kopf in seine Richtung.

„Ich werde für Mom kämpfen und beten. Es ist kein Lebewohl, aber ich werde mich nur selten blicken lassen. Jedoch möchte ich dich nur darum bitten es sein zu lassen, selbst wenn Mom sterben sollte. Wenn es jemand verdient hätte zu leben, dann vor allem nur du. Glaub mir. Du bist eine wundervolle Schwester und hast es verdient glücklich zu sein.“

„Du weißt, dass ich es nicht versprechen kann. Und Glück – Glück hatte ich schon lange nicht mehr.“

Er erwiderte daraufhin nichts mehr. Es gab auch nichts mehr darauf zu erwidern.

„Bis morgen. Sag Sophie doch bitte, dass ich ruhe brauche und Mom, dass es mir leid tut. Sie soll sich nicht den Kopf zerbrechen.“

Damit wendete ich mich ab und tastete mich vorsichtig durch die Nacht.

 

Zur Grausamkeit zwingt bloße Liebe mich.

 

 

  • William Shakespeare

 

 

„Mama, ich bin Müde.“

Aphrodite gähnte neben mir, als würde sie gerade beim Zahnarzt den Mund ganz weit öffnen müssen. Ein gutes Zeichen, sie war wirklich Müde.

„Mama, Aphrodite ist müde.“, tadelte ich und musste lachen, als ich dem Blick meiner Mutter begegnete.

„Ich bereue es dich als Kind so oft fallen gelassen zu haben.“, murmelte sie vor sich hin, doch musste dann auch lachen. Kopfschüttelnd verabschiedete ich mich mit einem Kuss bei ihnen, als sie zwanzig Minuten später ihre Sachen mitnahmen. Seit langem war ich nicht mehr über diesen Besuch so glücklich und spürte die Zufriedenheit in mir. Meine kleine Schwester hatte große Kräfte in sich, wenn sie selbst jemanden wie mich beruhigen konnte.

Dabei habe ich in letzter Zeit beschissen geschlafen.

Andauernd weckte mich etwas auf und wenn ich mich daran erinnern wollte, verblasste die Erinnerung daran. Die Augenringe unter meinen Augen sprachen Bände. Meine Mutter hatte mich schon darauf angesprochen, ebenso wie die Krankenschwestern, doch selbst mit etwas Hilfe half es nicht wirklich weiter.

Dabei hasste ich Medikamente, egal in welcher Form sie waren. Als Tablette, Saft, Spritze, Zäpfchen,… ich mochte sie einfach nicht.

Meine Kleider lagen geordnet auf dem Besucherstuhl, auf dem Tisch etwas zu essen und auf der Kommode einige Flaschen mit Alkohol gefüllt, die Gitarre in ihrem Koffer auf dem Boden.

Die Sachen habe ich ja vollkommen vergessen.

Bevor ich es mir anders überlegen konnte, schnappte ich mir den Koffer und die Flaschen. Seufzend schaltete ich das Licht in meinem Zimmer aus und machte mich auf den Weg zum Auto. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass ich nur durch die Hintertür flüchten konnte, da weitere Fans es sich gerade im Cafe gemütlich gemacht hatten. Der Besitzer musste nun gut verdienen, wenn die hier jeden Tag hier auflauerten. Vielleicht könnte ich dadurch immer öfters etwas aufs Haus bekommen.

Dieser Gedanke gefiel mir.

Ich umrundete das Krankenhaus, lief neben dem Wald entlang und starrte gelangweilt durch die Gegend. Irgendwo auf den Parkplätzen war mein Auto. Seitdem es nichts mehr zu tun gab, fuhr ich an manchen Tagen durch die Stadt, auch wenn mich die Schwestern meistens umbringen wollten, sobald sie die Verbände auswechselten.

Verwundert blieb ich stehen. Stand dort drüben nicht Rose? Und wer war der Kerl dort an ihrer Seite?

Ob die Tatsache mir gefiel oder nicht, aber die beiden schienen sich gut zu kennen, denn sie führten eine sentimentale Unterhaltung. Sofern mich meine Augen aus der Ferne nicht täuschten.

Meine Schritte machten sich auf den Weg zu ihnen, da mich ein merkwürdiges Gefühl überkam.

Mir gefiel es nicht, wenn dieser Kerl bei ihr Gefühle aufrief. Es war nicht richtig. Ich hätte die Person sein sollen, die es schaffte ihre innere Mauer zu überwinden.

„ICH LIEBE DICH…“

Meine Ohren wurden ab diesen Worten taub. Mehr brauchte es nicht. Gar nicht mehr.

Denn eine Welt brach in mir zusammen, von der ich bisher noch keine Ahnung hatte. Es war ein schreckliches Gefühl, so betäubend und dennoch schmerzhaft.

Noch nie hatte ich in meinem Leben gehört, dass es solch einen Zustand eines Gefühls gab. Aber es hätte mich nicht gewundert, wenn niemand davon sprach.

Denn die Art, wie es sich durch meinen Körper durchfraß, erinnerte mich an die Folter, obwohl ich sie noch nie durchlebt hatte.

Ihre Worte, sie fühlten sich wie Peitschenhiebe an. Falsch, die Peitschenhiebe waren mir sogar lieber als ihre Worte.

Ein Knacksen.

Verwirrt sah ich mich im Wald herum und fragte mich, wo ich gelandet war, vergaß es aber sofort wieder als ich die Flaschen in meiner Hand sah. Die Verlockung war groß und ich wiedersprach nicht ihr den Wunsch zu tun und die Flasche zu öffnen. Ein Schluck nach den anderen. So lange, bis ein Husten und ein Wärmestoß mich überfielen.

Ich liebe dich.

Diese drei magischen Worte.

Sie waren wunderschön, aber grauenvoll, da sie sie zu jemand anderem gesagt hatte.

Kein einziges Mal hatte sie erwähnt, dass sie einen Freund hätte. Nicht einmal ihre eigene Mutter.

Ich trat wütend gegen einen Baum. Mein Knöchel knackste leicht und ich stieß einige Flüche aus, bevor ich mich gegen den Baumstamm lehnte und hinunterrutschte.

Die Sachen in meiner Hand fanden den Weg auf den Boden, doch glücklicherweise passierte nichts.

Sie hatten Glück. Bei diesen Sachen war alles in Ordnung, keine Verletzungen. Ich dagegen spürte alles und dennoch nichts. Es war ein Fluch. Eine Verdammnis.

In diesem Moment würde ich an alle Fabelwesen glauben, jeden Gott anbeten und selbst diesen Engel anbeten.

So schön und hatte dennoch Worte, die mich mehr verletzten als alles andere.

Diese Tatsache schockierte mich.

Mehr als alles andere?

Dies war wirklich nicht gelogen. Denn ich Idiot musste dieses Mädchen einfach gerne haben.

Jemand, der sich mit großer Wahrscheinlichkeit nicht einmal für mich interessierte. Was hatte jemand wie ich in ihrem Leben zu suchen?

Ein verdammter Rockstar, ein Alkoholiker.

Lange starrte ich die Flasche in meiner Hand an.

Mein einziger Weg alles zu vergessen steckte in einer einzigen Flüssigkeit. Welche mich Vergessen ließ.

Sofort setzte ich die Flasche an meinen Lippen an und trank großzügig draus. Leichte Kopfschmerzen machten sich breit, doch ich ignorierte die Tatsache.

Meine Hände fanden meine Koffer und ich packte meine Gitarre aus. Zuerst stimmte ich sie an, bevor ich eine leise Melodie stimmte und sang.

 

 

Du glaubst, diese Melodien entspringen den Saiten? Es sind Klänge, die aus dem Herzen tönen.

 

  • Rassul Gamsatow

 

 

Mein Bus rauschte an mir vorbei, ohne dass ich es wirklich realisierte. Der laute, zischende Transportwagen war nicht zu überhören, doch ich war einfach nicht in der Lage dazu in diesen Bus einzusteigen.

Genauso wollte ich aber auch nicht ins Krankenhaus und Leute über Dinge reden hören, die keinen interessierte oder eben einfach nicht zu meiner Stimmung passte.

Aus diesem Grund blieb ich auf der Bank sitzen und zog die Beine an, umschlang sie mit meinen Armen und bettete den Kopf drauf. Diese Position war zwar etwas ungemütlich auf der Holzbank, ignorierte es aber gekonnt.

Erschöpft von der Auseinandersetzung mit Jamie, schloss ich die Augenlider, während ich mir vorstellte an einem schönen Ort zu sein. Der vertraute Geruch von Minze ummantelte mich, gleich darauf der von frisch gemähten Gras und einer leichten Duftnote von umgegrabener Erde.

Mein Garten.

Ein weiterer Ort an dem ich gerne meine Zeit verbrachte, vor allem im Sommer. Leider war ich nicht der größte Fan von den Maikäfern und ich hoffte, dass in den nächsten Wochen keine auftauchen würden. Außerdem würde ich wohl meine Fenster geschlossen halten müssen, wenn ich den Chor der Insekten nicht hören wollte, der mich in jeder Nacht wachhielt.

Leise Töne erklangen aus der Ferne, die mich kurze Zeit lang irritierten. Wie von selbst legte sich mein Kopf schief und ich versuchte zu lauschen, doch es gab immer ein Geräusch, welches diese Töne übertönte. Aus diesem Grund stand ich auf und beschloss mich nach dieser Quelle auf die Suche zu machen. Es war ein schwacher Trost der Situation zu entgehen in der ich grade steckte, aber dennoch konnte ich mich nicht davon losbinden. Es schien mir, als würde diese süße, aber leise Melodie rufe. Je lauter sie wurde, umso besser konnte ich hören, dass jemand sang.

Wie war es möglich, dass ich alles hörte, sei es das Gespielte des Instruments und die Stimme mit einem leichten Hauch von Leid, aber kein einziges Wort verstand, welches aus dem Mund der Person entstammt.

Am liebsten hätte ich mich versteckt und diese Tatsache ignoriert, aber meine Beine bewegten sich von selbst. Vorsichtig stützte ich mich von dem Baum ab, gegen den ich beinahe gestoßen war und traute mich nur langsam einen Schritt nach dem anderen zu machen, obwohl mein Körper mit einem Mal mit solch einer Energie gefüllt war, wie ich sie seit langem nicht mehr gespürt hatte.

Wie eine Motte wurde ich von der Musik angezogen, die mein Licht war und alles um mich herum in Vergessenheit  geraten ließ. Gerade dies führte dazu, dass ich über eine Wurzel stolperte und auf den Boden stürzte.

„Ah.“

Ein Schrei entwich meinem Mund und ich hörte etwas unter mich knacksen. Zu meinem Glück waren es nicht meine Knochen, sondern ein Ast, welches nun aber schmerzhaft gegen meine Schenkel und Knie drückte. Als ich versuchte mich auf zu rappel, hörte ich, wie die Musik abrupt aufhörte. Der Bann der Musik umgab mich nicht mehr, aber dafür eine leichte Flut von Angst, da ich nicht wusste, was diese fremde Person tun würde. Gleichzeitig dachte ein Teil von mir, dass jemand der so spielte und sang niemals zu etwas schlimmen fähig war. Leider erinnerte ich mich ziemlich gut an das Gesicht meines Vaters, der das Böse in sich war, obwohl seine Art und Geste nicht so herüber kamen. Ein Schauer ließ mich leicht erzittern und ich spürte Arme auf meiner Taille, die mir halfen mich aufzustützen.

