Cover

Prolog

Die Nacht war schwarz und nur ein fahler Mond stand am Himmel, sein Licht zu schwach, um die überwucherten Reste des Dorfes zu erleuchten. An der Stelle, an der einmal Kinder im Schatten von Häusern gespielt hatten, waren nur noch Ruinen zu sehen, deren schwarze Schatten den Boden zu verschlingen schienen.

Ein Geruch nach Asche lag in der Luft, obwohl das Dorf schon seit Jahren kein großes Feuer mehr gesehen hatte. Früher war der Himmel oft hell erleuchtet gewesen von den Flammen, die ihn in Brand zu stecken schienen und die Asche war wie Schnee auf das Dorf gefallen, aber diese Zeiten waren lange vorbei. Dennoch war die Stelle noch auszumachen, an der die großen Feuer ihren Anfang genommen hatten. Der Boden würde dort nie wieder fruchtbar sein.

 

Sie schlüpfte aus den Schatten der Mauer heraus und ging mit sicheren Schritten durch die Dunkelheit. Ihre bloßen Füße schienen den Boden kaum zu berühren und die Geräusche ihrer Schritte versanken in denen der Nacht. Irgendwo schrie eine Eule und die Büsche rauschten im Wind. Sie wunderte sich darüber, erzählte man sich doch von diesem Ort, dass jedes Leben ihn verlassen habe und er still dalag, wie in den ersten Tagen nach seinem Ende, als sich nichts Lebendiges hierher verirrt hätte. Die Natur hat diesen Ort zurückerobert, dachte sie, aber die Steine und die kahle Stelle in ihrer Mitte werden noch lange von den Menschen zeugen, die hier gelebt und gewirkt hatten. Dennoch, sie hatte etwas Gespenstischeres erwartet, als diese ruhige, fast friedliche Ansammlung von Ruinen hier.

Es könnte sogar romantisch sein, dachte sie leichtsinnig, wenn der Mond scheinen würde und die Luft nicht so trocken wäre. Sie glaubte Staub auf ihrer Zunge zu schmecken, verbranntes Holz und Papier, das fein gemahlen in der Luft lag.

Ihr Ziel war die Kirche, oder besser, das was von ihr übrig war. Die bunten Glasfenster waren völlig verschwunden und statt der schweren Holztür klaffte ein Loch in der Mauer. Das Dach war teilweise eingestürzt, vielleicht wegen dem Feuer, vielleicht wegen der Witterung.

Sie schob die Kapuze ihres langen Umhangs tiefer ins Gesicht und trat durch die schwarze Öffnung ein.

Zuerst dachte sie, die Kirche sei verlassen, aber dann sah sie den schwachen Schein einer Kerze weit hinten in den Mauern brennen. Sie bahnte sich ihren Weg durch das Mittelschiff, wo einst die Bänke aufgereiht gewesen sein mochten für die Gläubigen, jetzt aber nur gähnenden Leere herrschte.

Als sie den Ort erreichte, von dem der Lichtschein ausging, blieb sie stehen und wartete.

Vor ihr in einer Metallvorrichtung waren mehrere Kerzen gesteckt, von denen zwei hell brannten und eine fast erloschen war. Das Metall war alt und mochte noch aus der Zeit stammen, als das Dorf bevölkert gewesen war. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie daran dachte, dass jeder, der an dieser Stelle gestanden und in das Feuer der Kerzen gestarrt hatte wie sie, nun tot sein mochte. Sie glaubte nicht, dass jemand diesen Ort noch besuchte. Niemand würde freiwillig hierherkommen nach dem, was man sich darüber erzählte. Albern und abergläubisch waren sie, die Menschen dieser Welt. Und doch hatte jemand die Kerzen entzündet. Sie war nicht allein. Anders musste schon hier sein.

Der Wind strich durch die leeren Fenster und erzeugte dabei ein leises Heulen. Sie dachte an die Geschichten, die ihre Großmutter ihr erzählt hatte, als sie noch jünger war, über die Dämonen, die das Dorf zerstört hatten und die ruhelosen Geister seiner Bewohner. Ammenmärchen, sagte sie sich, aber ein Teil von ihr glaubte im Heulen des Windes das Klagen einer Frau zu hören. Sie versuchte sich an die Geschichte zu erinnern, aber es gelang ihr nicht. Das Dorf sollte einen Pakt eingegangen sein, mit einem mächtigen Gott oder Dämon, der Opfer verlangte, die ihm jeden Vollmond in dieser Kirche gebracht wurden. Sie starrte den mächtigen Steinaltar an der Stirn der Kirche an. Plötzlich wollte sie nichts so sehr wie raus aus dem Gebäude, nur weg von den Geschichten und den Geräuschen der Nacht.

Unsinn, sagte sie sich, aber sie blies die Kerzen aus, um nur ja keinen Anteil am Gebet des Mannes zu haben, der sie entzündet hatte. Die ersten beiden erloschen schnell, aber die dritte flackerte nur und leuchtete wieder auf, heller als zuvor, so schien es ihr.

 

„Es hat keinen Sinn, die Flammen zu löschen.“, sagte eine Stimme aus der Dunkelheit. „Die Gebete sind gesprochen und der Rauch hat sie längst fortgetragen. Die Kerzen zu löschen, ist wie einen Schleier über dem entstellten Gesicht zu tragen. Es verdeckt die Wahrheit und beruhigt den Betrachter, aber die Narben bleiben, ebenso wie die Flammen an diesem Ort, nur dass sie unsichtbar sind.“

Sie starrte ihn an, teils verwundert, teils entsetzt. Seine Stimme war rau und schwach, als wäre er krank und sie erkannte ihn kaum wieder. Sein Gesicht war eingefallen und fahl, die Augen tief in den Höhlen eingesunken. Das war nicht der Mann, den sie gekannt und erwartete hatte, der Mann, den sie um Hilfe bitten wollte. In seinen Augen war kein Leuchten mehr und keine Sicherheit, wie sie es gewohnt war. Sie waren seltsam leer und sie glaubte etwas Dunkles darin zu erahnen – Trauer oder vielleicht Furcht? Aber nein, Anders fürchtete sich nicht und vor allem nicht vor ihr. Er war ihr Mentor, ihr Vorbild, alles was sie einmal sein wollte. Seine Güte und die Geborgenheit, die er ausstrahlte hatten sie jahrelang vor ihren Ängsten bewahrt. Aber nun schien es fast, als müsse sie ihn bewahren.

„Anders.“, sagte sie mit leiser, belegter Stimme und legte eine Hand auf die fast durchscheinende Haut seines Arms. Sie fühlte sich ledrig an und hing lose an seinem Fleisch. Seine Augen durchdrangen sie und plötzlich packte er ihren Arm mit einer Skeletthand und zog sie fest an sich, sodass sie seinen faulen Atem riechen konnte.

„Hast du dabei, was du mir zeigen wolltest?“

Sie versuchte sich ihm zu entziehen, aber trotz seines schlechten Zustands war er stark und sein Blick bohrte tief in sie hinein. Sie schluckte und versuchte sich zu beruhigen. Das ist Anders, der Mann, dem ich mein Leben lang vertrauen konnte, der mich nie im Stich gelassen hat.

„Ja, ich habe... ich hätte es schon fast wieder vergessen, wenn du nicht… Anders, ist alles in Ordnung?“

Seine Augen huschten nervös hin und her.

„Du hättest nicht herkommen sollen, Allysha. Du hättest diesen Ort nicht betreten sollen.“

„Was soll das, Anders?“, fragte sie verständnislos und entzog ihren Arm seinem Griff. „Du hast doch gesagt, nur hier ist es sicher? Was... was ist nur mit dir?“

Er ist krank, dachte sie, schwer krank, sieh nur wie seine Haut zu groß für seinen dünnen Körper geworden ist. Die fiebrigen Augen – aber er hätte doch einen Medikus rufen lassen, er war doch sonst auch nicht so stolz, dass...

Ihre Augen wurden groß.

„Anders, hast du? Das du mich hier treffen wolltest, war nicht nur wegen meiner Sicherheit?“

„Allysha, wenn es einen anderen Weg gegeben hätte...“

„Du hast...“, sie schüttelte den Kopf. „Dich mit diesem Zauber eingelassen?“, flüsterte sie. Die Geschichten erzählten nicht nur von dem Verderben, das über das Dorf gekommen war, sondern auch von der Macht, die es jahrzehnte - vielleicht jahrhundertelang besessen hatte.

„Der Gott, dem diese Kirche geweiht ist...“, begann er.

„Ist ein falscher Gott!“, flüsterte sie und sah sich unruhig um, als könnte der Dämon ihre Worte gehört haben. Albern, dachte sie sich, Anders würde sich an Magie keiner Art versuchen, erst recht nicht an schwarzer.

Nur Geschichten, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf, diese schwarze Magie, von der du hier sprichst, die gibt es nicht. Es ist das Dorf und deine eigene Angst, die dich das glauben lässt. Du wirst verrückt, wenn du hier länger bleibst, genau wie er. Geh, nimm ihn mit, wenn du kannst, aber geh!

Sie atmete tief durch.

„Anders.“, sagte sie dann mit sanfter Stimme. „Mach dir keine Sorgen. Ich bring dich nach Haus zu Elly und den Jungs. Die sind ja schon halb wahnsinnig vor Sorge. Ich hab sie heute Morgen noch getroffen und sie sagten, du wärst schon seit Wochen...“

„Du hast sie gesehen?“

„Ja und...“

„Elly auch?“

„Sie war im Haus, ich hab die Töpfe scheppern hören, aber ich habe sie nicht gesprochen. Du weißt ja, wie sie ist. Komm, sie wird überglücklich sein, wenn...“

Wieder nahm er ihren Arm und diesmal war sein Griff so fest und unerbittlich, dass sie überhaupt nicht dagegen ankam, wie früher, wenn die Reiter kamen und er sie ins Haus ziehen musste, damit sie nicht vor lauter Neugier und Staunen mit offenem Mund mitten auf der Straße stehen blieb.

„Komm.“, sagte er mit seiner kratzigen Stimme, „komm, ich muss dir etwas zeigen.“

Sie wollte protestieren, aber sie wusste, wie stur er war.

„Dann gehen wir aber. Ich mache mir langsam wirklich, Sorgen, dass – oh!“

Ein Schatten hatte sich aus der Wand gelöst und kam auf die beiden zu.

„Anders...“, ihre Stimme wurde schrill und sie wand sich unter seinem Griff, aber die Finger gruben sich wie Klauen in ihre Haut und ließen sie nicht los.

„Anders!“, schrie sie, als der Mann fast bei ihnen war. Sie erwartete, dass er Anders angreifen würde – niemand, aber auch niemand, der sich an diesem Ort verborgen hielt konnte nicht gefährlich sein – aber der Mann blieb vor ihnen beiden stehen und Anders schließlich auch. Sie stolperte gegen ihn.

„Was...“, sie sah zwischen den Männern hin und her. Anders drehte sich zu ihr um und wieder war dieses Dunkle in seinem Blick.

„Allysha.“, sagte er mit rauer Stimme. „Wenn es einen anderen Weg gegeben hätte, ich hätte nicht gezögert, ihn zu gehen.“

„Ich verstehe nicht ganz, was...?“

Er wog den Kopf nach links, ein müdes Andeuten eines Kopfschüttelns, als habe er nicht mehr die Kraft für mehr. Und plötzlich wusste sie, was dieser Blick zu bedeuten hatte. Sie hatte ihn schon so oft gesehen, dass sie es kaum noch wahrnahm. Aber noch nie war er auf sie gerichtet gewesen.

Es war Mitleid.

Und dann wusste sie, warum er hier war.

Sein ausgemergelter Körper erzählte plötzlich nicht mehr die Geschichte einer Krankheit und plötzlich fiel ihr auf, dass dunkle Ringe um seine Handgelenke verliefen. Ringe wie von Fesseln. Seine Stimme, die so rau war, als sei er krank – oder habe lange geschrien.

„Oh mein Gott.“

„Du hast auch früher nicht alles sofort durchschaut. Jetzt gib mir, was du mitgebracht hast.“

Sie trat einen Schritt zurück.

„Nein“, sagte sie, aber sie wusste ebenso gut wie die beiden Männer, dass sie keine Chance hatte.

„Anders...“, sie sah ihn flehend an.

Er wich ihrem Blick nicht aus, aber er war voller Bedauern.

„Ich konnte nicht... Sie haben gesagt, sie hätten Elly. Sie haben mir ihre Hand gebracht mit dem Ring und der Narbe und gesagt, wenn ich nicht sage, was ich weiß...“

„Genug geredet.“, grunzte der Mann und dann lief sie, ohne zu wissen, dass sie den Entschluss dazu gefasst hatte.

Sie hörte einen dumpfen Schrei hinter ihr und das Geräusch eines Körpers, der zu Boden fällt, aber sie drehte sich nicht um. Diesmal waren ihre Schritte laut und das Klatschen ihrer nackten Füße auf dem Boden alles, was sie wahrnahm. Sie schloss die Augen und rannte und öffnete sie erst, als sie das Ende der Kirche fast erreicht hatte. Sie konnte den Himmel über den offenen Mauern sehen und die Sterne schienen ihr den Weg zum Ausgang zu weisen. Sie wusste, wenn sie erst einmal aus der Kirche war und das Dorf durchquert hatte, hatte sie es geschafft. Nur noch ein paar Schritte...

Sie kam bis zum Bogen, der früher einmal der Rahmen für die Tür gewesen war. Ihr nach vorne gebeugter Oberkörper war schon im Freien, dann riss etwas ihre Füße zurück und ihre Welt wurde schwarz.

Hangover

 

Das Letzte woran ich mich erinnerte war das Gesicht dieses Mädchens im flackernden Licht der Disko. Diese vollen Lippen, die mich den halben Abend lang wahnsinnig gemacht hatten und Augen, in denen man stundenlang versinken könnte. Ein südländischer Typ, lange, dichte Wimpern und eine Iris, so dunkel, dass sie im schummrigen Licht mit der Pupille verschmolz. Ich hätte sie die ganze Zeit anstarren können, aber ich wollte nicht zu offensichtlich machen, wie gebannt ich von ihr war, also wandte ich mich bald ab und sah nur zu, dass ich sie nicht aus den Augen verlor.

Ich hatte sie angesprochen, irgendwann, nachdem ich mir Mut an der Bar angetrunken hatte. Die Jungs lachten nur über mich, Tom klopfte mir auf die Schulter, ehe ich mit wackligen Schritten, ob ich sie nun dem Alkohol oder meiner Schüchternheit zu verdanken hatte, auf sie zuging. Er warf mir einen Kussmund hinterher. Sie wird es gesehen haben, aber sie lächelte nur.

Dann wird alles ein bisschen verschwommen. Ich gab ihr etwas aus, Wodka und Tequila mit Salz und Zitrone und die ganze Zeit lächelte sie mich an und dann waren wir tanzen, vermute ich. Ich erinnere mich an unsere erhitzen Gesichter, das weiße Top, dass an ihrer Haut klebte und daran, dass ich mich ständig zusammenreißen musste, es nicht zu berühren, um zu spüren, ob sie heiß oder kalt an der  Stelle war, wo der Schweiß den Stoff durchsichtig scheinen ließ. Ich wollte meine Hand über ihre Schulter gleiten lassen, die Gänsehaut sehen, die sie hinterlassen würde, oder sie beim Tanzen wie zufällig streifen, aber zu allem fehlte mir der Mut.

Also trank ich mir noch mehr an.

Dann sind da noch ein paar Erinnerungsfetzen: Die Tanzfläche, Füße, die wegen des Gedränges aus meinen herumlatschen, pinke Lichtstreifen auf ihrem Gesicht und ihr Lächeln und ihre Augen.

Ich schätze bei Tageslicht sieht sie nicht ganz so gut aus. Oder ich sehe umgekehrt richtig gut aus im dämmrigen, bunten Licht der Disko. Es könnte ein paar von den Pickeln wegschummeln, gegen die ich schon seit Jahren fast erfolgreich kämpfe.

Vielleicht hatte ich aber auch einfach mal Glück.

Vermutlich nicht. Ich kann mich nicht an das letzte Mal erinnern, dass ich Glück hatte. Wenn einer der Lehrer Stichprobenkontrollen macht oder ein Auto durch eine richtig tiefe Pfütze fährt oder die Bahn gerade dann keine Verspätung hat, wenn man genau zwei Minuten später dran ist – dann bin ich garantiert nicht weit.

Wahrscheinlich war sie nicht einmal mitgekommen. Wahrscheinlich hatte ich ihr nach meinem fünften Tequila auf die Füße gekotzt oder war mit meinem Kopf in ihrem Dekolleté gelandet. Aber hey, dann hatte ich es immerhin vergessen. Meine Pechsträhne schien sich ja geradezu zurückzuhalten.

 

Nun, zunächst konnte ich niemanden neben mir im Bett ertasten. Die Augen wagte ich nicht zu öffnen – auch ohne Licht hatte ich schon Kopfschmerzen genug. Himmel – ich fühlte mich, als wäre ich von einem Laster überrollt worden.

Ich gab ein undefiniertes „Hmmmm....“ von mir und wartete auf eine Antwort. Natürlich nicht. Bis auf ein Kleinmädchenkichern irgendwo weit weg von mit tat sich nichts.

Moment mal!

Im Nu hatte ich die Augen geöffnet.

Bam – und wieder zu.

„Ouhhh...“, fluchte ich und presste meine Hände auf meine Augen.

Dabei fühlte ich ein feuchtes Tuch, dass um meinen Kopf gewickelt war. Was zum Kuckuck?

Das Kichern ertönte wieder, diesmal deutlich näher.

Nein, ich habe keine kleine Schwester, außer meine Erinnerung an sie war mit denen von gestern Abend verschwunden.

„Äh...“, sagte ich und plötzlich fiel mir ein, dass in meiner Erinnerungslücke sich auch der Name des Mädchens befand. Verdammt, ich erinnerte mich noch genau, dass ich danach gefragt hatte. Ich erinnerte mich daran, dass sie es mir gesagt hatte, aber – Gott, die Bewegung dieser köstlichen Lippen...

