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12.05.2002 - 22 Uhr

Die Luft in der alten Lagerhalle war durchsetzt von Krach, Schweiß und Rauch. 50, vielleicht 60 Jugendliche standen vor der kleinen baulichen Erhöhung gedrängt, bewegten wild nickend den Kopf vor und zurück, während der Sänger der Punkband "Vorkriegsjugend" heiser und schräg ins Mikrofon schrie. Er blickte auf ein Knäuel Jungs und Mädchen herunter, die ähnlich gekleidet waren wie er selbst, mit Lederjacken, rotkarierten Hosen, jeder Menge Metall und wilden Frisuren. Über den grün gefärbten Irokesen-Schnitt, wilde Mähnen bei jungen Mädchen in Neon Gelb oder leuchtend rot. Sie sprangen umher, sie schubsten sich, sie feierten miteinander.

"Du wohnst in einem besetzten Haus
da hauen Dich die Bullen raus
sie treten Dir die Türen ein
und schlagen Dir die Fresse ein

Rache"

Es grölte aus den billigen Boxen, die die Band im klapprigen VW-Bus selbst hierher gekarrt hatten. Jerry, einer der älteren Jungs aus dieser Gegend, lehnte am anderen Ende der Halle, lächelnd und gelassen, an einem Geländer und blickte auf das Treiben vor ihm. Viele Freunde, Jugendliche aus der Jugendgang, die er unter Kontrolle hatte, stammten aus der Punkszene wie er selbst, und waren heute Abend hier. Er hatte für sie und den Rest der Straßenkids seine Kontakte spielen lassen, und die Untergrund-Band eingeladen, einen lustigen Abend ohne Gage, aber mit viel Bier zu verbringen.

Jerry war einer der ersten Punks in Köln, in den 80ern als Kind, als die Sex Pistols aus England herüberschwappten. Er geriet schnell auf die kriminelle Schiene und heute "organisierte" er einen Haufen junger Kids ohne Zukunft, viele davon ebenfalls ein Teil der linken Szene. Häusereinbrüche und Drogengeschäfte waren sein Metier. Wenn die Welt dort draußen den Jungs schon keine Chance gab, hier bekamen sie von Jerry alles, was sie brauchten. Er zockte niemanden ab, er behandelte jeden fair, er sah sich nicht als Bandenchef sondern als "Papa", wie er sich manchmal scherzhaft nannte. Er kannte jeden seiner Jungs und Mädels mit Namen, und wenn es Probleme gab, nahm er sich derer an. Allerdings war Jerry auch nicht zimperlich wenn es darum ging, sein Revier gegen andere Jugendgangs zu verteidigen, wenn es darum ging eine Gruppe Nazis, die Mitte 90er auf dem Vormarsch waren, in die Schranken zu weisen oder wenn es darum ging, Verräter mundtot zu machen. Der Gangvater griff dann gerne mal nach dem Mittel der Gewalt, dem Mittel der Straße.

Hauptsächlich hielten sich er und seine Jungs in der Gegend um die alte Lagerhalle auf. Einige der Kids lebten zu Hause bei ihren Eltern, einige im Heim, andere komplett auf der Straße. Viele hatten nur noch ein Elternteil, waren Scheidungskinder, aus ärmlichen Verhältnissen die früher oder später sowieso auf die schiefe Bahn gelandet wären. Allerdings gab es auch einige, die einfach den reichen Lebensstil ihrer Eltern satt hatten und dagegen revoltierten, hier draußen ihren Spaß und ihre Freiheit suchten. Jerry kannte alle Geschichten, alle Gesichter und alle Beweggründe, warum man sich mit 12 oder 13 für dieses Leben entschied. Freiheit, Nervenkitzel, Zusammenhalt.

Den Beweis der Vertrautheit innerhalb der Punkszene machte ein Ritual aus. Klettere bei einem Konzert auf die Bühne oder eine Erhöhung, und springe ins Publikum. Vertraue deinen Freunden, die dich sicher auffangen werden und auf Händen bis ans Ende der Halle tragen. Der Junge, der jetzt gerade auf die wackelige Box kletterte, war recht schmächtig. Jerry beobachtete ihn, er hatte ihn vor einigen Monaten erst kennengelernt, und quasi in die Gang mitgenommen. Er kam aus einer zerrütteten Familie, wobei man die Verhältnisse eigentlich nicht „Familie“ nennen konnte. Seine Mutter hatte er nie kennengelernt, sein Vater hatte sich nicht um ihn gekümmert, und ihn quasi sich selbst überlassen. Nur ein, dem Vater aus dessen damaligen Bordell bekannten Transvestit-Künstler tat der Junge leid, und sie nahm ihn bei sich auf.

"Aus Hass wirfst Du 'ne Scheibe ein
ab in die Zelle, Punkerschwein
paar in die Fresse, Zähne im Rachen
Alter, da haste nix zu lachen!

Rache"

Der Junge, der zu den Versen des Sängers mitgrölte, hatte seine etwas längeren Haare hinter ein Stirnband gepackt, sie hingen über dessen Kante hinaus, der Rest stand wild von sich. Er atmete tief durch und ließ sich dann langsam von der Box fallen, nachdem die Meute unter ihm die Hände gehoben hatte und signalisierte, dass er sich fallen lassen könne. Zwar unsanft, aber sicher landete er auf den vielen Händen, versuchte sich noch so lange es geht oben zu halten,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 14.11.2016
ISBN: 978-3-7396-8327-0

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