„Alles in Ordnung mit dir?“, hörte ich Damien leise, aber mit voller Sorge fragen und ich nahm dankend seine Hilfe an. Jedoch löste ich mich sofort von ihm, als ich das Gefühl hatte unter seinen Händen zu zerschmelzen. Seine Finger fühlten sich warm auf meinem Körper an und ich hatte das Gefühl, als würde ich gerne in einen Gefriertruhe einsteigen, nur um diese Wärme nicht mehr zu spüren. Ein merkwürdiges Gefühl.

„Danke.“

„Keine Ursache. Warum bist du hier? Und allein?“

Erneut tauchte das Bild meines Vaters auf. Er hatte ebenso diese schwere Stimme gehabt, nachdem er mit einigen Freunden ausgegangen war und vieles zu sich genommen hatte. Und dann fiel mir noch eine Sache auf. Er duzte mich.

Damien Kay, ein anscheinend bekannter Sänger in einer bekannten Band namens Black Roses, unterhielt sich mit mir. Und das als seinen wir Freunde oder Bekannte.

Dabei gab es mehr als nur einen Moment in denen man uns nicht als Freunde oder Bekannte bezeichnen würde. Feinde waren wir jedoch auch nicht. Was denn dann?

Etwas Neutrales? Wie die Schweiz?

An manchen Tagen wünschte ich mir einfach nur, dass mein Hirn doch nicht so viel denken würde und alles analysieren musste. Es reichte zu wissen, dass er anscheinend betrunken war und wir uns von nun an nicht mehr Siezten. Ende der Diskussion mit meinem Kopf.

„Hast du eben gespielt?“, wollte ich wissen und spielte unsicher mit meinen Fingerspitzen und dem Saum meines Kleides.

„Ja, habe ich wohl. Wo ist dein Freund?“

Überrascht hob ich den Kopf. Mein Freund? Welcher Freund? Ach, er meinte wohl Timo. Sie kannten sich schließlich schon vom sehen.

„Er feiert mit den anderen den Geburtstag weiter. Ich hatte vor nachhause zu gehen, hab jedoch die Lust daran verloren. Und jetzt bin ich hier, weil mich die Melodie angelockt hat, die du gespielt hast.“

Ich gab mir mühe nicht zu zittern, aber es wurde so langsam ziemlich kalt hier draußen und ich verfluchte mich innerlich dafür, dass ich meine Jacke oben vergessen hatte.

„Schön für ihn.“, grunzte er genervt, sodass ich nicht ganz wusste, wie ich mit dieser Situation umgehen sollte. Solch ein Gefühlswechsel war ich nicht gewohnt.

„Ist mit dir alles in Ordnung?“, sprudelte es aus mir heraus, bevor ich meinen Mund aufhalten konnte und neigte den Kopf unsicher nach unten.

Damien überging die Frage, indem er sich auf den Boden fallen ließ und sich seine Gitarre schnappte, die einen hohlen Ton von sich gab, die man aus leeren Holzboxschachteln kannte.

Ein vertrauter Ton.

„Spielst du mir etwas vor?“

Im selben Moment, als ich ihn fragte, ließ ich mich neben Damien auf den Boden nieder und schob mir eine verirrte Strähne aus dem Gesicht. Wie ich im Moment aussah, vermochte ich mir erst gar nicht vorzustellen. Um ehrlich zu sein, konnte ich es mir nicht einmal vorstellen, aber ich wusste noch, wie es aussah, wenn Leute geweint hatten, die Schminke trugen und eine leicht zerstörte Frisur hatten.

Wie eine totale Katastrophe.

Dieser Gedanke ließ mich gegen meinen Willen lächeln und gleichzeitig den Kopf schütteln.

„Woran denkst du?“

„Daran, dass ich wie eine totale Katastrophe auszusehen vermag.“, gab ich ehrlich zu und blinzelte, während ich mich im selben Moment fragte, warum ich es überhaupt zugegeben hatte. Es würde ihn ohnehin nicht interessieren.

„Du siehst nie Katastrophal aus. Das ist nicht möglich.“

Damiens Worte, sie waren….

Sie waren wie Balsam für die Seele. Sie waren ernst gemeint, waren ein Kompliment und gleichzeitig das netteste, was ich von einem Mann gehört hatte.

Das Gefühl, als würden meine Wangen mit 1000 Watt leuchten oder sogar glühen, ließ mich nicht mehr los und ich hoffte, dass er die Röte in meinem Gesicht nicht bemerkte.

„Die Röte steht dir. Auch wenn ich sie dank der Dunkelheit kaum sehen kann, aber sie passt zu deinem Teint.“

Leider hoffte ich vergeblich, wobei man sagen musste, dass ich nicht wirklich gehofft hatte, dass er es ignorierte. Es war nur etwas dahin gedachtes. Und das was er erneut aussprach trieb nur noch mehr Röte in mein Gesicht.

Völlig hilflos saß ich also da, schaffte es keinen Ton von mir zu geben und biss mir unruhig auf die Unterlippe, bis sie blutete.

Mit einem Mal fing er wieder an diese sanften Töne und Melodien zu stimmen und mich in eine Welt zu verzaubern in der ich glaubte wieder die Lichter sehen zu könne.

Sollte ich eine Sache noch gedacht haben, dann war es, wie nur solch eine Melodie aus dem Herzen kommen konnte.

Der Gehorsam ist nur wenig Sache des Leibes, viel aber Sache des Herzens.

 

  • Madeleine Delbrel

 

 

Ich musste zugeben, dass mich sein Vorspiel ziemlich beeindruckte. Um genau zu sein, war jedes Gitarrensolostück nicht so gut wie seines, egal ob live oder aufgenommen. Solche leise, süße Töne zu erzeugen, die aber mit einer Hauch von Leid und Qual erfüllt waren, ließen mein Herz schneller klopfen.

Und obwohl die Töne schon längst in der Nacht abgeklungen waren, ließ mich das Gefühl nicht los, einen wunderbaren Augenblick miterlebt zu haben.

„Hast du sie selbst komponiert? Diese Melodie?“

Noch nie hatte ich meine eigene Stimme so verzaubert und verblüfft gehört. Wie man so schön sagte. Es gab immer ein erstes Mal.

Es dauerte eine Weile bis er antwortete. Wahrscheinlich hatte er genickt, so wie es öfters unbewusst bei manchen Menschen geschah.

„Um ehrlich zu sein habe ich sie an dem Abend geschrieben, als du mir einige Ratschläge gegeben hast, um Aphrodite zum Einschlafen zu bringen. Sie wollten mich einfach nicht loslassen und haben mir einige schlaflose Nächte zubereitet.“

„Tut mir leid.“

Er lachte leise.

„Du entschuldigst dich dafür, dass mein Kopf mich nicht in Ruhe lassen wollte, nur weil du mich zu etwas inspiriert hast?“, ging er nach und ich hörte selber, wie lächerlich es klang.

Jedoch steckte mich sein Lachen an, sodass sich meine Mundwinkel erhoben.

Wie er wohl aussehen mag?

Wie ein Blitz schlug diese Frage in meine Gedanken und ließ mich für einige Sekunden vergessen wo ich war.

Ein warmer Stoff holte mich wieder zurück in die Gegenwart und ließ mich erschrocken zusammenzucken. Mit meinen Händen befühlte ich den Stoff, den man um meine Schulter gelegt hatte und bemerkte, dass es eine Jacke war.

„Du musst mir doch nicht deine Jacke geben, Damien. Du hast sie bestimmt viel nötiger als ich.“, lehnte ich sofort ab und wollte sie ihm zurück geben, als er meine Hände zur Seite schob.

„Mir ist warm genug.“, lehnte er ab und ich konnte kurz etwas leicht Rascheln hören. Erst als er die Luft ausließ, konnte ich mir vorstellen, dass er sich gegen einen Baum gelehnt hatte.

„Ähm,…“

Seltsamerweise war es ziemlich schwierig überhaupt etwas aus meinem Mund zu bekommen, obwohl ich erst vor kurzem keine Probleme damit gehabt hatte.

„Darf ich…“ Stockend nagte ich auf meiner Unterlippe herum und wusste nicht ganz, wie ich diese Frage formulieren konnte.

„Ich beiße schon nicht, Rose.“

Obwohl ich in seiner Stimme leichte Belustigung vernahm, konnte er seine Neugier auf meine Frage nicht verleugnen.

Erneut setzte ich an und schaffte es, wenn auch meine Stimme ab und zu stockte.

„Dürfte ich dein Gesicht mit meinen Händen erkundigen? Ich würde gerne wissen, wie ich mir dich vorzustellen habe.“

Es blieb still. Bis auf den leisen Wind, das Rascheln der Bäume und Büsche und den kleinen summenden Insekten, war vollkommenes Stillschweigen entstanden. Wobei man aber die Straße und Fahrzeuge aus der Ferne ignorieren musste, die immer wieder Geräusche von sich gaben.

Und obwohl ich auf jedes kleines Detail hörte, dass sich in meinem Umfeld bemerkbar machte, vernahm ich nur die Stille. Eine Art von Stille, die ich nicht gewohnt war.

Um ehrlich zu sein fühlte ich mich, als könnte ich wegrennen. Nein, als würde alles in mir wegrennen wollen, weil ich diese Stille und dieses Schweigen nicht mehr aushielt. Es war falsch gewesen ihn überhaupt zu fragen.

„Warte.“

Doch ich war schon aufgestanden und hatte ihm die Jacke zugeworfen und war mit großen Schritten dabei einen Weg aus diesem Dschungel zu finden.

„Rose.“, rief Damien hinter mir her, sodass sich meine Beine beschleunigten und versuchten so schnell wie möglich einen Ausweg aus all dem Gestrüpp zu finden, die sich mir die ganze Zeit in den Weg stellten.

Mein Orientierungssinn war verschwunden und nun irrte ich hier herum, gefangen in der Natur, die mich einfach nicht freilassen wollte.

„Rose, bleib sofort stehen!“

Abrupt stockten meine Beine in ihren Bewegungen, sodass ich Anhalten musste, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Unbewusst hatte ich ihm gehorcht, wie ich erst jetzt realisierte. Es war ziemlich merkwürdig und vor allem ungewohnt für mich, dass ich stehen blieb, auf ihn hörte, obwohl sich so vieles in mir gegen ihn wehrte.

Schon lange hörte ich den Leuten nicht mehr zu. Nur selten und nicht wirklich. Und das nur, weil ich entweder schon bereits wusste, was geschehen würde oder war, oder aber weil ich einfach nichts von der Person wissen wollte.

Aber Damien… interessiert mich.

„Warum bist du gegangen? Habe ich etwas falsch gemacht?“

Ich schluckte.

„Rose? Alles in Ordnung?“

Seine Sorge war nicht zu überhören, ebenso war die Nähe seines Körpers zum Greifen nahe. Erneut fragte ich mich, ob er fieber hatte, oder ob mir diese Körperwärme zum ersten Mal auffiel.

 „Nein, …du…ich…“

Kurz gesagt, ich war nicht mehr dazu in der Lage überhaupt etwas auf die Reihe zu bringen. Eine Niete.

Nach all den Jahren hatte ich mir so viel Mühe gegeben keine zu sein, doch nun fühlte ich mich so.

Erbärmlich.

„Ich sollte gehen…es ist spät und ich…ähm…“

Anstatt weiterhin solch abgebrochene Sätze zu formulieren, drehte ich mich wieder um und tastete mich von einem Baum zum anderen ab.

„Warum willst du vor mir fliehen, Rose?“

Erschrocken stieß ich gegen Damiens Körper, welcher plötzlich vor mir stand und wisch unsicher mehrere Schritte zurück, als ich an meinem Rücken die Härte und Unebenheit eines dicken Baumstammes spürte.

Die Äste knacksten mit jedem Schritt, den er auf mich zumachte. Das Laub fegte über den Boden, als ein Windhauch mich erzittern ließ.