„Alec.“, sie sprach meinen Namen ganz komisch aus, zog das e so in die Länge, dass es sich wie ein langes ä anhörte und verschluckte das l fast. Und noch dazu war es der Falsche.

„Alex.“, murmelte ich unter größter Konzentration und Anstrengung.

„Ahluekz“, sagte die Stimme und wieder dieses Kichern. Es war auch eine Kleinmädchenstimme. Himmel, was hatte ich denn gestern getrunken?

Ich traute mich jetzt noch weniger, die Augen zu öffnen.

„Ich hab wahnsinnige Kopfschmerzen.“, sagte ich also mit schwacher Stimme. „In der Küche sind Aspirin, im oberen Fach im Schrank, vielleicht könntest du...?“

Kichern. Was war das nur für ein Mädchen?

Ich versuchte, meine Augen zu öffnen, einen winzigen Spalt nur, aber dann entschied ich mich wieder anders.

„Meine Eltern kommen bald heim.“, sagte ich. Vielleicht steht sie auf und dann kann ich einen kurzen Blick auf sie werfen und entscheiden, was zu tun ist, dachte ich.

Wer weiß, wen du da angeschleppt hast. Erinnerst du dich noch an....

Ich zuckte zusammen, weniger wegen meiner Kopfschmerzen sondern eher wegen der Erinnerung an das letzte Mädchen, das mit mir nach Hause wollte. Im Dämmerlicht hatte sie ganz gut ausgesehen. Eine leicht zu groß geratene Nase, die Lippen immer zu einem schmalen Strich zusammengepresst, als wolle sie sich ständig über etwas beschweren, aber tolle Augen und tanzen konnte sie wie eine junge Göttin. Eigentlich hatte mir mehr ihr Hüftschwung gefallen als ihre Hüfte, aber....

Gott sei Dank waren wir zu ihr nach Hause gegangen, sodass ich mich schnell vom Acker machen konnte.

Noch einmal tastete ich neben mir im Bett. Niemand.

Vorsichtig, ganz vorsichtig öffnete ich die Augen.

Mein Kopf explodierte und sofort presste ich sie wieder zu.

Aber das Wichtigste hatte ich gesehen. Wo zur Hölle war ich gelandet?

„Alec?“

„Hm?“

„Geht es dir besser?“, sie sprach mit einem Akzent, den ich nicht richtig zuordnen konnte.

Besser heißt, es ging mir schon einmal schlechter. Kein guter Anfang.

„Hmmm...“, ich versuchte, so wenig wie möglich von mir preiszugeben. Machte mir schon mal einen Fluchtplan zurecht. Denn wenn ich so recht darüber nachdachte, fühlte sich das hier nicht nach meinem Bett an.

„Dann steh auf.“, sagte sie und kicherte wieder. „Du hast lange genug geschlafen.“

Ich versuchte mich aufzusetzen. Langsam, Stück für Stück, wobei ich versuchte, meine Augen zu öffnen, aber ich hatte zu viel Angst, nach dem, wie mich das Licht eben geschmerzt hatte. Also blieb ich mit geschlossenen Augen sitzen und wartete auf weitere Anweisungen.

„Alec.“, sagte das Mädchen. „Los.“ Dann spüre ich eine sanfte Berührung an meinem Arm, eine Hand, die sich langsam in meine schob und sie festhielt. Es war eine kleine Hand.

„Was zum Teufel?“

„Ich hab dir gesagt, er weiß wahrscheinlich nicht wo er ist.“, sagte eine tiefere Stimme, deutlich älter als das kleine Mädchen, aber weiblich. „Wahrscheinlich weiß er nicht einmal wer du bist.“

Ein undefinierbarer Laut neben mir. Ich lächelte bei dem Gedanken daran, wie Milla ihre Lippen schürzt und ihrer Schwester die Zunge herausstreckt.

Moment mal. Milla?

Ich öffnete meine Augen und stellte verwirrt und fast ein bisschen entsetzt fest, dass das Bild von dem kleinen Mädchen mit Schmollmund in meinem Kopf genau dem entsprach, was ich neben mir sah.

Ich schaute das ältere Mädchen an, das mir gerade den Rücken zugewandt hatte und dabei war, den Raum zu verlassen und auch hier lag mir ein Name auf der Zunge. Sheila.

„Schau mal!“, rief Milla. „Er guckt.“ Sie sah mich an und legte den Kopf schief. Ich merkte, wie ich langsam zurückwich und die Augen schloss, in der Hoffnung, dass gleich alles wieder normal werden würde.

„Ich glaub du hast Recht.“, sagte die Kleine in einer fast schon weinerlichen Stimme. Ein dumpfer Aufprall verriet mir, dass sie von Bett gehüpft war und dann fühlte es sich auf einmal so an, als wäre ich alleine im Raum.

Ich lehnte mich zurück und zählte langsam bis zehn. Einmal leise. Einmal laut. Dann öffnete ich die Augen wieder.

Ein Stöhnen brach aus meiner Kehle. Ich war immer noch am gleichen Ort.

Ich folgte den Stimmen nach draußen, nachdem ich es endlich über mich bringen konnte, das Bett zu verlassen. Es schimpfte eigentlich dieser Beschreibung. Der Ort, an dem ich offenbar die letzte Nacht verbracht hatte war äußerst, äußerst merkwürdig und unkomfortabel eingerichtet. Das Bett war eher ein Strohhaufen, über den man ein halbwegs sauberes Laken geworfen hat und Boden und Wände des Raums waren – wenn mich nicht alles täuschte – aus Lehm. Das ganze erinnerte mich an ein Pfadfindertreffen „Leben wie vor hundert Jahren.“, obwohl man hier hundert sicher durch drei- bis vierhundert ersetzen könnte. Zu meinem Entsetzen trug ich auch noch die passende Kleidung. Nachdem ich mich von diesem Schock einigermaßen erholt hatte, stolzierte ich also mit der sicheren Absicht, keine weitere Minute an diesem Ort und in diesen Klamotten zu verbringen, nach draußen. Ich blieb im Türrahmen stehen und wäre, glaube ich, fast kollabiert, wenn ich mich nicht schnell gesetzt hätte.

 

Wir legen besser erst einmal eine Schweigeminute ein, es wird nämlich eine Weile dauern, bis ich das, was sich mir hier bot, in Worte fassen kann.

Sagen wir, es war ein großes Pfadfindertreffen. Es dämmerte schon und überall liefen Leute herum, die genauso gekleidet waren, wie ich, manche sogar noch authentischer und mit authentisch meine ich, sie hatten auch noch den richtigen Körpergeruch. Der Raum, aus dem ich gerade gekommen war, war eigentlich mehr eine Hütte und von dieser Art standen hier noch mehrere herum. Sie waren in einer Art Kreis angeordnet, eigentlich in mehrere konzentrische Kreise, in deren Mitte ein großer Platz mit Marktständen und einigen Feuerstellen aufgebaut war, von denen aus ein verdächtig guter Geruch ausging. Milla hüpfte zwischen den Buden hin und her, Sheila konnte ich nirgends erkennen.

Es dauert eine Weile, bis ich zu irgendetwas anderem in der Lage war, als mit offenem Mund vor mich hinzustarren. Ich konnte nicht fassen, dass jemand sich wirklich so viel Mühe machte, diese Hütten zu bauen und die Kostüme zu besorgen. Die Alternative war aber noch merkwürdiger. Ich entschied mich zuletzt dafür, dass dieses „Dorf“ vermutlich von einer Art... nennen wir es einmal Sekte, auch wenn ich dabei nicht an die negativen Anhaftungen dieses Wortes denken will, gebaut wurde, mit der Absicht, in einer besseren Zeit zu leben, die man sich, wenn sie nun mal schon vorbei ist, auch einfach schaffen kann. Mir fiel der Film „Das Dorf“ ein, in dem es um etwas ganz ähnliches geht.

Nur wie war ich hierher geraten? Einfache Erklärung: Ich wusste ja, dass etwas faul war an dem Mädchen. Und als ich - reichlich angetrunken und ziemlich scharf auf sie – letzte Nacht nicht mehr klar denken konnte, hatte sie mich hierher gelotst, mir dieses Zeug zum anziehen gegeben, in der Hoffnung, dass... ja, was eigentlich? Vermutlich, dass ich hier blieb und neue Gene in das Dorf brachte, in den inzwischen aller Wahrscheinlichkeit nach jeder mit jedem verwandt war. Aber woher kannte ich das kleine Mädchen und ihre große Schwester? IIch versuchte, mich daran zu erinnern, wo ich ihnen begegnet war, aber mein Kopf blieb leer.

Die wichtigere Frage blieb also erst einmal: Wie komme ich hier raus?

Die Leute sahen nicht so aus, als würden sie Notiz von mir nehmen. Ich könnte mich also einfach heimlich still und leise aus dem Staub machen...

Sobald ich meine Sachen wieder hatte.

Ich stand auf, ging zurück in die Hütte und sah mich um.

Keine Spur von meinem Zeug. Ich versuchte mich zu erinnern, was ich an hatte, als ich gestern weg gegangen war. Jeans, ein Hemd, blau glaube ich, Chucks... ich sah kurz nach ob ich meine eigene Unterwäsche noch trug und stelle beschämt fest, dass sie auf die Liste der noch zu findenden Sachen zu setzen war.

Die Hütte war nicht sehr groß. Nachdem ich den Raum, in dem ich geschlafen hatte gründlich untersucht und bisher nur meine Schuhe gefunden hatte, wandte ich mich dem nächsten (und auch schon letzten) abgeteilten Raum zu, der die Küche zu sein schien. Eine Weile schaute ich mir fasziniert die Feuerstelle und die alten, verbeulten Töpfe an, dann musste ich mich der Tatsache stellen, dass alles außer meinen Schuhen – also auch Handy, Geldbeutel, einfach alles nicht zu finden war.

 

Ich machte mich also auf die Suche nach Sheila.

Leider fiel es mir schwer, ein Gesicht zu dem Namen aus meinem Gedächtnis zu fischen. Stattdessen suchte ich also Milla, die kaum zu übersehen immer noch heiter durch das Dorf rannte, und bat sie um Hilfe.

„Also weißt du, wer ich bin.“, sagte sie.

„Ach Milla, eigentlich weiß ich das nicht.“

Sie sah traurig aus.

„Aber ich hab dich doch gepf...lügt. Als du so krank warst.“

Ich sah sie eine Weile an. „Gepflegt.“

„Gepff....“, sie brach ab und schaute mich mit großen traurigen Augen an.

Ich ging vor ihr in die Hocke und strich über ihren Rücken. „Mach dir nichts draus. Ich hab ein wahnsinnig schlechtes Gedächtnis. Ich weiß nicht mal mehr, wo meine Klamotten sind.“

Ich musste hier wirklich dringend raus.

„Die haben wir doch weg.“, sagte sie.

„Wie weg? Wer ist wir?“

„Na, ich und Sheila.“ Sie sah sich um und sprach leise weiter. „Aber das darf keiner wissen. Sheila hat gesagt, wenn dich jemand mit dem Hämm... dem … Ding da, das Leuchten kann, sieht, bist du so gut wie...“ sie winkte mich zu ihr, machte eine bedeutungsvolle Pause und flüsterte: „...tot“. Ich versuchte zu lachen, aber inzwischen war die Sache so merkwürdig geworden, dass ich am liebsten schreiend weggelaufen wäre. Wo zum Teufel war ich hier gelandet? Was waren das für Leute? Vielleicht war der Ausdruck Sekte vorhin doch nicht so verkehrt.

„Kannst du Sheila für mich finden?“, fragte ich.

Milla nickte, sah dann hinter mich und war im selben Augenblick verschwunden. Ich erhob mich und spürte sofort, dass jemand direkt hinter mir stand. Ich holte tief Luft und drehte mich um.

Stoßweise entwich die Luft, die ich gerade eingesaugt hatte. „Verdammt, du hast mich erschreckt.“

Sheila stand vor mir. Es war merkwürdig. Ich hätte beim besten Willen nicht sagen können, wie sie aussah, aber jetzt wo sie vor mir stand, wusste ich, dass sie es war und hatte dabei irgendwie das Gefühl, dass es nicht daran lag, dass ich sie an irgendetwas erkannte.

Andererseits hätte ich sie auch nicht erkennen können, wenn ich wüsste wie sie aussah, denn fast ihr ganzes Gesicht war bedeckt von einem Schleier, der nur ihre Augen freiließ. Und die waren noch das merkwürdigste an ihrem Gesicht. Sie sahen nicht aus wie Menschenaugen, die Pupille merkwürdig verformt, wie bei einer Katze oder Schlange und von einem unnatürlich dunklem blau. Schon mal jemanden mit so richtig dunklen blauen Augen gesehen, ungefähr die Farbe des Himmels, kurz bevor die Nacht richtig einsetzt? Ich auch nicht. Aber ziemlich geile Kontaktlinsen, das musste ich zugeben. Nur, irgendwie erschien mir auch dadurch alles noch ein bisschen inszenierter, unnatürlicher und ich fühlte mich wirklich langsam ein bisschen verarscht. Ich wache in irgendeinem Möchtegern-Vergangenheitswiederbelebungskaff auf, ohne meine Kleider und Sachen und die einzigen beiden Menschen, die ich hier auf eine mir unerklärliche Weise kenne sind ein kleines Mädchen und eine Frau mit Katzenaugen, die ihr Gesicht unter einem Schleier verbirgt. Und das mitten in England!

Ich stöhnte frustriert auf und drehe mich einmal im Kreis. Hinter dem Schleier hörte ich es Kichern.

„Ist das nicht ein bisschen albern?“, fragte ich. „Was soll das Ganze?“

Sie begann schallend zu lachen. Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder einkriegte. Ich wartete darauf, dass die versteckten Kameras hervorkamen und das Geheimnis um diesen unfassbar merkwürdigen Tag (?) gelüftet würde, aber ein Teil von mir wusste, dass das nicht passieren würde. Ich hatte vielmehr das Gefühl, dass alles einen Sinn hatte, den ich nur nicht verstehen konnte. Warum kannte ich die beiden, obwohl ich mir zumindest bei Milla sicher war, dass ich sie noch nie gesehen hatte? War das ein verrückter Traum oder hatte mir die Kleine gestern am Ende was eingeflößt, worauf ich hängen geblieben war?

„Okay.“, sagte sie, als sie merkte, dass ich nichts weiter sagen würde. Ihre Stimme war angenehm dunkel und klang, als würde sie innerlich immer noch lachen. „Du willst wissen, wie du hierher gekommen bist, wo deine Sachen sind und warum das alles hier so... fremd erscheint.“

Ich nickte erleichtert.

„Alec...“, sagte sie und schon an ihrem Tonfall konnte man erkennen, dass mir nicht gefallen würde, was sie sagen würde. Sie schwieg eine Weile und sprach dann weiter, wobei sich ihr Tonfall so plötzlich veränderte, dass ich mir sicher war, dass sie eigentlich etwas anderes sagen wollte.

„Du musst eine Weile hier bleiben und mir bei etwas helfen. Ich weiß, dir kommt das alles komisch vor, du denkst bestimmt, wir sind verrückt oder so, aber glaub mir, wir leben nur ein bisschen anders...“, sie seufzte. Mir war klar, dass sie nach den richtigen Worten suchte, sie aber nicht fand.

„Egal, worüber du dir jetzt Gedanken machst... dein Handy, deine Sachen... wir kümmern uns darum, wenn deine Aufgabe hier erledigt ist. Ich verspreche dir, dass es nicht dein Nachteil sein wird.“

„Sheila... ich habe keine Ahnung, was das soll, wer du bist und was für eine verrückte Rolle du mir in diesem Spiel zugedacht hast, aber ich werde jetzt gehen. Ich muss in die Schule, ich hab in ein paar Monaten Abi, ich kann jetzt nicht einfach auf ein Abenteuer mitten in die Pampa verschwinden. Entweder gibst du mir mein Zeug oder du lässt es bleiben, aber ich werde jetzt die nächste Straße suchen und nach London trampen, wenn es nötig ist.“

Ich konnte sehen, dass meine Worte ihr wehtaten. Als ich sagte, dass ich nicht wusste, wer sie war, wendete sie sich einen Augenblick unwillig ab, aber ich hatte keine Zeit für solche Spielchen und erwartete ohnehin, dass ich aufwachte, sobald ich dieses Dorf verlassen hatte, vielleicht zu Hause oder bei dem Mädchen von gestern Abend, aber ganz sicher in einer Realität in der die Menschen in Hochhäusern lebten und nicht in Lehmhütten.

Sie sagte nichts, auch nicht, als ich mich umdrehe und ging. Ich hörte Millas aufgeregte helle Stimme und Sheilas dunkle, wie sie miteinander redeten, ich glaubte, Sheila sagen zu hören: „Er wird wiederkommen“, aber da sollte sie sich nicht mal so sicher sein.

Ada I.