Mir schien es, als hätte ich Schüttelfrost. Heiß, kalt, heiß, kalt. Immer wieder wiederholte sich das Spiel, bis ich Damiens Atem auf meiner Haut spürte und nur noch eine Hitze verspürte, die beinahe dazu führte, dass mein Atem hektisch ging. Aus diesem Grund verschloss ich den Mund und versuchte ruhig durch die Nase ein- und auszuatmen. Aber dies schien geradezu unmöglich, vor allem, als ich seine Hand auf der meinen spürte.

Seine Hand fühlte sich eigentlich genauso an wie jede andere auch, weich und fest zugleich. Doch wenn ich mich genau auf den Hautkontakt konzentrierte, konnte ich ein leichtes Kribbeln verspüren.

Ich fragte mich, ob ich nur bei ihm dieses Kribbeln verspürte oder auch bei anderen und nur nicht darauf geachtet hatte.

Stockend hielt ich den Atem an, als er meine Hand hob und die seine auf meinen Handrücken legte.

Plötzlich spürte ich meine Hand an seiner Wange. Blinzelnd versuchte ich herauszufinden, wie es möglich war, dass jemand wie er es schaffte nur durch solch eine Geste alles in mir zum Zerschmelzen zu bringen.

Und nicht nur das. Sein Geruch schien mich zu ummanteln, mich in einen Bann ziehen, den ich nicht kannte. Und dennoch konnte ich nicht anders als leicht an diesem Duft zu riechen und in Frage zu setzten, ob es der Duft der Natur war oder der seiner.

Beinahe wie Kiefer und Zitronenblüten, einem Schuss Holzaroma und noch einen Duft…Lotus? …was auch immer es ist, es gefällt mir genauso gut wie die Berührung seiner Hand.

Beunruhigt über diese Tatsache, nahm ich meine Hand von ihm weg und versteckte sie hinterm Rücken, wo ich sie zur Faust ballte, damit dieses Kribbeln darin zu schweigen vermochte. Doch selbst als ich meine Fingernägel in die Haut bohrte, änderte sich nichts mehr an den Gefühlen, die mein Körper durchzogen, sodass ich nicht mehr wusste, wohin nur mit mir. Es war etwas das ich nicht kannte und gerade das machte mir Angst. Dabei wollte ich solch etwas nicht mehr verspüren.

Und warum gerade bei diesem Mann?

Ich kannte ihn doch gar nicht. Warum erlaubte er sich denn dann solch etwas in mir auszulösen?

Ich habe doch schon genug Probleme und Sorgen am Hals. Warum gerade jetzt? Und warum gerade er?

Zittrig atmete ich die Luft aus und wandte den Kopf zur Seite ab.

„Ich sollte gehen.“

Sofort stieß ich mich vom Baumstamm ab, umrundete so gut es ging Damien und fand bald darauf den Weg zur Straße, wie ich anhand der vielen Autos hörte, doch es ließ sich nicht umgehen, dass ich ab und an die Bekanntschaft mit einem Baum machte.

Viel zu verwirrt über das Geschehene, wartete ich erst gar nicht den nächsten Bus ab, sondern lief gleich los und machte mich auf den Weg Nachhause, wo mich niemand erwarten würde.

Manchmal ist es angebracht, selbst das zu vergessen, was man weiß.

  • Publilius Syrus

 

 

Schlussendlich hatte ich mir doch auf der Hälfte der Strecke ein Taxi genommen, da ich viel zu unkonzentriert auf die Straße geachtete hatte und beinahe einen Unfall verursacht hätte.

Nun lag ich in meinem Zimmer auf meinem Bett, bäuchlings, spielte ein Lied nach dem anderen auf meinem Laptop ab und fragte mich, was das vorhin gewesen sein sollte.

Ächzend rollte ich mich auf den Rücken und lehnte die Füße gegen die Wand. Zuerst blies ich die Wangen auf, hielt die Luft an und pustete sie schließlich aus, als meine Lungen nach Sauerstoff gierten. Das Spiel wiederholte sich, so lange, bis sich meine Lunge an diese lange Atempause gewohnt hatte und ich für ganze zwei Minuten die Luft anhalten konnte.

Unter Wasser waren es meistens bis zu drei Minuten. Ich liebte das Gefühl mein Körper so wirklich zu hören. Mal war es ein Pochen, dann ein Zittern, ein Kribbeln oder eben einfach nur der gleichmäßige Schlag des Herzes. Angenehm, vor allem, wenn man so wie ich nun im Bett lag und gespannt drauf lauschte.

Ein wenig ungewohnt war es jedes Mal für mich dennoch. Zu lauschen, wie der eigene Körper funktionierte.

Da brachte das Anfassen nichts mehr, nur das eigene Gehör und das liebte ich. Es war eine unbeschreibliche Sache. Einfach unglaublich.

Leise lachte ich.

Worüber ich mir schon wieder Gedanken mache…

Aber der einzige Grund, warum ich mir überhaupt diese Gedanken machte, war der, dass ich noch immer dieses beflügelte Kribbeln im Handinneren verspürte. Als würden sie es einfach nicht vergessen können, was erst vor wenigen Stunden passiert war.

Um ehrlich zu sein, konnte selbst ich es nicht vergessen. Mein Verstand fixierte sich nur darauf, egal wie sehr ich es versuchte zu ignorieren. Als würde man versuchen mir etwas zu sagen, was ich nicht verstand. Als würde man mir Pantomimisch vermitteln, was los war.

Als würde ich jemals verstehen könne, was man mir zu sagen versuchte, wenn man es nicht aussprach. Was brachte es mir denn?

Fest ballte sich meine Hand zur Faust.

Ich MUSS es vergessen. Er darf nicht meine Pläne kreuzen, egal was ich dabei für ihn empfinden werde.

So sehr sich mein Herz dagegen wehrte, umso mehr gewann mein Verstand.

Eine traurige Melodie erfüllte den Raum, während ich aufstand und mich ins Badezimmer begab.

Zunächst durchsuchte ich die Schränke, dann die Schubladen, doch ich fand die Rasierklinge einfach nicht. Erst in meiner Zimmerschublade ertastete ich sie unter einem Buch und nahm sie mit meinem Laptop mit ins Badezimmer. Ich stellte diese traurige Melodie leiser, hörte ihr ganz genau zu, während ich mich auszog. Ein Kleidungsstück fiel nach dem anderen hinunter und ich öffnete mein BH, als dieser sich auch zu den anderen Kleidern gesellte.

Die Träger hatten wieder einmal Abdrücke hinterlassen, was ich nicht als sehr angenehm empfand.

Vorsichtig ertastete ich den Rand der Badewanne und ließ das Wasser aus dem Duschkopf laufen, während ich mich darunter stellte und die Rasierklinge auf den Rand legte. Von der Musik berauscht öffnete ich meinen Zopf und hielt mein Gesicht unter den Wasserstrahl. Die ganze Schminke, verschmiert, floss ins Abflussrohr und kam nie wieder zurück, als hätte es diesen Abend nie gegeben.

Genau das wollte ich erreichen. Einen Abend, den es nie geben hatte.

Als das Badewasser beinahe bis zu meinen Knien reichte, beschloss ich das Wasser abzustellen und setzte mich auf den Boden der Badewanne. Die Haare zum Teil im Gesicht, zog ich die Beine an meinen Körper heran und umschlang sie mit meinen Händen. Der Teil, der nicht im Wasser war, fror oder wurde mit einer starken Gänsehaut bezogen, sodass mir der ein oder andere Schauer über den Rücken ergoss.

Mein tropfendes Kinn machte es sich auf meinem Knie bequem, obwohl man von Gemütlichkeit nicht sprechen konnte.

Ruhe durchzog meinen Körper, müde schloss ich die Augen.

Ich erinnerte mich wieder an den ganzen Abend, an die Musik und die Flucht, an meinen Bruder, die Stimmung, die schlimme Nachricht, mein Geständnis.

Auch wenn ich es nicht zugeben mochte, hatte ich Angst davor zu sterben. Ich wusste nicht, wie es auf mich zukommen würde, was ich dabei empfinden würde und für welchen Weg ich mich entscheiden würde. Sollte ich um Sterbehilfe bitten?

Meine Hand tastete nach der Rasierklinge und ich strich mit dem Zeige- und Mittelfinger über meine Brüste, bevor ich ansetzte.

Beißend schnitt sich die Klinge ins Fleisch und ich musste ein zischen unterdrücken, als das Blut aus der Wunder hervorquoll. Obwohl die Wunde erträglich war, hörte dieses leichte Brennen nicht auf. Es schmerzte auf seine Art und Weise und ich genoss diesen Schmerz, um mich daran zu erinnern, dass der Tod der schlimmste Schmerz von allen war.

Ein verdammt ungemütlicher, brennender Schmerz.

Wer starb denn bitte schön, ohne vorher oder währenddessen Schmerzen gefühlt zu haben? Wer?

Beinahe jeden Tag ging ich seit meinem 5. Lebensjahr ins Krankenhaus, erlebte, wie die Leute litten, beinahe schon um ihren Tod bettelten.

War das noch ein Leben?

Nein, es war einfach nur krank. Die Leute wussten nicht einmal was es hieß Schmerzen zu erleiden, sie hatte nie etwas davon ansatzweise mitbekommen. Sie waren Feiglinge und brachten sich wegen jeder Kleinigkeit um, anstatt sich für wahrliche Dinge zu opfern. Anstatt sich mit Themen zu beschäftigen, die ein Leben förderten.

Erneut setzte ich zu einem weiteren Schnitt an, nur tiefer als der vorherige und blendete die restlichen Narben aus, über die mein kleiner Finger strich.

Ich hörte das schwere Blut ins Wasser tropfen. Sofort ließ ich von der Rasierklinge ab und wusch sie kurz im Wasser ab, bevor ich sie zur Seite legte.

Die Zähne zusammenbeißend, hielt ich die Luft an und tauchte mit dem ganzen Oberkörper ins Wasser.

Heißer, brennvoller Schmerz durchzuckte meine Brüste und ich versuchte wieder anständig zu atmen. Aber immer mehr Wasser füllte sich in meine Lungen, sodass ich mich mit den Händen am Badewannenrand nach oben zog und mich husten aufrichtete. Badewasser verließ meinen angespannten Körper und ebenso spukte ich ein wenig Blut aus, wie ich an dem leicht metallischen Geschmack in meinem Mund schmeckte.

So heftig wie nie zuvor pochte mein Kopf. Doch mit jedem schmerzenden Atemzug genoss ich es immer mehr, da ich fühlte, zu Leben.

Auf meine Weise zu Leben.

Schnell duschte ich mich ab, stellte auf kalt und ließ das Wasser so lange über meinen ganzen Körper fließen, bis er zitterte und die Zähne klapperten.

Sofort schnappte ich mir das Handtuch und legte es um meinen Körper, nahm es als einzige, hilfreiche Wärmequelle an.

Jedes Mal, wenn meine wunden Brüste auf den Stoff des Handtuches auftrafen, verspürte ich das Gefühl in Ohnmacht zu fallen.

Versehendlich hatte ich ein wenig zu tief geschnitten und nun hatte ich die Folgen davon. Aus diesem Grund tastete ich im Medizinschrank nach Pflaster und klebte sie schließlich auf die Wunde, bevor sie später aus unerklärlichen Gründen Eitern konnte und ich ins Krankenhaus musste.

Im Handtuch bekleidet lief ich in mein Zimmer, sobald ich die Rasierklinge weggeworfen hatte. Dort zog ich mich um und nahm schlussendlich mein Laptop aus dem Badezimmer, mit dem ich es mir aufm Bett gemütlich machte.

Unruhig öffnete ich mein Tagebuch auf dem PC und begann damit zu schreiben.

 

Liebes Tagebuch,

 

es ist lange her seitdem ich zuletzt etwas hinein geschrieben habe. Um ehrlich zu sein, sind mehr als zwei Monate vergangen und der einzige Grund, weswegen ich nun wieder schrieb ist der, dass ich nicht mehr ganz weiter weiß.

Merkwürdig, dass gerade ich nicht mehr weiter weiß. Gerade ich. Hahaha J

Es ist halb so lustig, wie es klingt, denn es sind ernste Themen, die mich immer wieder einholen.

Damien, ein Patient, hat meine Interessen geweckt, ohne dass ich sagen kann aus welchem Grund.

Er ist kein besonderer Kerl. Er hat nicht wirklich etwas aufzuweisen, was mich begeistern würde. Eigentlich gar nichts.

Nur seine Art Gitarre zu spielen. Wirklich wunderschön.

Kaum zu glauben, dass ich ihn dazu inspiriert haben soll.

Was an mir könnte denn schon inspirierend genug sein? Meine Geschichte?

Die Geschichte darüber, dass ein 18 Jähriges blindes Mädchen ihre krebskranke Mutter besucht und nicht in ihrem Leben nachzuweisen hat? Eine, die tagtäglich nichts tut, außer auf kranke Kinder aufzupassen und nicht einmal mit sich selbst klar kommt?

Was gibt es an mir zu Inspirieren?

Wie ist es denn dann so möglich, dass er solch eine Melodie abspielen konnte?

Wirke ich genauso herzergreifend, schmerzvoll, süßlich, wie diese Melodie?

Ich verstehe es nicht. Gar nicht.

Dabei gibt es nicht einmal etwas zu verstehen.

Dieser Damien muss mich mit einer anderen verwechselt haben, sich wohl mein Gesicht dabei vorgestellt und darüber ein Lied komponiert hat. Mehr nicht.

So ist es doch, oder? Über mich gibt es nichts mehr zu sagen. Einfach aber auch nur, weil ich nichts bewirkt habe, nie etwas im Leben erreicht habe.

Gott erhört mich nicht mehr, selbst in den schlimmsten Momenten.

Hätte er mich erhört, wäre es dann so weit mit mir gekommen? Wäre ich Blind gewesen?

Hätte Mommy Krebs?

Würde ich verstehen, warum ein Mann wie Damien solch ein Lied für mich schreibt?

Wie es aussieht, bin ich selbst für Gott nichts mehr Wert.

 

Rose

 

 

Weinend richtete ich mich auf, wischte die Tränen weg und schaltete die Musik aus. Mit ihrer Melodie half sie auch nicht gerade weiter und verschlimmerte eigentlich die Situation nur immer mehr und mehr. Falls es ein mehr noch geben konnte, da mein Leben schon mehr als beschissen war.

Der heutige Tag hatte mich schließlich davon überzeugt.

Nur eine Sache verstand ich aber nicht.

Warum hatte ich wirklich auf Damien gehört?

Und es war nicht nur, weil er mich Interessierte.

 

Es ist kein Zweifel, dass größere Gewalt demjenigen angetan wird, dessen Seele in Schrecken versetzt, als dem, dessem Leib verletzt wird.

  • Cicero

 

 

Unruhig lief ich vor dem Haus auf und ab, runter und hoch. Immer wieder schellte mein Blick zur Straße, dann zum Fenster, ab und zu auch wieder auf den Boden.

Seitdem Rose im Haus verschwunden war, lief ich hier wie ein Stalker herum.

Zuerst hatte ich es darauf geschoben, dass ich ihr nur hinterherfuhr, da sie so eilig aus dem Wald gerannt war. Dann wieder auf die Alkoholflaschen, die ich in der Nähe ihres Hauses wegwerfen wollte. Doch diese lagen noch immer angeschnallt auf der Rückbank, warteten nur darauf weggeworfen zu werden. Und nun tigerte ich vor ihrer Auffahrt herum und fragte mich immer wieder, was ich hier zu suchen hatte.

Erschrocken wich ich zurück, als ein Auto die Einfahrt auffuhr und mich beinahe überfahren hätte. Keuchend richtete ich mich auf, sah erschrocken zu der Person im Auto, die gerade ausstieg.

„Wer sind Sie und was haben Sie hier zu suchen?“

Eine Frau kam auf mich zu, in der Hand eine kleine Sprühdose und blendete mich mit ihrem Handylicht.

Das Teil schien die Sonne auszupusten, unwichtig erscheinen.

Blinzend versuchte ich an dem hellen Lichtschein wegzusehen, doch sie hielt es mir immer wieder vor den Augen, sodass ich Mühe hatte das Teil nicht aus ihren Händen wegzuschleudern.

„Ich bin Damien Kaye, ein…Patient aus dem Krankenhaus. Würden Sie bitte das Licht runter nehmen? Sie blenden mich.“

Sie nahm es sofort herunter und sah mich verdutzt an.

Zumindest erkannte ich es soweit, denn mehrere Punkte flimmerten vor meinen Augen, die sich nicht entscheiden konnten schwarz oder weiß zu sein.

„Oh, bist du nicht dieser Superstar, der daran Schuld ist, dass ich kaum noch ein Parkplatz im Krankenhaus finde? Du solltest deinen nervigen Fans mal klar machen, dass es Leute gibt, die aus wichtigeren Gründen dort auftauchen.“, ließ sie ihren Frust an mir aus und ich starrte weiterhin in ihre Richtung, ohne groß etwas zu erkennen.

„Was tust du denn hier? Moment…ist etwas mit Rose…?“

Sofort hob ich abwehrend meine Hände.

„Regen Sie sich bitte nicht auf. Rose geht es gut,…denke ich. Ich weiß es nicht genau.“

Sie trat näher zu mir, hielt das Handylicht jedoch weiterhin auf den Boden gerichtet und runzelte die Stirn.

„Was willst du damit sagen? Ist etwas passiert?“

Ihre braunen Augen verengten sich leicht, ihr Körper war angespannt. Sie schien verwirrt zu sein und sich Sorgen zu machen, doch gleichzeitig hatte ich das starke Gefühl, als wäre ich ihr diese Antwort schuldig. Als hätte ich keine andere Wahl als ihr zu antworten, da sie mich ansonsten zerstückeln und im Wald vergraben würde. Und ich würde keinen Moment lang daran zweifeln, dass sie es auch wirklich tun würde, sollte Rose etwas passiert sein.

Leichte Angst kroch in mir hoch, während sie mich nach einigen Sekunden der Stille noch immer forschend ansah und ich wusste, dass es besser wäre, wenn ich ihr die Wahrheit sagen würde.

„Nun ja, Rose…sie hat mich gefragt ob sie mein Gesicht erkundigen dürfte, im Wald. Und…“

„Was heißt das, dass Rose im Wald war? Mit dir?“

Sofort trat ich einen Schritt zurück und hob hilflos die Hände.

„Ich habe Gitarre gespielt und sie hat mich gehört, weswegen sie sich zu mir gesellt hatte. Wir haben geredet. Jedenfalls habe ich damit nicht gerechnet, dass sie wissen wollte wie ich aussehe, weswegen ich nichts gesagt habe und sie schien es falsch verstanden zu haben. Sie ist abgehauen.“

Die Frau hob sofort ihren Blick, sah von mir zu einem Fenster im ersten Stock, dann wieder zu mir.

Das Fenster war schwer zu erkennen, doch es versteckte sich leicht hinter einem blühenden Zweig. Es musste das Zimmer von Rose sein. Ich fragte mich, was sie gerade tat und ob es ihr gut ging.

„Ich bin ihr hinterher gerannt, hab ihr gesagt, dass sie stehen belieben solle und sie hörte mir dann auch zum Glück zu…“

„Sie ist stehen geblieben? “, unterbrach mich die Frau und ich nickte unsicher. Sie gab mir ein Zeichen fortzufahren, sodass ich leicht stammelnd und mehr als verwirrt weitererzählte.

Wo waren mein Mut und mein Selbstbewusstsein geblieben?

Noch nie in meinem Leben war ich so unsicher wie jetzt nun, während diese Frau mich mit ihren Adleraugen fixierte und mich jedes Wort beinahe zweimal überlegen ließ.

„ Ähm, dann habe ich ihre Hand genommen und sie … und sie auf meine Wange gelegt. Es war so ein Gefühl. Keine Ahnung warum ich das getan habe, aber ich habe es eben getan. Wahrscheinlich, weil sie wissen wollte, wie ich eigentlich aussehe und ihr den Gefallen tun wollte, es für sie zu übernehmen. Dabei war sie still, sehr sogar. Dann entriss sie mir von der einen Sekunde auf der anderen ihre Hand von der meinen und ist weggegangen. Ich bin ihr sofort hinterher gefahren, weil ich wissen wollte, was los ist, aber bisher habe ich mich nicht getraut anzuklopfen. Ich weiß nicht einmal wie es ihr geht,…ob ich vielleicht etwas falsch gemacht habe.“

Leise lachte die Frau, als ich so hilflos vor mich hinsah und nicht mehr mit mir wusste, sodass ich mehr verwundert als verwirrt zu ihr starrte.

Wahrscheinlich sah ich genauso blöd aus der Wäsche, wie die Affen in den kurzen Videoclips, die ihre eigene Pisse tranken. Zwar sah es lustig aus, aber wenigstens drückte es das aus, was ich im Moment fühlte. Aber wenn ich ehrlich war, dann verstand nicht einmal ich selbst, was ich im Moment fühlte, geschweige denn in meinem Gesicht an Gefühlen ausdrückte.

Wie schon zuvor fragte ich mich, warum ich überhaupt hier her gekommen war, wo ich mich doch nur ins Lächerliche hineinredete. Mit dem Lachen der Frau bestätigte sich meine Vermutung und ich konnte nicht anders, als frustriert aufzuseufzen.

Nach diesem langen Abend und der stundenlangen Warterei vor Rose Haus, war ich nur noch erschöpft und vor allem leicht angetrunken. Normalerweise fuhr mich jemand anders, wenn ich nicht mehr nüchtern sein sollte, doch als alles in mir so verzweifelt gewesen war, nachdem ich dabei zugesehen hatte, dass sie von mir davonrannte, war es mir schlicht und weg einfach egal gewesen. Und nun war es mir eigentlich auch egal, dass diese Frau vor mir lachte und dabei verschiedene Fragen aufwarf, auf denen ich keine einzige Antwort hatte.

„Würden Sie bitte nachsehen, ob es ihr gut geht? Dann verschwinde ich auch wieder sofort, aber lassen Sie mich wenigsten wissen, ob Rose etwas fehlt. Das Verspreche ich Ihnen.“

Plötzlich schien die Frau ganz ausgewechselt zu sein, grinste mich sogar an und gab mir einen Zeichen, welchen ich als Wink verstand.

„Komm mit ins Haus, dann kannst du dich selbst überzeugen.  Aber solltest du mich noch einmal so sehr erschrecken, werde ich dich so lange in der Kälte warten lassen, bis Rose selbst auftaucht und nach dir sieht.“

Sie sah es als Witz an – ich als Drohung.

Doch im Moment war ich mehr als erleichtert überhaupt nach Rose sehen zu dürfen, sodass ich eine Bemerkung sein ließ und ihr rasch folgte, als sie schon die Haustür leise aufschloss. Die Lichter im ganzen Stock gingen an, sobald die Frau den Schalter betätigte und blendeten mich kurz, bis ich mich daran gewöhnt hatte. Zögerlich folgte ich ihr und sah mich im Haus um.