 

Nervös trippelte Ada mit ihrem Bein auf und ab. Da holten sie sie mitten in der Nacht aus dem Bett zu irgendeiner geheimen Mission und dann ließen sie hier warten. Noch dazu war es kalt hier drinnen und es roch schrecklich nach Krankenhaus. Sie hasste Krankenhäuser. Gott sei Dank gab es so etwas nicht da, wo sie herkam. In ihrer Welt konnten alte Menschen friedlich zu Hause sterben wenn ihre Zeit gekommen war, man versuchte nicht, so ewig noch am Leben zu halten, durch Maschinen und eine merkwürdige Art von Magie, die sie nicht verstand. Sie hatte zugesehen und versucht, zu lernen, aber die Magier dieser Welt waren anders als alles, was sie zuvor kennen gelernt hatte. Sie konnten auf die gleiche Weise Menschen heilen oder krank machen, sie konnten fliegen und ihre Körper verändern, aber sie schienen für alles unglaublich lange zu brauchen und die Resultate waren nicht halb so gut wie die eines schlecht ausgebildeten Priesters. Sie kamen ihr vor wie unfertige Geschöpfe, die selbst nicht verstanden, was sie taten. Sie hatte genug von dieser Welt gesehen um zu zweifeln, ob sie wirklich die Rettung bringen konnte, die sie sich erhofft hatten. Und Himmel, waren die Leute hier blind für jede Form von Weisheit. Sie mussten alles gesehen haben, um zu glauben. Sie hatten ihr doch tatsächlich nicht abgekauft, dass es Magier gab, die sich in Tiere verwandeln konnten, bevor sie nicht einen hatte herholen lassen. Dabei war das eine noch sehr leichte Übung, die natürlich zu demjenigen kam, der seinen Geist offen für Magie hielt. Es erforderte nicht einmal viel Kraft oder eine besonders hohe Konzentration sich in seinen Magna zu verwandeln. Jeder hatte ein solches präferiertes Tier, in das er sich ohne großen Aufwand verwandeln konnte. Legenden besagten, dass es umgekehrt war, dass Tiere sich in Menschen verwandelt hatten und dann vergessen, wie ihre wahre Gestalt war.

Ada hatte ihre eigene vor Jahren gefunden, aber die helle Welt hatte ihren magischen Künsten so viel abverlangt, dass sie heute nicht einmal mehr dazu in der Lage war, sich zu verwandeln. Das machte ihr mehr Angst als alles andere.

Wissenschaftler hatten ihr erklärt, woher das kam, dass sie ein Organ besaß, dass ihre Magie ausübte und dass dieses Organ verkümmerte oder beschädigt wurde, wenn sie zu lange der hellen Sonne ausgesetzt war. Sie spürte nur, dass sie von Tag zu Tag schwächer wurde. Und es war erst ihr dritter Monat hier. Bald würde ihre Ablösung kommen, dann musste sie sechs Monate zu Hause bleiben, bis sie wieder in der hellen Welt eingesetzt werden konnte. So waren die Regeln. Sie würde ihre heiße Dusche schmerzlich vermissen.

„Verflucht nochmal.“, rief sie laut und stampfte mit dem Fuß auf den Boden. Was konnte so dringend sein und doch so viel Zeit kosten?

In diesem Moment öffnete sich eine Tür am Ende des Flurs. Ein Mann ganz ohne vorgeschriebenen weißen Kittel kam auf sie zu und sah sich dabei immer wieder um. Sie durfte eigentlich nicht hier sein, das spürte sie an der Art, wie die Männer sie geholt und hierher gebracht hatten. Sie schienen nervös zu sein, ständig auf die Uhr und aus den Fenstern zu sehen. Und sie steckten sie damit an.

„Ada?“, es war Jeff, ein junger, ehrgeiziger Mann, der ihr in der Zeit ziemlich ans Herz gewachsen war. Er sah so anders aus ohne seine Laborbrille und seinen weißen Kittel, dass sie ihn fast nicht erkannt hätte.

„Ja?“, sie stand auf. Sie fühlte sich unwohl und sie wurde allmählich wütend. „Was soll das alles, wozu die Geheimnistuerei?“

„Du wirst es verstehen, wenn du es siehst. Das ist etwas, was wir dir eigentlich nicht zeigen dürfen, Ada, deshalb der ganze Aufwand. Wir waren nur... wir sind der Meinung, jemand sollte davon wissen – du solltest davon wissen.“

Er lief los und ihr blieb nichts anderen übrig, als ihm zu folgen.

Ada mochte Jeff. Sie konnte stundenlang mit ihm diskutieren. Er war Wissenschaftler - etwas, dass man in ihrer Welt gar nicht kannte. Jeff sagte, dass die Wissenschaftler und Ärzte seiner Welt die Magier der ihren waren, aber sie war sich nicht so sicher. Immer wieder stellte sie ihm Dinge vor, die ihre Priesterinnen vollbringen konnten und er untersuchte sie oder saß stundenlang vor seiner Lichtkiste, bis er schließlich eine Erklärung brachte, die ihr selten einleuchtete, aber seinen Kollegen mächtig zu imponieren schien. Wenn er es einmal nicht schaffte, dann sagte er nur, irgendwann würde er es schon herausfinden und sie sollte sich gedulden.

Seine Schritte hallten an den Wänden wider. „Worum geht es überhaupt?“, fragte sie und versuchte unwirsch zu klingen, aber er hatte längst ihre Neugier entdeckt.

Er schüttelte nur den Kopf und steckte seine Karte in eine Tür, die automatisch aufschwang. Diese Welt hatte schon ihre Vorzüge, das musste sie zugeben.

Wenn Jeff ihr nichts erzählen wollte, musste es wirklich etwas Großes sein. Er war so begeistert von seinen „kleinen Ungeheuern“, wie er seine Testkörper nannte und den Errungenschaften, die sie bringen sollten, dass er selten darüber schweigen konnte. Jetzt sah er aber besorgt aus, als wäre seine Entdeckung etwas, das nicht nur Gutes bringen würde.

Sie folgte ihm in einen Raum, der gut beleuchtet einen seiner Testkörper auf einer Bahre enthielt. Sie lief wie gegen eine unsichtbare Wand, als sie den leblosen Körper sah. Fast wäre sie wieder umgedreht. Es kam ihr merkwürdig vor, die Toten nicht zur Ruhe zu betten, sondern auf einen Tisch zu legen und aufzuschneiden und sie hatte sich nie daran gewöhnen können, dass Körper aus ihrer oder der dunklen Welt zu diesem Zweck in die Helle geschafft wurden. Vor ihr lag der Körper einer toten Priesterin, die Haut durchsichtig wie Glas. Sie konnte noch nicht lange tot sein – sicher nur wenige Tage, denn im Gegensatz zu den anderen Proben verströmte sie noch nicht diesen grauenhaften Geruch nach Tod.

Eine Priesterin. Jeff musste sich darum geprügelt haben.

Sie holte tief Luft und trat näher. Ein genervter Ausdruck trat in ihr Gesicht. Sie sah überhaupt nichts.

„Okay.“, sagte sie ungeduldig. „Was war so wichtig, dass es nicht bis morgen warten konnte.“

Jeff räusperte sich und machte mit einer dramatischen Bewegung das Licht aus. Der Raum hüllte sich in Dunkelheit. Ada runzelte die Stirn. Das charakteristisch bläuliche Glimmen des Körpers fehlte. Sie musste sich getäuscht haben, die Frau war gar keine Priesterin. Warum sollte sie aber deren Tätowierungen tragen?

Oder war sie schon zu lange tot?

Sie spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. „Jeff?“, fragte sie leise. „Wie alt ist… der Körper?“ Die Worte kamen ihr kaum über die Lippen.

„Zwei Tage.“, sagte er leise. Seine Stimme verriet ihr, dass er mehr zu sagen hatte, aber ihre Reaktion fürchtete.

Ihre Irritation wuchs. Sie drehte sich um und wollte gehen, nur raus aus diesem Zimmer. Sie begann zu ahnen, was man ihr zeigen wollte und sie fürchtete den Moment. Jeff hielt sie sanft am Arm. „Warte.“, sagte er.

Dann schaltete er die Lampe ein, die Sonnenlicht simulierte, und richtete sie auf den Körper. Ada starrte den Körper eine Weile an, weigerte sich zu verstehen. Als sie begriff, dass es keine andere Erklärung gab, begannen ihre Hände zu zittern. Plötzlich verstand sie die Geheimnistuerei und Jeffs offensichtliche Sorge. Nichts, was sie sich in ihren schlimmsten Albträumen hätte ausmalen können, kam an die Tragweite dessen heran, was sie gerade sah. Ihr wurde schwindelig.

„Oh mein Gott, Jeff.“, flüstere sie. „Was hast du nur mit ihr gemacht?“

Verschleppt

Ich war schon ziemlich lange unterwegs, als mir allmählich klar wurde, dass da keine Straße mehr kommen würde. Wo immer diese Leute sich niedergelassen hatten – es war fern von jeglicher Zivilisation. Und noch schlimmer – sie waren nicht die Einzigen. Vor einer Weile hatte ich Licht gesehen und war hoffnungsvoll darauf zugegangen, nur um ein weiteres Pfadfindertreffen vor einem Lagerfeuer zu entdecken. Aus lauter Enttäuschung hatte ich sie nicht einmal angesprochen, was ich inzwischen aber schon wieder bereute. So verlassen, wie diese Gegend war, war jegliche Art von Gesellschaft willkommen. Und so stapfte ich durch die Wildnis auf der Suche nach einer Straße und langsam wurde mir klar, dass meine Lage vielleicht etwas prekärer war, als ich angenommen hatte. Zuerst einmal hatte ich kein Wasser oder Essen dabei. Ich war ja davon ausgegangen, dass ich ziemlich bald wieder zuhause sein würde. Oh, verdammt. Meine Eltern hatten sicher auch schon die Polizei gerufen. Obwohl... es war nicht so ungewöhnlich, dass ich am Wochenende etwas länger wegblieb, manchmal auch ein, zwei Nächte, zwar selten ohne Bescheid zu sagen, aber meine Eltern würden denken, ich hätte das einfach vergessen. Das hieß, es suchte nicht einmal jemand nach mir.

Meine Wahl bestand jetzt darin, weiterzulaufen und zu hoffen, dass ich irgendwann doch noch auf vernünftige Leute treffe, oder umzudrehen und mich zurück in die Hände dieser Wahnsinnigen zu begeben und zu tun, was immer sie mit mir vorhatte. Ich ging in Gedanken meine Möglichkeiten durch und die Chancen auf Erfolg. Ich konnte nicht sagen, ob Sheila das Mädchen von gestern Abend war, aber wenn, dann hatten meine Freunde mich mit ihr gesehen und könnten sie der Polizei beschreiben, wenn die, vermutlich am Montagmorgen, nach mir zu suchen beginnen würde. Die Frage war, wie weit ich von London entfernt war und ob die Polizei herausfinden würde, wer Sheila ist und dass sie mich hierher verschleppt hatte. Ehrlich gesagt, standen meine Chancen sicher besser, wenn ich versuchte, vernünftige Leute zu finden, die mich telefonieren lassen würden. Es konnte ja nun wirklich nicht so weit bis zur nächsten Stadt sein.

Ich lief weiter, aber meine Ruhe war weg. Mir wurde klar, in was für eine Scheiße ich mich vielleicht gebracht hatte. Es wurde schon langsam kühl und ich war nicht wirklich angezogen für eine Nacht im Freien. Ganz zu schweigen von den Tieren, die sich hier aufhalten könnten... so weit weg von jeder Zivilisation gab es bestimmt einige, denen ich lieber nicht begegnen wollte.

Meine besten Chancen waren wohl, mir einen Unterschlupf zu suchen und....

 

Aus einem unbewussten Impuls heraus blieb ich stehen und hielt den Atem an. Meine Hände zitterten leicht, ich war mir nicht sicher ob das daran lag, dass ich so lange lief, nach einer durchzechten Nacht und einem Tag ohne Essen, oder ob es etwas anderes war. Irgendein Instinkt hielt mich alarmiert, ich hatte den Eindruck förmlich zu spüren, wie sich meine Nackenhaare langsam aufstellten. Ich hätte vorher nicht einmal gedacht, dass das überhaupt möglich ist.

Vorsichtig ging ich weiter und lauschte in die Nacht hinein, versuchte das Geräusch zu identifizieren, das mich so alarmiert hatte. Nach einer Weile wurde mir klar – und das war nicht gerade beruhigend – dass es gerade das Nichtvorhandensein von Geräuschen gewesen war, was mich so störte. Die Geräusche der Nacht waren verschwunden, es war nur Stille übrig, die verdächtig nach Schweigen klang.

Vorsichtig ging ich weiter, sah mich um, obwohl ich kaum etwas erkennen konnte. Die Nacht war so schwarz, wie ich es noch nie erlebt hatte. Zwar leuchteten weit entfernt die Sterne, aber der Mond war kaum sichtbar, als würde er durch Wolken verdunkelt, auch wenn die Sterne es offenbar nicht waren. Ich fand ihn zuerst gar nicht, ohne das typisch weiße Licht, das den Himmel auch weit entfernt noch erhellt. Es war, als hätte man einen dichten Schleier über den Himmel gehängt. Vielleicht doch Wolken. Ich schnaubte. „Du wirst noch wahnsinnig.“, sagte ich laut zu mir selbst, um wenigstens die Stille zu vertreiben. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass das ein Fehler war.

Ich sah wieder zum Himmel und plötzlich kam die Angst in mir hoch, dass das überhaupt nicht der Himmel war, den ich von zu Hause kannte, dieser verfluchte Albtraum in dem ich gefangen war mehr als nur das Ergebnis eines betrunkenen Abends und eines schlecht geplanten Stelldicheins. „Schwachsinn.“, sagte ich noch lauter als eben und machte mich wieder auf den Weg. Ich hätte mich gerne dazu gezwungen, zu pfeifen, aber dazu hatte ich dann doch nicht den Mut.

Als ich einige Meter gegangen war, wurden die Bäume weniger dicht und legten eine Lichtung bloß, an deren Rand ich mich befand. Auf ihr lagen in regelmäßigen Abständen verstreut Steine, die zu Wänden aufgeschichtet waren oder einfach nur auf einem Haufen lagen. Es waren Hausruinen, fiel mir nach einer Weile auf. Am Rande der Lichtung, auf der anderen Seite, als der, wo ich stand, waren die Überreste einer Kirche zu entdecken. Es mag komisch erscheinen, aber nach einem langen Tag unter so merkwürdigen Umständen war ich froh, wenigstens die Überreste von Häusern aus Steinen entdeckt zu haben.

Dennoch, die Ruinen lagen in dieser unnatürlichen Stille da, die mich schaudern ließ. Es wehte ein leichter Wind, aber die Zweige der Buche inmitten der Steine blieben starr und unbewegt, als sei es absolut windstill. Ich schüttelte den Kopf und versuchte, den Gedanken abzulegen, aber ich hatte kein gutes Gefühl bei diesem Ort.

Ich wollte mich wieder auf den Weg machen, aber meine Beine schienen mir plötzlich den Dienst zu versagen. Eine unglaubliche Schwere senkte sich auf mich herab, verbunden mit dem unbändigen Wunsch, endlich halt zu machen und mich ein wenig auszuruhen. Zuletzt wurde dieser Wunsch so stark, dass er das mulmige Gefühl überwog, dass mich beim Anblick der Ruinen überkommen hatte. Ich schleppte mich zu einer Steinmauer und sank daran nieder.

Müde starrte ich in den dunklen Himmel und versuchte, die aufkommende Angst in meinem Inneren zu beruhigen. Die Stille um mich herum, machte mir noch immer zu schaffen, aber ich versuchte, mir das Gute daran bewusst zu machen: Wenn es hier keine Tiere gab, brauchte ich auch einen Angriff im Schlaf nicht fürchten. Mit diesem etwas unlogischen Gedanken befasste ich mich weiter, während ich versuchte, etwas Schlaf zu finden.

 

Ich schlief nicht einmal ein. Ich weiß nicht, wie lange ich so dalag, ehe die Reiter kamen, aber es wird mit Sicherheit eine Weile gewesen sein. Ich hörte die Hufe lange bevor sie da waren, aber weil ich die Welt nicht kannte, in die ich geraten war, wusste ich nicht, dass das der Moment war, um sich unsichtbar zu machen und so blieb ich wo ich war, unfähig mich zu rühren, immer noch überzeugt davon, dass ich in einem ganz üblen Alptraum gefangen war. Ich glaubte auch noch daran, als ich von starken Armen unsanft gepackt und hochgezogen wurde. Ich blickte in das bärtige, vernarbte Gesicht eines Mannes, der keine Scherze machte. Er roch ähnlich wie die Männer im Dorf, die ich als besonders authentisch bezeichnet hatte.

„Na, wen haben wir denn da?“, fragte er und ein Schwall üblen Mundgeruchs kam mir entgegen. Aber es wird euch wahrscheinlich nicht überraschen, wenn ich sage, dass das noch das Angenehmste war, was er zu bieten hatte.

Er packte mich vor sich aufs Pferd. Um mir die Hände zu fesseln sah ich wahrscheinlich nicht gefährlich genug aus. Es ging so schnell, dass ich erst Zeit hatte, zu protestieren, als wir schon los ritten. Und dann war ich erst einmal zu fasziniert davon, zu reiten.

Das letzte Mal, dass ich auf einem pferdeähnlichen Tier gesessen habe war vor einigen vielen Jahren beim Ponyreiten auf dem Jahrmarkt (Ja, auch ich als Junge wollte diese Erfahrung einmal machen). Abgesehen davon hatte ich nie wirklich Interesse am Reiten gehabt.

Jetzt wünschte ich mir, ich hätte wenigstens schon einmal auf einem richtigen Pferd gesessen. Das Tier auf dem ich jetzt saß, war jedenfalls riesig. Ich hatte das Gefühl meterweit vom Boden entfernt zu sein und als es sich in Bewegung setzte, musste ich mich zusammenreißen, nicht laut aufzuschreien. Ich klammerte mich an dem Mann mit dem narbigen Gesicht fest, bis mir auffiel, was hier passierte.

„Sir?“, fragte ich. Er schnaubte nur.

„Klappe.“, sagte er dann, nahm eine riesige Hand, packte meinen Kopf mit zwei Fingern und drehte ihn, bis ich nach vorne blickte. Ich schüttelte mich unwillig und drehte mich wieder um.

„Sir.“, sagte ich und versuchte dabei, möglichste ernst zu wirken. „Lassen Sie mich sofort...“

Eine gewaltige Kopfnuss erwischte mich von hinten und brachte mich zum Schweigen. Also klammerte ich mich an der Mähne des beängstigend großen Pferdes fest und hoffte, dass unser Weg uns näher an London führen würde. Dabei versuchte ich, ein wenig den Gesprächen der Reiter zu lauschen, um vielleicht herauszufinden, weshalb sie mich mitgenommen hatten, aber sie redeten nicht viel und nichts, worauf ich mir hätte einen Reim machen können. Erst als der Himmel begann, die schwarze Farbe gegen ein dunkles Blau zu tauschen, kamen sie auf ein Thema, dass mich weiterbrachte.

„Da geht was vor sich.“, sagte einer der Männer, ein etwas kleinerer, wahrscheinlich auch jüngerer Mann als der, auf dessen Pferd ich saß. Der bärtige Hüne hinter mir schnaubte.

„Ich sag´s euch.“, fuhr er fort. „In den letzten Wochen haben die Leute immer wieder Stimmen dort gehört. Da ist wieder jemand, sag ich euch. Will die alten Geister wecken.“

„Der?“, fragte ein anderer spöttisch und lachte, bis er fast von Pferd fiel. Ich glaube, er sprach von mir. „Der kann nicht mal einen Poltergeist wecken. Der macht sich wahrscheinlich in die Hose, bevor er anfängt. Wir hätten ihn einfach da lassen sollen. Armer Kerl. Wahrscheinlich ist er vor Verzweiflung dort hin, damit er geholt wird, von den Geistern. Ist schon öfter vorgekommen, sagt man. Wenn du nichts mehr von deinen Leben zu erwarten hast, gehst du da raus und wirst nie wieder gesehen.“

„Na, dann ist´s doch besser, dass wir ihn geholt haben, oder?“, sagte der erste. Und als ihm keiner antwortete etwas unsicherer „Oder?“

„Wer weiß, was ihn vielleicht schon geholt hat. Wir sollten ihm gut in die Augen sehen, bevor wir ihn wegbringen.“, brummte der Bärtige. „Und jetzt haltet die Schnauze, bis wir da sind.“

 

„Bis wir da sind“ schien noch eine ganze Weile zu dauern. Wir machten einmal Pause und ich überlegte mir, davonzulaufen, aber der Bärtige ließ mich nicht aus den Augen, ganz als wüsste er, was ich vorhatte. Außerdem hätte es mir nicht geholfen. Stattdessen versuchte ich, aus den Reitern ein paar Informationen herauszukriegen darüber, wo ich war. Obwohl ich mir nicht sicher sein konnte, ob sie nicht auch zu dieser komischen Sippe gehörten, so, wie sie gekleidet waren.

Ich wendete mich zuerst an den jungen, der das Gespräch über die Dorfruinen angefangen hatte, aber er schien Angst zu haben, mit mir zu reden und versuchte andauernd meinen Blick aufzufangen. Dann starrte er nur in meine Augen und sagte gar nichts.

Also versuchte ich es wieder mit dem Hünen.

„Sir, entschuldigen Sie mich bitte, aber ich... ich weiß im Moment überhaupt nicht, wo ich bin. Ich komme eigentlich aus London, müssen Sie wissen, ich kenne diese Gegend nicht. Vielleicht...“, ich hörte auf zu reden, als er mich ansah. Er kniff die Augen zusammen und hob mein Kinn, damit ich ihn ansehen musste.

„So, so, aus London kommst du also. Dann ist das wohl dein Glückstag. Wir bringen dich direkt nach Hause.“

Irgendwie war mir nicht danach, mich zu freuen.

 

Die Stadt, in die sie mich schließlich brachten war klein und dreckig. Wir ritten erst einige Zeit durch Schutt  und Ruinen, ehe wir die eigentlichen Häuser erreichten. Es war ganz und gar nicht London, aber ich hatte es auch nicht erwartet. Die Gegend sah viel zu wenig nach dem aus, was ich kannte, wir trafen auf keine Straßen, bis wir fast angekommen waren und es war viel zu dünn besiedelt. Wir kamen einige Male an Dörfern vorbei, die schon fast nach dem aussahen, was ich gewohnt war und ich hätte mir gewünscht, hin zu gehen und wenigstens fragen zu können, wo ich war, oder ob ich telefonieren könnte, aber meine Hoffnungen endeten mit den unerbittlichen Griff mit dem der Bärtige  mich daran zu erinnern pflegte, dass ich kein freier Mann war.

Als wir schließlich ankamen wurde mir langsam klar, dass ich zwar vieles erklären konnte, mir aber irgendwann eingestehen musste, dass ich einfach keine Erklärung mehr dafür hatte, wie ich hier gelandet war. Das konnte nicht einmal mehr England sein. Die Stadt war so zerfallen und schmutzig wie ich es nicht für möglich halten würde. So hatte ich mir immer Städte des Mittelalters vorgestellt. Und ich sah nirgendwo ein verdammtes Auto.

Nein. Niemand konnte mir erzählen, dass das London war. In der letzten verzweifelt Hoffnung, dass sich alles doch noch als Traum herausstellen sollte, schloss ich die Augen, bis ich ebenso unsanft vom Pferd geschubst wurde, wie man mich hochgeschafft hatte.

„Redet jetzt endlich jemand mit mir?“, fragte ich, wurde aber einfach nur weiter mitgeschleift und an einen Mann übergeben, der mich missmutig ansah.

„Pass auf mit dem, er könnte besessen sein. Wir haben ihn...du-weißt-schon-wo gefunden.“

Toll. Jetzt machten wir auch noch einen auf Harry Potter.

Der Mann ließ mich abrupt los und hob mein Kinn, dass ich ihm in die Augen sehen musste.

„Wenn du mir durchdrehst da drinnen, werd´ ich mein Möglichstes tun, dass dich der Strick erwartet.“

„Mach dir keine Hoffnungen, darauf war er vielleicht von Anfang an aus.“

Der Mann schüttelte den Kopf, während die Reiter lachend verschwanden. „Das gefällt mir nicht.“, murmelte er.

„Dann lassen Sie mich gehen.“

Er blieb stehen und drehte sich um.

„Kein Wort, ja? Rede nicht mit mir.“,  er machte eine merkwürdige Bewegung mit seiner Hand vor seinem Gesicht. „Und auch mit sonst, niemandem, klar?“

„Sir, das ist ein Missverständnis. Ich hatte mich verirrt.“

Er packte mich am Arm, ließ mich aber sofort los, als hätte er sich verbrannt. „Verirrt, klar. Da verirrt man sich nicht hin. Jeder Instinkt rät einem, einen Bogen um diesen Ort zu machen und du latscht direkt rein, ja? Ich sag´s dir, wenn man da hingeht, dann wollte man da hin. Also erzähl´ mir nichts.“ Er spuckte aus. „Ihr jungen Burschen und eure Mutproben. Ja, sieh mich nicht so an, ich weiß, wie das läuft. Kannst von Glück reden, wenn sie dir glauben, dass du keine schwarze Magie betreibst. Und jetzt ab mit dir.“

„Sir, ich gehöre nicht hierher.“

„Kein Wort mehr. Komm mit oder es wird unangenehm.“

Er wartete gar nicht auf meine Antwort, sondern packte mich beim Arm und riss so unsanft daran, dass ich kurz glaubte, er habe mir den Arm ausgerenkt. Ich hatte keine Zeit mich darum zu kümmern, denn er riss weiter daran, sodass ich gezwungen war, ihm in die Richtung zu folgen, in die er mich zog. Ich rief etwas Empörtes von wegen Polizeigewalt und wand mich unter seinem Griff, aber schon nach wenigen Metern war mir klar, dass der Typ nicht auf mich hören würde. Er sah auch nicht so aus wie ein Polizist. Nichts sah hier so aus wie ich es gewohnt war. Und es war immer noch dunkel, als habe die Sonne sich einen Tag freigenommen, dabei hätte ich schwören können, dass es bereits Mittag war.

Ich schrie um Hilfe. Selbstverständlich eilte niemand herbei. Ich war offensichtlich in einer ganz anderen Welt gelandet, die mir nicht freundlich gesonnen war. Wie Recht ich damit hatte, stellte ich kurz darauf fest, als ich mich in der ungemütlichsten Zelle wiederfand, die ich mir überhaupt vorstellen konnte.

Anna

Singend bahnte sich Anna ihren Weg durch das sonst stille Dorf zu einem Haus, das an einem Hang etwas außerhalb lag. Sie war früh wach, mochte den Anblick der aufgehenden Sonne, wenn sie den Horizont in einem Rotton färbte. Das Dorf schlief um diese Zeit. Nicht mehr lange und sie würde nicht mehr die Einzige auf den Beinen sein. Hinter sich her zog sie einen Karren mit leise klirrenden Milchkannen. Die Kühe ihrer Familie brachten ein sicheres Einkommen, beständig und gut, mehr als die meisten Menschen von ihrem Lebensunterhalt in diesen Zeiten sagen konnten. Sie dachte an Johannes, der sie immer auf diese besondere Weise ansah. Sie war bald Sechzehn – alt genug um zu heiraten – und er gefiel ihr, nicht so wie die anderen Jungen aus dem Dorf. Viele waren überheblich und oberflächlich, die Klappe größer als ihr Verstand und erst recht ihre Kraft. Johannes hingegen war anders. Er prahlte nie mit den Dingen die er vollbringen konnte, obwohl er in seinem jungen Alter schon ein recht passabler Kämpfer und Jäger war. Und er war stark – Muskeln zeichneten sich unter seinen Armen ab, wenn er etwas hob und seine Schultern waren so breit wie nicht einmal die ihres Vaters. Schon seit Wochen träumte sie von niemand anderem mehr. Auch das war ein Grund für ihr Lied an diesem Morgen, denn das Haus außerhalb des Dorfs gehörte seinen Eltern. Sicher würde er wieder daran arbeiten, das Dach abdichten für den Winter oder den Garten neu bepflanzen. Er war ebenso früh auf den Beinen wie sie und lächelte sie freundlich an, wenn sie die Milch brachte. Das Haus seiner Familie war ein bescheidenes Heim, aber gut und sie war sicher, dass seine Familie sie mit offenen Armen empfangen würde. Jetzt musste nur noch ihr Vater zustimmen.

Das hingegen dürfte gar nicht so einfach sein. Johannes mochte stark sein und ein Bild von einem Mann – im Dorf war er, vielleicht auch gerade deshalb – ein Außenseiter. Er redete nicht viel und gab sich nicht mit den anderen Jungen ab. Die Familie lebte insgesamt sehr zurückgezogen – nicht umsonst wohnten sie außerhalb der Siedlung. Und da war noch die rote Hexe und ihre Schwestern, die in früheren Jahren ein und ausgegangen waren. Jeder wusste doch, wie gefährlich Magie sein konnte und dass eine Yakacz nur gerade eben so im Land geduldet wurde. Es sah nicht gut aus, eine zu beherbergen. Manche Leute waren eben auch einfach nicht fähig, sich anzupassen. Aber was konnte Johannes schon für seine Eltern? Es würde ein hartes Stück Arbeit sein, ihren Vater zu überzeugen… aber Johannes würde einen passablen Ehemann abgeben, dessen war sie sich sicher.  Nur musste er bei ihrem Vater erst einmal um ihre Hand anhalten. Aber dafür, hatte sie sich vorgenommen, würde sie schon Sorgen.

In den letzten Tagen waren Gerüchte aufgekommen, die Hexenschwester wäre schon wieder zu Besuch. Sie war etwa in ihrem Alter und stellte eine ernsthafte Bedrohung für ihre Pläne dar. Hübsch war sie – bestimmt auch alles Hexenwerk – und auf dem Weg, selbst eine solche zu werden. Auch wenn Magierinnen ungern gesehen waren – eine gewisse Anziehungskraft schienen sie trotzdem auf die Männerwelt zu haben. Und das konnte sie nun wirklich nicht gebrauchen.

Anna straffte ihre Schultern und ging mit sicheren Schritten vorwärts. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie erst wenige Meter vor dem Haus bemerkte, dass etwas nicht stimmte. Es war gespenstisch ruhig – kein Kindergeschrei vom Jüngsten der Familie, keine Stimmen, die aus dem Haus nach draußen klangen. Nur die Schaukel am Baum vor dem Haus schwang sanft, obwohl nicht einmal Wind wehte. Sie versuchte, sich einzureden, dass alles in Ordnung war, aber ein ungutes Gefühl hatte längst in ihr Platz genommen und wurde von Sekunde zu Sekunde stärker. Sie sah in den Himmel. Nein, sie war nicht früher als sonst, die Sonne hatte sich erhoben und stand an dem Platz, wo sie stehen sollte. Was zur Hölle war hier also los? Sie umrundete das Haus in der Hoffnung dahinter im sorgfältig angelegten Gemüsebeet jemanden zu finden. Das Letzte was sie dort sah war der zerwühlte Haufen Erde, der an die Stelle des Gartens getreten war. Dann wurde alles schwarz.

Aufbruch

Sheila stand am Rande des Dorfes und starrte in den Abend hinein. Die nutzlose Sonne begann schon hinter den Horizont zu versinken und ihr klägliches Leben auszuhauchen. Milla hatte die Welt nie gesehen, in der die Sonne noch Kraft hatte, aber sie musste wunderschön sein. Alec hatte ihr davon erzählt, als er das letzte Mal hier gewesen war. Damals war sie noch ein kleines Kind gewesen und hatte seinen Erzählungen gebannt gelauscht, nicht daran zweifelnd, dass er die Wahrheit sprach. Sie hatte ihn gefragt, ob er sie mitnehmen konnte, aber er hatte sie nur in den Arm genommen und gesagt „Ein anderes Mal.“. Damals hatte sie noch geglaubt, dass er es ernst meinte. Erst Sheila hatte ihr in langen, dunklen Nächten erklären müssen, dass sie die andere Welt nie sehen würde.

„Wir leben ein anderes Dasein als Alec, Milla. Es ist uns nicht erlaubt, die Hellen Tage zu sehen. Unsere Aufgabe liegt hier. So wie Alecs Aufgabe in seiner Welt.“

Sie hatte gefragt, was an Alec anders war, dass er in ihre Welt konnte, sie aber nicht in seine. Diese Frage hatte Sheila ihr nicht beantworten können. Milla wusste, dass sie viel Zeit darauf verwendet hatte, herauszufinden, was ihn von den anderen Menschen aus seiner Welt unterschied, dass er zwischen den Welten wandeln konnte, aber sie hatte es nicht herausgefunden oder ihr nicht davon erzählt. Sie erzählte ihr oft nichts. Dass Milla jetzt älter war, und viel verstehen konnte, was ihr vor einigen Jahren noch verborgen geblieben wäre, zählte für Sheila nicht. Allysha hingegen hatte ihr viel beigebracht, aber sie hatte ihr schwören müssen, dass sie Sheila nichts davon erzählte.

Millas kleinen Füße brachten sie mit schnellen Schritten zu ihrer älteren Schwester.

„Was ist los?“

Sheilas Gesichtsausdruck entspannte sich, als sie ihre Schwester sah. Sie hatte ihren Schleier gelöst und ihre langen, roten Haare wehten im Wind. Die Narben auf ihrer Haut ließen ihr Gesicht zerfurcht wirken und zauberten Schatten, die ihr einen unheimlichen Ausdruck verliehen. Viele Menschen hatten Angst vor Sheilas Gesicht. Sie zeigte es selten.

„Ich weiß es nicht.“, sagte sie mit sanfter, aber bestimmter Stimme. „ Aber es kommt etwas auf uns zu. Wir sollten Alex auf unserer Seite haben, wenn es uns erreicht.“

„Er ist so anders.“

„Er war lange nicht mehr hier.“

„Aber warum kennt er uns nicht mehr? Warum erinnert er sich nicht mehr an mich? Er hat geschworen, uns nie zu vergessen, weißt du nicht mehr.“, die Enttäuschung versetzte ihr plötzlich einen heftigen Stich und sie merkte, wie sich eine Träne aus ihren Augen löste. Sie wischte sie ärgerlich weg. „Er braucht uns auf einmal nicht mehr. Und wir brauchen ihn nicht.“, ihre Stimme war trotzig und sie wusste, dass sie sich wie ein Kind aufführte, das sie lange nicht mehr war.

„Er wird sich erinnern.“, sagte Sheila. „Er braucht nur Zeit. Das habe ich dir doch gesagt, oder?“

„Ja.“, maulte sie. „Aber warum hast du ihn denn gehen lassen? Ich hätte ihm alles erzählt und dann hätte er sich erinnert.“

„Nein. Wir dürfen ihm dabei nicht helfen. Und jetzt geh nach Hause. Ich will keinen Mucks mehr hören, wenn ich heimkomme.“

Milla nickte und nahm die Beine in die Hand. Sie ging nach Hause, wie es ihr befohlen wurde, aber sie hatte nicht vor, schon zu schlafen.

Allysha hatte ihr ein Buch mitgebracht, als sie das letzte Mal von einer ihrer längeren Abwesenheiten wiedergekommen war. Sie verbrachte viel Zeit im Haus ihrer Großmutter und sortierte deren Nachlass, der zu großen Teilen aus Büchern bestand. Manchmal blieb sie mehrere Tage dort, verbissen in ein altes Schriftstück, dessen Geheimnisse sie noch lüften wollte. Sheila sah es nicht gern, aber Allysha ließ sich schon lange nichts mehr von ihr sagen. Manchmal hatte sie Milla mitgenommen und gemeinsam hatten sie in der unterirdischen Bibliothek des kleinen Hauses gesessen und die alten Schätze bewundert. Keine von ihnen verstand, warum Sheila damals nicht dort wohnen geblieben war, aber das war eines der wenigen Dinge, die nicht einmal Allysha hinterfragen wollte. Insgeheim waren sie beide froh um diesen Ort, der noch eine Energie ausstrahlte, die dem Rest dieser Welt verloren gegangen war und der nur ihnen beiden gehörte.

 

Vorsichtig streifte sie über den Buchdeckel.

Die Schrift war kunstvoll und verblasst, der Stoff, der sie umschloss alt und fleckig und damit unterschied es sich kein bisschen von den anderen Büchern, die noch im Haus ihrer Großmutter lagerten. Allysha  aber hatte ihr gesagt, es sei wertvoll und sie solle es mit ihrem Leben beschützen.