Mit solchen verschiedenen Farben und solch einer Wärme hatte ich nicht erwartet empfangen zu werden. Viel mehr hatte ich ein modernes Haus erwartet, welches seine Ordnung hatte und ganz einer Villa glich. Doch in diesem Haus herrschte allein das Chaos, wie es üblich in Familienhäusern war. Ein Chaos welches seine eigene Ordnung hatte und ich kam nicht umhin, um mir selbst einzugestehen, dass solch ein Haus viel mehr zu Rose passte. Wahrscheinlich fand sie auch, dass ihr Leben ein buntes Chaos war und brachte es so mit ihrer Mitbewohnerin zum Ausdruck. Überall sah man warme Farben von einem wunderbaren Braun, bis zu einem Orange und dann tauchte irgendwo sogar Lavendel auf.

Ein wenig merkwürdig war es dennoch, dass hier solche schönen Farben in solch einer schönen Konsistenz miteinander wirkten, da es nicht ganz zu dem Chaos im Haus passte. Und dennoch gab es den letzten Schliff für das ordentliche Chaos.

Mir gefiel es zumindest. Sehr sogar. Auch wenn es ein wenig überraschend für mich war so aufgenommen zu werden.

„Kann ich dir etwas zu trinken anbieten, Damien?“

Mir fiel auf, dass sie sich meinen Namen gut gemerkt hatte, dafür, dass sie mich für einen … was auch immer gehalten hatte. Außer sie war ein Fran von mir. Doch welcher Fan würde die anderen Fans beleidigen, nur weil diese die Parkplätze übernahmen?

Ich schüttelte den Kopf, um wieder in die wahre Realität aufzutauchen und hob dankend die Hände.

„Danke, aber nein danke.“

Trotz dessen lief sie in die Küche, die von einem Torbogen umschlossen wurde – welche mich sehr an die aus Harry Potter und der Stein der Weisen erinnerte, als er zum ersten Mal die Winkelgasse brat – und gab in einen roten Kessel kaltes Wasser aus dem Wasserhahn hinein. Es dauerte ein weinig, bis eine kleine Flamme über dem Gasherd flimmerte und sie den Kessel drauf absetzte. Sie beachtete mich erst gar nicht, sondern kümmerte sich erst einmal darum, dass frischer, heißer Tee serviert wurde.

„Die Treppen hoch und die Tür rechts, dem Badezimmer gegenüber. Rose sollte schlafen, deshalb wäre es gut, wenn du nicht anklopfst, sondern gleich hinein gehst. Du kannst so lange bei ihr bleiben, wie du möchtest und schließ die Haustür hinter dir zu, wenn du das Haus verlässt. Es war ein langer Tag und ich will nach dieser Tasse schlafen gehen. Nacht.“

Sie hob zum Abschied ihre Tasse, als würde sie mir zuprosten, lief durch eine Tür, die ins Wohnzimmer führte und einige Sekunden später hörte ich eine Tür ins Schloss fallen.

Viel zu sehr schockiert-verwirrt-überrascht-verblüfft darüber, stand ich im Empfangsbereich und starrte noch auf den Punk, an dem ich diese Frau zuletzt verschwinden gesehen habe.

Mit was für Leuten gibt Rose sich denn ab?

Rose Mutter vertraute darauf, dass ich gut auf ihre Tochter aufpassen würde, obwohl sie mich keine fünf Minuten gekannt hatte. Und die Mitbewohnerin ließ mich einfach zu Rose gehen, obwohl sie mich als Stalker abstempeln könnte. Oder überhaupt als jemand Fremdes, der freien Zugang zu allen Räumen hatte. Jemand, der Rose beim Schlafen beobachten würde, wie ein Irrer.

Doch da dies meine einzige Chance war, um überhaupt nachzusehen, ob es ihr gut ging, bemühte ich mich höchst leise die Treppenstufen hochzusteigen.

Drei (3!!!) Sekunden später war ich davon überzeugt, dass diese Treppe sich gegen mich verfeindet hätte. Als ob die Holztreppe mit voller Absicht laut vor sich hin knarrte, um mich auffliegen zu lassen. Dies war gerade der Grund, weswegen ich mich schnell die Treppen hoch bemühte, um noch mehr laute Geräusche zu vermeiden und Rose nicht sofort aufzuwecken.

Warum auch immer, aber die ganze Zeit dröhnte Eminems Stimme durch meinen Kopf. Wie bei einem Film die Titelmusik, während einer der Hauptcharaktere etwas Verbotenes tat, was er mit seinem Leben büßen würde, die Sache aber trotz allem durchzog. Mich mit solch einem Kerl zu vergleichen, war zwar idiotisch, doch es gab mir Mut, die nächsten Stufen zu erklimmen und die Zimmertür zu öffnen.

Mir kam es einerseits so vor, als würde ich die Tür mit aller Vorsicht öffnen, andererseits sah ich mich wie in einem Actionfilm, wie ich die Tür mit einem Ruck öffnete und mit den Augen nach meinem Ziel suchte.

Doch das Bett war nur aufgewühlt, als hätte dort jemand gelegen und kurz das Bett verlassen.

Eine Art der Panik durchzog mich, als ich sie nirgends sah und selbst im Badezimmer war niemand. Es waren die einigen Zimmern hier – bis auf ein Ankleidezimmer wie ich erkannte – und unten war sie garantiert nicht.

Ansonsten hätte sie mitbekommen, dass ich da war und mir Sachen an den Kopf geworfen, die mich wie immer Verzweifeln lassen würden. Doch dem war nicht so.

Flüchtig blickte ich ein letztes Mal ins Zimmer, um sicher zu gehen, dass sie wirklich nicht dort war.

Schnell eilte ich zu den Treppen, nur um dann mittendrin zu verharren.

Irritiert lief ich rückwärts einige Schritte zurück, bis ich wieder vor der offenen Zimmertür stand. Mit kleinen Schritten und wenig Lärm näherte ich mich dem Bett und sah auf den Boden, während ich mich gleichzeitig niederkniete. Gegen meinen Willen musste ich Lächeln und doch machte mich dieser Anblick traurig.

Rose lag wie ein kleiner Fötus auf dem Teppich neben ihrem Bett auf dem Boden, wo sie selig und ruhig schlief.

Ihre Haare waren leicht über ihrem Gesicht verteilt, aber ich wagte es nicht sie wegzustreichen.

Nicht weil ich Schiss davor hatte es zu tun, sondern weil ich sie nicht aufwecken wollte. Mir kam es nie so vor, als würde sie viel Schlaf abbekommen und ihr Alltag war schon stressig genug, als wenn sie nun erschöpft wäre, nur weil ich mein Verlangen nicht unter Kontrolle hielt.

Lange betrachtete ich sie, ohne mich zu rühren. Diesmal war ich froh, dass der Mond so gut durch die Nacht hindurch strahlte und mich beinahe jedes Detail sehen ließ, welches meinen wachsamen Augen begegnete.

Rose bewegte sich leicht, umarmte sich selbst und ihre Beine, als sei ihr kalt, was auch kein Wunder war, wenn man auf dem Boden schlief – so ganz ohne Decke.

Mit den Händen angelte ich nach ihrer Decke und legte sie behutsam über Rose Körper. Obwohl sie sich nicht rührte, spürte ich, dass ihre leichte Anspannung nachließ, die sie von der Fötus Position hatte, da ihr Gesicht nun viel entspannter schien.

Mein Handy vibrierte laut in der hinteren Hosentasche, sodass ich mich zusammenreißen musste, um nicht zu fluchen.

Eiligst nahm ich es heraus, stellte es gänzlich auf Tonlos und sah nach, wer mir geschrieben hatte.

Es dauerte einige Sekunden lang, bis ich begriff, was auf dem Display zu sehen war. Der Paparazzi musste wohl Nachtschicht gehabt haben, denn dieser war mir in den Wald gefolgt und hatte in allen Medien Bilder davon geschickt, wie ich mich betrank und für Rose Gitarre spielte und kleine Berührungen austauschte.

Ich konnte nicht fassen, dass ich diesen Kerl…oder wen auch immer, nicht bemerkt hatte.

Wie könne die Menschen Rose solch etwas nur antun?

Vor meinen Augen sah ich Roses Privatsphäre verschwinden, weit weg hinterm Horizont.

Und eines war sicher. Dieses Bild würde bis morgen früh ganz Europa, die ganze Welt davon erfahren habe. Rose würde ganz oben auf der Schlagzeile stehen, die Leute werden sich fragen, wer die unbekannte Schönheit wohl sei. Fans werden ihr mit Morddrohungen und schlimmen Belästigungen den Alltag erschweren. Man würde herausfinden, dass Roses Mutter im Krankenhaus lag und dabei war an Krebs zu sterben.

Nur wegen eines verfluchten Bildes würde die gesamte Zukunft von Rose schwinden und es gäbe kein Entkommen mehr.

Und ich war schuld daran.

Ich allein.

Hätte ich es beim ersten, zweiten Gespräch sein gelassen mich für sie zu interessieren, würde sie nun nicht im Mittelpunkt aller Medien stehen. Einmal konnte man die Bilder von ihr löschen, dich ein zweites Mal war unmöglich. Die Leute würden nun neugierig sein, da sie wussten, dass es keine einmalige Sache war.

Und eines konnte ich nun mit Sicherheit sagen: Rose würde mich dafür hassen, dass sie und ihre Mutter nicht mehr die Ruhe hätten, die sie sonst bekamen und genossen.

Immer mehr Schuldgefühle traten in mir auf, wünschte mir nichts seligeres, als Roses Gesicht aus den Medien zu löschen und ihr alle Wünsche zu erfüllen, selbst wenn es nicht in meiner Macht stand.

Einige Strähnen fielen auf ihr Gesicht, als sie sich im Schlaf wendete, sodass ich ein wenig zur Seite wegrutschen musste.

Sie sah so schön aus, wenn sie schlief.

Wunderschön. Sie muss ein Engel sein, den mir Gott geschickt hat. Es ist unmöglich, dass jemand trotz der Blindheit, solch eine Ausstrahlung hat, aber bei ihr… einfach atemberaubend.

Vorsichtig streckte ich meine Hand aus, wollte ihr Strähne wegstreichen, als ich etwas Merkwürdiges erblickte.

Und damit bekam ich den Schock meines Lebens.

 

 

- (Titel wird später hinzugefügt)

 

 

Etwas war heute anders als sonst. Ich konnte nicht sagen was, aber während ich durch den Schulflur lief, hatte ich das Gefühl als würden mehrere Augenpaare jede Bewegung meinerseits verfolgen.

Luisa, die nur wenige Sekunden danach neben mir erschien und mich leise begrüßte, schien dasselbe zu empfinden, da sie mich am Ellenbogen packte und rascher lief. Sie öffnete die Tür zum Werkstattzimmer und knallte die Tür wieder hinter sich zu, sobald ich noch rechtzeitig hindurch schlüpfen konnte.

„Wann hast du mir davon erzählen wollen?“, fragte sie ein wenig enttäuscht. Mit zusammengezogenen Augenbrauen legte ich den Kopf schief.

„Wie meinen? Tut mir leid, aber ich weiß nicht wovon du sprichst.“

„Von Damien und Dir.“ Verwirrt hob ich die Augenbrauen hoch.

„Rose,  sag mir nicht, dass du nichts mitbekommen hast…Oh Gott!“ Ein Klatschen war zu hören und ich nahm an, dass es ihr Mund war, der die eigene Hand vor lauter entsetzen abbekommen hatte.

„Rose, willst du dich nicht lieber setzen?“ Sie schob mir ein Stuhl hinzu und ich tat, was sie von mir verlangte. Meine Finger kribbelten leicht, als ich mich setzte und mich am Stuhl festklammerte. Luisas Knie streiften gegen meine, als sie sich vor mir in die Hocke begab und löste sanft meine Finger vom Stuhl, nahm sie in ihre Hand und atmete tief durch, bevor sie sprach.