Allysha sagte oft solche Dinge. Sie ist merkwürdig, sagten die anderen. Sie vermisst ihr Zuhause, sagte Sheila. Milla wusste nichts von diesen Dingen und sie kannte den Ort nicht, den ihre  Familie verlassen hatte. Aber sie spürte die Magie, die die Dinge in sich trugen, sie von dort her stammten. Allysha wusste das. Sheila wollte sich immer nur anpassen, nicht auffallen, als wenn die Leute nicht wüssten, wen sie vor sich hatten, wenn sie eine verschleierte Frau sahen. Und so beschäftigte sie sich heimlich mit den Dingen, die ihre älteste Schwester nicht verstehen konnte und in denen Allysha sie bekräftigte. Mit einem Anflug von Trotz schob sie das Buch zurück zwischen ihre Matratze und zog ein anderes hervor, dass deutlich weniger die Zeichen der Zeit trug. Es war in einfacher Sprache geschrieben, solche, die auch Milla allmählich zu verstehen lernte. Die alte Sprache ist im Einklang mit unserer Natur entstanden, hatte Allysha ihr einmal gesagt. Wenn du sie beherrscht, wenn du sie fühlen kannst, dann wird die Magie ganz selbstverständlich zu dir kommen. Und so stahl sich Milla eine Kerze aus dem Gemeinschaftszimmer und begann zu lesen, die Worte vorsichtig in ihrem Mund formend, wiegend, spürend.

 

Milla hatte gar nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vergangen war. Es war stockfinster, als sie das erste Mal von Buch aufsah. Die Kerze war fast herunter gebrannt, die Hütte leer. Ein Teil von ihr wollte sich über die unverhoffte Möglichkeit freuen, länger als geplant zu lesen, aber ein anderer Teil drängte sie aufzustehen und nach dem Rechten zu sehen. Sheila hätte längst kommen müssen. Nach einem letzten sehnsüchtigen Blick auf das Buch stand sie auf und ging zur Kerze. Sie holte Luft, um sie auszupusten, dann überlegte sie es sich anders. Sie ging in die Hocke, bis sie auf Augenhöhe mit der Flamme war. Sie starrte in das sich ständig verändernde Licht, rastlos, ruhelos und versuchte mehr darin zu erkennen als bloßes Feuer. Sie schloss die Augen und sah die Flamme immer noch vor sich. Langsam öffnete sie Ihre Lippen, legte die Hände fest zusammen und versuchte die Macht zu bündeln, die irgendwo verborgen in ihr schlummerte. Sie spürte ihre Wärme, glaubte sie jedenfalls zu spüren. „Makhra“ , flüsterte sie und öffnete die Augen. Die Flamme flackerte, vielleicht von ihrem Atem, dann loderte sie unbeirrt wieder auf, ebenso hell wie zuvor. Milla biss sich auf die Lippen und kam sich ziemlich dumm vor. Sie pustete die Kerze aus und versuchte die Enttäuschung nicht an sich herankommen zu lassen.

„Du musste lange üben“, hatte Allysha gesagt. „Irgendwann wird es dann von selbst zu dir kommen, wenn es dich erwählt und du würdig bist. Vorher wirst du dir die Hände blutig kratzen, beim Versuch einen Berg zu erklimmen, der zu hoch für dich ist.“

Als sie die Hütte verließ durchfuhr plötzlich ein gleißender Schmerz ihre rechte Hand. Sie zuckte zurück und hielt ihre Hand schützend an ihren Körper, um sich blickend, um in der Dunkelheit zu erkennen, was den Schmerz verursacht hatte. Ein Insekt vielleicht, das sich bedroht gefühlt und sie gestochen hatte.

Als sie nichts sehen oder hören konnte und der Schmerz abgeklungen war wagte sie, ihre Hand zu inspizieren. Die Haut an den Fingerspitzen war wund, aber sie konnte keine äußere Verletzung oder einen Stachel ertasten. Sie machte eine Faust und streckte die Finger wieder, beides bereitete ihr keine Probleme. Sie entschied, sich die Sache morgen noch einmal bei Licht anzusehen.

 

Sie fand Sheila vor dem Feuer sitzend. Sie klopfte mit der rechten Hand zweimal auf den Platz neben sich, um sie zum Sitzen aufzufordern. Sheila spürte die Anwesenheit anderer immer schon lange, bevor sie sich bemerkbar machten, oft sogar lange, bevor man sie bemerkte. Sie war wie eine Blinde, die am Geräusch der Schritte ausmachen konnte, wer sich ihr näherte und wie weit die Person noch weg war, nur dass Milla sich nicht sicher war, ob Sheila die Menschen überhaupt zu hören brauchte. Sie schien sie zu spüren, als hätte jeder eine weit ausgedehnte Aura um sich, die sie ertasten konnte.

Kein Wort fiel darüber, dass sie so spät noch wach war und keines sagte ihr, warum Sheila noch hier draußen saß. Milla spürte, dass es eine ungewöhnliche Nacht war, vielleicht weil Alec wieder hier gewesen und sofort wieder verschwunden war. Sheila machte sich Sorgen um ihn, da war Milla sich sicher. Wenn er nicht einmal sie mehr erkannte, würde er sich auch nicht mehr im Wald auskennen und die sicheren Wege nicht finden. Es war schon die zweite Nacht, nachdem er gegangen war. Nach London hatte er gewollt. Er hätte die Stadt in dieser Zeit erreichen können, zurückkommen aber sicher noch nicht. Trotzdem umgab Sheila eine Unruhe. Vielleicht war sie auch nur deshalb hier, weil sie nicht schlafen konnte.

Gerade als Milla sich dieser Einsicht sicher war und ihre Schwester bitten wollte, mit in die Hütte zu kommen, begann Sheila zu sprechen. Ihre Stimme war ungewohnt leise und dünn, die Augen ließen nicht vom Feuer ab, das sich in ihnen widerspiegelte.

„Wir müssen gehen.“, sagte sie. „Heute Nacht noch. Geh und pack ein, was wir brauchen, Milla. Und verbinde dir deine verbrannten Finger, bevor sie Schaden nehmen. Ich will dich nicht noch einmal mit dem Feuer spielen sehen.“

Milla beeilte sich ein wenig beschämt, der Aufforderung ihrer Schwester Folge zu leisten. Als sie in der Hütte war und eine neue Kerze entzündet hatte, um genug Licht zum Packen zu haben begutachtete sie ihre Finger. Sheila hatte Recht, sie waren verbrannt. Es bildeten sich allmählich Blasen auf ihren Fingerkuppen. Sie hielt sie näher ans Licht und überlegte, wann sie sich die Verletzungen zugezogen haben mochte und wie Sheila hinter ihr kleines Experiment gekommen war, da fielen ihr Allyshas Worte und der plötzliche Schmerz vorhin ein, als sie die Hütte verlassen wollte. Vielleicht hatte sie es wörtlich gemeint, als sie von blutigen Händen gesprochen hatte.

Wenige Minuten später hatte sie zwei Bündel fertig gepackt und hielt das Buch, in dem sie gerade noch gelesen hatte, fest in ihren Händen. Sie schlug die Seite auf, die sie zuletzt angesehen hatte und blieb bei dem Wort Makhra, Feuer, stehen. Sie dachte an die Kerze und ihre verbrannten Finger. Entschlossen nahm sie das Buch und versteckte es in ihrer Strohmatratze. Sheila hatte Recht, es war gefährlich mit dem Feuer zu spielen. Ihre Finger fuhren über den Rahmen, als sie es sanft zwischen die Halme gleiten ließ. Es würde warten müssen, bis sie älter und weiser war.

Sie umwickelte ihre rechte Hand sorgfältig mit weißen Leinen und warf sich die beiden Bündel über die Schulter. Im Türrahmen blieb sie stehen und sah mit der Kerze in der Hand zurück in die Hütte. Sie sah aus, wie tausend andere hier. Mehr praktisch als schön eingerichtet, farblos und grau, wie die dunkle Welt, in der sie sich befand. Plötzlich war sie froh, das Dorf zu verlassen. Vielleicht gab es ja Hoffnung auf ein anderes Leben, irgendwo da draußen. Vielleicht gab es einen Ort, der nicht grau in grau war und an dem sie willkommen sein würden, nicht nur geduldet.

Sheila wartete auf dem Dorfplatz neben dem langsam erlöschenden Feuer. Neben ihr stand Martin, ebenfalls bepackt mit einem etwas größeren Bündel, das er wie einen Rucksack genäht hatte und über beiden Schultern trug.

Sie machten sich auf den Weg.

 

Gerade als sie den Rand des Dorfes erreichten fiel Milla das andere Buch ein und Allyshas Worte „Du musst es mit deinem Leben beschützen.“. Auch dieses würde in ihrer Matratze bleiben, wenn sie nicht wiederkamen und früher oder später in fremde Hände fallen würde.

„Ich hab was vergessen.“, murmelte sie und machte sich auf den Rückweg. Sie rannte, plötzlich ängstlich, es könnte verschwunden sein, weil sie es zurückgelassen hatte. Ihr Herz schien einen Moment lang auszusetzen, als sie es nicht sofort finden konnte. Dann ertasteten ihre bandagierten Finger einen harten Gegenstand und sie zog ihn heraus. Erschrocken ließ sie ihn fallen, als sie bemerkte, dass es nicht das Buch war. Es war etwas längliches, in Tuch eingeschlagenes. Sie kniete sich hinab und schlug den Stoff zurück. Zum Vorschein kam ein Dolch, lang und scharf, die Spitze glänzte im fahlen Mondlicht. Auf den Griff waren seltsame Zeichen eingraviert, die sie nicht deuten konnte. Vielleicht eine Schrift, aber keine, die sie kannte und Sheila hatte ihr viele Schriftarten gezeigt. Sie fuhr mit den Fingern darüber. Das Metall war glatt und kalt, ihre Finger glitten widerstandslos darüber. Sie prüfte die Schneide, sie war so scharf, dass sie den Verband versehentlich leicht einschnitt, den sie sich gemacht hatte.

 Sie wickelte das Messer wieder in das Tuch und schob es in ihr Bündel. Als sie sich wieder aufrichtete erkannte sie, warum sie das Buch nicht gefunden hatte. In der Eile hatte sie, statt in ihrer eigenen Matratze zu suchen die von Allysha erwischt.

Sie runzelte die Stirn, aber eigentlich wunderte sie der merkwürdige Fund nicht, jetzt wo sie wusste, wer den Dolch vermutlich versteckt hatte. Allysha sah so etwas ähnlich. Nur, wo hatte sie ihn her? Gefunden vielleicht, aber dann hätte sie ihn schärfen müssen, eine solche Klinge lag nicht einfach auf dem Boden. Aber sie hatte keine Spuren eines Schleifsteins erkennen können. Das Messer musste von jemandem geschliffen worden sein, der ganz andere Möglichkeiten hatte.

Ohne weiter darüber nachzudenken schnappte sie sich das Buch und ging zurück zu den anderen. Sie würde Allysha dazu fragen, wenn sie wieder bei ihnen war.

 

Flucht

 

„Ich werd wahnsinnig.“, murmelte ich vor mich hin, immer wieder mit wechselnder Lautstärke. Nichts war gelaufen, wie ich es geplant hatte. Der Typ hatte mich nicht einmal angehört, als ich ihm erklärt hatte, woher ich kam, und dass ich keine Ahnung hatte von irgendwelchen verbotenen Dörfern. Ich hatte versucht, ihm zu entlocken, wo ich war, in welchem Land oder – ich wagte es kaum auszusprechen, in welchem Jahr. Er hatte mich nur verständnislos angeglotzt. Und jetzt war ich hier: eingesperrt auf unbestimmte Zeit mit einer Strafverhandlung in Aussicht am denkbar ungeeignetsten Ort. Wer wusste schon, was die hier mit ihren Gefangenen machten? Wahrscheinlich konnte ich froh sein, wenn sie mich vergaßen, bis mich jemand suchen kam.

Das Problem war nur – mich würde niemand suchen oder eher – mich würde niemand finden.

„Verflucht.“, stieß ich aus und schlug mit der flachen Hand gegen die Wand.

„Schh...“, kam eine leise Stimme aus dem Schatten und einen Augenblick hätte ich darauf schwören können, dass mein Herz nicht weiterschlug.

„Du bist nicht so übel dran wie ich, mein Freund, also mach die Wache nicht noch ärgerlicher.“, seine Stimme schwankte, als hätte er Mühe, zu sprechen. Ich wich einen Schritt zurück und starrte die Gestalt, die da in der Ecke auf dem Boden kauerte, an wie einen Geist. Es war ein Mann, hager, unmöglich auszumachen wie alt er war. Er könnte um die fünfzig sein, aber die dürre Gestalt und die eingefallenen Augen ließen ihn um Jahrzehnte älter wirken.

Seine dichten Haare hingen ihm verfilzt ins Gesicht und als er sprach schien sein Mund ein leerer Schlund zu sein. Aber es hätten auch die Schatten sein können, die mir Streiche spielten.

Ich hatte tausend Fragen auf der Zunge, nachdem ich endlich jemanden gefunden hatte, der zu wissen schien, was hier vor sich ging, aber meine Kehle war staubtrocken und ich brachte keinen Ton heraus.

„Gestatte, dass ich mich vorstelle.“, sagte er Mann. „Man nennt mich Jumper. Ich hatte auch mal einen anderen Namen, an den ich mich gerade nicht so recht erinnern will. Möglicherweise habe ich ein paar Leute geärgert und hier haben die Wände Ohren. Aber du kannst mich auch Cap nennen, das kommt meinem Namen wohl am nähesten.“

Ich sah ihn an. Er sah nicht gerade aus, als könnte er gehen, geschweige denn springen.

„Cap..., begann ich. „was ist hier los?“

Er seufzte. „Das Leben da drüben, macht einen weich, was? Na, du siehst aus, als hättest du ein paar Sommer zu viel dort verbracht. Tut mir Leid, Junge, aber willkommen Zuhause. Wir leben nicht mehr auf dem Ponyhof.“, er lachte ein kratziges, ungesundes Lachen. „Nicht, dass es hier überhaupt so etwas gäbe.“, er schnaubte. „Ponys. Die haben sie sicher fast alle während der dunklen Jahre geschlachtet.“

„Nein.“, sagte ich. „Ich... wo bin ich hier?“

„Daheim. Keine Sorge, es kommt dir schon noch. Die meisten vergessen, wo sie herkommen, wenn sie erstmal ´ne Weile im Schlaraffenland leben. Tja. Aber du siehst wirklich gut aus. Deine Haut... ich seh sowas sofort. Möchte wissen, wie lange du da warst. Vielleicht, mit mehr Zeit zum... ach, was soll´s. Du musst mir nur irgendwann dein Geheimnis verraten.“

Er zog sich umständlich an einem Eisengestell hoch, das dürftig an die Überreste eines Bettes erinnerte und sah mich an. Da bemerkte ich, dass sein rechter Arm in einem abgeheilten Stumpf endete. Er bemerkte meinen Blick, hatte aber nur ein spöttisches Grinsen übrig. Eine Weile sagte er nichts, wandte den Blick aber auch nicht von mir ab. „Irgendwas stimmt nicht mit dir, Jungchen.“, sagte er. „Ich werde schon noch herausfinden, was es ist.“

 

Allmählich brach die Nacht herein, was ich mehr an dem sinkenden Lärmpegel als an der Helligkeit bemerkte. Wir mussten uns unter der Erde befinden, das einzige Licht, dass uns erreichte waren die Fackeln in den Gängen zwischen den Zellen. Vor einigen Stunden hatte das Gefängnis noch hin und wieder von Schreien gehallt, die einem das Mark in den Kochen erschüttern ließen, jetzt waren sie zu einem Wimmern verstummt, das unheimlich durch die Kerker fuhr. Es war, als wehte ein düsterer Wind durch das Gebäude und triebe alle Geräusche in die Zellen zu seinen Bewohnern, um sie noch mehr zu zermürben. Mal war es ein Murmeln, zischende Worte in einer fremden Sprache, mal ein hastig gesprochenes Gebet, als bliebe dem Sprecher nicht genug Zeit, es zu Ende zu bringen. Es hörte sich an, als sprächen die Stimme direkt neben mir, das war das wirklich unheimliche daran. Es würde mich sicher in den Wahnsinn treiben, hätte das schon nicht die Angst getan, die sich in mir breitgemacht hatte, nachdem ich mein Gespräch mich Cap beendet hatte. Der alte Mann schien es zu genießen, vielleicht aus einer sadistischen Freude, vielleicht war es auch nur die natürliche Erleichterung, die jeder empfindet, wenn er jemandem begegnet, der noch schlimmer dran ist, als er selbst. Ich tippte auf eine Mischung aus beidem, Cap hatten die Stimmen sicher auch schon halb wahnsinnig gemacht, ein Wahnsinn, der vielleicht seine Spuren hinterlassen hatte. Er wirkte zu unbeschwert für jemanden in einer solchen Zelle, einer solchen Situation.

„Was für eine Strafe erwartet dich?“, fragte ich, eigentlich nur um die Stimmen zu übertönen. Ich erwartete keine Antworten mehr von Cap, der immer nur in Rätseln sprach und aus dessen Worten ich nicht schlau wurde.

„Der Tod.“, sagte er düster und zum ersten Mal hörte ich einen Anflug eines Gefühls in seiner Stimme. Ich konnte nicht sagen, was es war, aber seine Worte jagten mir einen Schauer über meinen Rücken, der nichts mit ihrem Inhalt zu tun hatte.

„Was hast du getan?“, fragte ich.

Ich konnte sein Gesicht im Halbschatten kaum erkennen. Seine Züge schienen sich zu erhärten, Schatten vertieften seine Falten, als er sich hervorbeugte, damit ich ihm in die Augen sehen konnte. Er sah unglaublich alt aus.

„Nach den Sternen gegriffen.“, sagte er. „Den falschen Leuten vertraut. Mit den falschen Leute geredet.“

Er lehnte sich wieder zurück.

„Man könnte meinen, dass ich jetzt reden könnte, so viel ich wollte, kann mir ja kaum Schlimmeres drohen, aber…“, er schwieg ein paar Atemzüge lang und weil ich sein Gesicht nicht mehr erkennen konnte, glaubte ich, dass er nicht mehr weiter reden würde, aber dann gab er einen Laut von sich, der zwischen Seufzen und Schluchzen anzusiedeln wäre.

„Ich könnte jetzt wirklich einen guten Rum gebrauchen. Kannst du dir vorstellen, dass man mir das verweigert? Keine Henkersmahlzeit, keine sanften Hände, die mir über die Stirn streicheln, während das Gift in meine Venen fließt. Wenn du dich wirklich nur hierher verirrt hast, wie du es so betonst, solltest du schnell wieder dahin verschwinden, wo du hergekommen bist. Es ist der Strick, der auf mich wartet und ein gesichtsloser Henker, der mir den Todesstoß geben wird. Und nicht einmal ein Tropfen Rum, um mir den Gang zu erleichtern.“ Er spuckte aus. Ich konnte meine Beine nicht kontrollieren, die mich von ihm wegschoben, als hätte er eine ansteckende Krankheit. Mein Verstand befahl mir, nett zu sein, ihm Trost zu bieten, aber meine Instinkte rieten mir, so wenig wie möglich mit diesem Mann zu reden.

Halt dich von ihm fern., riet meine Stimme der Vorsicht in meinem Kopf.

Cap schien in der Dunkelheit zu lächeln.

 

Die Kälte der Nacht hatte sich in meinen Knochen festgesetzt, als das Gefängnis langsam zum Leben erwachte. Cap regte sich in seiner Ecke, er hatte im Sitzen geschlafen. Ich hingegen hatte überhaupt keinen Schlaf finden können. Die Müdigkeit merkte ich trotz den inzwischen schon zwei Nächten, in denen ich kaum ein Auge zugemacht hatte, nicht, dazu war die Angst zu groß, die genau wie die Kälte tief in meinen Knochen steckte. Ich saß am Boden, die Arme um die angezogenen Beine geschlungen und den Kopf darauf abgelegt. Meine Augen fixierten seitlich die Gitterstäbe, sie waren mit der Zeit verschwommen und mein Blick ins unendliche gerichtet. Ich bewegte ab und an meine Finger und Zehen, um zu sehen, dass sie noch zu meinem Körper gehörten. Meine Muskeln schmerzten und meine Gelenke fühlten sich so steif an, als hätte ich sie seit Monaten nicht bewegt. Obwohl es Sommer war, zumindest da wo ich herkam, zeichnete sich mein Atem durch weiße Dunstwolken in der Luft aus.

„Scheiße“, flüsterte ich leise. Hinter mir raschelte es. Cap schien aufgewacht zu sein. Ein Stoß warf mich aus dem Gleichgewicht und ließ mich, so wie ich war, zur Seite umkippen. Fluchend entknotete ich meine Arme und Beine und hievte mich wieder in eine sitzende Position. Feindselig starrte ich Cap an. Er hatte sein Bein ausgestreckt und stieß mich noch einmal mit der Fußspitze, diesmal stärker, aber ich war darauf gefasst.

„Lass einem alten Mann seinen Spaß.“, sagte er. Dann veränderte sich sei Gesichtsausdruck plötzlich, er zog sein Bein zurück und drückte sich so weit es ging in die Ecke in der er saß. Er gab ein Zischen von sich, dass an eine Schlange oder das Fauchen einer Katze erinnerte.

Ich folgte seinem Blick und sah zwei Männer, Wachen, die direkt auf unsere Zelle zukamen. Instinktiv wich auch ich zurück. Der Schlüssel wurde im Schloss gedreht und die schwere Eisentür geöffnet. Ich schloss die Augen. Ich fühlte mich noch nicht bereit, vor ein Gericht zu treten. Cap hatte mich nicht wirklich vorbereitet und ich wusste immer noch nicht, wo ich war. Ich atmete tief ein und öffnete die Augen wieder, sicher, dass die Männer mich gleich mitnehmen würden.

Stattdessen gingen sie an mir vorbei auf Cap zu.

„Komm, alter Mann.“, sagte einer und nahm Cap am Arm. Cap wehrte sich, ein wimmernder Laut entrang sich seiner Kehle.

„Ihr habt den Falschen!“, schrie er.

„Das herauszufinden ist nicht unsere Aufgabe.“, sagte der Mann und griff erneut nach ihm. Diesmal ließ er keinen Widerstand zu und unter Kreischen und Fluchen zogen Sie Cap aus der Zelle. Ich wollte mir die Ohren zuhalten oder wenigstens wegsehen, aber ich war wie gelähmt. Cap wehrte sich mit Hand und Füßen, zappelte, schrie, versuchte nach mir zu greifen. Es dauerte eine Weile, bis sie seine Finger von den Gitterstäben gelöst hatten. Wie Klauen hatten sie sich um das Metall geschlungen, um nicht mehr loszulassen. Sie schienen nur noch aus Knochen zu bestehen, die Knöchel traten weiß unter der Anstrengung hervor.

„Hilf mir.“, flüsterte er, aber ich konnte nur den Kopf schütteln und mich weiter nach hinten in die Zelle drängen. Dann, irgendwann, wurde es ihnen zu viel und sie schlugen ihn mit einem gezielten Schlag ins Gesicht. Er verstummte sofort und sein Kopf rollte nach hinten. Einen kurzen Moment fragte ich mich, ob er tot war.

Die Männer schlossen wieder ab und machten sich auf den Weg. Der größere trug Cap wie einen Kartoffelsack über seiner Schulter.

„Musste das sein?“, hörte ich seinen Kollegen murmeln. „Jetzt müssen wir warten, bis er wieder wach ist.“

„Du kannst dir ja nächstes Mal die Finger schmutzig machen. Meine Schicht, meine Verantwortung. Was glaubst du, wenn er uns entwischt wäre? Man darf sie nicht eine Sekunde aus den Augen lassen, diese Zauberer, sonst…“, der Rest seiner Worte erreichte mich nicht mehr.

 

Nach einiger Zeit merkte ich, dass ich am ganzen Leib zitterte. Ich ließ mich auf die Seite fallen und wartete, dass ich mich wieder beruhigte. Es wirkte nicht. Ich konnte Caps Schreie noch hören, seinen Blick, als er seine Hand nach mir ausstreckte. Aber ich hätte ihn nicht retten können, nicht einmal wenn ich gewollt hätte.

Ich merkte, dass ich weinte. Die ersten Tränen kamen zögerlich, dann brach ein Damm und ich weinte, lautlos und ohne mich zu regen, all die Verzweiflung und Angst der letzten Stunden aus mir heraus.

Es dauert lange bis die Tränen versiegten. Es musste schon Mittag sein und noch immer war niemand gekommen, weder um mir Essen zu bringen, noch um mich zu einer Befragung zu holen. Ich fragte mich, ob sie mich einfach hier und verhungern lassen würden. Wann hatte ich das letzte Mal etwas gegessen? Es musste Tage her sein, trotzdem spürte ich meinen Hunger kaum. Die Verzweiflung erstickte jedes andere Gefühl, sogar meine Urinstinkte.

Nach einer weiteren Ewigkeit rappelte ich mich schließlich auf und atmete tief ein und aus. Gerade als ich mir einreden wollte, dass schon alles irgendwie wieder in Ordnung kommen würde, erklangen erneut Schritte. Diesmal galt der Besuch der Wachen mir. Sie forderten mich gar nicht erst auf, mitzukommen, sondern packten mich gleich und schleiften mich mit sich. Einer hielt meine Handgelenke so fest umklammert, dass ich das Gefühl hatte, er würde sie gleich abklemmen. „Was..?“, begann ich, aber sofort presste sich eine Hand auf meinen Mund.

„Keinen Laut, Zauberer!“, schrie er mich an und stieß meinen Kopf, wie um dem Nachdruck zu verleihen unsanft mit seiner riesigen Pranke so heftig beiseite, dass ich ein Reißen in meiner Nackenmuskulatur zu vernehmen glaubte. Ich ließ ihn daraufhin hängen und versuchte, mich weder zu wehren, noch einen Laut von mir zu geben.

Wir erreichten Tageslicht. Nach der Dunkelheit im Keller hätte ich erwartet, dass es in meinen Augen brennen würde, aber zu meiner Verwunderung hatte die Sonne so wenig Kraft, dass es kaum heller war als im Kerker. Ich musste mich in der Tageszeit geirrt haben, sah es doch eher nach Abenddämmerung als Mittag aus.

Sie trieben mich eine Weile vor sich her, bis wir einen großen Saal erreichten, vor dem sie mich zu Boden stießen. Einer fesselte nun meine ohnehin schon tauben Hände, der andere stellte noch einmal sicher, dass ich keinen Laut von mir gab. Dann zogen sie mich wieder hoch und schoben mich in den Saal hinein auf einem Teppich vor zu einer Treppe an deren Ende ein dicker, furchtbar ungepflegter Mann thronte. Am Fuße der Treppe blieben wir stehen, wieder stießen sie mich zu Boden und einer drückte meinen Kopf nach unten.

„Das ist er also.“, sagte der Mann gelangweilt. Es musste ein Richter oder Herrscher sein, aber seine Stimme war dünn und entbehrte jeglicher Autorität.

„Ich hoffe ihr habt mich nicht umsonst gestört.“

Die Wachen sahen sich nervös an.

„Der Alte…“

„Ich will nichts davon hören, was ihr von anderen wisst. Was wisst ihr über ihn?“

„Er ist im Dorf aufgegriffen, Ihr wisst schon…“

„Und?“

Die Wachen sahen sich an. Der Mann seufzte. „Nun gut, bringt mir diesen Mann her, der mehr darüber wissen will.“

Die Wachen verschwanden, froh, dem Kreuzverhör vorerst entgangen zu sein. Als sie wiederkamen war Cap an ihrer Seite. Seine linke Gesichtshälfte war zugeschwollen, den Blick hatte er zu Boden gerichtet, es war mir unmöglich, ihn aufzufangen. Er wurde neben mich geführt und kniete sich sofort zu Boden, ehe man ihn stoßen konnte.

„Entschuldigt, eure Majestät.“, sagte er.

Der Mann schnaubte. „Er ist noch dümmer, als er aussieht.“, sagte er mit einem drohenden Unterton.

Cap stieß mich unauffällig mit seinem Arm an.

„Bring uns hier weg.“, zischte er. „Jetzt.“

Zu den Wachen sagte er.

„Das ist mein Gehilfe. Er ging bei mir in die Lehre um die dunkle Magie zu beherrschen, aber ich merkte bald, dass er über weit mehr Potential verfügte, als er vor mir zugeben wollte. In der Nacht erwischte ich ihn oft über meinen Büchern, Zauber übend, bei denen sich sogar mir die Haare sträuben. Ich habe ihn gerügt, aber er wollte nicht hören.“

Er täuschte einen Hustenanfall vor, während dem er mich erneut anstieß.

„Als ich verhaftet wurde, nahm er einen Teil meiner Ausrüstung und verschwand damit. Als ich hörte, wo man ihn gefunden hatte, wusste ich, dass ich auf der Suche nach der allerschwärzesten Magie war, wie man sie sich nur vorstellen kann. Ich muss seine Hände sehen, um zu wissen, ob er den Zauber ausgeführt hat. Wenn, dann müssen wir uns für einen Angriff rüsten, der das Ende unserer Verhältnisse werden könnte.“

Der Mann beugte sich vor und beäugte ihn misstrauisch.

„Nein.“, sagte er. „Wenn stimmt, was du sagst, musst du selbst wissen, warum ich das nicht tun kann.“

„Ihr müsst ihm die Hände nicht losbinden, lasst mich einfach einen Blick darauf werfen.“ Er warf seinen Kopf hin und her und wiederholte seine Bitte eindringlich und mit der richtigen Dosis Verzweiflung in der Stimme, um selbst mir Angst vor den Folgen meiner grauenhaften Zauber einzuflößen. Mir war klar, dass er einen Plan hatte. Ob meine Rettung auch darin enthalten war oder der Sinn nur darin bestand, seinen eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, war mir nicht ganz klar.

Der Mann nickte leicht, die Wachen ließen ihn die meine Hände begutachten. Er kam mir nahe, so nah, dass ich seinen faulen Atem riechen konnte, als er in mein Ohr flüsterte.

„Komm schon.“, sagte er. „Du kannst von mir lernen. Jetzt!“

Ich wollte ihm sagen, dass ich nicht wusste, wovon er sprach, aber ich wusste nicht wie. Dann spürte ich plötzlich wie der Druck an meinen Händen abnahm. Cap stieß mich noch einmal an.

„Und?“, sagte der Mann, dessen Gesicht plötzlich etwas Bedrohliches angenommen hatte.

Cap schwieg.

„Nehmt den Alten und hängt ihn.“, sagte der Mann zu den Wachen. „Ihn.“, fuhr er fort. „Lasst ihr vorerst hier.“

„Nein!“, schrie Cap. „Seht doch! Seine Hände!“ Reflexartig zog ich meine Hände aus den gelockerten Schlingen und barg sie vor meinem Körper. Dann ging plötzlich alles ganz schnell. Cap packte meinen Arm und zog mich mit einer Stärke, die ich bei ihm nicht für möglich gehalten hätte, nach oben. „Komm schon!“, schrie er mich an. „Bring uns hier weg!“. Fast nebensächlich landete er einen Schlag ins Gesicht eines der Wachen, der darauf nicht gefasst schien und zurück stolperte. Gleichzeitig griff seine Hand blitzschnell an den Gürtel des Mannes und entriss ihm eine messerartige Waffe. Der andere war inzwischen an der Tür angelangt und rief etwas nach draußen. Cap hüpfte mit einer Leichtigkeit, die ebenso übernatürlich für seinen geschundenen Körper schien, auf das Podest und stellte sich dem aufgesprungenen Richter in den Weg, der auf dem Weg zur Tür war. Er hielt ihm das Messer an die Kehle und winkte mich heran.

„Jetzt, Junge.“, sagte er in einem ungeduldigen Tonfall. „Jetzt hast du alle Konzentration, die du brauchst.“ Es dauerte einen Moment, ehe er bemerkte, dass ich nichts mehr tun würde. Er stöhnte auf.

„Halt!“, schrie auf einmal der Richter, dessen Kopf in einer schraubstockartigen Umklammerung von Caps Hand gefangen war. Das Messer konnte ich nirgendwo mehr sehen. Warum hatte er es fallen lassen und seine wesentlich gefährlichere Position aufgegeben?

Die Wache an der Tür zusammen mit der Verstärkung, die er geholt hatte, blieb unschlüssig stehen.

„Keinen Schritt weiter, oder er wird mich töten.“, seine Augen verdrehten sich. Ich fühlte mich wieder einmal in ein unheimliches und ziemlich schlechtes Kammerspiel versetzt. Mit Mühe und Not hievte ich mich auf das Podest. Meine Unfähigkeit schien die Lähmung der Wachen aufzuheben und sie setzten sich wieder in Bewegung. Cap stieß den Richter von sich, sodass dieser auf den Boden fiel. Wieder packte er meinen Arm und zog mich direkt auf die leere Wand zu. Und wieder machten wir einen auf Harry Potter und rannten geradewegs hindurch. Nur, dass es weniger magisch ablief, denn die Wand gab nach und stellte sich als geheime Tür heraus. Als Cap meine Hand losließ befanden wir uns in völliger Dunkelheit.

„Was zum Teufel?“

„Wundert es dich etwas, dass es einen geheimen Ausgang für den Richter gibt, im Falle, dass etwas schiefgeht?“

Ich schüttelte den Kopf, bis mir einfiel, dass er mich nicht sehen konnte.

„Nein.“, sagte ich dann. „Eigentlich nicht. Mich wundert, dass du genau wusstest, wo dieser zu finden sein würde und das uns keiner folgt.“

In diesem Moment erschütterte die Wand hinter mir.

„Die Konstruktion lässt nicht zu, dass sie ein zweites Mal von außen geöffnet wird. Das wird uns aber nicht lange retten. Wir müssen weiter.“

Er wollte mich wieder ziehen, aber ich blieb stehen.

„Ich kann nichts sehen.“, sagte ich etwas genervt.

Er seufzte.

„Wenn ich gewusst hätte, dass du so nutzlos bist, hätte ich die Sache allein durchgezogen.“

 

Nach tausend Irrwegen und einem heiteren Versteckspiel mit den inzwischen auch im Gang angekommenen Wachen gelangten wir durch verschlungene Wege, die offenbar zwischen den Wänden der... Burg(?) zu verlaufen schienen, an eine Tür, hinter der die Freiheit frohlockte. Die tiefe Schwärze war glücklicherweise schon früher einem Dämmerlicht gewichen, das zwischen dem unvollkommenen Mauerwerk hindurch schien und so hatte ich nur die Hälfte der Zeit blind hinter Cap her stolpern müssen. Die Dunkelheit hatte bereits begonnen, hereinzubrechen, ein dritter Tag in diesem grauenvollen Albtraum neigte sich dem Ende entgegen. Wenn ich nur wüsste, wie viele mich noch erwarteten. Cap zog mich an der Hand hinter sich her wie ein kleines Kind, den Kopf immer noch ungläubig darüber schüttelnd, wie sehr ich ihn offenbar im Stich gelassen hatte. Als wir weit genug von dem entfernt waren, was von außen einer Art Festung glich, blieb er abrupt stehen und stieß mich so heftig an, dass ich fast gefallen wäre.

„Was sollte das? Du hättest uns beide fast umgebracht! Wenn auch nur eine der Wachen einen Task bei sich gehabt hätte, wären wir verloren gewesen! Was kann so wichtig sein, dass du dein eigenes Leben riskierst, um nicht aufzufliegen? Mein Leben. Pah!“, er redete sich in Rage.

Ich starrte ihn an und überlegte, ob es überhaupt Sinn ergab, ihm die Wahrheit erzählen zu wollen. Stattdessen grinste ich ihn hilflos an.