„Damien Key hat heute Morgen in eine Kofferenz bekanntgegeben, dass ihr beide in einer Beziehung seid.“

Mein Blut rauschte und ich konnte die Hitze überall spüren. Rasch entzog ich meine Hände von ihren und versuchte tief durchzuatmen. Mir schien es, als würde ich alles gesagte nur noch im Rausch wahrnehmen.

„Die Paparazzi und die Fans – eigentlich alle Menschen auf der Welt – hat er drum gebeten, dass sie dich in Ruhe lassen sollten. Deine Privatsphäre ist für alle Tabu, dafür sorgen seine Managerin und seine Anwälte. Glaub mir, das sind die besten. Die werden aus New York hergeflogen, sollte etwas sein und diese Anwälte gewinnen jeden Prozess. Rose? Ist alles in Ordnung mit dir? Braucht du was zu trinken? Soll ich dich ins Schwesterzimmer bringen oder lieber Nachhause? Du bist auf einmal so blass…du fällst doch jetzt nicht in Ohnma-ROSE!“

Vermutlich verlor ich für wenige Sekunden das Bewusstsein, doch als ich wieder zu mir kam, bemerkte ich, dass ich nicht mehr allein mit Luisa war. Starke Kopfschmerzen ließen mich aufstöhnen, woraufhin die Stimmen Lauter wurden und mir die Situation nicht gerade sehr erleichterten. Vorsichtig griff ich mir an den Hinterkopf, sobald mein Arm sich aus seiner Starre gelöst hatte.

„Himmel Rose, du hast mich so erschreckt. Geht es dir wieder gut? Willst du dich vielleicht aufsetzten?“ Bevor ich ihr drauf antworten konnte, da half sie mir schon hoch und förderte mich auf denselben Stuhl auf dem ich vor meinem Kollaps gesessen hatte.

„Was ist passiert?“

„Du bist umgekippt und hast dir den Kopf angestoßen. Schwester Lilliane ist da, um dich zu untersuchen.“

Eine gute halbe Stunde später rief man Sophie an und ließ mich von ihr mit einer Gehirnerschütterung abholen. Immer wieder zog sie an der roten Ampel mein Gesicht zu sich und durchsuchte es auf Verletzungen.

„Es wäre besser, wenn ich dich zur Sicherheit ins Krankenhaus fahre-.“

„NEIN!“

„Rose, gibt es da etwas das ich wissen sollte? Seit wann möchtest du nicht ins Krankenhaus?“

Leise murmelte ich umständlich.

„Schätzen, nicht mal eine Oma, die ihr Hörgerät ganz aufgedreht hat, würde ein Wort verstehen. Und nun so, dass auch ich es akustisch verstehen kann.“, wies sie mich zurecht.

„Damien Key hat in der Öffentlichkeit bekannt gegeben, dass wir ein Paar seinen.“

„Und was genau daran ist so schlimm?“

Sie bog scharf links ab und gab etwas Gas, sodass ich im Sitz herumgeschleudert wurde.

„Wir sind nicht zusammen und haben uns  geschweige denn nicht einmal geküsst, oder…oder sind auf ein Rendezvous gegangen. Mir ist es unverständlich, wie er auf diese absurde Idee kommt. Und das auch noch OHNE meine Einwilligung!“

Sophie legte ihre Hand auf meine Schulter und versuchte mich mit dieser Geste zu trösten, doch nichts half.

„Was soll ich jetzt tun?“

Sophie hielt an und schwieg einen ganzen Moment lang.

„Was sagt dir dein Herz?“

„Ach ich weiß es doch nicht. Im Moment bin ich so wütend auf ihn, dass ich ihn am liebsten anschreien würde und – Ach, warum ist das so schwer?  Er hätte erst gar nicht so etwas sagen dürfen.“

„Rose, wenn du den Grund wissen möchtest, dann solltest du zu ihm. Redet miteinander.“

Sie würgte den Motor ab.

„Wir sind vorm Krankenhaus. Also los, Rose. Geh und schnapp ihn dir. Mach ihn ja zur Sau.“ Ihr Grinsen spürte ich auch, ohne es ertasten zu müssen. Ihr machte es wie immer Spaß mich ein wenig aufzuziehen, vor allem mit Dingen, die ich nie tun würde. Entschlossen öffnete ich die Autotür und stieg aus, schnappte mir mein Minimiertes Blindenstock und griff nach meiner Tasche, doch ihre Hand hinderte mich dran.

„Die wirst du heute nicht mehr brauchen.“ Ergeben löste ich meine Finger vom Henkel der Tasche und knallte die Autotür zu. Das Beifahrerfenster surrte hinunter.

„Pass gut auf dich auf, Rose. Und grüß alle von mir.“

Eilig trat ich einen Schritt beiseite und rette gerade noch rechtzeitig meine Füße davor überfahren zu werden.

Vermutlich würde ich es bereuen, was ich bald tun würde, doch in diesem Moment dachte ich nur daran, dass ich mich aus diesem Schlamassel retten musste in das mich Damien Kaye hineingezogen hatte.

- Novalis

  • Im höchsten Schmerz tritt zuweilen eine Paralysis der Empfindsamkeit ein. Die Seele zersetzt sich. Daher der tödliche Frost, die freie Denkkraft, der schmetternde unaufhörliche Witz dieser Art von Verzweiflung. Keine Neigung ist mehr vorhanden; der Mensch steht wie eine verderbliche Macht allein.

 

 

Nachdem ich herausgefunden hatte, dass Damien nicht im Krankenhaus war, reichte meine Aura den Krankenschwestern aus, um mir seine Adresse zu geben und eine halbe Stunde später vor seinem Haus zu stehen und mit großen Schritten die Auffahrt hochzulaufen. Ohne einmal tief durchzuatmen, hob ich die zu Fäusten geballte Hand und schlug sie wutgebrannt gegen die Haustür, die aus Glas zu bestehen schien. Langsam senkte ich die zitternde Hand und versuchte irgendwie meinen Zorn herunterzukurbeln, aber scheinbar gab es technische Probleme, denn anstatt mich zu beruhigen wurde ich nur wütender.
Was zum Teufel fiel diesem Damien-Arschloch ein mich als seine Freundin zu bezeichnen?
Ich kannte das Prinzip zu gut, wenn es drum ging ein zweites Mal in den Zeitungen zu stehen neben einem der berühmtesten Sänger der Geschichte des 21. Jahrhunderts. Obwohl ich erwartet hatte, dass mich von allen Seiten Journalisten verfolgen würden, sobald ich stocksauer die Schule verlassen hatte, war ehr das Gegenteil der Fall. Es schien als würde mich niemand erkennen. Aber ich kannte die Publicity. In weniger als einer Woche würde ich mehrere Erpresserbriefe erhalten, in diversen Zeitungen stehen und zu TV-Shows eingeladen werden. Dabei hatte ich von Anfang an klargestellt, dass niemand wissen darf wer ich bin, denn am Ende würde jeder bemerken, dass meine Mutter eine lokale Berühmtheit war, die im Sterben lag und das konnte ich wirklich nicht gebrauchen, Es wurde alles langsam zu viel und ich wusste nicht wohin mit meinen Emotionen. Aber ich wusste ganz genau an wem ich sie auslassen durfte und konnte. Damien!
„Rose!“ Aphrodite und ihre Mutter riefen gleichzeitig voller Freude meinen Namen und ich zuckte erschrocken und überrascht zusammen. Da wartete man die letzte Stunde drauf Damien anzuschreien, da brauchten nur zwei Engel die Tür zu öffnen und schon war alles verraucht. Kleine Arme legten sich um meinen Nacken und ich griff sofort nach Aphrodites vorgebeugten Körper. Damiens Mutter Clara drückte mir herzlich die Hand und ich konnte spüren wie sehr sie sich über mein Auftauchen freute.
„Das ist ja eine schöne Überraschung, Rose. Wir haben eben erst über Damien und dich geredet, du weißt schon wegen dem Zeitungsartikel. Ich hoffe du bist meinem Sohn nicht böse, dass er ohne deine Absprache eine Pressekonferenz zusammengerufen hat, aber wenn er eine andre Wahl hätte, hätte er sich sofort umentschieden.“ Ihre Hand strich beruhigend über meine Schulter und nun da meine Wut beinahe verraucht war, verarbeitete ich diese Neuigkeiten mit klarem Verstand.
„Bist du wirklich die Freundin von meinem Bruder? Das ist so cool!!!“ Aphrodites Begeisterung ließ mich innerlich schmelzen, aber da ich nicht die Freundin von ihrem Bruder war, war es so gar nicht cool!
„Wo ist Damien? Ich denke es wird Zeit mit ihm zu sprechen und mich aufzuklären.“
„Oh Liebes, er wird erst in wenigen Stunden Zuhause sein derzeit ist er in der Schweiz und muss einige Termine wahrnehmen. Aber wir würden uns sehr freuen, wenn du uns so lange Gesellschaft leisten würdest.“
Da ich schlecht nein sagen konnte, vor allem da ich schon einmal hier war, nahm ich die Einladung gerne an und verbrachte den Tag mich durchs Haus zu tasten. Trotz dessen, dass ich nichts sehen konnte, wusste ich, dass dieses Haus wunderschön und sehr gemütlich auf andere wirkte, allein die Auffassung vom Naturholz und dem Betonbau waren sehr kunstvoll kreiert worden. Zudem beeindruckte es mich, dass ein persischer Teppich an der Wand hing, wie mich Clara informiere.
Um ehrlich zu sein, ich hatte nicht mehr so viel Spaß wie mit Aphrodite und Clara seit langem. Sie wickelten mich bei allem ein, vor allem sobald sie herausgefunden hatten, dass ich kochen konnte, sobald man mir alles zur Verfügung stellte.
„Welch ein Glück wir haben, dass du heute hier bist! Mein Kochen beschränkt sich auf Nudeln und ein paar Beilagen, aber die meiste Zeit Bestellen wir oder Damien kocht, wenn er mal Zuhause ist.“
„Ist er sehr oft abwesend?“ Neugierig drehte ich mich zu ihr um.
„Oft genug, dass ich dankbar bin, dass er diesen kleinen Unfall hatte und ich ihn nach über einem Jahr länger als eine Woche zu Gesicht bekomme. Es ist sehr anstrengend für uns, wenn er so selten da ist, mir fehlt ein Sohn und Aphrodite ein großer Bruder. Ich kann verstehen, dass er seine komplette Arbeit nur uns widmet und dafür sorgt, dass wir gut leben, doch an manchen Tagen hätte ich mein Sohn lieber als all diese Sachen hier.“
Ich tat das einzige, was man in dieser Situation tun konnte, ich nahm eine einsame Mutter in die Arme und gab ihr den Trost, den sie brauchte. Später kam Aphrodite dann auch noch dazu und dann wurde es zu einer der besten Dreier Umarmung, die ich je gehabt hatte.
„Mama, der Topf kocht.“, flüsterte Aphrodite in die Stille und so lösten wir uns lachend und begannen weiter zu kochen. Innerlich wünschte ich mir, dass meine Mutter und mein Bruder, als auch Sophie hier gewesen wären, denn seit langem fühlte es sich an, als wäre ich ein Teil einer Familie. Es fühlte sich nicht nur so an, sondern mir wurde während des Essens bewusst, dass ich es geworden war. Innerlich dankte ich Gott dafür und winkte die Komplimente zu meinem Gericht und verbrachte noch etwas Zeit mit dem kleinen Engel im Kinderzimmer, wo wir ein Kaffeekränzchen veranstalteten und uns bestens mit den Kuscheltieren aus der Sesamstraße amüsierten.
„Huch, wo sind denn die letzten Cookies hin?“ Meine Finger glitten über den leeren Teller.
„Isch weisch nischt. Cookie Monschter hat schie gegesschen.“ Ein Lachen drang hinter mir hervor und sofort spannte sich mein ganzer Körper an. Es schien als würde ich allein nur durch sein Lachen am ganzen Körper vibrieren. Mein Puls hörte nicht auf laut und schnell in meinem Kopf zu ertönen und hinzukam, dass ich überall Gänsehaut hatte. In diesem Moment fühlte ich mich von meinem Körper verraten, ohne zu verstehen was in mir vorging, doch ich wusste, dass diese Emotionen mich veränderten.
„Aphrodite, was hatten wir übers Lügen gesagt?“ Seine Schritte hallten aufm Boden wider und die Vibrationen gingen mir durch Mark und Bein. Mir machte langsam diese Veränderung Angst. Mein ganzes System schien sich auf alles, was Damien just dieses Moments tat, zu fokussieren und aufzunehmen.
„Dass ich nicht lügen darf, sonst kitzelst du mich so lange, bis ich Pippi machen muss. Entschuldigung.“ Ihre Stimme hörte sich so reuevoll an, dass in mir etwas zusammenbrach.
„Wir können nichts dafür, dass die Kekse so lecker geworden sind. Ich hole schnell einen neuen Teller. So lange kann Damien bestimmt mit dir eine Tasse Tee trinken.“
„Wirklich?“, erkundigte sich seine kleine Schwester bei ihm mit großen Hoffnungen und in diesem Moment schien Damien zu begreifen, dass er keine andere Wahl hatte. Ansonsten hätte er nicht nur Aphrodites Herz zerstört, sondern auch meins.
Moment! Was zum Teufel denke ich da…mein Herz zerstört!?
Verwirrt und nachdenklich kehrte ich mit einem weiteren vollen Teller zurück, den mir Clara bereitgestellt hatte, bevor sie sich zum Nickerchen hingelegt hatte und überspielte meine Aufruhre mit einem kleinen Lächeln.
„Wer hat Lust auf eine zweite Runde?“

 

Vorsichtig tastete ich nach der Bettdecke und legte sie über Aphrodites schlafenden Körper. Sachte strich ich ihr die losen Strähnen aus dem Gesicht und gab ihr einen Gutenachtkuss auf den Scheitel.
„Träum Süß.“ Mit diesen Worten löschte ich das Zimmerlicht und schloss leise die Tür hinter mir. Damien wartete in der Küche auf mich, um mir bei einer Tasse Tee zu erzählen, was genau hinter der Idee steckte uns als Paar zu verkaufen. Der süße Duft von Zimt lockte mich zur Küche und ich erkannte sofort woher dieser Geruch kam.
„Magst du Spekulatius zum Tee? Ich habe welche auf den Tisch gestellt.“
Jeder der mich kannte, wusste, dass dies meine Schwachstelle war und ich es nie abwarten konnte bis die kalte Winterzeit kam, um mir so viele wie möglich zu kaufen. Dadurch wurde Weihnachten viel schöner.
„Gerne.“ Es war der falsche Zeitpunkt um Damien zu erläutern weshalb ich Spekulatius über alles liebte, weshalb ich mir nur einen Keks vom Teller schnappte und großzügig hineinbiss, während ich mich hinsetzte. Wenige Minuten später leistete mir Damien Gesellschaft und ich ahnte bereits, dass er nach den richtigen Worten suchte, weshalb ich ihm Zeit gab und ein Göttliches Gebäck nach dem anderen aß. Lange Zeit war es still, bis Damien sich räusperte und ich den Kopf hob, um anzudeuten, dass ich zuhörte.
„Zuallererst, bevor ich dir erzähle weshalb ich all diese Entscheidungen getroffen habe, ohne auf dein Einverständnis zu warten, möchte ich mich entschuldigen. Es war nicht in Ordnung von mir dich nicht danach zu fragen und dich unvorbereitet in diese Sache hineinlaufen zu lassen, aber wäre mir eine andere Lösung eingefallen, hätte ich sofort diese umgesetzt, nur um dir nicht so viele Probleme zuzubereiten. Ich möchte mich auch dafür entschuldigen, dass du heute den Tag hier verbringen und auf mich warten musstest-“
„Warte mal, ich verbringe sehr gerne Zeit mit deiner Familie. Du hast eine wirklich tolle Mutter und Aphrodite ist mir sehr ans Herz gewachsen. Ich bin freiwillig und sehr gerne hiergeblieben. Du hast wahres Glück.“ Ich richtete meine Augen auf seine Augenhöhe, um zu verdeutlichen, wie wichtig mir diese Aussage war.
„Danke. Das bedeutet mir viel.“ Erneut räusperte er sich, setzte sich aufrecht hin – zumindest vermutete ich es – und legte seine Hände auf den Tisch.
„Gestern Abend, nachdem ich bei euch Zuhause gewesen bin, habe ich einige-“ Meine Hand hielt ihn abrupt ab weiterzureden.
„Du warst bei mir Zuhause?“ Der ruhige Ton hatte sich verabschiedet und die Anspannung kehrte zurück. Gut, seitdem ich den Raum betreten hatte, war sie nicht mehr verschwunden, doch nun kam sie mit viel mehr Ausdruck zum Vorschein. Ehrlich gesagt, wusste ich nicht genau wie ich darauf reagieren sollte, dass Damien den Ort betreten hatte, der meine Persönlichkeit mit all seinen Macken widerspiegelte. Niemand außerhalb meiner Verwandtschaft und Sophie hatte diesen Ort betreten und soweit war das auch gut: Doch nun knallte er diese Information auf den Tisch und ich wusste weder wie ich darauf reagieren noch kommentieren sollte. Meine Gedanken waren ein einziges Chaos
„Nachdem du einfach verschwunden bist, habe ich mir sorgen gemacht. Eigentlich gehöre ich nicht zu der Sorte Kerle, die einem Mädchen hinterherrennen, aber ich hatte dich verletzt und ich wusste nicht was ich falsch getan hatte.“ Er hörte sich so verzweifelt an, dass ich nicht anders konnte meine Hand auf seine zu legen, um ihn zu beruhigen, doch im selben Moment zurückzuziehen, weil ein Kribbeln durch meinen Körper schoss wie ich es noch nie gespürt hatte.
„Du hast nichts falsch gemacht, Damien. Ich…es war einfach zu viel in diesem Moment, daran bist du nicht schuld. Die Auseinandersetzung mit meinem Bruder hatte mir ziemlich viel Abverlangt und ich brauchte von allem einfach nur Abstand.“ Das war die halbe Wahrheit, die andere war, dass mich seine Nähe aus der Fassung gebracht hatte. Noch immer hatte ich das Gefühl sein Gesicht mit meinen Händen zu ertasten. Die markanten Wangenkochen, die weiche Haut wollten mir einfach nicht aus dem Kopf gehen und ein Bild von seinem Gesicht fügte sich nach und nach in meinem Kopf zusammen und es ließ mich leichter verstehen, weshalb so viele Frauen nach seiner Aufmerksamkeit sehnten.
„Deinem Bruder? War das der Kerl, dem du Ich liebe dich zugeschrien hast?“ Blut sammelte sich in meinen Wangen und ich versuchte die Verlegenheit hinter meinen Händen verschwinden zu lassen.
„Ja, wir hatten einen kleinen Konflikt. Was hast du denn gedacht wer er ist?“
„Ach, niemand bestimmtes.“ Er antwortete genauso beiläufig wie ich ihm die Frage gestellt hatte, doch die Erleichterung in seiner Stimme war für mich nicht zu überhören. Seltsamerweise freute es mich sehr, dass er so darauf reagierte, aber ich verstand noch immer nicht weshalb. Etwas war zwischen ihm und mir, doch etwas hinderte mich daran die letzten Puzzlestücke zusammenzufügen.
„Okay, wo waren wir gerade…ah ja. Meine Managerin hatte mir Bilder geschickt, die uns beide zeigte, immer wieder wie wir etwas zusammen unternahmen und auch eins davon wie wir im Wald unter uns waren. Man hat alles veröffentlicht und ich wusste, dass wenn ich vor der Presse behaupten würde, dass wir nur Freunde seien, wärst du die nächsten Wochen nur noch von der Presse belagert worden, bis sie eine andere Antwort von dir oder mir gehört hätten. Und ich konnte auch nicht die Ausrede nehmen, dass ich nur mit dir Zeit verbringen tue, weil ich deine Mutter kenne und ihr einen Besuch im Krankenhaus abstatte. Mein Verstand hat mich davon überzeugt, dass es besser wäre, wenn niemand von dem Zustand deiner Mutter Bescheid weiß. Deshalb habe ich nach einer Lösung gesucht, wie man nicht herausfindet wer deine Mutter ist und du nicht von den Papparazzi belagert wirst. Indem ich dich als meine feste Freundin bekannt gegeben habe, wirst du die Privatsphäre bekommen, die du verdient hast und ich habe einen Vertrag festgesetzt, dass jeder der auch nur eine Sache über dich ohne deine Zustimmung veröffentlicht, mehrere Millionen bezahlen muss, weil es als Verletzung deiner Privatsphäre und Sicherheit gilt. Alles was die Welt von dir weiß ist deinen Namen, deinen Geburtsort, dein Alter und dass du blind bist.“
Einige Minuten lang dachte ich nach und ich wusste innerlich schon, dass er recht mit allem hatte. Selbst ich konnte keine weitere Alternative finden, als seine Freundin zu sein, um den Schutz zu bekommen, der meiner Familie und mir zustand. Innerlich gestand ich mir zudem ein, dass selbst wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, ich nichts verändern hätte wollen. Ich bereute nichts an dem, was wir durchlebt hatten und ohne die Begegnung mit Damien hätte ich niemals die Chance erhalten Aphrodite und Clara kennenzulernen.
„Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass du diesen Schritt gesetzt hast, aber weshalb hast du mir nichts davon erzählt?“ Er gab ein tiefes Seufzen von sich und schnappte sich einen Keks vom Teller, während ich meine Hände um die warme Tasse legte.
„Wenn ich gewusst hätte, dass du so reagieren würdest, dann wärst du die erste gewesen die es erfahren hätte, aber ich konnte dich nicht aufwecken und dir solch eine Nachricht überreichen. Nicht nachdem was alles passiert ist.“ Das erklärte auch, weshalb ich am nächsten Morgen in meinem Bett aufgewacht war.
Scheiße! Damien hat mich ins Bett gelegt. Hat er…?
Panik schoss durch meinen Körper und sofort griff ich mit einer Hand meinen Brustkorb, um mich zu versichern, dass die frischen Narben noch da waren. Damien wusste Bescheid. Er wusste, dass ich mich ritzte. Ein kalter Schauer nach dem anderen fiel über meinem Körper her und ich setzte mich abrupt aufrecht.
„Hast du die Entscheidung getroffen vor oder nachdem du meine Narben gesehen hast?“
Die Luft war dick angespannt, als Damien sich ebenfalls aufsetzte und geräuschvoll den Stuhl zurückschob. Erschrocken zuckte ich zusammen, als er seine Hand auf meine linke Wange legte, konnte mich aber geradeso noch zusammenreißen nicht zurückzuzucken. Etwas sagte mir, dass es ihn ansonsten sehr verletzt hatte, also vermied ich es.
„Es hatte keine Auswirkungen bei meiner Entscheidung, das musst du mir glauben Rose.“ Und ich glaubte ihm. Ich glaubte ihm, als wäre ich drei Jahre alt und er mir von einer Welt erzählte in der es Feen und Nikolause gab.
„Weshalb tust du dir das an? Tut mir leid, ich kann nur nicht verstehen weshalb. Als ich an deinem Bett stand und diese Wunden gesehen habe…du bist so wunderschön mit oder ohne Narben. Nur was hast du durchmachen müssen, um dies als einzige Lösung gegen deine Probleme zu sehen? Bitte sei ehrlich zu mir.“ Seine Finger glitten von meiner Wange zu meiner Hand und umschlossen sie, als wolle er mir damit zum Ausdruck bringen, dass ich ihm vertrauen konnte und sicher bei ihm war. Und ich wusste, dass ich es bei ihm war – in Sicherheit. Sophie war die einzige Person, die ihn ins Haus hätte einlassen können und wenn sie ihm vertraute, dann war es auch meine Bestimmung es zu tun. Unnötig zu erwähnen, dass ich es seit dem Zusammentreffen im Wald schon tat.
„Das passiert, wenn man einsam ist, Damien. Wenn man niemanden hat, um über seine Probleme zu sprechen oder keinen wegen einer kleinen inneren Aufruhr belasten möchte. Ich weiß was mit mir los ist und ich weiß ganz genau, dass ich davon nicht bewahrt werden möchte. Es ist ein Teil von mir geworden und nach fünf Jahren wirst du ganz sicher nicht der sein, der mich davor rettet. Du willst, dass ich ehrlich bin und ich sage dir, dass du mir nicht helfen kannst, wenn du mich jetzt drum bittest dir zu erzählen was mit mir los ist, durch was ich durchgehen musste oder noch zu verarbeiten habe. Mein Leben ist keine schöne Geschichte, aber es reicht fürs erste, wenn ich am Leben bleibe!“ Ich hatte geglaubt, dass ich ihn mit dieser Aussage verjagen könnte, weil nichts daran gelogen war und ich ihm die nackten Tatsachen ins Gesichts warf, aber er tat wie immer nicht das, was man von ihm erwartet hätte.
Er griff nach meiner Hand, zog mich an seine Brust und umarmte mich einfach nur. Verdammt, ich hatte so viele Umarmungen heute bekommen und diese war die erste, die mir Tränen in die Augen trieb. Wie von selbst legte ich meine Arme um seinen Hals und ließ zu, dass die Tränen über mein Gesicht strömten und er mir über die Haare strich, während er mir beruhigende Worte zuflüsterte. Eine halbe Ewigkeit verging und ich hörte einfach nicht auf zu weinen. Damien Key hatte es geschafft die Risse in meiner Seele mit einer Umarmung zu flicken und ich wusste nicht mehr was zu tun war. Die Gefühle für ihn verwirrten mich so sehr, vor allem weil sie so brutal mit einem Mal auf mich zukamen, dass ich nichts anderes tun konnte, als noch mehr zu weinen.
Seine Hände glitten über meine Schläfe und ich spürte, wie er mir einen Kuss auf die Stirn drückte. Eine Wärme, genau die Art von Wärme die ich gebraucht hatte, durchströmte meinen Körper von innen und außen. Wie lange wir in der Küche standen und uns einfach umarmten, das wusste ich nicht mehr, aber irgendwann versiegten meine Tränen und mein Kopf lehnte auf seiner Brust und sein Kopf an meinem. Zum erste Mal in meinem Leben ließ ich es zu, dass ein erwachsener und beinahe fremder Mann mich in die Arme nahm, wie es für eine geliebte Frau bestimmt war.

 

Wünsche können nur sein, wo Hoffnungen sind. In jedem Wünschen ist schon ein Schimmer von Glück

 -Hans Margolius

 

"So ungern ich euch beide stören möchte, aber seit einigen Minuten ruft eine Sophie bei uns am Festnetz an und bittet drum, dass du -Rose- nach Hause kommen sollst." Die Stimme von Clara ließ uns beide zusammenzucken und voneinander lösen. Offensichlich war auch Damien peinlich berührt, dass seine Mutter uns in dieser Situation gestört hatte, denn er brauchte einige Versuche um seiner Mutter zu sagen, dass er mich Nachhause fahren würde. Ich hätte lieber eine Fußzehe geopfert, als zuzugeben, dass ich augenblicklich die Wärme von Damien vermisste. Innerlich gab ich mir eine heftige Ohrfeige und zwang mich dazu wieder zu mir zu kommen und nicht wie ein pupertierender Teenie zu denken. Was zum Teufel war nur mit mir los? Noch gestern war meine Seele eine schwarze Höhle der Finsternis mit Spinnenweben gewesen und nun sah es in mir aus, als hätte jemand eine Piniata in mir geopfert!

"Danke für den tollen Tag und richte bitte Aphrodite aus, dass sie mich jederzeit Zuhause oder im Krankenhaus besuchen kann, sollte es keine Umstände bereiten. Ich hatte heute wirklich großen Spaß, danke dafür Clara!" Verlegen strich ich mir meine Haare aus dem Gesicht und ignorierte gekonnt meine heißen Wangen.

"Ich nehme das Angebot gerne an, Aphrodite wird sich mehr als nur freuen. Aber ich möchte mich auch bei dir bedanken, es hat gut getan dich hier zu haben und ich hoffe du kommst uns sehr bald wieder besuchen."  Sie zog mich in ihre Arme und Umarmte mich kurz, aber sehr herzlich. Dabei entging mir nicht, was sie mir uns Ohr flüsterte und für wenige Sekunde mir die Sinne raubte.

"Pass gut auf meinen Sohn auf, Rose." Ich hatte diverse Hörbücher und Gesichten in meinem Leben gehört, um zu wissen, dass eine Mutter diesen Satz nur dann sagte, wenn sie drauf vertraute, dass die beiden Protagonisten zusammenkam oder diese erkannte, dass beide Gefühle füreinander hatten. Und zu leugnen, dass wir nichts füreinander empfanden, vor allem nach solch einer Umamung, war einfach nur dumm. Und ich war dumm. Sehr dumm!

OH GOTT, bitte sag mir nicht, dass das wirklich passiert!!!!! 

Sofort merkte ich, wie ich meine Mauern hochzog und innerlich vor Damien flüchtete.

"Kommst du, Rose?" Damiens Stimme riss mich aus einer Reihe Emotionen und da ich keine andere Wahl hatte als ja zu sagen, nickte ich und folgte ihm zur Haustür.

"Ich habe mein Auto direkt vorm Haus geparkt. So dürfte es ein wenig unkomplizierter für dich sein."

Dankbar folgte ich ihm und bedankte mich, als er mir die Autotür aufhielt. In den wenigen Sekunden, die er brauchte um das Auto zu umrunden, nahm ich den unvergleichbaren Duft von Damien im Auto wahr. Augenblicklich fühlte ich mich, als läge ich erneut in seinen Armen und würde die Welt um mich herum nicht mehr wahrnehmen. Sofort verwarf ich alle Gedanken und konzentrierte mich mit allen Sinne auf Damien, der mitlerweile ins Auto gestiegen war und den Motor startete. Leise lief die Radiomusik im Hintergrund, während wir schweigend unseren Gedanken folgten. Obwohl mein Herz bis zum Anschlag schlug, genoss ich die Stille zwischen uns und kuschelte mich tiefer in den Sitz hinein. Eine Weile sagten wir nichts, aber irgendwann musste ich die Ruhe durchbrechen um Antworten auf meine Fragen zu erhalten, die inzwschen in meinem Kopf kusierten. Zögernd wandte ich meinen Kopf in seine Richtung.

"Damien, wie wird von nun an alles ablaufen? Ich meine, du bist vorzeitig aus dem Krankenhaus entlassen worden und hast Termine wahrzunehmen. Deine Mutter hat mir erzählt, dass eure Tour sehr bald weitergehen wird und du die nächsten Wochen in Amerika und Asien sein wirst." Er hielt den Wagen an und etwas sagte mir, dass wir direkt vor meinem Zuhause angehalten hatten.

"Ich weiß, jetzt ist noch alles durcheinander und unorganisiert, aber meine Managerin Gina kümmert sich drum, dass ich Zeit finde dich zu treffen. Problematisch wird es nur während unserer Tournee, da müssen wir noch schauen, aber irgendwie wird es schon klappen!" Innerlich wünschte ich mir auch von ganzem Herzen, dass wir es schaffen würden, aber ich wusste genauso gut, dass es selten klappen würde bei seinen Leben im Rampenlicht.

"Es tut mir leid, dass ich dir dadurch Probleme bereiten werde. Ich will dich nicht von deiner Freizeit aufhalten und allem, was du so getan hast, bevor wir uns begegnet sind. Wenn es dir irgendwann reichen sollte, dann kann ich gerne jederzeit verkünden, dass wir uns im Einvernehmen getrennt hätten."

 "Es geht für mich in Ordnung mich deinem Alltag anzupassen. Bevor du aufgetaucht bist, beinhaltete meine Freizeit hauptsächtlich im Krankhaus zu sein und einfach dort zu sein. Meine Mutter hat sich schon immer gewünscht, dass ich endlich raus gehe und mein Leben genieße, aber für mich gab es bis heute keinen ernsthaften Grund all diese Dinge zu erleben."

Irgendetwas sagte mir, dass ich mit Damien noch vieles Nachholen würde, dass ich im Leben verpasst hatte.

Damien blieb still und ich nutzte diesen Moment aus, um die Autotür zu öffenen und auszusteigen. Tief nahm ich die frische Luft in mir auf und schloss für wenige Sekunden die Augen. Aufmerksam lauschte ich seinen Schritten, doch selbst seine Nähe hinderte mich nicht dran den Kopf in den Nacken zu legen und einfach die Nächtliche Ruhe zu genießen.

"Manchmal frage ich mich wie die Sterne aussehen und ob ein Wunsch wirklich in Erfüllung geht, wenn eine Sternschnuppe erscheint. Ich weiß, es ist melancholisch in meiner Situation sich solch etwas zu wünschen, aber ich kann nicht anders." Lächelnd wandte ich mich zu Damien um und spürte, wie seine Finger meinen Arm hinunterfuhren und seine Hand meiner verschloss. Auf einmal fing Damien an mir genau zu beschreiben, wie der Himmel aussah und die einzelnen Sternenbilder zu beschreiben mit deren Bedeutungen. Tränen standen mir in den Augen und mit einem Mal war ich mir dessen bewusst, was ich hier mit Damien erlebte. Ich wusste nicht, ob man es Schicksal oder Bestimmung nannte. Aber die Tatsache, dass ich nicht gegen die Gefühle ankam, die er in mir mit so vielen kleinen Gesten auslöste, welche für mich von solch einer großen Bedeutung waren, ließ mich erkennen, dass ich dabei war mich in Damien zu verlieben.

Langsam löste ich meine Hand von seiner und trat einen Schritt zurück, was Damien augenblicklich verstummen ließ. Doch ich ließ mich davon nicht irritiren und trat zwei Schritte auf ihn zu. Langsam tastete ich mich meinen Händen von seiner Brust zu seinen Schultern, um sich anschließend im Nacken zu verschränken. Seine Finger legten sich auf meine Wange und strich vorsichtig eine Träne fort.

"Es tut mir leid." Der Schmerz in seiner Stimme ließ mein Herz bluten. Also tat ich das einzige, um ihm diese zu nehmen.

Ich küsste ihn.

 

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 21.10.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Alle vorrechte für das Bild liegen bei dem Besitzer, welches ich aus Google habe. An alle Menschen, die nach an einem schweren Schicksal noch imemr an das Gute in der Welt glauben und sich von nichts und niemanden aufhalten lassen, wenn es um die Liebe geht.

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