„War doch ganz cool, die Nummer von dir.“, sagte ich in einem Tonfall, dass ich mir selbst nicht glauben mochte.

Er starrte mich sprachlos an.

„Dir hat wohl die Sonne das Hirn verkocht!“, zeterte er weiter.

Hinter ihm nahm eine Bewegung meine Aufmerksamkeit auf sich. Drei Gestalten liefen zielstrebig auf uns zu. Ich wäre besorgt gewesen, wenn nicht eine davon ein Kind und eine andere verschleiert gewesen wäre.

„Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?“

Ich muss ihn mit einem ziemlich dämlichen Gesichtsausdruck angesehen haben, jedenfalls verlor er endgültig die Nerven und demonstrierte noch einmal an meinem Beispiel, wie er die Wache im Richtsaal ausgeschaltet hatte.

Antworten I.

 

Kopfschmerzen. Ich stöhnte. Versuchte, meine Gedanken zu ordnen, aber alles, woran ich mich erinnern konnte war ein ziemlich merkwürdiger Traum über eine fremde Welt und einen Kerker, in dem ich gelandet war. Gott Sei Dank. Es gibt kein schöneres Gefühl als jenes, aus einem Albtraum aufzuwachen. Vermutlich lag ich jetzt bei der Schnecke im Bett.

„Aspirin…“, murmelte ich und blinzelte.

„Geht das wieder los.“, vernahm ich Sheilas Stimme und war sofort wieder hellwach.

„Scheiße.“, entfuhr es mir.

„Ja. Immer noch hier.“ , Sheilas Tonfall verriet, dass sie auch nicht viel mehr davon hielt als ich.

Milla stand auf und stapfte davon.

„Erklärst du mir jetzt, wo ich bin?“, fragte ich und richtete mich auf. Wir befanden uns im Wald. Es war wieder vollständig dunkel geworden. Wenige Meter von uns entfernt saßen zwei Gestalten an einem Lagerfeuer und lachten. Von beiden konnte ich nur die schwarzen Silhouetten erkennen, ich hatte jedoch den Verdacht, dass einer davon Cap war.

„Nein.“, sagte sie. „Aber du könntest auch ein bisschen einfühlsamer sein. Milla nimmt sich das zu Herzen, weißt du. Dass du sie nicht erkennst, mich nicht, das alles“, sie wies mit der Hand auf den Wald.

„Ihr seid doch alle verrückt.“, murmelte ich.

„Nein.“, sagte sie und auf einmal hörte ich einen Anflug von Enttäuschung in ihrer Stimme. „Du hast alles vergessen, was du einmal wusstest. Du bist ein Kind, auf das man aufpassen muss, weil es erst erkennt, dass die Herdplatte heiß ist, wenn es sich schon beide Hände verbrannt hat.“

Ich starrte sie an. „Woher weißt du von Herdplatten?“, stöhnte ich auf. „Ihr habt nicht einmal Herdplatten hier! Fließendes Wasser, Strom, zivilisiertes Verhalten, alles Fehlanzeige!“

Sie ballte die Fäuste.

„Ich wünschte fast, du wärst geblieben, wo du warst. Ich habe gedacht, du könntest helfen, aber wenn ich gewusst hätte, wie weich du geworden bist, hätte ich das auch anders gesehen. Du haust ab, wir lassen alles zurück, um dich suchen zu kommen, aber du hast nur Beleidigungen für uns übrig. Zivilisiert? Schau dir die Welt an aus der du herkommst. Ihr verschleiert es nur besser.“ Sie schaute mich einen Moment lang an und schnaubte dann verächtlich. „Allysha hätte dich nie holen sollen.“

Dann stand sie auch auf und folgte ihrer kleinen Schwester.

Ich sah ihr eine Weile nach und dachte über das, was sie gesagt hatte, nach. Ich war zu müde, um entscheiden zu können, ob sie Recht hatte, also machte ich mich auf den Weg zu den anderen beiden.

Cap begrüßte mich mit einem zögernden Lächeln. Vielleicht wusste er nicht, wie wütend ich wirklich auf ihn war. Ich hingegen, wusste nicht, wie wütend er wirklich noch auf mich war. Es schien ein guter Moment, um Frieden zu schließen und so nickte ich ihm zu. Er erwiderte die Geste und wand sich dem Feuer zu.

„Hallo Alex.“, sagte der andere Mann. Ich war einerseits irritiert, dass er meinen Namen kannte, andererseits froh, dass ihn endlich mal wieder jemand richtig aussprach. „Ich bin Martin.“, sagte er. „Keine Sorge, an mich musst du dich nicht erinnern.“, er lachte.

Ich schaute Martin an. Er war groß und breit gebaut, seine Muskulatur zeugte von Stärke und harter Arbeit. Er hatte sein Hände ineinander verschränkt und schaute mich mit einer Mischung aus Neugier und Amüsement an. Über seine linke Gesichtshälfte zog sich eine verblasste Narbe, die sein Auge nur knapp verfehlte.

„Ich nehme an, du willst mir auch nicht sagen, wo ich bin. Das ist ziemlich frustrierend, weißt du?“

Er lachte. „Nein, aber vielleicht kann ich weniger kryptisch sein. Der Ort, an dem du dich befindest unterscheidet sich in einigen Dingen von dem, was du gewohnt bist. Du wirst vieles sehen, was dir seltsam vorkommt. Bestimmt ist dir schon aufgefallen, dass es scheint, als seien wir weiter zurück in der Zeit, also… vielleicht stellst du dir es einfach wie eine Zeitreise vor.“

„Aber es ist keine.“, sagte ich müde.

„Nein. Sheila und Milla kennen dich von früher. Ihr habt euch gut verstanden, von dem, was ich gehört habe. Dass du sie vergessen hast, ist nicht deine Schuld, aber sie nehmen es eben persönlich.“

„Ich war schon mal hier?“

„Ja.“

„Also werde ich wieder gehen?“

„Mit Sicherheit.“

„Und dann werde ich alles wieder vergessen.“

„Stell es dir wie einen Traum vor, denn so wird es sein.“

Ich entspannte mich ein wenig.

„Und zu Hause. Werde ich gesucht? Vergeht die Zeit dort überhaupt.“

Er zuckte die Schultern. „Ich bin kein Zauberer, ich habe mich immer davon ferngehalten. Sheila weiß mehr von diesen Dingen. Sie ist der einzige Grund, warum ich mich überhaupt mit so etwas befasse. Naja, war. Früher konnte man sich von so etwas fernhalten, aber die Zeiten haben sich geändert. Diese Dinge lauern überall und beginnen allmählich diese Welt aus den Fugen zu reißen. Aber darüber brauchst du nichts wissen.“

„Weil ich weg sein werde, bis es soweit ist. Ist es das, wovon Cap gesprochen hat? Vor dem König?“

Cap schmunzelte.

„Das war nicht der König, nur einer seiner Berater. Manchmal ist es sinnvoller, sich dumm zu stellen.“, sagte er. „Sie sind ohnehin alle gleich, diese reichen Säcke.“

Ich wartete. Er seufzte. „Ja und Nein. Ich hab mir eine Geschichte ausgedacht, von der ich wusste, dass sie uns Zeit verschaffen würde, aber leider ist es nicht so abwegig wie ich es gerne hätte. Ich wusste nicht, dass du nicht von hier bist. Ich dachte… sagen wir, ich habe deine Fähigkeiten etwas überschätzt.“ Er wechselte einen Blick mit Martin.

„Ich muss zugeben, dass mein Ärger unbegründet war. Ich dachte...“

„Er wird es nicht verstehen, oder?“, fragte er an Martin gewandt. Dieser zuckte mit den Schultern. Cap sah mich hilflos an.

„Schon okay.“, sagte ich. „Ich würde es tatsächlich nicht verstehen. Ich schaue lieber mal nach Sheila. Ich glaube es ist eine Entschuldigung angebracht.“

 

Ich fand die beiden Schwestern etwas weiter entfernt auf dem Boden kauern. Milla stocherte mit einem Stock in der Erde herum, während Sheila sich vor sie kniete und auf sie einredete.

„Er ist so anders.“, sagte Milla. „Ich glaube, er mag mich gar nicht.“

„Unsinn“, sagte Sheila in einer sanften, weichen Stimme. Ihr Schleier wehte im Wind und verlieh der Szene einen unwirklichen Charakter. „Er ist nur verwirrt und weiß nicht, was um ihn herum passiert. Er verändert sich schon, du wirst sehen. Vielleicht spielt er ja auch Haruk mit dir, morgen früh. Ich hab die Steine mitgenommen.“ Sie nickte und fuhr sich mit der Hand über ihr Gesicht. „Und wann kommt Allysha wieder?“

„Du musst Geduld haben. Ich kann sie nicht mehr so gut spüren wie dich, sie ist schon zu erwachsen und schließt mich aus ihren Gedanken aus. Aber wir sind bestimmt auf dem richtigen Weg.“

Ich räusperte mich und trat näher.

„Hallo ihr beiden.“, sagte ich. Ich kniete mich zu ihnen, etwas unbeholfen und starrte auf das Muster, dass Milla in den Boden gezogen hatte. „Ich wollte nur… Tut mir Leid, dass ich so wenig einfühlend bin. Es ist alles neu und keiner will mir sagen, wo ich bin und… ich hab Heimweh, wisst ihr. Das ist alles ziemlich schwer. Ich werde mir Mühe geben.“

Milla zog einen Schmollmund, aber Sheila lächelte.

Dann zog sie Milla hoch und wies sie an schlafen zu gehen.

„Danke.“, sagte sie leise. „Wir kriegen das schon hin.“

Ich wollte ihr eine ziemliche gemeine Antwort bezüglich der Natur dieses „wir“ geben, aber ich hielt mich zurück.

„Wie hast du mich gefunden?“, fragte ich stattdessen.

Sie lächelte. „Ich hatte dich nie verloren. Martin hat ein Auge auf dich geworfen.“, sie nickte in Richtung des Feuers. „Mit gutem Grund, wie ich im Nachhinein bemerken muss. Du hast dir wirklich nicht die beste Gesellschaft ausgesucht. Hätte er dich nicht befreit, hätte ich ihn schon längst zum Teufel geschickt. Aber diese Entscheidung wollte ich lieber dir überlassen, nachdem ich dir schon so viele abgenommen habe.“

Ich tat mein Bestes, ihr Lächeln zu erwidern. „Ich hatte den Eindruck, dass er ganz nützlich werden kann.“, sagte ich entgegen dem Gefühl in mir, dass Cap uns nichts Gutes bringen würde.

Sie nickte und wandte sich zu gehen.

„Sheila.“, rief ich schnell, ehe sie außer Hörweite war. Sie drehte sich um. Ich blieb einen Moment stumm, unfähig das Gefühl in Worte zu fassen, dass mich beim Klang des Namens eines anderen Mädchens überkommen hatte. Ich muss auch sie kennen, dachte ich mir. Diese Erinnerungslücken führten nur zu haufenweise Unbeholfenheit.

„Ja?“, fragte sie schließlich.

„Wo ist Allysha?“, fragte ich und als der Name über meine Zunge rollte spürte ich den Anflug einer Erinnerung in mir auftauchen.

Allysha

 

Das Erste, was sie wahrnahm, war ein Geruch, süßlich und schwer. Sie öffnete die Augen, aber die Welt blieb schwarz. Einen Moment lang glaubte sie, blind zu sein, dann erhaschte sie einen Lichtstrahl, dünn und schwach, der sich auf dem Boden verlor. Sie versuchte, ihre Arme zu bewegen, aber sie waren steif und wollten ihr nicht recht gehorchen. Es kribbelte in ihren Gliedmaßen, als hätte sie sie lange nicht bewegt.

Sie machte ein paar Atemzüge, hob den Kopf so weit es ging, um an frische Luft zu kommen, aber der Geruch ließ sich nicht vertreiben und die dicke Luft machte ihr das Atmen schwer. Wieder bewegte sie ihre Arme, diesmal ließen sie sich einige Zentimeter bewegen, ehe sie auf einen Widerstand traf. Kühl legten sich eiserne Ringe um ihre Handgelenkte, als sie versuchte, sich zu befreien, das Klirren von Ketten hallte an Wänden wieder, die sie nicht sehen konnte.

Sie zwang sich zur Ruhe.

Sie kauerte auf den Boden eines Raumes, den sie mehr erahnen als sehen konnte. Ihr Rücken stieß gegen eine unebene Wand, eine Steinmauer vielleicht. Ihre Beine waren frei, aber sie konnte sich nur wenige Zentimeter bewegen, ehe die Ketten an ihren Armen sie aufhielten. Sie waren gerade so lang, dass sie mit den Fingerspitzen den Boden berühren konnte.

Sie schloss ihre nutzlosen Augen und überlegte, woran sie sich zuletzt erinnerte. Ihre Erinnerungen waren ungewohnt verschwommen und sie fragte sich, ob jemand in ihrem Kopf herumgepfuscht hatte. Wenn, dann musste sie schnellstmöglich herausfinden, worauf er gestoßen war und ob er ihr Geheimnis entdeckt hatte.

Sie erinnerte sich an Licht, eine helle Sonne vor blauem Himmel und weißen Wolken. Menschen, die fremd gekleidet waren und sie anstarrten. Sie erinnerte sich an das Gesicht einer dunkelhäutigen Frau, freundlich und warm. Die Erinnerung verschwamm, so sehr sie sie auch festzuhalten versuchte. Wann war das gewesen? Was war danach passiert?

Bilder von der Kirche im verbotenen Dorf kamen in ihr hoch. Anders, der fremd aussah, müde und krank. Fesselmale an seinen Händen.

Sie riss die Augen auf, als ihr klar wurde, was passiert war. Sie hatte ihm etwas geben sollen und war den Männern direkt in eine Falle gelaufen. Sie hatte versucht zu entkommen, aber sie waren zu schnell, zu viele. Wenn sie mehr Zeit gehabt hätte… Was hatte sie getan?

Wer waren die Männer gewesen? Sie versuchte sich an Gesichter zu erinnern, aber keines hatte sie gekannt. Es gab genug Leute die hätten haben wollen, was sie Anders bringen sollte. Nur wer von ihnen wusste überhaupt, dass es sich in ihrem Besitz befand? Eine Menge Leute hätten es erst bei Sheila gesucht, sie war die rechtmäßige Nachfolgerin ihrer Großmutter. Nur eine Hand voll Leute, darunter Anders, hätten wissen können, dass sie sich um den Nachlass kümmerte. Hatte Anders vielleicht selbst etwas damit zu tun? Er hatte von seiner Frau gesprochen, Drohungen gegen sie oder seine Familie.

Sie stöhnte auf und lehnte sich gegen die Wand als ein Krampf ihre Arme schüttelte. Sie versuchte sie zu strecken, vergebens. Jetzt, wo sich ihr Geist klärte spürte sie auch langsam Hunger und Durst in ihrer Kehle aufsteigen. Wie lange war sie schon hier? Sie meinte sich dunkel an einen Ritt zu erinnern, das trommelnde Geräusch von Pferdehufen auf Waldboden, gedämpft durch Stoff, der über ihren Kopf gezogen war. Wie lange sie geritten waren konnte sie nicht sagen, aber wenn sie ohnmächtig oder benommen gewesen war, konnten Tage vergangen sein, ohne dass sie Notiz davon genommen hätte. Angst stieg in ihr hoch, so sehr sie sie auch zu bekämpfen versuchte.

Schließlich konnte sie dem Drang nicht mehr widerstehen, gegen die Stille anzukämpfen und auf sich aufmerksam zu machen, falls jemand da war, der sie hören konnte. Ihre Lage war aussichtslos, ohne eine weitere Person konnte sie sich nicht befreien, wenn sie ihre Hände nicht frei hatte.

„Hallo?“, rief sie in die Dunkelheit hinein und lauschte. Ihre Stimme klang brüchig und alt, ungewohnt schwer fiel ihr das Reden.

„Hallo!“, rief sie so laut sie konnte.

Eine Weile geschah nichts, dann hörte sie es am Ende des Raumes rascheln. Hoffnungsvoll hob sie den Blick, aber die Dunkelheit verschluckte alles, was in dieser Ecke sein mochte. Sie schloss die Augen und versuchte sich auf die Formel zu konzentrieren, die Licht schuf, aber sie konnte ihren Geist nicht beruhigen und ihre Hände hingen nutzlos in den Ketten fest. Wütend stieß sie einen heulen Laut aus und ließ ihren Kopf auf ihre Brust sinken. Sie ließ die Angst nun gewähren und ein Schwall Tränen brach aus ihr hervor.

Es machte ihr nichts aus, hier drinnen sah sie keiner weinen.

Die fremde Welt

 

Das Feuer schwelte noch, als ich erwachte. Die Nacht hatte dem Tag noch nicht ganz das Feld überlassen, der Himmel verfärbte sich am Horizont allmählich in einen satten Rotton, während über uns noch das blau der Nacht regierte. Sheila saß an der Feuerstelle, sie hatte sich eine Decke um die Schultern gelegt, geschlafen hatte sie wahrscheinlich aber nicht. Ich schüttelte den Kopf und richtete mich auf. Auch ich hatte mich in der Nacht zugedeckt, trotz des Feuers war es bitterkalt geworden. Meine Gelenke waren steif, sicher auch vom harten Bode und den Strapazen dieser und der letzten Nacht.

Ich sah mich um. Die anderen schliefen noch bis auf Sheila und ich selbst war auch noch todmüde. Etwas musste mich geweckt haben. Ich dachte darüber nach, als ich bemerkte, dass eine sanfte Melodie vom Mädchen am Feuer zu mir herüberwehte. Sie sang, aber ich konnte die Worte nicht verstehen. Dennoch war ich wie gebannt von ihrem Lied. Es hatte eine schwere, traurige Melodie. Ich stand leise auf, um sie nicht zu stören und setzte mich neben sie. Sie stockte, als sie meine Anwesenheit bemerkte, sang aber weiter, mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck.

Zum ersten Mal seit ich sie getroffen hatte – und dieses Mal trug sie keinen Schleier - konnte ich sie richtig betrachten. Ihr Gesicht war älter, als ich es erwartet hatte. Ihre Augen waren jung: klar und forschend, aber ihre Haut war von so vielen Narben zerfurcht, dass man unweigerlich an ein Opfer eines schweren Unfalls oder Brandes denken musste. Es ließ sie reifer wirken, ohne die Naivität die jungen Menschen immer anhaftet und dadurch schien sie viel älter als sie war. Normalerweise hätte ich Mitleid gehabt, aber es war keine Spur von Leid in ihrem Gesicht, keine Trauer über ihre verlorene Schönheit. Sie trug die Narben nicht nur gefasst, sondern mit einem gewissen Stolz, was ich bewundernswert fand. Was man von ihrem Gesicht noch erahnen konnte verriet, dass sie einmal sehr schön gewesen war. Ich fragte mich, wie sie wohl wirklich aussehen mochte, gelänge es, die Narben von ihrem Gesicht zu wischen.

Später würde ich erfahren, dass ich sie schon einmal gesehen hatte, bevor ihr Gesicht so entstellt wurde, wie sie aber ausgesehen hatte, daran würde ich mich nie mehr erinnern. Vielleicht war es besser so, denn auf diese Weise blieb ihr immer das eine Geheimnis und ich sah in ihr eine faszinierende, verborgene Schönheit, die man nur aufdecken müsse, um sie zu erkennen, nicht das Mädchen, dass ihr Gesicht eingebüßt hatte, und das ich dafür bedauerte.

Bemerkenswert, aber neben ihrem Gesicht fast eine Nebensache, waren auch ihre Haare, die rot und lockig ihr Gesicht umspielten. Sie hatten eine ungewöhnlich dunkle Farbe, wie ich es noch nie natürlich an einem Menschen gesehen hatte. Ich wünschte mir, sie einmal in der Sonne sehen zu können, in der vollen Sonne. Sie würden sicher leuchten wie Feuer. Auch im schwachen Licht des beginnenden Tages, in dem die Sonne viel mehr versprach, als sie halten würde, leuchteten sie schon und umrahmten ihr Gesicht. Ich bedauerte, dass sie später wieder ihren Schleier tragen würde, wagte es aber nicht, das Thema anzusprechen.

Inzwischen hatte sie ihr Lied beendet und sich dem Feuer zugewandt.

„Was ist das für eine Sprache?“, wollte ich wissen.

„ Eine Alte, die hier nicht mehr gesprochen wird. Wo ich herkomme kennt man noch Lieder und Gedichte, die in dieser Sprache verfasst sind. Wir tragen sie weiter, an unsere Kinder, damit sie nicht stirbt.“

„Worum geht es in dem Lied?“

Sie dachte eine Weile nach. „Meine Großmutter hat es mir einmal beigebracht. Ich kenne nicht alle Worte darin, aber es geht wohl um die Liebe.“

„Dann ist es wohl keine sehr glückliche.“, sagte ich in Gedanken an die traurige Melodie.

„Nein.“, sagte sie bitter. „Wo ich herkomme, tut die Liebe meistens allen Beteiligten weh.“

Ich wollte fragen, woher sie kam, aber die Dunkelheit in ihrer Stimme hielt mich davon ab. Außerdem schien sie mehr sagen zu wollen.

„Es geht um eine Liebe, die zwischen zwei Welten entsteht.“, sagte sie tatsächlich irgendwann, die Stimme leise und sanft, als würde sie ihrer Schwester eine Gute-Nacht-Geschichte erzählen. „Um zusammen sein zu können, muss einer von ihnen die Seine für immer für den anderen verlassen. Das Lied erzählt von der Entscheidung und dem Kampf darum, welcher von beiden das sein wird. Ihre Liebe ist stark genug, das auszuhalten und es wird ein Tag gewählt, an dem die Sterne günstig stehen, dass er sich aufmachen kann zu ihrer Welt. Sie haben ein Tor gefunden, einen verbotenen Ort, an dem sie sich schon früher getroffen und durch Zufall kennen gelernt haben. Sie wartet auf der anderen Seite.

Er macht sich auf dem Weg, aber ehe er den Ort erreichen kann begegnet er einer Frau, die so wunderschön ist, dass sie ihn in seinen Bann schlägt. Sie wurde geschickt, von einem mächtigen Zauberer, der das Tor sucht, das die beiden gefunden haben. Wer sie verraten hat, wird im Lied nicht erwähnt, aber es ist wohl ein alter Freund oder ein eifersüchtiges Weib, das den Mann nicht gehen lassen will. Auf jeden Fall folgt er der Schönheit bis ins Versteck des Zauberers, wo sie ihn dazu bringt, den Weg zum Tor zu verraten. Sie fesselt ihn und der Zauberer und sie machen sich auf den Weg zum Tor. Auf der anderen Seite wartet noch immer die Frau. Als sie spürt, dass das Tor geöffnet wird, aber nicht ihr Geliebter von der anderen Seite kommt, zieht sie den einzig richtigen Schluss und opfert ihr Leben dafür, es zu schließen. Sie stirbt, der Zauberer und seine Frau verschwinden, vielleicht ebenfalls in den Tod, vielleicht erwartet sie Schlimmeres.

Das Lied endet mit der Klage des Mannes um seine Geliebte und seiner Suche nach dem Zauberer, aus der er nie zurückkehrte.“

Ihre Stimme schien nicht auf einmal zu verstummen, sondern allmählich zu verschwinden. Ich lauschte, wie sie sich im Wind verlor.

„Gibt es das wirklich? Mehrere Welten und Tore dazwischen? Bin ich so hier hergekommen?“ Noch vor zwei Tagen hätte ich eine solche Frage nicht einmal gedacht, aber jetzt schien alles möglich geworden zu sein.

„Von Geschichten weiß man nie, wie viel wahr ist an ihnen, aber ja, es gibt mehrere Welten. Ich selbst kenne drei davon, ich weiß nicht, wie viele mir bisher verborgen geblieben sind. Über die Tore gibt es Legenden und Gerüchte, viele glauben, dass es sie gibt, aber man hat über die Jahrhunderte vergessen, wo sie sind, oder sie wurden verschlossen. Aus gutem Grund, es ist noch nicht viel Gutes daraus geworden, wenn jemand durch sie reist. Über dich…“, sie sah mich an und mein Körper begann zu Kribbeln unter ihrem Blick, der bis in mein Innerstes zu sehen schien. „… ich weiß nicht, wie du hierher kommst. Allysha hat dich zu uns gebracht, bevor sie wieder aufgebrochen ist, ich kann dir nicht sagen, wie sie dich geholt hat – außer dass es fast alle deine Kräfte aufgebraucht hat. Du warst sehr schwach. Es gibt verschiedene Möglichkeiten – abgesehen von den Toren - zu reisen, wenn man Magie ausüben kann oder von jemandem geholt wird, der es kann. Aber auch das ist verboten. Dein Freund Cap“, sie nickte in Richtung des schlafenden Alten. „War ein großer Reisender in seiner Jugend. Er hatte irgendwie Zugang zu der Magie, die ihn zwischen den Welten reisen lassen konnte und hat es lange geschafft, sich dem König und seinen Handlangern zu entziehen. Wie viel er gesehen hat… davon können wir nur träumen. Aber du hast ihn vielleicht erlebt, es hat ihm nicht gut getan. Er trinkt und ist voller Sehnsucht nach einer Welt, in der er viele Jahre verbracht hat… sicher geht es dabei auch um eine Frau. Deine Welt.“, sie lächelte. „Aber irgendwann war seine Kraft erschöpft und er musste sich für eine Welt entscheiden – so wie das Paar in dem Lied. Er entschied sich für seine Heimat, ich bin nicht sicher, ob er seine Entscheidung nicht bereut hat.“

„Woher weißt du so viel über ihn?“

Sie verzog das Gesicht. „Wir haben als Kinder viele Geschichten über ihn gehört.“, antwortete sie. „Meistens solche, die uns zeigen sollten, warum es gefährlich ist, sich mit der Magie einzulassen.“

„Deshalb war er mit mir im Kerker.“, wurde mir plötzlich klar. „Der König hat ihn doch noch gekriegt. Sie wollten ihn hängen.“ Ich dachte weiter. „Und deshalb war ich dort. Sie müssen mich als jemanden erkannt haben, der nicht hierher gehört.“

„Ich bin nicht sicher. Cap sagte, sie haben dich beim Dorf aufgegriffen. Viele Jungs gehen nachts dorthin, als Mutprobe. Man erzählt sich die schauerlichsten Geschichten darüber.“

„Ich fand es auch ein bisschen gruselig. Der Ort schien regelrecht zu atmen.“, ich schauderte bei dem Gedanken daran. „Ich wollte dort eigentlich nicht bleiben, aber als ich stehen geblieben war... ich hatte das Gefühl, keinen einzigen Schritt mehr laufen zu können.“

Sie sah mich aufmerksam an und schien etwas aus meinen Worten herauslesen zu können, das ich selbst nicht erkannte. Es sah aus, als würde es sie besorgen.

Sie erhob sich.

„Es ist Zeit, dass wir die anderen wecken und uns auf den Weg machen. Wir müssen Alyssha finden, bevor ihr etwas zustößt. Sie zieht das Unglück fast genauso an wie du.“

Bevor sie gehen konnte, hielt ich sie vorsichtig am Arm zurück.

„Sheila.“, sagte ich und holte tief Luft. „Es tut mir Leid, was ich gestern gesagt habe. Danke.“

Sie lächelte und ich erahnte das Mädchen hinter dem erwachsenen Gesicht. „Wofür?“

„Für die Antworten.“

 

Ich hatte keine Zeit, lange darüber nachzudenken, was Sheila gesagt hatte, Milla beanspruchte mich vollständig, damit, mir seufzend und ungläubig die Regeln von Haruk offenbar ein zweites Mal zu erklären, einem Strategiespiel, dass man vollständig ohne Brett und Figuren spielte, nur im eigenen Kopf mithilfe einer handvoll seltsam geformter Steine, die man untereinander tauschte um einen Anhaltspunkt zu haben, welchen Verlauf das Spiel nahm. Es war nicht leicht. Ich ließ mich von meiner Intuition leiten, Strategiespiele waren noch nie meine Stärke, ich mochte meine Spielzüge einfach ungern planen. Milla schlug mich problemlos, auch wenn ich mit der Zeit besser wurde. Nach einigen Runden konnte ich sie auch ab und an besiegen, als wir unsere erste Pause machten, hatte ich drei Spiele hintereinander gewonnen.

„Früher hast du auch immer gewonnen, nachdem du einmal den Dreh raus hattest.“, sagte sie.

„War ich schon öfter da?“

Sie sah kurz nach hinten zu ihrer großen Schwester, dann, als sie sicher war, außer Hörweite zu sein, sagte sie: „Nein, nur einmal.“

„Wann?“

„Ich war gerade sechs, also vier Jahre und ein bisschen mehr. Du bist eines Tages aufgetaucht, keiner wusste woher oder wie. Sheila dachte, du hättest vielleicht zufällig ein Tor gefunden und bist durchgefallen. Alyssha hat dich die ganze Zeit gelöchert und wollte wissen, an was du dich von deiner Reise erinnern konntest. Du warst Stunden unterwegs bis du uns gefunden hast.“

„Und dann?“

„Wir haben dich wieder zurückgeschickt. Ein ziemliches Abenteuer. Aber mehr nicht, du musst dich selbst erinnern.“, ihre Stimme nahm einen belehrenden Ton an und sie kicherte.

Mir reichte, was sie gesagt hatte.

„Was ist mit ihm?“, fragte ich und nickte mit dem Kopf in Martins Richtung.

„Ach, das ist Martin.“, sie kicherte wieder. „Er klebt an Sheila, seit er sie das erste Mal gesehen hat. Er kommt auch nicht von hier, er hat sofort was für uns übrig gehabt, als er hier angekommen ist. Seitdem folgt er uns, wohin wir auch gehen. Er beschützt uns, sagt er und Sheila vertraut ihm. Das tut sie selten, seit…“, sie schwieg, ich wusste, dass es nicht an der Zeit war, danach zu fragen. Ich musste lernen, mir all die Fragen zu verkneifen, die mir auf der Zunge brannten.

Nach einer Weile rief Sheila uns zu, langsamer zu laufen und lief fortan vor uns. Sie und Martin wirkten alarmiert, sie verständigten sich mit eingeübten Blicken und schließlich hob sie die Hand und legte einen Finger an die Lippen. Milla griff nach meiner Hand und umklammerte sie fest. Sie schien zu ahnen, was kommen würde, mich traf es völlig unvorbereitet.

Ein Knurren, dass es mir kalt den Rücken herunterlaufen ließ, bahnte sich seinen Weg durch das Dickicht zu meinen Ohren und ich drückte Millas Hand fester, bis sie mit der anderen versuchte, meinen Griff zu lösen. Als ich sie losgelassen hatte, kam sie näher und umklammerte meine Hüfte mit beiden Armen, die Augen starr geradeaus gerichtet. Es raschelte und ein Tier glitt aus den Büschen. Milla drängte sich hinter mich, während Sheila einen Schritt zurück trat, wobei sie das Tier nicht aus den Augen ließ. Es war groß, irgendwo zwischen einem Wolf und einem Bären und mit beidem hatte es eine gewisse Ähnlichkeit, auch wenn ich nicht hätte sagen können, wo es näher dran war. Es war riesig mit dichten, verfilzten Fell und einem Maul, in dem Millas Kopf sicher vollständig verschwinden könnte. Seine gelben Augen schauten hungrig zwischen uns hin und her als würde es nach der wahrscheinlichsten Bedrohung suchen. Es wandte sich knurrend an Martin, der plötzlich ein langes geschwungenes Messer in der Hand hielt.

„Nicht bewegen.“, zischte Sheila und ging mit leichten Schritten auf Martin zu ohne das Tier aus den Augen zu lassen. Als es zum Sprung ansetzte bewegte sie sich mit einer Geschwindigkeit, die ich nicht für möglich gehalten hätte vor unseren Begleiter und gab einen Laut von sich, der irgendwo zwischen Fauchen und Knurren lag. Wie eine Schlange bewegte sie sich nach vorne und entblößte Zähne, die mir plötzlich spitzer vorkamen als zuvor. Ihre Bewegung waren unmenschlich schnell und geschmeidig und ich hätte schwören können, dass ihre Augen das gleiche gelb annahmen, wie ihr tierischer Gegner. Das Tier wich zurück, bleckte dann die Zähne und trat näher. Ein kehliges Knurren war zu hören, wobei ich mir nicht mehr sicher war, wer von beiden, Tier oder Mensch, es hervorrief. Eine Weile schienen sie sich zu duellieren, dann verschwand es genauso schnell wie es hervorgekommen war in den Wald.

Sheila richtete sich auf und sah nach, ob es uns gut ging. Dann setzte sie ihren Weg wieder fort, schnell und ohne ein weiteres Wort, als fürchte sie die Fragen, die unweigerlich kommen würden. Von mir zumindest – ob die anderen einen solchen Auftritt gewohnt waren konnte ich nach allem, was ich bisher erlebt hatte nicht sagen.

Als sie außer Hörweite war, verfiel ich in ein hysterisches Schreien.

Zu viel ist zu viel.

„Jetzt denkt der Brulf, sie hat dich gefressen.“, kicherte Milla als ich mich mangels Atemluft wieder einkriegte. „Meine Beute!“

„Brulf.“ Mich würde hier nichts mehr wundern.

„Es gibt einen anderen Namen, aber mit dem kannst du sicher mehr anfangen. Die Leute haben ihn so genannt, als er hier zuerst auftauchte.“

„Wo kommt das Vieh denn her?“

„Von drüben.“, sie nickte in eine unbestimmte Richtung. „Es kommen ziemlich viele Tiere von drüben hierher, in der letzten Zeit. Sheila sagt, sie finden nicht genug Nahrung. Sie sagt, da drüben sind die Tiere so mit der Natur und die Natur mit der Magie verwurzelt, dass sie die Tore wie von selbst finden und sie stehen ihnen immer offen.“

„Ach.“

„Ich hab ein bisschen Angst davor.“, sagte sie bedrückt. „Allysha hat mir davon erzählt. Gehörnte Kaninchen mit spitzen Zähnen, die warten bis du sie streicheln willst und dann – ham. Und feuerspuckende Drachen, die ganze Dörfer abfackeln und sich mit Vorliebe von kleinen Kindern ernähren.“, sie schauderte.

„Drachen?“

„Furchtbar oder?“

Ich zuckte die Schultern obwohl ich zugeben musste, dass, so faszinierend sie auch sein mochten und so sehr es mich danach drängte, einmal einem zu begegnen, Drachen doch einigen Schaden anrichten können mochten.

„Das mit den kleinen Kindern ist sicher übertrieben.“, sagte ich trotzdem augenzwinkernd.

Sie nickte.

„Was war das mit Sheila gerade? Ich hatte mehr Angst vor ihr als vor dem Bärvieh.“

Sie antwortete nicht gleich sondern sah ihrer Schwester nachdenklich hinterher.

„Sie kann überzeugend sein.“, sagte sie schließlich. „Das hat sie drüben gelernt, glaube ich. Da muss man wohl überzeugend sein.“

„Drüben ist die andere Welt, oder? Nicht meine und nicht diese? Da, wo sie herkommt?“

„Ja.“, sagte sie.

„Wie ist es da so?“

„Ich war nie da.“, sagte sie mit einer Spur Sehnsucht in der Stimme. „Sheila sagt, es ist dunkel und gefährlich, aber wunderschön.“

Das muss es wohl sein, dachte ich, wenn es dort Drachen gibt.

Und plötzlich spürte ich den Wunsch, nicht so schnell wieder aufzuwachen, sondern die Welt in die ich gefallen war, zuerst zu erkunden.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 23.03.2016

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /