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Vorwort

 

Bevor Sie diese Geschichte lesen, möchte ich darauf hinweisen, dass sie rein fiktiv ist. Ich kann Ihnen versichern, dass keine der angedeuteten oder angesprochenen Situationen sich so oder auch nur so ähnlich ereignet hat.

 

Ich möchte außerdem auf Folgendes hinweisen: Dies ist keine Liebesgeschichte. Es ist auch keine Geschichte, die ich als leichte Lektüre empfehlen würde. Wenn ich Kinder hätte, würde ich diesen Text von Ihnen fernhalten, bis sie, sagen wir, 14 Jahre alt sind. Aber vielleicht bin ich auch nur übervorsichtig.

Tage von Alice

Es ist merkwürdig, eine Geschichte zu erzählen, die die Eigene ist. Vor allem wenn man weiß, dass sie auch Leute lesen werden, die man nicht mochte. Oder die einen selbst nicht gemocht haben.

Ich habe lange überlegt, ob ich wirklich niederschreiben soll was passiert ist, in einer Art und Weise, wie es kein Zeitungsbericht auch nur annähernd tun wird oder getan hat.

Meine Version der Geschichte.

Die meisten Menschen, die wissen, wie sie ausgeht, werden Hetzreden erwarten oder grenzenlose Gewaltverherrlichung oder einen Versuch, meinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen.

Von alldem erwartet euch nichts.

Was euch erwartet ist ein Einblick in meine Welt, meinen Wahnsinn, mein Gefängnis.

Herzlich willkommen in der Hölle, lieber Leser. Sie ist nicht besonders heiß oder körperlich qualvoll.

Im Gegenteil.

Sie ist kalt und leer.

 

Meine Mutter sagte früher immer, man soll die Dinge nehmen wie sie sind und das Beste daraus machen. Damals verstand ich das noch wörtlich und nahm es zum Anlass, sämtliche meiner Kleider zu „verschönern“, was mein Vater wiederum zum Anlass nahm, mich gehörig zurechtzuweisen. Ein halbes Jahr lang wurde ich gezwungen, die Kleider meines Cousins Daniel anzuziehen, viel zu klein und außerdem ganz und gar nicht mein Geschmack, dann durfte ich mir endlich ein paar Neue besorgen. Dad sagte, es läge am Geld, aber ich wusste genau, dass wir genug gehabt hätten, zu ersetzen, was ich in ihren Augen zerstört hatte.

Heute sagt meine Mutter nur noch manchmal, man müsse das Beste aus dem machen, was man bekommt. Sie sagt ohnehin nicht mehr viel, seit Dad ständig auf Geschäftsreise ist und ich zu alt geworden bin, um ihr „Baby“ zu sein und ständig bei ihr herumzuhängen. Ich glaube, sie fühlt sich einsam, aber ich kann und will nichts daran ändern. Ich kann nicht viel mit ihr anfangen, außer vielleicht einer Runde Mensch-ärgere-dich-nicht, wenn sie sich überhaupt nicht wohl fühlt oder auch nur einem Gespräch beim Mittagessen, wenn wir es denn mal gemeinsam einnehmen.

Ich will damit nicht sagen, dass sie mich vernachlässigen würde, ich glaube jeder Teenager ist froh, den Fängen seiner Eltern ab und zu zu entkommen. Nein, bei uns ist eher umgekehrt.

Noch heute versuche ich manchmal, ihren damaligen Rat zu befolgen und das Beste aus allem zu machen. Meistens wird nur Mist daraus. Dabei versuche ich doch auch nur, irgendwie zu überleben. Möglichst glücklich, das versteht sich ja von selbst.

Vielleicht liegt es daran, dass das Leben nun mal nicht dazu gemacht ist, glücklich zu sein. Für manche vielleicht mehr als für andere. Ich jedenfalls war, als das Glück verteilt wurde, wohl ein bisschen zu spät dran.

So wie jetzt auf dem Weg zur Schule…

 

Sie ragt wie ein riesiges Gefängnis vor mir auf, als ich die Stufen zum Eingang hochgehe, eine Festung, uneinnehmbar von außen, unentrinnbar von innen. Ich habe mich schon oft gefragt, was der Architekt sich bei diesem Bauwerk wohl gedacht hat. Ob er einfach nur schlechte Laune hatte oder in eine tiefe Depression verfallen war? – Letzteres würde die Trostlosigkeit der Bildungseinrichtung wohl zu Genüge erklären. Oder vielleicht sollte sie noch bunt angemalt werden, um wenigstens die Fassade von Fröhlichkeit aufrecht zu erhalten, die man von Schulen im Allgemeinen erwartet – und dann ist der Stadt das Geld ausgegangen. Oder, er hatte einfach nur einen unglaublichen Hass auf die Kinder, die seinen Garten regelmäßig verwüsteten und beschloss, es ihnen auf diesem Wege heimzuzahlen. Wir werden wohl nie erfahren, wem wir die Pein dieses Gebäudes zu verdanken haben und warum.

 

Ich bin in letzter Zeit öfter zu spät. Meine Mutter sagt, die Hormone bringen meinen Rhythmus durcheinander, mein Vater spricht von jugendlicher Rebellion, aber alles was er dazu sieht, sind die Briefe von der Schule, er selbst ist ja nicht da, um es zu erleben. Ich frage mich allerdings, auf welchen Beobachtungen seine Einschätzung dann wohl beruht. Vermutlich war er genauso in meinem Alter.

Ich persönliche gebe keinem von beiden Recht. Die Sache ist, ich kann mich einfach nicht motivieren. Ich meine, schau dir den Bunker doch an. Alles tot, alles grau und das steht fast metaphorisch für die eintönige Lehre – oder vielmehr Leere – die dort drinnen abgehalten wird. Ich kann mir kaum einen Ort vorstellen, an dem ich weniger gern wäre – warum soll ich da Wert auf Pünktlichkeit legen?

Die Tür ist so schwer, dass man sie von außen nur mit viel Kraft oder der Hilfe sämtlicher nach innen strömender Schüler, die aus irgendeinem Grund scharf darauf sind, möglichst früh in die Klassenräume zu kommen, aufbekommt. Von innen zu ziehen ist noch schwerer, ein Grund warum meistens mindestens ein Eingang offen steht. Heute nicht.

Die Fenster sind zwar nicht vergittert, aber so verdreckt, dass man durchaus auf die Idee kommen könnte, sie seien es. Aber statt einen Fensterputzer zu rufen, bezahlt die Schule lieber die Stromrechnung für haufenweise Lampen, die den Raum beleuchten. Draußen könnte die Welt untergehen und wir würden es nicht einmal mitbekommen. Das Verhalten von Schülern und Lehrern legt allerdings mitunter nahe, dass die Zombie-Apokalypse bereits begonnen hat.

 

Jetzt stehe ich vor meinem Klassenraum und versuche, meinen letzten Atemzug genießen, ehe ich klopfe. Die Schule scheint uns die Luft zu nehmen, oder bin nur ich es? Kaum die Türklinke in der Hand stockt mein Atem, der altbekannte Kloß in meinem Hals setzt sich fest. Herr Hocker reißt mir mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit den Kopf ab.

Und richtig – beim Öffnen der Tür dreht sich die ganze Klasse zu mir um und der dicke Mann neben der Tafel schnappt hörbar nach Luft. Sein Gesicht wird noch roter als es ohnehin schon ist, während er mich mit seiner fast schon piepsigen Stimme zurechtweist.

„... ernsthafte Konsequenzen, wenn du so weitermachst und...“

Ich setze mich. Sehe zu wie der Gnom da vorne seinen Unterricht fortsetzt und schwelge in Gedanken über dem Sinn des Lebens oder auch den des Deutschunterrichts. Ich lese eigentlich gerne. Aber die vorgefertigten Meinungen der Lehrer bei einer Interpretation zu treffen ist geradezu unmöglich und die tadelnden Blicke bleiben nicht aus, versucht man sich an eigenen, offenen Gedanken. Ich habe es längst aufgegeben.

Das Zucken in seinem rechten Arm gerade bedeutet, dass er in wenigen Sekunden einen Schüler an die Tafel holen und vor der ganzen Klasse demütigen wird. Wie sonst soll man es nennen, wenn Herr Hocker systematisch nach den Schwächen des Ärmsten bohrt und diese zielsicher mit einer Frage bloßzustellen weiß?

Sein Blick schweift in meine Richtung und meine schlimmsten Befürchtungen scheinen sich zu bewahrheiten. Tatsächlich. Alles Blick-Ausweichen ist umsonst. Ich muss nach vorne an die Tafel um die 3. Szene des 3. Aufzuges des Wilhelm Tell in den Gesamtzusammenhang einzuordnen. Warum auch nicht, ich habe ihn ja schließlich schon geärgert, heute.

  1. Aufzug, 3. Szene. Ich weiß nicht einmal mehr, was da passiert. Bestimmt hat er die Szene gerade erst aufschlagen und lesen lassen, bevor ich kam.

Im Vorbeigehen schiele ich auf das Buch des Lehrers. Ein Bild darin zeigt den Tell mit einer Armbrust. Jetzt ist mir klar um welche Szene es sich handelt. Ich habe das Buch schon ein paar Mal durch.

Was mich hier aber auch nicht weiter bringt. Und deshalb versuche ich erst einmal, Zeit zu schinden. Ewig kann die Stunde doch nicht mehr dauern, oder?

Ein Blick auf die Uhr lässt meine Hoffnungen zerfallen.

Wäre auch zu schön gewesen.

„Was genau wollen Sie von mir wissen?“

Er sieht mich nur an und lächelt auf eine fast süffisante Weise. Erinnert mich an den Vogt von Wilhelm Tell. Der würde sicher auch einen Hut von sich aufstellen und die Schüler zwingen, sich davor zu verbeugen, wenn er könnte.

„Du sollst die Szene in den Gesamtzusammenhang einordnen und ihren Einfluss auf den Verlauf des Dramas erklären.“

„Äh, ja.“, sage ich gedehnt. Schnell denken. Aber mein Kopf ist leer.

„Der Tell muss seinem Jungen dem Apfel vom Kopf schießen, in der Szene.“, sage ich. Vielleicht reicht es ihm, zu wissen, dass ich den Inhalt der Szene kenne. „Weil er sich nicht vor dem Hut verbeugt hat.“ Ich habe noch nicht zu Ende gesprochen, da sehe ich ihm schon an, dass es nicht reichen wird.

„Warum hat Tell sich nicht vor dem Hut verbeugt?“

„Ich weiß nicht…“, beginne ich und hoffe, dass er mich auf meinen Platz entlässt.

„Komm schon, Lukas.“, sagt er aber. „Du wirst doch sicher eine Begründung haben.“

Die habe ich, aber sie würde ihm nicht gefallen. Meiner Meinung nach ist dieser Tell ein aufgeblasener Typ, dem sein Stolz wichtiger ist als sein Leben – und wichtiger als der Kampf um die Freiheit. Dem Widerstand will er sich nicht anschließen, aber vor einem Hut verbeugen, das geht ihm dann doch zu weit. Ernsthaft? Wenn er schon sein Leben riskieren muss, dann sollte er das doch lieber im Kampf tun, finde ich. Stattdessen bringt er sich durch so eine Dummheit in Gefahr.

Das kann ich Herrn Hocker aber nicht sagen. Ich will nicht wieder diesen enttäuschten Blick kassieren.

Deshalb suche ich in seinen Augen nach einem Hinweis auf die Antwort, die er sich erhofft.

Warum? Das ist keine Frage, das ist ein Todesurteil. Ich hab das Stück nicht geschrieben. Herr Hocker übrigens auch nicht. Und ich glaube nicht, dass Schiller in seinem Testament hinterlassen hat, wie der Tell sich fühlt und warum er was tut.

Herr Hocker sieht mich an wie der kleine Junge aus der Werbung. Warum? Warum? Warum? Ich stelle mir vor, wie er gefesselt und mit einem Apfel auf dem Kopf vor der Tafel steht, eine Zielscheibe aufs Gesicht gemalt. Ich würde den Apfel verfehlen.

„Weil…der Hut… ein Zeichen der Unterdrückung ist…?“, frage ich mehr als dass ich es sage. „Gegen die Tell ja später noch kämpfen wird. So. Irgendwie.“ Aus den hinteren Reihen höre ich ein Kichern.

Der Gnom sieht mich scharf an. „Bisher hat der Tell es aber abgelehnt, sich gegen den Vogt zu organisieren. Warum ignoriert er dann jetzt dessen Regeln?“

Schon wieder warum. Und ich kann immer noch nicht auf meinen Platz.

„Ich denke, er wusste nicht, dass es auffallen würde. Oder dass es solche Konsequenzen haben würde.“ Oh, das hat er sehr wohl gewusst. Er hat es billigend in Kauf genommen. Aber das, wiederum, will Herr Hocker nicht hören.

„Was glaubst du, ändert das etwas an seiner Meinung?“

Noch eine Frage. Ich werde wahnsinnig. Innerlich spanne ich den Bogen und richte die Spitze des Pfeils auf Herrn Hockers Stirn.

„Dass er nicht dem Widerstand beitreten will?“

Er nickt.

„Naja, erstmal ist er jetzt ja verhaftet. Und mit seiner Abneigung gegen den Vogt hat er ja nicht gerade hinterm Berg gehalten.“ Der Idiot. „Also wird er die Sache schon noch einmal überdenken.“

Der Gnom zieht die Augenbrauen hoch und entlässt mich auf meinen Platz.

Arschloch, denke ich und lasse meinen imaginären Pfeil los.

 

In der Pause stehe ich wie immer abseits vom Geschehen. Es stört mich nicht. Ich weiß nicht, was ich mit diesen ganzen Leuten anfangen soll, die in kleinen Grüppchen stehen und jeden, der nicht dazugehört, misstrauisch ansehen.

Es ist lange her, dass ich versucht habe, irgendwo dazuzugehören. Es hat nie besonders gut funktioniert. Irgendwas hat immer nicht gepasst. Die haben eine strenge Schablone für ihre Grüppchen. Die Klamotten, die Schulnoten, das Einkommen der Eltern, die Interessen, alles muss stimmen. Manchmal hat es fast gepasst. Aber im Punkt Interessen konnte ich denen nie etwas vormachen. Und daran ist es meistens gescheitert. Zu schlecht für die Streber, zu brav für die Coolen, zu unauffällig für die Außenseiter. Wahrscheinlich hätte ich es nie versuchen sollen. So wurde es mit jeder Ablehnung schlimmer. Die Blicke. Die Kommentare. Nirgendwo dazuzugehören ist eine Schwäche und an jeder Schule gibt es solche, die Schwächen geradezu riechen. Die grinsend auf dich zukommen und dich beleidigen, einfach so. Dir ein Bein stellen, wenn du weglaufen willst. Dir mehr oder weniger auffällig in die Rippen treten, wenn du wieder aufstehst. Dir Wasser über die Hosen kippen, bevor du ein Referat hast. Deine Sachen verstecken oder einfach nur wegnehmen. Nie so viel und nie so krass, dass du das Gefühl hast, dir Hilfe holen zu müssen. Aber genug, dass die Schule zur Hölle wird.

Auf der neuen Schule war ich klüger und habe gar nicht erst versucht, irgendwo dazuzugehören. Ich war stark genug, jeden Versuch von Mobbing durch bloße Ignoranz im Keim zu ersticken. Wenn sie dich nicht spürbar treffen können, hören sie irgendwann auf. Hätte mir das mal jemand früher gesagt.

Heute, glaube ich, haben die anderen einen merkwürdigen Respekt vor mir. Sie mögen mich nicht, da mache ich mir nichts vor. Aber sie lassen mich in Frieden. Vielleicht haben sie auch gehört, was auf der alten Schule passiert ist. Vielleicht hat Herr Hocker ihnen davon erzählt, am Tag bevor ich hierher kam. Ich möchte lieber nicht darüber nachdenken. Es hängt heute noch wie eine dunkle Wolke über mir, aber ich gebe mein Bestes, es zu ignorieren.

Ich glaube, ich möchte auch gar nicht mehr dazugehören. Das ist so eine andere Sache, die man schnell lernt, wenn man außen vor ist. Wie falsch die Menschen eigentlich sind. Da, die Gruppe von Mädchen, Lisa und ihre dummen Hühner. Sie begrüßen sich mit ausladenden Umarmungen und versichern einander immer wieder, welch gute Freundinnen sie doch sind. Sobald aber eine von ihnen nicht dabei ist, fängt die Lästerei an. Über jede von ihnen, egal welche. Unfassbar, dass sie das nicht wissen oder es ignorieren – beides zeugt von grenzenloser Dummheit.

Und so ist es in vielen Grüppchen. Mir wird schlecht, wenn ich ihr aufgesetztes Lächeln sehe, die Komplimente höre, die sie einander machen und dabei eigentlich sich selbst meinen. Ich könnte das nicht, keinen Tag lang. Die Jungs sind nicht besser, nur bei ihnen ist es genau umgekehrt: In der Schule mögen sie dich den ganzen Tag fertig machen, wenn sie dir auf dem Heimweg begegnen sind sie auf einmal lammfromm. „Ach sorry.“, sagen sie. „Ich weiß ja, dass das nicht so cool ist, wie die anderen mit dir umgehen, in der Schule. Aber weißt du, ich kann da ja auch nichts machen. Ich will nicht der nächste sein. Eigentlich bist du echt ganz okay, aber naja. Du verstehst schon.“ Zum Kotzen.

Am Rande meines Gesichtsfeldes sehe ich Hannes auf mich zukommen. Ich habe eigentlich keine Lust auf Gequatsche, aber sein Tempo und der nervöse Blick über die Schulter suggerieren, dass er nicht um quatschen kommt. Patrick ist hinter ihm her.

Er lässt sich neben mich auf die Bank fallen und atmet schwer.

„Hey.“, würgt er hervor. Ich nicke ihm zu.

Patrick überrascht uns von hinten.

„Heyyy.“, sagt er und schlägt jedem von uns kräftig auf den Rücken. Dann geht er an der Bank vorbei, sodass er vor uns steht. Die Arme in die Hüften gestemmt, mustert er Hannes.

„Du, ich hab meine Mathe-Hausaufgaben zuhause vergessen.“, sagt er in einem nicht sehr freundlichen Tonfall. „So ein Mist.“ Seine Stimme ist übertrieben theatralisch.

Ich weiß nicht, warum er uns etwas vorspielt. Er könnte auch gleich zur Sache kommen.

„Ich will nicht wieder Ärger mit Herrn Hocker haben. Warum gibst du mir nicht dein Heft, Hannes, dann kann ich es schnell noch abschreiben?“, sagt er und der letzte Satz ist keine Frage. Ich verdrehe innerlich die Augen.

Der eingeschüchterte Hannes setzt seinen Rucksack ab. Bevor er anfangen kann, darin herumzuwühlen, lege ich meine Hand auf seinen Arm.

„Tut mir Leid, Patrick.“, sage ich. „Ich wollte meine Lösungen mit Hannes vergleichen, da habe ich mir sein Heft geliehen. Ich hab es im Klassenzimmer liegen lassen.“

Hannes will etwas sagen, aber ich drücke seinen Arm. Er klappt den Mund wieder zu.

„Ja.“, sagt er dann. „Genau.“ Er ist kein guter Lügner.

Patrick dreht sich nach seinen Gorillas um. Jonas ist gerade dabei, Lisas Rock, kürzer als alles, was ich für gewöhnlich als solchen bezeichnen würde, zu begutachten. Justin kriegt bestimmt gleich eine von Nicole geklatscht, seinem gierigen Blick auf ihren Hintern und der Stellung seiner Hand nach zu urteilen. Von denen kann Patrick keine Hilfe erwarten.

„Na gut.“, sagt er zögernd. „Schade.“ Es klingt wie eine Drohung.

Hannes atmet auf, als er weg ist. Ich nehme meine Hand von seinem Arm.

„Danke.“, sagt er. Ich zucke mit den Schultern.

„Du solltest dich nicht herumschubsen lassen.“, sage ich, obwohl ich weiß, dass es einfach gesagt ist, als getan. „Es wird nicht besser, weißt du?“

Er nickt langsam. „Die sind halt so.“, sagt er. „Die meinen das nicht böse.“

Er hat immer noch nicht die Hoffnung aufgegeben, Teil der Gruppe um Patrick zu werden, vermute ich. Patrick ist der beliebteste Typ der Schule. Und da soll noch mal jemand sagen, mein Misstrauen in die Intelligenz der Schüler sei unbegründet.

„Vielleicht.“, sage ich, stehe auf und verschwinde, bevor er noch etwas sagen kann.

 

 Den Rest des Vormittags habe ich Glück und werde von Lehrern wie von Schülern in Frieden gelassen.  Vielleicht haben die Lehrer langsam kapiert, dass bei mir nichts zu holen ist, zumindest keine richtige Antwort. Julius, mein hyperintelligenter Banknachbar macht das aber wieder wett. Wenn er auch nur ein Viertel seines Wissens und Ehrgeizes auf mich übertragen würde, wäre es ein leichtes für mich, das Schuljahr zu schaffen.

Zwölf Wochen stehen noch auf dem Programm, ehe wir in die Ferien entlassen werden – und ich zähle jede Einzelne, aber schon seit dem Halbjahreszeugnis schieben meine Eltern und die Lehrer gleichermaßen Panik über meine Noten. Ich war nie gut, aber früher habe ich mich zugegebenermaßen noch mehr angestrengt, dieses dürftige Abbild unseres angeblichen Wissens zu polieren. Die Klassenarbeiten habe ich ganz gut bestritten und damit von meiner schwer verträglichen Art im Unterricht ablenken können, aber je weiter die Zeit voranschreitet, desto weniger Sinn sehe ich in diesem Unterfangen. Vielleicht liegt es tatsächlich an den Hormonen oder an jugendlichem Trotz. Für mich ist die Müdigkeit ausschlaggebend, die mich in der Schule überkommt. Das Leben ist nur noch Schwarz und Weiß hier drinnen und ich weiß, das ist die letzte Stufe, bevor man zum Zombie mutiert. Ich will kein Zombie sein. Was also kann ich tun, als mich zu verschließen vor dem Gift, das durch die Klassenzimmer strömt und das wir alle einatmen – mit jedem Satz, den wir von der Tafel abschreiben, jedem Wort, das wir auswendig lernen, um dem Lehrer zu gefallen? Ich möchte lieber lebendig sein, als zu dem Einheitsbrei zu verkommen, zu dem man uns hier macht, aber das erfordert meinen Trotz, meinen Widerwillen. Ich darf mich der Müdigkeit nicht hingeben, denn wenn ich es einmal tue, werde ich nie wieder erwachen.

 

Ich glaube, es gibt Momente, da muss man aufgeben, wenn man nicht noch alles schlimmer machen will. Meistens kapiert man nicht, wann diese Momente sind. Oder was es ist, das man aufgeben muss. Ich habe mich später oft gefragt, ob ich jemals einen solchen Moment hatte, an dem eine richtige Entscheidung mich gerettet hätte. Am Ende wohl nicht mehr, da war ich schon zu gefangen von meinen Ängsten und Dämonen, als dass ich noch auf die Stimme der Vernunft hätte hören können. Aber an diesem Tag vielleicht? An jedem anderen zuvor? Was wäre passiert, wenn ich mich einfach hingegeben hätte, denke ich, zum Zombie geworden wäre? Was, wenn dieser Kampf, dieses nutzlose Pochen auf Selbstbestimmung schon mein Untergang war?

 

Es ist ja nicht so, dass ich nichts weiß. Meine Gedanken sind wach und schnell, aber sie passen einfach nicht zum Stoff, der unterrichtet wird.

Aber das interessiert hier niemanden. Zumindest keinen Lehrer. Und wenn ich dann doch mal etwas dem Lehrplan entsprechendes sagen könnte, bin ich oft zu bequem um mich zu melden. Ich hab es ein paar Mal versucht und dabei so missbilligende Blicke eingefahren, dass ich beschlossen habe, es nie wieder zu probieren. Ich bin halt kein guter Schüler. Aber das muss ich ja auch nicht sein.

Ich mag es nicht, wie die Lehrer mich ansehen. „Schon wieder keine Hausaufgabe.“, sagen ihre Augen oder „Was soll aus dir nur werden?“ und wenn ich dann doch mal etwas richtig gemacht habe ernte ich hochgezogene Augenbrauen, als wollten sie mich fragen, von wem ich das denn bitte geklaut hätte.

 

Ein Blick aus dem Fenster verrät mir, dass der so trüb begonnene Tag doch noch schön werden könnte. Die dunklen Wolken, die mich heute Morgen noch mit Regen beehrt haben, verziehen sich langsam und weichen einem wunderschönem blauen Himmel. Die Sonne reflektiert an den kalkweißen Wänden des Klassenraums und verfängt sich an der Tafel und auf unseren Heften. Es sieht aus, wie Licht, dass sich in einem Kristall verfangen hat und ein Blick an die Fensterscheibe verrät mir auch warum. Die Sonne scheint durch hunderte von Tröpfchen, die der Regen darauf hinterlassen hat.

Tatsächlich mag ich sogar Regen, aber nur richtig heftigen, der in großen Tropfen auf die Erde platscht und dabei eine Weltuntergangsstimmung inszeniert, die wunderbar zu meinen Gefühlen passt. Mir gefällt der Gedanken an das Ende irgendwie, an eine endgültige Apokalypse, die alles Leben von der Erde löscht und Platz für Neues schafft. Ich will ja nicht negativ sein, aber ich finde die Richtung, in die sich die Menschheit entwickelt, bedenklich. Vielleicht wäre eine etwas weniger intelligente, aber dafür bodenständigere Spezies fruchtbarer für die Entwicklung der Erde gewesen? Nun, die Evolution wird es in einem der nächsten Versuche schon zeigen. Wenn wir so weiter machen, kann es ja, gemessen am Alter der Erde, nicht mehr lange dauern, bis der nächste dieser Versuche startet.

 

Als ich nach Hause komme, steht die Tür im Flur offen. Das fällt mir sofort auf, denn meine Mutter schließt sie immer. Wirklich immer. Ich glaube, sie denkt, wenn sie sie offen lässt, weht der Wind sie zu und sie hasst laute Geräusche. Wenn man einen Streit mit ihr möglichst dramatisch beenden möchte, braucht man nur eine Tür zu knallen. Aber dann darf man sich auch nicht wundern, wenn sie die nächsten zwei Wochen nicht mit einem spricht. Geschweige denn, dass man etwas zu Essen bekommt.

Das Zweite, was mir auffällt ist, dass sie ihre Schuhe auf dem Boden liegen gelassen hat. Das tut sie noch seltener als die Tür offen zu lassen.

Schuhe gehören in den Schuhschrank, sagt sie immer. Heute liegen sie da.

Leise hebe ich sie auf und verfrachte sie an ihren Platz. Vielleicht hatte sie es ja nur eilig. Aber das ungute Gefühl lässt sich nicht mehr verscheuchen.

Als ich sie in der Küche finde, habe ich den endgültigen Beweis, dass absolut nichts in Ordnung mit ihr ist.

Sie sitzt auf dem Stuhl und hat ein Bein angewinkelt, sodass das Schienbein an den Tisch stößt. Ihre Arme hat sie um das Knie geschlungen. Es sieht aus, als würde ihr ganzer Körper zittern.

Den Kopf hat sie auf ihre Arme gelegt, das Gesicht von mir weg gedreht. Sie gibt ein leises Wimmern von sich. Ich glaube, sie weint.

Zögernd gehe ich einen Schritt näher. Ihr Kopf hebt sich ruckartig und sieht in meine Richtung. Ihre Augen sind rot und verquollen, ihre Lippen versucht sie zu einem Lächeln zu zwingen, aber es misslingt und wird zu einer grotesken Maske. Sie wendet sich wieder ab. Ich bleibe erstarrt stehen.

Was läuft hier? Warum weint sie?

Ich versuche krampfhaft, einen Grund für ihr Verhalten zu finden. Hab´ ich irgendetwas getan? Hat jemand von der Schule angerufen? Ist etwas mit Dad?

Ich hasse es, nicht zu wissen, was eigentlich los ist. Ich fühle mich dann so hilflos.

Unschlüssig stehe ich da. Ich will sie in den Arm nehmen, aber ich glaube nicht, dass ich den Anblick ihres verweinten Gesichts ertragen kann. Meine Hilflosigkeit mischt sich mit Ärger, dann mit Wut.

Warum macht sie so etwas? Warum weint sie und wirft ihre Schuhe einfach so in den Flur, ohne mir eine Erklärung dafür zu liefern? Aber mir ist klar, ich bin nicht wirklich böse auf sie. Ich bin wütend auf den Grund, dass sie weint, dass sie mir so fremd ist.

Die Frau, die da zuckend und zitternd am Küchentisch sitzt sieht so wenig nach meiner Mutter aus, der glücklichen Frau von den Fotos, die sie mir manchmal zeigt. Fotos auf denen sie und Dad ein Baby in die Luft heben und übers ganze Gesicht grinsen.

 

Sie hat mir gesagt, dass ich das Baby sei, aber ich hab´ das Datum auf dem Foto gesehen. Es ist zwei Jahre vor meiner Geburt entstanden.

Ich hab´ mir früher oft ausgemalt, was aus dem Kind auf dem Foto geworden ist. Ich weiß nicht mal, ob es ein Junge oder ein Mädchen war.

Meine Schwester. Oder Mein Bruder. Wenn es jemand anderes sein sollte, ein Kind von Freunden oder Verwandten, warum sollte meine Mutter mir dann erzählen, dass ich es sei?

Vielleicht weil sie es selbst nicht mehr weiß.

Da gefällt mir die Theorie von der verschollenen Schwester aber besser.

Die Frau auf dem Foto ist lebenslustig. Eine Mutter, die ihr Kind über alles liebt.

Vielleicht ist sie auch nicht wirklich meine Mutter, denke ich. Vielleicht wurden bei meiner Geburt nicht die Kinder vertauscht, sondern die Mütter. Und jetzt sitzt sie in einem Haus, das nicht ihr gehört und lebt ein Leben, das nicht ihr gehört und das schlechte Gewissen darüber bringt sie zum Weinen.

Ich sollte aufhören, eine solch rege Fantasie zu haben.

 

Eigentlich mache ich mir nur Gedanken über diesen dämlichen Kram, weil ich nicht daran denken will, dass ich jetzt langsam etwas tun sollte. Ich weiß, was von mir erwartet wird. Ich bin leider nicht sehr gut darin, die Erwartungen anderer Menschen zu erfüllen. Aber bei meiner Mutter kann ich mich mal an einer Ausnahme versuchen.

Ich bewege mich in Zeitlupe nach vorne und lege der Frau einen Arm über die Schulter. Knie mich hin, sodass ich mit ihr auf Augenhöhe bin.

Das Wort „Mama“ kommt mir nicht über die Lippen.

„Regina.“, sage ich stattdessen. „Was ist denn los?“

Bitte, dreh dich nicht um, denke ich und absurderweise befürchte ich einen Moment lang, das Gesicht, das ich dann erblicken würde, sei tatsächlich nicht das meiner Mutter. Aber auch das ist natürlich Quatsch.

Sie sieht mich überrascht an. Vielleicht weil ich ihren Namen benutzt habe und nicht die übliche Anrede. Vielleicht, weil ich sie überhaupt angesprochen habe. Vielleicht guckt sie auch gar nicht überrascht und das sieht nur wegen den roten Augen so aus.

„Schon okay.“, sagt sie, aber ihre Stimme ist so brüchig, dass ich es kaum verstehe. Sie tätschelt mir den Rücken und steht auf, aber dann überkommt sie ein neuer Schauer und sie sinkt schluchzend auf den Stuhl zurück. Lässt sich von mir in den Arm nehmen und über die Schulter streichen, wie man ein kleines Kind tröstet, das weint.

Sie kommt mir wirklich vor wie ein kleines Kind. Das schniefende Etwas an meiner Schulter beruhigt sich langsam, aber ich traue dem Frieden nicht. Erst nachdem sie überhaupt nicht mehr schluchzt, stehe ich vorsichtig auf und hole ihr ein Taschentuch.

Mein T-Shirt ist an der Schulter völlig nass. Ich hoffe, dass es nur Tränen sind und reiche ihr ein Stück Küchenrolle. Sie putzt sich die Nase und lässt mich endlich los. Eine Weile bleibe ich noch stehen, meine Schulter unter dem nassen T-Shirt langsam kalt werdend. Dann, als ich mich vergewissert habe, dass sie nicht sofort wieder anfängt, kann ich endlich gehen.

 

*

 

Damals hat es schon angefangen, nicht wahr? Das war der Tag, an dem alles anfing.

Ich schüttle den Kopf.

„Es hat schon früher angefangen.“, sage ich leise.

Nein, nein, das hat es nicht. SIE hat dich dazu ge...

„Halt die Klappe!“

Er lacht leise. Dann umstreift er mich wie ein Tier seine Beute. Er ist verschwommen, mehr Silhouette als Mensch, aber mir kommt er deutlicher und wirklicher vor, als so manche reale Person um mich herum. Vielleicht, weil die ganze Welt mit unwirklich erscheint, seit ich hier bin. Was sagen sie in „Inception“ über Träume? „Frag dich, wie du hierhergekommen bist. Wenn du dich nicht genau erinnern kannst, befindest du dich wahrscheinlich in einem Traum.“ Ich warte deshalb geduldig darauf, aufzuwachen. Es erscheint nur von Tag zu Tag weniger wahrscheinlich.

Voice sagt jetzt nichts mehr, aber ich weiß, dass er sich nur Worte zurechtlegt. Er gewinnt immer. Inzwischen bin ich es leid, mich dagegen zu wehren, aber Dr. Martin sagt, es ist wichtig, dass ich es trotzdem tue.

Dr. Martin sagt viel. Meistens sieht er mich aber nur an, mit diesem Blick, der sagen will, dass ich noch einen weiten Weg vor mir habe. Ich kenne diesen Blick zu gut. Sollte das hier ein Traum sein, so wird er mir aus purem Sadismus am Leben erhalten.

Du hast einen verdammt weiten Weg vor dir, lacht Voice, als habe er meine Gedanken gelesen. Hat er ja auch. Er ist Teil von meinen Gedanken oder nicht?

Und doch hat es keinen Sinn, gegen mich zu kämpfen.

Ich schüttle wieder den Kopf. Er will mich nur austricksen. Für ihn ist das alles nur ein Spiel.

Dann schweigt er und das macht mich noch rasender. Wenn er einfach nur da sitzt und mich ansieht und schweigt.

„Sag etwas.“, fordere ich ihn irgendwann auf. „Sag etwas. Mach mich fertig, oder meine Familie oder erklär mir, warum das alles so passiert ist, wie es passiert ist. Lass mich nur nicht in dieser Stille allein.“

Er schweigt noch immer.

„Oh ja, das ist ein Spiel für dich, nicht wahr? Du machst dich lustig über meine Angst. Du wartest auf den rechten Moment, um zuzuschlagen!“

Links von mir erhasche ich eine Bewegung. Wirble herum und stoße dabei meinen Zahnputzbecher vom Waschbecken, sodass er laut klappernd auf dem Boden fällt. Er zerbricht nicht – natürlich nicht, denn die Scherben könnten mir ja gefährlich werden.

Ich lache plötzlich laut auf.

Die Scherben könnten mir gefährlich werden.

Alles hier drin ist eine Gefahr für mich. Am meisten die Stimme in meinem Innern.

Er macht mich wahnsinnig. Ich fahre herum, die Augen weit vor Angst, obwohl ich weiß, dass ich alleine bin.

„Voice?“, frage ich leise nach meinem unerwünschten Gefährten. Er ist verschwunden, nur die Schatten hat er zurück gelassen. Er ist schlimm, aber ihn kenne ich. Wie viel schlimmer ist die Angst vor etwas, das man nicht kennt?

Die Stille ist unheimlich.

Ich erkenne Gestalten in den dunkler werdenden Schatten um mich herum und drehe mich im Kreis, auf der Suche nach einem Punkt, den ich anvisieren kann. Noch so ein toller Rat von Dr. Martin.

Da ist kein Punkt.

„Voice?“, flüstere ich noch einmal, so leise, dass es die Dunkelheit fast verschluckt. Ich will mit den Schatten nicht alleine sein. Selbst mein Erzfeind scheint eine willkommene Gesellschaft gegen die Angst davor zu sein.

Ich bin hier.

Ich zucke zusammen, so unvermutet kommt seine Anrede. Erleichtert atme ich auf und auch die Schatten weichen.

Lukas?

Er weiß, dass ich erschöpft bin von der Angst der letzten Minuten. Ich versuche mich, auf seinen Angriff vorzubereiten.

„Ja?“

Ich würde dich mit den Schatten nicht alleine lassen.

Überrascht schrecke ich auf und stelle fest, dass ich auf dem Bett sitze. Warte auf eine Erklärung, vielleicht etwas in die Richtung „war nur Spaß“, aber er schweigt. Ich lege mich zurück auf die harte Matratze.

Vielleicht werden wir ja doch noch Freunde.

 

*

 

Meine Mutter sagt den Rest des Tages nichts mehr. Sie nickt mir zu, als ich aus meinem Zimmer komme und aus der Haustür verschwinde, um in die Stadt zu fahren und schläft schon, als ich nach Hause komme. Irgendwie macht mir das noch mehr Angst, als wenn sie noch mal geweint hätte. Ich mag es nicht, wenn sie durch die Wohnung geht wie ein Geist, wenn sie mich nicht sieht und auf Fragen oder Ansagen nur mit einem unbestimmbaren Laut antwortet. Deswegen flüchte ich meistens.

So wie heute. Die Stadt ist belebt, überall laufen Menschen herum, rempeln mich an oder würdigen mich keines Blickes, manchmal hupt ein Auto, wenn ich bei Rot über die Ampel gehe und dadurch seine Weiterfahrt behindere.

Ich mag Städte. Sie sind immer so voller Leben und nachts, wenn ein Großteil der Menschen zu Hause oder in Bars ist und die Straßen menschenleer, liegt eine Ruhe über dem ganzen, die atemberaubend ist. Vor allem im Sommer.

Ich begegne heute niemandem, den ich kenne. Das freut mich, denn ich kann es nicht leiden, nett zu Menschen sein zu müssen, die sich selbst zu meinen Freunden auserkoren haben und meinen, dass ich sie unglaublich gern haben müsste. Hab ich nicht. Ich hab meine Mutter gern und manchmal meinen Dad und ganz selten auch mich selbst, wenn ich mal wieder einen genialen Einfall gehabt habe und ein Lächeln in das Gesicht meiner Mutter gezaubert. Ich liebe ihr Lächeln. Sie zeigt es nur viel zu selten.

Meine Schuhe schlappen auf den Asphalt. Sie sind an allen Ecken und Enden kaputt, wenn es regnet dauert es keine zehn Sekunden bis das Wasser völlig durchgedrungen ist und die Sohlen sind so dünn, dass ich jeden Stein spüre, über den ich laufe, aber ich weigere mich, mir Neue kaufen zu lassen. Wozu brauche ich neue Schuhe, wenn ich in den alten noch laufen kann?

Einen Moment lang bleibe ich stehen und nehme das Bild in mir auf. Eine Frau, die ihre Tasche über die Schulter geworfen hat und in einem kurzen, beigen Rock und wahnsinnig hohen roten Schuhen vor mir herstöckelt, als würde sie für die nächste Modenschau üben. Ein alter Mann, der sich auf seinen Stock stützt und sich von einem kleinen Dackel nach vorne ziehen lässt. Bei jedem Schritt knickt er mit dem rechten Bein ein wenig nach innen und es zittert.

Ein Bettler, der auf dem Boden sitzt mit einem Schild, dessen Aufschrift ich nicht erkennen kann und die vorbeigehenden Passanten mit mitleidserweckenden Blicken ansieht.

Links und rechts die Fassaden der Häuser, hauptsächlich Kleidergeschäfte, eine Konditorei, deren Scheiben mal wieder geputzt werden müssten und davor eine knochige junge Frau, die deren Auslagen intensiv betrachtet. Über allem die Sonne, die inzwischen rötlich wird und die Straße in ein seltsames Licht taucht, das zugleich wunderschön ist. War ich so lange unterwegs? Ich sehe mich um und stelle fest, dass ich in einem ganz anderen Teil der Stadt bin. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es langsam Zeit wird, nach Hause zu gehen.

Der Weg zur U-Bahn nimmt viel Zeit in Anspruch, aber ich laufe auch extra ein paar Stationen weiter, um noch nicht so bald anzukommen. Jeder Schritt hallt an den Hauswänden wieder, denn die Straßen, durch die ich gehe, sind schmal und nur wenige Leute kommen mir entgegen. Manchmal sehe ich einen Schatten neben oder hinter mir und schrecke zusammen.

 

Ich bin ohnehin ein schreckhafter Mensch. Als ich noch klein war, konnte ich nachts oft nicht schlafen, weil ich ständig Geräusche hörte und Bewegungen zu spüren glaubte. Meistens rief ich nach meinem Dad, der kam dann in das Zimmer und hat das Licht angemacht, sodass ich sehen konnte, dass sich in der Dunkelheit nichts verbirgt. So hat er es zumindest am Anfang gemacht. Später hat er immer nur geschimpft und mich alleine mit meinen Geistern gelassen. Irgendwann bin ich dann auf die geniale Idee gekommen, den Rollladen oben zu lassen, sodass genug Licht in mein Zimmer scheint. Dummerweise wurden die Schatten dadurch noch deutlicher. Wohler fühlte ich mich trotzdem ein wenig.

Mit dem Fuß bleibe ich an irgendetwas hängen, sodass ich der Länge nach hinfalle. Mit aufgeschürften Handflächen drücke ich mich nach oben und drehe mich um, um meinen Fuß zu befreien. Er hing in einer silbernen, jetzt zerrissenen, Kette fest, die wiederum in einem Gulli verfangen ist. Ich löse sie vorsichtig und ziehe sie heraus.

Ein kleiner, grüner Stein hängt in einen silbernen Anhänger eingefasst daran. Er ist schön, sieht aber nicht besonders teuer aus. Ich nehme ihn trotzdem mit.

 

Ich versuche, leise zu sein, als ich nach Hause komme, niemand soll meine Anwesenheit bemerken. Das habe ich früher schon oft getan. Versucht, zu verschwinden. Ich habe nichts gesagt und keinen Lärm gemacht, meine Schuhe vorsichtig ausgezogen und in den Schrank gelegt, dann bin ich lautlos in mein Zimmer getappt, Schritt für Schritt. Ich fand es immer lustig, wenn niemand wusste, dass ich da war. Es fühlte sich nach etwas Heimlichen an. Etwas Verbotenen.

Menschen sind anders, wenn sie sich unbeobachtet fühlen. Meine Mutter sang manchmal, wenn sie glaubte, allein zu Hause zu sein. Mein Vater murmelte vor sich hin und beleidigte Gegenstände, wenn etwas nicht so klappte, wie er sich das vorgestellt hatte.

Nicht, dass ich sie absichtlich belauscht oder belauert hätte. Ich mochte nur einfach dieses Gefühl von Nicht-Vorhandensein, die Ruhe die es mit sich bringt. Niemand nimmt einen wahr. Niemand erwartet etwas. Man kann einfach sein, ohne dabei für irgendwen sonst zu existieren.

 

Nur einmal habe ich bereut, so unsichtbar zu sein. Es schien alles wie immer, meine Mutter stand in der Küche und kochte, mein Vater war mal wieder auf einer seiner Betriebsreisen. Ich verschwand in meinem Zimmer, das am anderen Ende des Flurs liegt und legte mich auf mein Bett.

Ich starrte eine Weile an die Decke. Das tue ich gerne. Die meisten Decken sind uneben, manchmal löchrig (und man fragt sich – wie kommen die Löcher da rein?), jedenfalls hat man immer was zum gucken. Nicht spannend. Aber ich will ja beim Nachdenken auch keinen Film sehen.

Hin und wieder hörte ich Geschirr klappern, die Dunstabzugshaube oder das Zischen der Pfanne, wenn sie etwas anbriet.

Dann war es eine Weile still.

Ich bemerkte die Stille zunächst nicht. Stille ist eine merkwürdige Sache. So ähnlich wie das Nichts.

Beides ist die Abwesenheit von etwas Greifbarem. Du kannst es nicht sehen, nicht fühlen, nicht schmecken. Und doch kann man es irgendwie erkennen, oft ohne sofort zu wissen, worum es sich dabei handelt.

Stille kann man regelrecht hören. Nichts kann man manchmal mit der Hand greifen und – auch wenn man nichts fühlt – spüren. Schweigen kann lauter Schreien als jeder Schrei.

So war das mit der Stille damals. Sie schrie. Eine ganze Weile schon, aber ich hatte sie überhört.

Meine Mutter schrie, obwohl sie keinen Finger rührte und kein Laut aus ihrem Mund kam. Sie schrie gerade weil dem so war.

Ich wollte eigentlich gar nicht aufstehen, aber es war ohnehin Zeit, mich bemerkbar zu machen.

Das tat ich immer so. Ich blieb eine Weile für mich, aber wenn es Zeit wurde – und das war meist so eine halbe Stunde nach meinem Eintreffen der Fall – stand ich auf und ging zu den anderen und begrüßte sie – meist nur meine Mutter. Ich drückte ihr einen Kuss auf die Wange, oder sagte „Hi.“, manchmal holte ich mir auch nur ein Glas Wasser und nickte ihr zu.

Ich ging also in die Küche.

Meine Zimmertür war offen, ich wollte nicht lange bleiben, nur um eben mal vorbeizusehen, ihr zu sagen, dass ich da war und bei der Gelegenheit vielleicht noch einen Apfel oder ein Stück Schokolade aus dem Kühlschrank mit zu nehmen.

Unsere Küche hat eine Glastür, die aber eigentlich immer offen ist. Ich glaube, das ist in vielen Haushalten so. Die Küche ist irgendwie der Anlaufpunkt für alle und wenn die Tür zu ist, dann stört das das Klima.

Bei uns ist die Küche der Ort meiner Mutter. Ich glaube das ist so, weil sie kein eigenes Zimmer hat. Im Wohnzimmer residiert mein Vater, wenn er denn mal zu Hause ist, seine schweren Sessel und noch schwereren Bücher in dem überdimensionalen Regal an der Wand zeugen davon und scheinen jeden Eindringling abzuweisen. Es ist auch nicht gemütlich da. Wenn der Fernseher an ist (natürlich hält mein Vater die Fernbedienung den ganzen Abend lang in der Hand, wenn er zu Hause ist und sich einen Film ansieht) ist der Raum zusätzlich noch in ein kühles, flackerndes Licht getaucht.

Die Küche aber ist warm und freundlich. Es riecht immer nach Essen darin, meistens nach Eintopf oder frisch eingemachtem Gemüse. Ich glaube, was das kochen angeht, ist meine Mutter mehr wie Großmütter sonst sind. Sie macht vieles selbst und das auch gar nicht so schlecht. Sie kann aus den Resten aus der Speisekammer immer noch ein wundervolles Gericht zaubern.

Auf der Fensterbank in der Küche stehen frische Gewürze. Basilikum, glaube ich und Zitronenmelisse und Oregano.

Ich bin gerne in der Küche, aber wenn meine Mutter da ist, räume ich immer ziemlich schnell das Feld.

Das erste, was mir damals auffiel, war, dass die Küche offenbar leer war. Auf dem Herd standen noch Töpfe und dem brodelnden Geräusch nach zu urteilen, waren die Platten auch noch eingeschaltet oder zumindest heiß.

Ich machte einen Schritt in den Raum hinein, lautlos und ein bisschen misstrauisch. Sie würde die Töpfe niemals unbeaufsichtigt auf dem Herd stehen lassen.

Und dann stolperte ich fast über sie. Regina.

Sie lag auf dem Boden, die Beine eng an den Körper gezogen. Ich dachte, sie sei ohnmächtig, aber dann bewegte sie sich leicht. Ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle und ich blieb fassungslos stehen.

Warum lag sie da auf dem Boden?

Ich beugte mich vor, sodass ich ihr Gesicht sehen konnte. Sie starrte auf die Wand, nein, vielmehr den Heizkörper vor ihr. Ihre Augen bewegten sich nicht, waren aber weit offen. Die Arme hatte sie um ihren Körper geschlungen, wie um sich selbst festzuhalten.

Ich schrak zurück und wollte mich gerade aus der Küche entfernen, als mir der Gedanke kam, dass sie mich vermutlich schon bemerkt hatte. So leise jemand auch ist, seine Anwesenheit spürt man auch ohne Geräusche.

„Hallo, Mama.“, sagte ich. „Ist alles in Ordnung?“

Sie schrak auf. Vielleicht hatte sie mich doch nicht gehört.

„Ich hatte… einen kleinen Schwächeanfall.“, sagte sie mit einer merkwürdigen Stimme. Sie war tonlos, aber gleichzeitig barsch und beinhaltete einen leisen Vorwurf, als hätte ich sie bei einer sehr privaten Sache gestört.

„Okay.“, sagte ich und fragte, ob ich ihr etwas bringen könne.

Sie antwortete nicht und irgendwann ging ich zurück in mein Zimmer.

Ich bekam ihre leeren Augen lange nicht aus dem Kopf. Ein Schwächeanfall, hatte sie gesagt. Ich tat mir schwer, ihr zu glauben.

Seitdem mache ich mich immer schon auf dem Weg aus meinem Zimmer heraus bemerkbar.

Manchmal will man nicht wissen, was Leute tun, wenn sie alleine sind.

 

*

 

Sie war schlecht für dich, nicht wahr? Sie hat dich fertig gemacht, mit ihrem Verhalten.

Er ist schon wieder da. Er flüstert in mein Ohr, ich kann seinen heißen Atem spüren.

Nein, denke ich. Aber ich sage nichts. Ich muss mir das abgewöhnen. Wie krank ist es denn mit seinen eigenen Hirngespinsten zu reden?

Er lacht. Natürlich, er hat mich gehört. Ja, wenn ich der imaginäre „Freund“ (so kann man ihn wirklich nur in Anführungszeichen nennen) wäre, fände ich das auch sehr lustig.

Ja, ich würde dich ebenso quälen. Ich würde dich nicht mehr in Ruhe lassen, immer wieder, immer wieder aufstoßen in dein Bewusstsein, bis du die Realität nicht mehr von der Illusion unterscheiden kannst und wimmernd am Boden liegst.

Bis du aufgibst.

Ja, Voice, im Prinzip bist du noch gnädig zu mir.

Siehst du, so unähnlich sind wir uns gar nicht. Es ist Zufall, dass es an mir ist, dich zu quälen und nicht umgekehrt. Reiner Zufall.

Wie heißt du? – Rainer Zufall – ich muss plötzlich an diesen dämlichen Witz denken und lache laut auf.

Nervös blicke ich zur Tür und erwarte ein Gesicht, das darin erscheint und mich mustert.

Es bleibt aus. Klar, die haben bestimmt Kameras hier drin und beobachten mich Tag und Nacht.

Tag und Nacht, ja. Und wenn ihre Kameras ausfallen, kommen sie vorbei, pressen ihr Gesicht an die Scheibe und gaffen dich an.

Erinnerst du dich nicht an das Gesicht?

Ich schüttle den Kopf. Nein, ich erinnere mich an kein Gesicht.

Manchmal kriegt er es wirklich hin, mich nervös zu machen.

Nun, wenn die Kameras wieder ausfallen, wirst du es sehen.

Er lacht sein dreckiges Lachen und ich versuche, mich von ihm zu entfernen, in die andere Ecke des Raumes. Es ist sinnlos. Er ist schon wieder neben mir.

Ich frage mich, wie das für die Männer vor den Monitoren aussehen muss.

Manchmal erscheint Voice mir so plastisch, so echt, dass ich nicht glauben kann, dass die anderen ihn nicht zumindest spüren. Seine Anwesenheit ist für mich fast wie die Anwesenheit eines anderen Menschen im Raum, auch wenn ich weiß, dass ich allein bin.

Ich kann es spüren, wenn er da ist, ebenso wie ich seine Abwesenheit spüren kann.

Wie das Schweigen meiner Mutter an jenem Tag.

Ich habe nie herausgefunden, was an diesem Mittwochmittag los mit ihr war. Ich habe nie den Ausdruck ihrer Augen vergessen – nicht das, was darin war, sondern, das was darin nicht war. Ihre Leeren Augen, starr nach vorne gerichtet, bescheren mir noch heute manchmal Albträume. Es war, als sei sie tot.

Vielleicht wollte sie das auch sein.

Wer will das nicht manchmal?

Im Grunde genommen konnte ich sie ganz gut verstehen, wie sie so dalag und das Leben einfach nicht mehr leben wollte, das ihr bestimmt war, einfach nicht mehr aufstehen wollte, jedenfalls habe ich mir immer vorgestellt, dass sie so gefühlt hat.

Dennoch – ich habe sie nicht danach gefragt und ihr auch nicht zu verstehen gegeben, dass ich sie verstehen konnte, dass… dass sie nicht anders ist damit, dass es sie nur menschlicher macht. Sie war meine Mutter, ja, aber sie war auch Mensch und das vergessen wir zu oft, dass Eltern auch nur Menschen sind. Wir sagen, dies und das und jenes kann man einem Kind nicht zumuten und manche Dinge soll man lieber fern von ihm halten – vor allem das eigene Elend – aber was, wenn das Elend zu groß wird? Sollen wir unsere Kinder in einer heilen Welt großziehen, die zerbricht, wenn wir zerbrechen? Tut mir Leid, du wusstest zwar nichts davon, aber dein Vater hat schon lange darüber nachgedacht, uns zu verlassen. Wir haben wirklich alles versucht, aber jetzt hat es ihn doch nach Amerika gezogen. Nimm´s nicht persönlich…

 

Schhhh…

Er erinnert mich mal wieder daran, dass er immer noch da ist. Seine Stimme erreicht mein Ohr, sonst nichts. Die Wände verschlucken sie, die Männer vor den Bildschirmen werden sie ebenso wenig hören wie der vor der Tür.

Es ist ein beruhigender Laut, den er da von sich gibt. Es fühlt sich wie eine Hand an, die einem übers Haar streicht, ein tröstender Kuss auf die Stirn.

Trost, ja das ist es.

Schhh… wie man ein kleines Kind beruhigt, dass sich das Knie aufgeschlagen hat und weint.

Genau. Alles wird wieder gut, Kleiner.

Ich versuche, die Ironie in seiner Stimme zu überhören.

Warum eigentlich nicht? Warum kann nicht alles wieder gut werden?

Hast du vergessen, was du getan hast?, wispert er.

Ich versuche das schwarze Loch zu ignorieren, das an die Stelle meiner Erinnerungen an jeden Tag getreten ist. Dr. Martin sagt, es ist nur eine vorrübergehende Amnesie. Ich werde mich wieder erinnern. Aber auch so weiß ich, dass ich etwas Furchtbares getan habe. Die kahlen Wände erinnern mich Tag für Tag daran. Eingesperrt. Beobachtet. Und auch Voice lässt mich das nicht vergessen.

Du wirst nie wieder frei sein. Nie wieder.

Und nie wieder allein.

Er lächelt. Er braucht es nicht zu sagen, ich weiß, dass er mich nicht allein lassen wird. Ich weiß nicht, ob mich das trösten oder beängstigen sollte.

Ich werde nie einsam sein.

Und nie normal.

Niemals mehr normal sein.

Warst du das je?

Ja, will ich sagen, aber die Worte bleiben mir im Hals stecken und verätzen ihn, bis ich nicht mehr atmen kann.

Nein, flüstert es in mir.

Diesmal braucht er es mir nicht zu sagen, ich weiß es selbst.

Ich strecke mich auf der Pritsche aus und starre wieder an die Decke. Diese hier hat kleine Unebenheiten, Schatten, die Muster ergeben, wenn man kreativ genug ist, welche darin zu entdecken.

Ich bin es nicht. Heute nicht. Heute sind es nur Schatten für mich, Schatten die meine Stimmung nicht gerade bessern.

Das Licht hier drinnen scheint dunkler geworden zu sein, seit meiner Ankunft. Vielleicht gewöhnte ich mich auch nur daran, an die grellen Neonröhren an der Decke. Wie auf einem Präsentierteller liege ich hier drinnen und habe keine Möglichkeit dem zu entrinnen.

Die Kameras.

Ich halte mir die Ohren zu. Als wenn das was bringen würde. Er liegt neben mir und schnippt einen Gummi zwischen den Fingern, genau wie….

 

*

 

Ein klatschendes Geräusch ertönt, jedes Mal, wenn er den Gummi schnalzen lässt. Hannes Augen sind ganz auf seine Hände gerichtet, gewissenhaft zieht er den Gummi auseinander und lässt ihn los. Das Material schlägt gegen seinen Daumen, er scheint es nicht zu spüren. Vielleicht tut es auch nicht weh. Die Stelle wird allmählich rot.

„Was machst du heute Mittag?“, fragt er.

Ich zucke die Achseln. Seine Augen habe die Farbe von regengrauen Wolken. Er hört auf, seine Hände anzusehen und sieht mir ins Gesicht.

Irgendetwas in seinen Augen lässt mich zögern.

Irgendetwas bringt mich dazu, ihm zu sagen, dass ich Zeit hätte, was mit ihm zu unternehmen.

Das Klingeln trägt uns zurück in den Klassenraum. Meine Füße berühren den Boden kaum, als ich automatisch zu meinem Platz laufe. Ich schwebe.

Während der Unterricht seinen Lauf nimmt, habe ich Zeit, nachzudenken.

Ich bereue, zugesagt zu haben. Aber ich bin auch neugierig.

Dieser Ausdruck in seinen Augen ist neu. Normalerweise schaut er gelangweilt oder abwesend, während des Unterrichts sieht er oft aus dem Fenster und wenn er mit einem spricht, sieht er denjenigen selten dabei an. Mich hat er vorhin aber angesehen und seine Augen waren forschend, neugierig und bittend. Als hinge viel davon ab, ob ich gerade diesen Nachmittag mit ihm verbringe.

Wir haben inzwischen schon einige Nachmittage miteinander verbracht. So sehr ich die Gesellschaft anderer Menschen im Allgemeinen als lästig empfinde – jeder braucht einen Freund. Und ich wäre auch richtig einsam ohne Hannes.

Wir reden nie viel, aber das Schweigen wird nicht unangenehm. Wir reden im Schweigen. Wir reden mehr und intensiver, wenn wir schweigen.

Jeder fühlt sich ein bisschen leichter, wenn wir uns verabschieden und jeder in sein Leben zurückkehrt, ein Leben, in dem der andere keinen sehr hohen Stellenwert einnimmt.

Manchmal glaube ich fast, wir sind uns ein bisschen ähnlich, aber dann sehe ich ihn wieder mit den anderen aus der Klasse herumstehen und lachen und sehe den Schmerz in seinen Augen, wenn ihn mal wieder jemand dumm von der Seite anmacht. Hannes ist so jemand, dem das öfter passiert.

Man sieht ihm immer an, wie sehr es ihn schmerzt. Man sieht, wie es in seinem Hirn anfängt zu rattern und das Karussell der Fragen sich anfängt zu drehen.

Was wenn sie Recht haben?

Sie haben nicht Recht und jeder Blinde könnte das sehen, aber ich sage es ihm nicht. Es wäre besser von mir, ich weiß. Vielleicht werde ich es ihm heute Mittag sagen. Es würde ihm viel bedeuten.

Ich glaube, das ist es was uns unterscheidet. Er würde alles dafür geben, dazuzugehören, wie alle anderen zu sein, mit den andern zu lachen, zu rauchen und freitags um die Häuser zu ziehen. Eigentlich ist er auch gar nicht so anders, wie man ihm immer weismachen will und wie er selbst glaubt. Eigentlich ist er nur ein ganz normaler Junge, der irgendwie durchs Leben kommen will.

Ja, ich glaube, das ist der Unterschied.

 

Dass ich anders bin, ist mir irgendwann aufgefallen, da war ich noch recht jung. Ich bin nicht einmal sicher, ob das erst in der Schule war, oder schon früher. Ob es vielleicht eine Zeit gab, da ich nicht anders war.

Aber das sind alles Fragen, die ich nie werde beantworten können.

Tatsache ist jedenfalls, dass ich schon früh merkte, dass die Welt, meine Welt, anders war als die, die meine Eltern jeden Tag erlebten, anders als die Welt der gleichaltrigen Kinder. Ich wüsste nicht, wie ich es sonst beschreiben sollte.

Ich weiß auch nicht, was anders ist, an meiner Welt. Ich weiß nur, dass mein Empfinden davon sich von dem unterscheidet, wie andere ihr Leben empfinden.

Was mir sofort ins Auge springt, nehmen andere kaum wahr. Was sie fühlen, kann ich manchmal nur schwer nachvollziehen. Was ich denke, verstehen sie wiederum nicht. Es ist wie wenn man einen Film nimmt und den Ton durch den eines anderen Films ersetzt. Man sieht etwas und man hört etwas, aber es passt einfach nicht zusammen. Man sitzt davor und merkt die ganze Zeit, dass da etwas nicht stimmt, aber man kann die ursprüngliche Handlung, die ursprünglichen Dialoge nicht rekonstruieren. Man fragt sich die ganze Zeit „Was wollen die nur von mir? Was meinen die nur?“, während der Film immer weiter läuft und man immer weniger versteht. Man versteht die Reaktionen der Leute nicht. Man versteht irgendwann nicht mehr was sie sagen. Man kann absolut nichts mit dem anfangen, was man sieht und hört. Man fängt an zu raten.

 

Manchmal kommt es mir vor, als sei jeder Tag mein erster hier, so wenig Intuition habe ich für die Regeln dieser Welt. Ich lerne und staune und vielleicht ist das sogar mehr wert als zu verstehen.

 

Wir treffen uns an unserem üblichen Treffpunkt. Er wartete schon. Seine dünnen Beine baumeln über dem Wasser der kleinen Brücke. Sie hat nicht mal ein Geländer, aber man braucht auch keins. Der Fluss ist an dieser Stelle noch ein Bach und außerdem würde man vielleicht einen halben Meter tief fallen, ehe man das Wasser erreicht. Nur einem Idioten würde das zum Verhängnis werden.

Nur einem Idioten? Notiz an mich selbst: Die Brücke ist nicht idiotensicher.

Ich setze mich wortlos neben ihn. Er scheint mir gar nicht wahrzunehmen, jedenfalls bewegt er sich keinen Millimeter und wendet mir auch sein Gesicht nicht zu, als ich ein leises „Hallo.“, von mir gebe.

Es dauert eine Weile, bis er anfängt zu sprechen.

„Meine Eltern wollen umziehen.“, sagt er. Seine Stimme ist tonlos, freudlos und ein Hauch von Verbitterung schwingt darin mit.

Ich kann ihn nicht verstehen.

Eine neue Stadt. Ein neues Leben. Was müsste er dafür geben wollen? Eine neue Chance, dazu zu gehören. Ist das nicht alles, was er braucht?

„Warum…?“, ich beende meine Frage nicht, weil sie mir dumm und sinnlos vorkommt. Er freut sich nicht, natürlich nicht und es hat keinen Sinn, ihm einzureden, dass das eine gute Sache sei, wenn er selbst nicht daran glaubt. Es ist besser, abzuwarten, was er noch dazu zu sagen hat. Er wird sie von selbst beantworten, meine ungestellte Frage.

Und er tut es.

„Ich will nicht weg von hier.“

Ich warte. Vielleicht sollte ihm eine Hand auf die Schulter legen oder ihn sonst irgendwie berühren, das beruhigt Menschen meistens. Ich tue es nicht. Körperkontakt ist nicht so mein Fall. Noch nicht.

Vielleicht nie.

„Warum nicht?“, frage ich jetzt doch, weil er nicht weiter spricht. Das wird mir das Schweigen nicht erzählen können, so ehrlich und intensiv es auch sein könnte.

„Warum willst du nicht weg von hier? Warum willst du nicht weg von dieser Schule, in der du sowieso nur herumgeschubst wirst, in der sowieso niemand wirklich auf dich achtet – du weißt es, auch wenn du dich dagegen wehrst. Du gehörst nicht dazu. Nicht so richtig. Du musst darum kämpfen, dass sie mit dir reden, dich überhaupt wahrnehmen, wenn du direkt neben ihnen stehst. Warum willst du das alles nicht verlassen und neu anfangen, ganz neu? Du kannst das alles hinter dir lassen und woanders wirklich dazu gehören.

Das alles.“

Er schweigt lange. Ich glaube nicht, dass er überhaupt noch was sagt, als er seinen Mund öffnet – und wieder schließt.

„Wegen dir.“, sagte er schließlich. Er sieht mich danach nicht an. Seine grauen Augen starren auf das Wasser, das unter seine Füßen plätschert und weiterzieht in eine neue Welt. Eine Welt, die er nicht betreten will. Er sieht aus, als wolle er sich hineinstürzen und darin verschwinden, nur um mich nicht anzusehen.

Das ist es, was mir Angst macht, nicht seine Worte. Seine Worte hätte ich nachvollziehen können – es ist schwer, jemanden zurückzulassen, obwohl ich überrascht bin, dass ich jemand für ihn bin, den man nicht gerne zurücklässt. Aber seine Reaktion, seine unruhigen Augen und Gesten, dass er sich offensichtlich unwohl fühlt, dass es ihm regelrecht – peinlich – ist, das irritiert mich und ich kann mir keinen Reim darauf machen. Es ist wieder einmal so eine Situation in der ich nicht weiß, was vor sich geht. In der die Tonspur nicht zur Handlung passt.

Ich hebe meine Hand und lege sie zögernd auf seiner gegenüberliegenden Schulter ab. Streiche auf und ab. Endlich hebt er den Kopf und sieht mich an. Sein Gesicht ist nah an meinem und seine Augen sehen mich forschend an.

Und dann sehe ich es.

In seinen Augen.

Ich wende mich ab und atme tief durch. Dann ziehe ich meine Hand zurück und lege sie ihm auf die Schulter, die mir zugewandt ist.

Ich schüttle den Kopf.

„Tut mir Leid.“, sage ich leise.

Er nickt. Schweigt. Sein Schweigen spricht nicht mehr.

Wird es nie mehr tun. Das dünne Band zwischen uns ist gerissen. Ich bin nicht sicher, ob ich wirklich traurig darüber bin. Es bedeutet nur, dass meine Welt wieder ein bisschen kleiner wird und nur noch mich umfasst, aber das tat sie so lange, dass es wie ein nach-Hause-kommen sein wird. Nein, ich werde nicht lange um ihn trauern, höchstens um die Farben, die er hin und wieder in den Alltag bringen konnte und die mit ihm verschwinden werden, aber ich bin den Schwarz-Weiß-Film gewohnt. Was ihn angeht, bin ich mir nicht sicher, aber es geht mich auch nichts mehr an.

Wie hatte ich das nur übersehen können.

Wir reden über belanglose Themen, bis es dunkel wird.

Ich begleite ihn ein Stück nach Hause und das letzte was ich an diesem Tag von ihm sehe ist ein Lächeln und seine Worte „ein Neuanfang.“

Dann kehre ich zurück in meine Welt.

Allein.

 

Als ich nach Hause komme, erwartet mich eine weitere Überraschung. Der schwarze Skoda steht in der Einfahrt. Die Reifen sind verdreckt von Schlamm und Matsch und er sieht insgesamt aus, als gehöre er mal wieder in die Waschanlage.

Wetten, dass ich morgen deren Job übernehmen darf? Mein Vater sieht nicht ein, Geld dafür auszugeben, sein Auto sauber zu kriegen. Er hat ja schließlich einen Sohn der Schüler ist und dementsprechend jede Menge Zeit hat, die er gerne auch mal damit verbringen kann, das Auto seines alten Herrn zu putzen. Immerhin zahlt dieser ja auch für seine Ausbildung und überhaupt seinen ganzen Unterhalt.

Im Prinzip ist es ja okay. Es nervt mich nur immer, wenn er damit ankommt. Er könnte alles damit begründen. „Junger Mann, solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst…“, ja klar. Damit kann er wirklich alles begründen.

Was mich noch mehr verwundert, ist, dass er überhaupt da ist.

Er ist sonst nie unter der Woche da. Ich wäre auch nicht froh darüber, denn er bringt uns außer Takt, mich und meine Mutter. Wir reden anders, essen anders, leben anders, alles in seiner Erwartung, alles, um ihm möglichst wenig zu begegnen, wenig zu stören. Er regt sich immer so schnell auf.

Ich betrete vorsichtig das Haus, ziehe lautlos meine Schuhe aus und stelle sie im Schrank ab. Dann aber mache ich mich nicht auf den Weg in mein Zimmer, denn das kann er nicht leiden, sondern gehe direkt in die Küche, stelle mich ihm.

„Hallo, Paps.“, sagte ich. Das Wort kommt mir nur zögernd über die Lippen. Meine Stimme klingt fremd.

Er dreht sich um. Sein Gesicht ist kühl wie immer, seine dunklen Augen noch frostiger und sein Lächeln starrt vor Kälte.

„Hallo, Sohn.“, sagte er und umarmt mich.

„Du bist zu Hause?“, frage ich. „Wie lange bleibst du?“, ich lasse meine Stimme klingen, als hoffte ich darauf, dass er lange bliebe.

„Ein paar Tage vielleicht. Das letzte Geschäft ging überraschend schnell, sodass ich mir ein paar freie Tage verdient habe. Und wir uns einen gemeinsamen Familienurlaub.“, sein Lächeln taut auf, wird wärmer, echt.

Ich und meine Mutter lächeln beide, tauschen dabei einen Blick.

„Das ist ja wunderbar.“, sagt sie und küsst ihn. Er wirft ihr einen strengen Blick zu, sie weicht zurück. Er mag es nicht, wenn sie ihn vor mir küsst. Warum auch immer.

„Wann?“, frage ich. Ich wage es nicht, zu fragen, wie lange.

„In den Sommerferien. Wir können uns heute Abend alle zusammensetzen und darüber nachdenken, wohin wir wollen.“

Ich beginne Hoffnung zu schöpfen. Vielleicht wird es gar nicht so schlimm. Urlaub mit ihm ist immerhin besser, als wenn er zwei Wochen zu Hause wäre. Im Urlaub hat er meistens weniger an uns auszusetzen. Kein „wie schlampig hast du denn den Tisch gedeckt?“ oder „räum das bitte weg, das stört mich hier.“ Vielleicht wird es wirklich ganz nett.

 

Manchmal hab ich das Gefühl, ich und meine Mutter sind nur Inventar für ihn, das zu funktionieren hat. Er schafft das Geld heran, sie soll sich um den Haushalt und meine Erziehung kümmern und ich habe gefälligst ein gutes Abitur zu machen. Das ist okay. Und – ganz wichtig – wir haben uns nicht breitzumachen in seinem Leben. Inventar macht sich nicht breit. Das stellt man einfach ab und gut ist. Menschen lassen aber schon Mal was liegen. Menschen verursachen Dreck. Menschen fordern Zuneigung. Ich glaube, das hat er irgendwie nicht bedacht, als er sich dazu entschied, sich Frau und Kind anzuschaffen.

Aber ich glaube, er liebt uns trotzdem irgendwie. So wie man auch Inventar mit der Zeit lieb gewinnt. Manchmal lässt er uns auch ein bisschen Menschlichkeit durchgehen.

Und er behandelt uns nicht schlecht oder so. Er tut wahrscheinlich sogar sein Bestes. Er ist nur so wahnsinnig leicht zu stören und dann hat er diesen genervten Gesichtsausdruck und man kapituliert irgendwann, weil man weiß, dass man es ihm nie recht machen kann. Dass er nie mal sagen wird „Mein Sohn, das hast du jetzt aber wirklich gut gemacht.“.

Ich glaube, er weiß einfach nicht, dass wir das manchmal dringend brauchen.

Wahrscheinlich habe ich mein komisches Weltbild von ihm geerbt.

 

Später fragt er mich nach der Schule. Ich weiß, dass er das schon die ganze Zeit tun wollte und habe nur darauf gewartet. Er lässt sich immer ein bisschen Zeit mit den schlechten Sachen, deswegen weiß man auch nie, ob aus heiterem Himmel nicht vielleicht doch noch etwas kommt.

„Ich und deine Mutter hatten eine kleine Unterredung.“, sagte er jetzt. Es ist später am Abend, die Sonne ist schon untergegangen und er sitzt in seinem Sessel im Wohnzimmer. Er hat einen Reisekatalog auf dem Schoß, in dem er schon eine Weile blättert. Er sagt es, als sei es eine beiläufige Kleinigkeit.

„Ja?“, sage ich mäßig interessiert. In mir ist alles angespannt.

„Über deine schulischen Leistungen.“

Ich lasse den Kopf hängen. Innerlich verfluche ich, dass ich mich auch noch für ihn verstelle.

„Ja. Ich bin ein bisschen abgesackt dieses Jahr.“

„Ein bisschen.“, sagt er kühl. „Ein bisschen viel würde ich sagen.“

„Ich werde mich in Zukunft wieder mehr anstrengen.“, verspreche ich.

„Deine Versetzung ist gefährdet.“, sagt er trocken. „Wenn du dich im Vergleich zum Halbjahr nicht verbesserst.“

„Nein.“, sage ich gespielt überrascht. „So schlecht sind meine Noten nicht.“

„Die schriftlichen nicht, aber die mündlichen. Deine Mutter hatte vor kurzem ein längeres Gespräch mit deinem Klassenlehrer. Du arbeitest nicht mit. Hängst nur da und sitzt deine Zeit ab. Du lässt dich nicht einmal dazu herab, zu antworten, wenn man dich etwas fragt.“

„Das war...“, will ich mich verteidigen, aber er winkt ab.

„Ich dachte, ich hätte dich anders erzogen. Respektvoll.“, er betont jede Silbe einzeln.

Ich weiß was er meint. Wenn ich schon vor meinen Lehrern keinen Respekt habe – habe ich dann überhaupt welchen vor ihm?

Schuldbewusst senke ich den Kopf und murmle eine Entschuldigung.

„Vielleicht war es doch keine gute Idee letztes Jahr, die Schule zu wechseln.“

Ich stocke. „Das hat nichts mit der Schule zu tun, Papa. Bitte. Ich krieg das wieder hin.“ Nie wieder werde ich zurück auf meine alte Schule gehen. Nur über meine Leiche.

Er ignoriert mich.

„Deine Mutter wurde sogar gefragt, ob bei uns zu Hause etwas nicht stimmt.“

Ich schweige. Was soll ich auch dazu sagen?

„Sag mir, glaubst du, hier stimmt was nicht?“, seine Stimme wird ein bisschen drohend.

Ich schüttle den Kopf.

„Ich rackere mich ab, dafür, dass ihr ein schönes Leben habt, aber mein Herr Sohn bekommt wohl nicht genug Aufmerksamkeit. Wirst du vielleicht zu wenig unterstützt? Soll deine Mutter neben dir sitzen, wenn du Hausaufgaben machst? Soll…“

„Nein.“, sage ich laut und sehe auf. „Ich werde mich in Zukunft mehr anstrengen, das habe ich doch schon gesagt. Es tut mir Leid.“, ich betone jedes Wort einzeln, nicht provokativ sondern defensiv, fast flehend.

„Weißt du, wie das aussieht, wenn deine Lehrerin fragt, ob etwas bei uns nicht stimmt? Als wäre ich ein verdammter Schläger oder Säufer. So ist das in den Familien. Der Vater säuft und die Kinder werden schlecht in der Schule. Nur, dass ich nicht trinke. Nur, dass alles stimmt bis auf, dass mein Sohn zu faul ist, sich anzustrengen und das ist natürlich meine Schuld.“

„Paps, es tut mir Leid.“

„Manchmal reicht das nicht. Ich hoffe nur für dich, dass du dieses Schuljahr schaffst. Sonst könnte es ungemütlich für uns beide werden.“

Jetzt hoffe ich es auch.

Ich glaube, das läuft in allen Familien so. Die Schule ist überall das rote Tuch. Ich komm nur einfach mit der Art nicht klar, mit der mein Vater mir immer wieder erklärt, wer der Boss ist. Dieses Kalte in seiner Stimme scheint mir jedes Mal zu sagen „Du hast mich enttäuscht.“

Es ist kein schönes Gefühl seine Eltern zu enttäuschen.

 

*

 

Er hatte das alles verdient, nicht? Es war seine Schuld.

Nein, Voice. Ich bin schuld. Ich bin einfach durchgedreht.

Wir beide wissen, dass du das nur sagst, weil Dr. Martin dich erst hier raus lässt, wenn du daran glaubst, nicht? Gut, dann helfe ich dir.

Du bist ausgerastet. Wie konntest du nur?

Seine Stimme trieft nur so vor Ironie. Gegen meinen Willen muss ich lachen. Es tröstet mich.

Er tröstet mich. Es sollte mir Angst machen, dass diese Stimme, die ich lernen sollte zu hassen, mich tröstet.

Ich muss sie doch loswerden, diese Stimme, die mich vom Normalsein trennt…

Er lacht.

Dich trennt viel mehr vom Normalsein, weißt du das nicht?

Nein, ich weiß es nicht. Ich will es nicht wissen.

Bilder stürmen auf mich ein und ich presse die Hände auf die Augen, um sie zum Verschwinden zu bringen.

Es wirkt nicht. Sie werden nicht mehr blasser.

Dann spüre ich eine leichte Berührung am Arm. Nur einen Lufthauch. Ich brauche meine Hände nicht wegzunehmen, um zu wissen, dass da niemand ist. Es ist Voice, der es irgendwie geschafft hat, auch noch an meinen Tastsinn zu kommen und ihn zu manipulieren. Er macht mich wahnsinnig.

Ich schlinge meine Arme um meine Beine und lege den Kopf ab. Ich will nicht aufsehen. Ich will sein Gesicht nicht sehen. Ich will nicht, dass jetzt auch noch eine real scheinende Person ständig durch mein Gesichtsfeld – und am Ende noch durch andere durch – läuft. Es war schon schlimm genug, als ich ihn nur hören konnte.

Gib mir nicht die Schuld. Ich existiere ja nicht mal. Das ist alles nur dein kranker Verstand. Aber ich muss sagen – so langsam bist du echt ganz schön durchge-

Eine weniger sanfte Berührung an meinem Arm unterbricht ihn. Ich zögere einen Moment, dann sehe ich auf.

Dr. Martin steht neben mir. Ich zucke zurück und stoße mit der Schulter hart an die Wand. Unruhig sehe ich mich um. Voice ist nicht zu sehen.

Die Tür zu meiner Zelle steht offen.

Nein – ich bin nicht mehr in meiner Zelle. Mit weit aufgerissenen Augen sehe ich mich um, es ist mir jetzt egal, dass er mir zusieht und ich ihn wieder enttäuschen muss mit meinem untypischen Verhalten.

Das Bett steht noch an der gleichen Stelle, aber es ist jetzt keine Pritsche mehr, sondern ein richtiges Bett, weiß bezogen, wie im Krankenhaus. Die Wände sind nicht mehr weiß und karg sondern gelb gestrichen und die dicke Stahltür ist einer aus Holz gewichen. Sie hat ein viergeteiltes Fenster im oberen Drittel.

Ich hebe meine Hand und sehe ihr zu, wie sie langsam über die Bettwäsche streicht, dann die Wand berührt. Es ist alles echt.

Was geht hier ab??

„Lukas?“, fragt er sanft und ich fahre so zusammen, dass er mich erschrocken an der Schulter packt. Nein, nicht wirklich packt. Er hält mich nur fest. Ich bemerke, dass ich mit dem Kopf fast gegen die Wand gestoßen wäre.

„Du hast wohl unsere Sitzung verpasst.“, er deutet mit dem Handrücken auf eine Uhr an der Wand. Sie zeigt viertel nach 10. Morgens, nehme ich an. „Ich wollte dich holen. Ist alles in Ordnung?“

Ich starre ihn eine Weile an, dann nicke ich und stehe langsam auf. Ich versuche, mich nicht umzusehen. Auf einem Stuhl liegen getragene Kleider von mir. Kleider, die ich gestern getragen habe? Hinten in einer Ecke liegt mein roter Koffer, offen, ein paar Bücher und ein Mp3-Player darin. Meine Bücher. Mein Mp3-Player.

Als ich das Zimmer verlasse finde ich mich in einem vertrauten Flur wieder. Ich weiß genau, wohin ich gehen muss, ich brauche Dr. Martin nicht, um mich zurechtzufinden. Da hinten ist die Caféteria. Sie machen guten Kaffee, da. Und das Essen ist auch nicht schlecht.

Die Tatsache, dass ich darüber Bescheid weiß, macht mir vielleicht mehr Angst, als der plötzliche Zimmerwechsel.

Ich höre ein Kichern hinter mir, Voice, der es wieder einmal geschafft hat, mich vollends einzunehmen. Das karge Zimmer, die Pritsche, die Kameras – alles eine Lüge, oder?

 

„Du warst ziemlich verwirrt, eben. Möchtest du darüber reden?“

Ich bin mir nicht sicher.

„Ich hab geschlafen, bevor Sie gekommen sind. Ich habe wohl schlecht geträumt und mich nicht sofort zurechtgefunden.“

„Du sahst nicht aus, als hättest du geschlafen. Eher so, als hättest du Angst. Wovor hast du Angst, Lukas?“

Ich zucke die Achseln.

„Vor vielem.“

„Wovor hast du jetzt Angst, Lukas? Jetzt gerade?“

„Jetzt gerade…“, ich tue, als würde ich überlegen. Ich weiß nicht, wie ehrlich ich sein kann. Ich weiß nicht, wie viel er versteht und auf wessen Seite er ist. Ich habe ihm schon so viel anvertraut.

„Jetzt gerade habe ich keine Angst.“

Er nickt. Ich weiß nicht, ob er mir glaubt.

„Das ist gut, Lukas. Aber Ängste sind wichtig. Sie warnen uns. Ohne Angst hätte die Menschheit nicht lange überlebt.“

Ich nicke.

Er schaut aus dem Fenster.

„Es ist wunderschönes Wetter draußen. Warst du die letzten Tage mal vor der Tür? Im Park vielleicht? Man kann dort wunderbar spazieren gehen.“

Idiot, ich war die letzten Tage eingesperrt in diesem Raum.

„Nein. Ich hab mein Zimmer kaum verlassen. Ich hab mich noch nicht ganz eingelebt.“

Hoffentlich muss ich das auch nicht.

„Schade, das musst du unbedingt nachholen. Weißt, du welche Jahreszeit gerade ist?“

Eine Fangfrage. Zu dumm, dass ich fast raten muss. Ich versuche mich zu erinnern. Ich sehe die Schule vor mir und Alice, das neue Mädchen in der Klasse. Nein, das neue alte Mädchen. Sie war schon immer da, Lukas.

Sommerferien. Dann…

Der Tag.

Ich bemerke, dass meine Hände zu Fäusten geballt sind.

Ein Knall. Schwärze. Lautes Rufen. Blut an meinen Händen.

„Wir haben Sommer. Spätsommer, denke ich.“

Verdammt. Ich sollte nicht so unsicher klingen.

„Ja, wir hatten vor kurzen noch Spätsommer. Es ist Ende Oktober. Der 26.“

Ich nicke. Dann sehe ich die bunten Blätter draußen und ich werde ein bisschen wütend auf mich und ihn. Es war so einfach. Wollte er nur testen, ob ich klar im Kopf bin, noch kombinieren kann?

„Ich müsste längst wieder in der Schule sein.“, sage ich.

„Du bist ein schlauer Bursche.“, sagt er. „Doch, das bist du.“, fügt er hinzu, als er meinen skeptischen Blick sieht. „Um die Schule würde ich mir an deiner Stelle erst einmal keine Gedanken machen.“

Ja, klar. Haha. Wie konnte ich nur so etwas Banales vergessen.

Ich denke nicht, dass ich überhaupt wieder in meine Schule zurückkehren werde. Ich muss an die Gesichter denken, daran wie sie mich mit aufgerissenen Mündern anstarren würden, sich in Sicherheit bringen vor mir, ganz sicher auf Abstand gehen und tuscheln würden.

Nein, dahin kann ich nicht zurück. Aber wohin kann ich überhaupt? Wo wird man nicht mit dem Finger auf mich zeigen? Und selbst wenn ich weit genug weg bin – meine Mutter wird immer noch da sein. Es dauert noch fast zwei Jahre, bis ich volljährig bin.

Ob ich so lange hierbleiben kann?

Ich erinnere mich an einen Test den er mit mir gemacht hat. Mit Kreisen und Vierecken und Zahlenreihen… Aufgaben, die ich zu lösen hatte.

Warum nur sind meine Erinnerungen so verschwommen?

„Wie geht es dir?“

„Gut. Ich kann mich nicht beklagen.“

„Und die Stimme?“

Ich zucke die Achseln. In diesem Punkt bin ich ehrlich. Ich senke den Kopf.

„Voice ist noch da. Er kann mich einfach nicht in Ruhe lassen.“

Er nickt.

„Schränkt er dich ein?“

„Er manipuliert mich. Ich weiß nicht mehr, was richtig und falsch ist, ob ich ihm oder mir selbst trauen kann. Ich habe das Gefühl, er will mir schaden.“

„Vergiss nicht, dass er aus dir heraus entsteht. Er ist keine eigenständige Person. Ebenso wie Ängste können innere Stimmen uns warnen und hilfreich sein. Wenn sie zu laut werden, kann das heißen, dass du einen bestimmen Teil deiner Selbst, einen wichtigen Teil… wie soll ich sagen… gewissermaßen ausschließt. Der menschliche Verstand ist vielschichtig.“

„Was meinen Sie damit?“

„Ich meine, dass Voice eine Stimme aus dir selbst ist, eine innere Stimme, die du vielleicht zu lange ignoriert hast. Dass sie lauter ist, zu laut, kann ein Versuch deines Unterbewusstseins sein, dich darauf aufmerksam zu machen.“

Ich denke darüber nach. Es erscheint mir wenig sinnvoll. Voice ist mir so unähnlich. Er schadet mir und hilft mir nicht.

„Ich glaube nicht, dass das bei mir der Fall ist.“, sage ich. „Das alles...“, ich deute auf meinen Kopf. „…funktioniert irgendwie anders bei mir.“

Entgegen meiner Erwartung lächelt er und sagt sonst nichts.

„Nun, wenn du ihn loswerden willst, müssen wir zuerst verstehen, was er von dir will.“

 

Ja, was willst du von mir?, frage ich Voice, als ich später wieder in meinem – Zimmer! – bin. Er lässt sich Zeit mit der Antwort. Ich glaube schon fast nicht mehr daran, als er doch noch seine Stimme erhebt.

Gehört werden.

Ich frage mich schon, ob Dr. Martins vielleicht Recht hatte, da höre ich sein Lachen.

Kumpel, du hast ja keine Ahnung, was in deinem eigenen Kopf vorgeht.

Ich resigniere und lehne mich zurück.

 

*

 

Meine Hand streift über die Holzmusterung des Küchentischs.

Es ist eine kleine Hand. Ich hebe sie fasziniert vor meine Augen. Schmale Finger, die Nägel kurz geschnitten und dennoch mit einer schwarzen Schicht Dreckt darunter. Die Haut ist an einigen Stellen aufgerissen und blutig, rote Streifen dort, wo das Blut verschmiert ist, bevor es trocknen konnte. Ich lecke darüber, bis die Streifen verschwinden. In meinem Mund sammelt sich der metallische Geschmack von Blut.

Gedämpfte Stimmen dringen aus dem Wohnzimmer. Ich kann die meiner Mutter heraushören und die meines Vaters, dazu noch eine Stimme, die mir wohlbekannt ist, aber ich kann sie keinem Gesicht zuordnen. Ich kann nicht verstehen, was sie sagen, aber ich bin neugierig, also nähere ich mich langsam der Küchentür und dem Wohnzimmer.

„…verkaufen. Das ist vielleicht unsere letzte Chance.“, sagt mein Vater. Die dritte Stimme erwidert ihm mit lauten, heftigen Worten, aber obwohl sie nicht undeutlich gesprochen werden, kann ich sie nicht verstehen. Ich muss auch nicht mehr hören, um zu wissen, dass es an der Zeit ist, sich aus dem Staub zu machen. Erwachsene sind unausstehlich, wenn sie streiten. Sie schreien sich dann nicht nur gegenseitig an, sondern auch jeden anderen, der den Raum betritt und es wagt, das Wort an sie zu richten. Zumindest, wenn dieser jemand ein Kind von ihnen ist.

Die Stimmen werden lauter, wütender, drängender. Ich kann die Faust meines Vaters hören, die auf den Tisch niedersaust und sie dabei auch förmlich sehen. Er kann nicht einfach nur reden, er muss seine Hände für sich sprechen lassen.

Normalerweise mag ich es, wenn Menschen mit den Händen sprechen, es ist, als redeten sie nicht nur, sondern malten dazu noch Bilder in die Luft, streichelten die Luft und ihre Zuhörer oder dirigierten zu einer Melodie, die nur sie hören – oder vielmehr spüren können.

Aber mein Vater nimmt seine Hände nicht, um Bilder zu zeichnen, er streichelt damit nicht, er schlägt. Er prügelt regelrecht auf die Luft ein, schlägt mit dem Handrücken in seine andere Hand und man fühlt sich immer selbst geschlagen, wenn man ihm zusieht. Ich glaube, wenn er mit seinen Händen redet, würde er auch gerne jemanden schlagen, aber er hält sich zurück und lässt seine Wut nur an der Luft aus – naja, und an den Ohren seiner Zuhörer.

Die Stimmen werden dumpf und erreichen mich nur noch aus weiter Ferne, obwohl ich mich kaum vom Wohnzimmer entfernt habe.

Ich stehe jetzt wieder in der Küche, mit dem Rücken zur Tür, das Gesicht dem Fenster zugewandt. Meine kleinen Hände ruhen auf der Fensterbank, die warm ist durch die Sonne oder die Heizung darunter.

Es ist kalt draußen, der Himmel ist grau und der Rasen feucht vom letzten Regen oder Frost.

Ich spüre, dass hinter mir jemand den Raum betritt.

Er verharrt in der Tür. Ich weiß, dass es mein Vater ist, die Arme ineinander verschränkt, die Finger seiner rechten Hand trommeln auf seinen linken Unterarm.

„Sohn?“, spricht er mich an. Seine Stimme ist dumpf, verzerrt, zu tief um zu ihm zu gehören. Ich drehe mich um.

Er ist groß, viel zu groß für mich und meine kleinen Hände. Sein schwarzer Bart ist jetzt so lang, dass er seinen Mund fast schon verdeckt. Ich kann einzelne graue Barthaare darin erkennen.

„Du hast doch nicht gelauscht, oder?“, seine Worte enthalten eigentlich keine Drohung. Seine Stimme schon. Er kommt näher. Viel zu groß für mich.

Hinter ihm verlässt ein Mann das Wohnzimmer, die dritte Stimme.

Es ist unser Nachbar. Er verabschiedet sich nicht, aber er wirft meiner Mutter, die hinter ihm aus dem Wohnzimmer gekommen und im Türrahmen stehen geblieben ist, einen kurzen Blick zu, den ich nicht ganz deuten kann. Wahrscheinlich will er sich damit entschuldigen, dass er so laut meinem Vater gegenüber geworden ist.

„Nein.“, sage ich. „Ich war die ganze Zeit hier.“

„So, und warum habe ich dann einen Schatten vor der Tür gesehen?“

„Lass ihn doch.“, sagt meine Mutter sanft von der Tür aus. „Er kann so etwas doch sowieso noch nicht verstehen.“

„Kann er nicht?“, er beugt sich zu mir herunter. „Sag mir, Sohn, du bist doch ein kluger Junge.“

Ich nicke eifrig, meine Lehrerin hat das auch schon öfter gesagt.

„Dann verstehst du doch sicher auch, worüber die Erwachsenen so reden.“ Er betont das Wort „Erwachsene“ ganz komisch. Es hört sich so an, als seien das etwas ganz Besonderes, Erhabenes.

Ich zucke die Achseln. Hinter ihm sehe ich meine Mutter den Kopf schütteln.

„N…ein?“, frage ich mehr, als dass ich es sage.

Er dreht sich um. Sie sieht ihn unschuldig an, die Hände hinter dem Rücke verschränkt.

„Woher soll er das auch verstehen? Er ist noch zu jung. Und selbst wenn – was wäre so schlimm daran?“

Mein Vater wächst vor ihr. Vielleicht schrumpft sie auch, aber dann schrumpfen wir beide.

„Er könnte es erzählen.“, wispert er.

In einem Wimpernschlag hat sich die Küche verändert. Es ist heller, das Fenster ist offen und da wo ich gerade stand, steht jetzt ein Stuhl, direkt vor der Heizung. Die Vorhände sind halb abgehängt, meine Mutter steht vor dem Stuhl, den Rücken zum Fenster und sieht meinen Vater im Türrahmen an. Ich sitze am Tisch, vor mir ein kariertes Heft mit den Hausaufgaben, halb erledigt nur, aber das hier ist spannender. Ich sehe an seinem Gesicht, dass es gleich wieder kracht.

Er spricht, aber ich verstehe nicht alle Worte, die er sagt. Seine Stimme ist laut und wütend, sie hat wohl schon wieder vergessen, seine Hemden an die richtige Stelle im Schrank zu legen, oder dass er kein Sauerkraut mag, sie aber welches zum Mittagsessen gekauft hat. Oder dass sie doch den Wagen in die Waschanlage bringen sollte, sein nutzloser Sohn habe ihn nicht richtig sauber gemacht.

Sie vergisst ziemlich viel in letzter Zeit, denke ich genau in dem Moment, als er es sagt.

Sie murmelt etwas, er sagt, sie soll lauter sprechen. Kommt näher. Wird wieder größer. Ich sehe zurück auf meine Hausaufgaben und will jetzt gar nicht mehr verstehen was sie sagen.

Er beschimpft sie, ich merke das an seiner verzerrten Stimme, der Art, wie er die Worte mehr ausspuckt, als sie zu sagen.

„Nicht vor dem Jungen.“, höre ich sie sagen, er lacht nur.

„Der Junge darf ruhig davon wissen.“, sagte er. „Der Junge kann ruhig früh lernen, was für eine Hure seine Mutter ist.“

Ich kenne dieses Wort von der Schule. Julian benutzt es manchmal, wenn kein Lehrer in Sicht ist. „Was für eine Hure, die Frau Stahl“, sagte er dann. „Hat mir wieder ´ne vier gegeben.“

Meine Mutter ist keine Lehrerin und sie gibt keine schlechten Noten. Warum soll sie eine Hure sein?

„Der Junge versteht es doch ohnehin nicht, oder?“, er lacht und spricht mich an. Ich klemme meinen Kopf zwischen die Schultern, wie eine Schildkröte, ziehe ihn ein, soweit ich kann, aber es reicht nicht, um in den rettenden Panzer zu gelangen.

„Sohn, verstehst du denn, was die Erwachsenen sagen?“, fragt er und lacht wieder.

„Manchmal.“, sage ich und hoffe, dass es die richtige Antwort ist.

Es scheint so, denn er lässt mich in Ruhe.

Sie verlässt den Raum, die Vorhänge halb angehängt. Ihre Schritte hallen im Flur nach, seine auch als er ihr folgt. Ich halte mir die Ohren zu, weil ich den Streit nicht hören will, der folgt.

Ich höre nichts, was folgt. Meine Ohren sind verschlossen, aber nicht meine Augen, als sie einige Zeit später verweint in der Küche erscheint. Ihre rechte Wange ist gerötet, rote Streifen unterhalb ihres Ohrs.

 

Ich sehe weg und konzentriere mich wieder auf die Hausaufgaben.

Vergesse.

 

*

 

Meine Augen sind offen, als die letzten Bilder mich erreichen.

 

Ich sehe mich um. Wie lange habe ich geschlafen? Habe ich geschlafen?

 

Voice flüstert in mein Ohr, aber ich verstehe seine Worte nicht. Es hört sich an, wie das Rauschen der Blätter im Herbstwind. Ich kann die Bäume durch mein Fenster sehen. Keine Zelle. Nur ein Zimmer.

Die Uhr zeigt mir, dass ich das Mittagessen verschlafen habe. Normalerweise holen sie einen zum Essen, wenn man nicht kommt. Wegen den Magersüchtigen hier. Vielleicht auch, weil man einen geregelten Tagesablauf haben soll oder so.

Mich haben sie vielleicht vergessen, oder – wahrscheinlicher – mich schlafen lassen. Ich bin ja nicht magersüchtig, das steht irgendwo in ihren Akten oder auf gelben Post-Its in der Küche. Irgendwoher müssen sie ja auch wissen, auf wen sie achten müssen.

Vielleicht stand da vorn an der Tür in Pfleger, hat mich schlafen sehen und ist dann leise wieder davongeschlichen.

Das Gesicht.

Und ich habe sein Kommen nicht bemerkt.

Du siehst sie nicht. Du hörst sie nicht kommen und spürst nicht, dass sie da sind. Sie aber, sie wissen immer wo du bist und was du tust.

Kontrolle.

Ich schüttle den Kopf.

Die Kameras siehst du ja auch nicht. Du siehst sie nicht, aber sie sind da.

 

Ich stehe auf und mache mich auf den Weg in die Küche. Ich muss mir dringend etwas zu essen besorgen.

 

Hinter mir fällt die dicke Stahltür mit den kleinen Fenstern zu.

 

*

 

Sie kommt mit gesenktem Kopf in den Raum und ich glaube, genau deswegen fällt sie mir auf. Als sie an Lisa vorbeigeht weicht sie einen Schritt zur Seite, ich kann Lias abwertenden Blick selbst im Nacken spüren, dabei sieht sie mich nicht einmal an.

Sie war schon immer da, klar. Ich hab sie schon oft gesehen und vielleicht sogar schon ein paar Worte mit ihr gewechselt, obwohl, unwahrscheinlich.

Trotzdem sehe ich sie heute Morgen zum ersten Mal.

Sie trägt eine dunkelblaue Kapuzenjacke, die schon ziemlich ausgewaschen ist, obwohl man das ja nie so genau weiß, manchmal kann man sie ja so schon kaufen. Auch ihre Jeans sieht nicht sehr neu aus, aber das muss ja auch nichts heißen. Obwohl man das bei Jeans besser sehen kann, ob die absichtlich kaputt sind. Wie kommt man auch auf die dämliche Idee, eine Jeans symmetrisch kaputt zu machen?

Sie ist ziemlich dünn, vor allem ihre Beine scheinen viel zu schmal für die Hose zu sein. Sie lächelt als sie sich setzt, aber sie sieht niemanden dabei an, sondern lacht mehr in sich selbst hinein, die Augen auf die Tischplatte gerichtet.

Ich glaube, sie hat Angst aufzusehen.

 

In der Pause verlasse ich ausnahmsweise mal meine Einsamkeit und mache mich auf den gefährlichen Weg über den Schulhof, um Ausschau nach ihr zu halten. Ich finde sie nicht, obwohl ich den ganzen Hof ablaufe.

Als ich wieder zum Raum komme, sitzt sie schon darin, ruhig an ihren Platz, während alle anderen noch reden. Ich weiß nicht, ob sie Freunde hat, ich habe nie darauf geachtet. Sie sieht niemanden an, ihre Beine sind seitlich abgelegt, ihre Jeans unten an den Turnschuhen zerrissen.

An den nächsten Tagen sitzt sie immer schon so da, wenn ich komme. Manchmal sieht sie aus dem Fenster. Manchmal in die Luft. Manchmal unterhält sie sich mit einem der weniger beliebten Mädchen in der Klasse, aber sie sitzt dabei an ihrem Platz.

Mir kommt der Gedanke, dass sie es nicht mag, zu kommen, wenn die anderen schon in der Klasse sind. Zu ihrem Platz zu gehen. Mir fallen ihre gesenkten Augen ein, am ersten Tag, als sie mir auffiel.

Ich finde sie selten in der Pause und wenn, dann ist sie immer in einem Kreis von Mädchen, mit denen sie sich unterhält. Alleine finde ich sie nie, sie scheint eine unglaubliche Gabe zu haben, sich unsichtbar zu machen, wenn sie es will.

Dann, einmal folge ich ihr einfach. Das hätte ich schon viel früher machen können und vielleicht sollen, aber mit der Zeit wurde es fast zu einer Herausforderung, sie zu finden. Ein Spiel, vielleicht, auch wenn ich keine Spiele mag.

Sie sieht sich nicht um, als sie läuft. Sie geht zielstrebig. Quer über den Hof, bis sie die Tischtennisplatten aus Stein erreicht, die schon seit Jahren nicht mehr genutzt werden. Zwischen zwei Gebäuden der Schule – eines davon könnte die Hütte des Hausmeisters sein (ja, er hat ein eigenes Gebäude mit Büro und einem Lager für alle möglichen Gerätschaften, die er gebrauchen könnte) ist ein schmaler Spalt, gerade so groß, dass man bequem durchgehen kann, ohne sich seitlich zu stellen. Nicht nötig zu erwähnen, dass er mir nie vorher aufgefallen ist.

Ich gehe nicht ganz durch, sondern lasse ihr einen größeren Vorsprung, ehe ich folge.

Es ist ein kleiner abgetrennter Hof, ein großer Baum in der Ecke neben der Mauer, die den Schulhof von der Straße trennt. Eine Bank steht unter dem Baum, sie sieht aus, als wäre sie schon eine ganze Weile dort. Grüne Halme durchbrechen die braune Erde darunter.

Sie hat mich schon längst entdeckt und ist aufgestanden. Ich sehe, dass sie bereit ist, ihren Platz zu räumen, nur um ihre Ruhe zu haben. Aber sie bleibt.

Ich mache ein paar Schritte auf sie zu, dann bleibe ich stehe.

„Hi.“, sage ich und sehe mich um. „Schön hier.“

„Ein Geheimtipp.“, sagte sie und sieht mich dabei unverwandt an. Misstrauisch würde ich sagen.

„Geheimtipps sind dazu da, geteilt zu werden, findest du nicht?“

Jetzt kneift sie die Augen zusammen.

„Vielleicht kannst du es ja für dich behalten.“

Ich sollte ihr jetzt sagen, dass ich das tun würde und dann gehen, sie alleine lassen mit ihren Gedanken, an ihrem Geheimplatz, den ich entweiht habe, aber ich bleibe und sehe sie an.

Sie setzt sich und sieht in den Himmel.

„Hier steht die Welt still.“, sagt sie. „Das würde sie nicht, wenn hier alles voller Leute wäre.“, sie sieht mich an, wie um zu sehen, ob sie weiterreden kann, oder ob ich auf der Seite der anderen bin. Ich sehe mich um und nicke kaum merklich, um ihr zu zeigen, dass ich verstehe. Ich weiß, dass sie Recht hat.

Ich setze mich neben sie und sehe an ihrem Gesicht, dass sie überrascht ist, aber nichts dagegen hat.

„Und ich hab mich schon gewundert, dass man dich nie auf dem Schulhof sieht.“, lache ich. Sie lacht auch. Sie hat ein angenehmes Lachen, es klingt mehr wie ein Glucksen, als würde sie sich zurückhalten, als fürchte sie, zu viel von sich preiszugeben.

Wir reden eine Weile über die Schule, dann müssen wir zurück zum Unterricht. Der Gong klingt hier dumpf, als käme er aus einer anderen Welt und nur weil sie aufsteht, bemerke ich überhaupt, dass es geklingelt hat. Ich folge ihr zögernd, da ist sie schon in der Masse verschwunden.

Von da an verbringe ich fast jede Pause dort. Vielleicht ist es Hannes, der einen Riss in meiner Schale verursacht hat – Alice reißt ein ganzes Loch hinein. Sie ist kein Zombie und das völlig ohne Verweigerung, ohne offene Rebellion. Nur manchmal erhasche ich einen Blick darauf, wie schwer es ihr wirklich fällt. Aber ich frage sie nicht danach, noch nicht. Im Schweigen war ich schon immer gut.

Es ist ihr Platz, aber ich glaube nicht, dass ich sie störe. Sie lächelt, wenn sie mich sieht.

 

*

 

Sie fehlt dir, hier drinnen.

„Ja“, sage ich. Ich sage es laut. Es ist mir egal, ob sie mich hören.

Manchmal ist mir wirklich alles egal.

Denk an die Kameras.

Ich schüttle den Kopf und presse die Hände auf meine Ohren, auch wenn ich weiß, dass das keine Wirkung zeigt. Keine Wirkung zeigen kann. Aber vielleicht hilft ja auch der Placebo-Effekt.

Wir können sie ausschalten, wir beide. Du musst dich nur konzentrieren.

So ein Quatsch, denke ich, aber ich spreche es nicht mehr aus. Ich weiß, er kann mich auch so hören.

ER EXISTIERT NICHT, brüllt eine andere, vernünftigere Stimme in meinem Kopf. Keine Stimme wie Voice. Sie hat kein Gesicht. Sie ist Teil meiner wahren Gedanken.

Ich versuche mich darauf zu konzentrieren, aber es dauert nicht lange, bis er sich wieder in meine Gedanken schleicht. Er flüstert.

Sie beobachten dich.

Ich schüttle den Kopf. Wenn ich die Augen schließe, kann ich sie sehen, vor ihren Monitoren, wie sie mich angaffen, mit dem Finger auf den Bildschirm zeigen.

NEIN, brüllt es in mir, aber Voice ist trotzdem lauter.

Wir können ihr System durcheinander bringen. Wir können es zum Absturz bringen.

Ich muss an „Resident Evil“ denken, den Teil, in dem Alice übernatürliche Kräfte entwickelt, in die Kamera starrt und den Typen hinter dem Bildschirm so tötet. Wenn nur meine Alice solche Kräfte hätte.

Ich weiß ja nicht mal wo die Kameras sind.

Noch immer der Mann vorm Monitor in meinem Kopf. Er hat eine weiße Tasse mit dunkler Flüssigkeit vor sich stehen und nippt immer wieder daran. Kaffee vielleicht. Oder Glühwein.

Ich stelle mir vor, wie ihm Blut aus den Ohren läuft, dick und schwarz. Wie er sich überrascht an die Wange greift, wenn er das warme Rinnsal spürt und entsetzt aufspringt, wenn er das Blut an seinen Händen sieht. Ich stelle mir vor, wie plötzlich Schmerz durch seinen Kopf schießt und er lässt die Tasse fallen, die am Boden zerspringt. Die Flüssigkeit bildet eine Lache in die er fällt, als er auf die Knie sinkt.

Der Bildschirm!

Ich trete vor und sehe auf den Bildschirm. Ich sehe mich selbst und ich weiß, wenn ich mich jetzt umdrehe, werde ich direkt in die Kamera starren. Sie filmt mich von hinten.

In einem anderen Bildausschnitt ist mein Zimmer und mein Herz bleibt fast stehen, als ich sehe dass es nicht leer ist.

Voice sitzt auf meinem Bett, die langen struppigen Haare umrahmen sein Gesicht und lassen ihn irre wirken. Seine Augen sind aufgerissen und unten so schwarz, als füllten sie die Höhlen nicht ganz aus. Er trägt eine Clownsnase und eine seiner Hände steckt in einem großen weißen Handschuh, wie Mickey-Mouse sie trägt. Er grinst mich an und enthüllt dabei schlechte, aber ziemlich spitze Zähne. Und es sind viele, so viele. Sein Lächeln scheint unendlich breit.

Er sieht grotesk aus und er ist sich dessen bewusst. Sein Grinsen macht mir Angst und ich spüre, wie ich erst langsam wieder zu atmen beginne.

Ich habe Angst vor ihm.

Ich gehe einen Schritt zurück und mein Fuß stößt gegen den toten Körper des Wachmannes. Die Lache auf dem Boden sieht aus wie Blut, weil alles schwarz-weiß ist.

Als ich wieder zum Monitor sehe, hat Voice sich zurechtgemacht. Seine Haare sind kürzer und ordentlich, das Lächeln freundlich, nur die hellen Augen sehen noch ein bisschen zu starr zu mir hoch. Er winkt mich zu sich.

Ich zögere, dann tauche ich ein in den Monitor und wache auf meiner Pritsche in meinem kargen Zimmer auf. Die Stahltür ist dick und undurchdringlich, das Waschbecken starrt vor Dreck. Es ist nicht einmal mehr aus Porzellan, sondern aus Metall, wie in den ekligen Klos der Raststätten neben Autobahnen.

Das Gesicht ist wieder da und hängt vor der Scheibe. Ein Wachmann, nicht der, den ich gerade getötet habe. Er sieht nicht besonders gefährlich oder wütend aus, nicht so, dass man beunruhigt wäre. Aber er starrt die ganze Zeit herein und bewegt dabei keinen Muskel. Ich bin versucht, nach Voice´s Hand zu greifen, aber er würde sie mir entziehen, noch bevor ich sie greifen könnte. Sein freundliches Gesicht wirkt besorgt, er legt mir eine Hand auf die Schulter.

Keine Worte.

Es verzerrt sich langsam, das Gesicht, wird zu einem Monster aus einem Alptraum, kaum noch Mensch, kaum mehr Gesicht, das Grauen wird direkt durch die Scheibe auf mich übertragen und ich kann nicht anderes tun, als mich an Voice zu klammer, der sich langsam auflöst und mich alleine lässt mich diesen aufgerissenen, blutunterlaufenen Augen an der Tür.

 

Ich höre ein leises Summen aus dem Spiegel, aber ich sehe nicht hin, wage es nicht und außerdem sind meine Augen wie festgeklebt an dem Gesicht.

Es presst sich gegen die Scheibe, aber ich kann nicht zurückschrecken, im Gegenteil, meine Hände schlagen die Decke zurück und ich gehe mit unsicheren, unaufhaltsamen Schritt an die Tür.

Ein Schlag und die Stahltür erbebt.

Das Summen wird lauter. Es ist angenehm, beruhigend. Die Stimme gehört zu einer Frau.

Sie kommt mir bekannt vor und doch finde ich nirgendwo in meinem Kopf ein Gesicht dazu.

Blut tropft von meinen Händen, als ich die Fäuste balle. Ich blicke hinunter und merke, dass es Wasser ist.

Tränen vielleicht. Ich merke, dass sie mir auch über die Wangen laufen. Ich wische sie weg. Mein Atem geht schwer, einen Tick zu schnell, ich spüre, wie ich die Nerven verliere.

Verlierst – ha, du hast sie längst verloren.

Manchmal ist es fast tröstlich, seine Stimme zu hören.

Das Summen wird lauter, es ist eine Melodie, die ich irgendwoher kenne, aber ich kann sie ebenso wie die Stimme nicht zuordnen.

Ich wende mein Gesicht von der Tür und dem Mann dahinter, der erstarrt ist in seiner grausigsten Fratze, sehe an Voice vorbei in den Spiegel.

Sie hört auf zu singen und lächelt.

Es ist Alice, aber sie ist älter, um Jahre älter als in meiner Erinnerung. Ihr Gesicht hat sich kaum verändert, aber es ist durchzogen von feinen Linien, die sich in ihre Haut eingraben und Falten werden, wenn sie älter wird.

„Hey.“, sage ich, aber sie antwortet nicht, lächelt nur. Ihr Bild beginnt zu verschwinden. Ich geh auf sie zu, komme näher, bis mein Gesicht direkt vorm Spiegel ist, aber sie verblasst weiter und langsam kann ich mich hinter ihr sehen.

Dann sehe ich nur noch mich.

Die Fratze an der Tür ist verschwunden, aber sie hat einen blutigen Handabdruck hinterlassen.

Die Schläge hören trotzdem nicht auf. Die Tür biegt sich unter ihnen, bis der Schließmechanismus nachgibt, und er hereinstürmt, der Wachmann. Ich stehe still, schließe die Augen und bereite mich vor.

Er muss doch einen Schlüssel haben, denke ich, ehe er mich erreicht und zu Boden wirft. Sein Gesicht ist bedeckt von einer Maske – daher die grausige Fratze, seine Arme so stark, dass ich mich kaum wehren kann.

Seine Hände sind überall, sie halten meine Beine und Arme und drücken mich zu Boden. Er muss mindestens 6 davon haben.

Ich schlage um mich, ein letzter Versuch, ihn aufzuhalten, aber dann wird schon alles schwarz.

 

Ich weiß selbst, dass das alles nicht wahr ist.

 

Mein Rücken lehnt an der Wand. Ich sitze im Bett und starre an die Tür – die HOLZtür meines ZIMMERS – und versuche, wieder zu mir zu finden. Voice sitzt neben mir, aber er ist nur ein Schemen, nur in meinem Kopf da, ein Geist, der ausnahmsweise mal die Klappe hält. Ich bin ihm dankbar.

Die Uhr an der Wand tickt unaufhaltsam, immer weiter und ich weiß, in wenigen Minuten muss ich wieder zur Einzeltherapie.

Ich bin noch nicht so weit, mit dem anderen zusammen in einem Kreis zu sitzen und darüber zu reden.

Ich weiß nicht, ob er mich für gefährlich hält. Vielleicht glaubt er auch nur, dass mir das nichts bringen würde. Ich bin so gefangen in meiner eigenen Welt, wie soll ich da mit anderen reden, geschweige denn sie verstehen können? Wie ihnen vermitteln, wie hart, kalt, leer und vor allem verwirrend meine Welt ist?

Ich seufze und vergrabe mein Gesicht in den Händen.

Ich weiß nicht, woher das alles kommt. Mein Kopf scheint nicht zu wollen wie ich, er will mir Schaden, mich langsam in den Wahnsinn treiben.

Ich treibe mich selbst in den Wahnsinn. Nicht Voice ist mein Problem, sondern diese Bilder, diese Gedanken, diese Welt in der ich mich selbst gefangen halte. Ich weiß nicht, wann es wiederkommt, ob ich alleine sein werde oder - wie letztes Mal – um mich schlage, wenn man mich zu beruhigen versucht. Wenn ich eines Tages nach einem solchen Traum – einer Halluzination – aufwache und – oder schlimmer – wenn ich nicht mehr aufwache? Wenn die Welt voll ist von Wachmännern und Mädchen im Spiegel und Voice, der sich über das alles köstlich amüsiert.

Wenigstens heute bin ich klar.

Neben mir verblasst Voice und ich atme durch.

 

Als ich durch den Flur gehe, scheint alles unreal, weit weg von mir. Die Welt dort draußen unterscheidet sich immer mehr von der Welt in mir, so sehr, dass ich sie nicht mehr miteinander vereinbaren kann.

Wann hat das alles angefangen?

Ich blicke aus einem der großen Fenster auf dem Hof, der bedeckt mit bunten Blättern ist.

Herbst. Ich habe einen ganzen Sommer verloren, kann mich kaum erinnern, ihn gelebt zu haben.

Meine Hände zittern, als ich das Glas berühre. Es ist kühl. Meine Fingerspitzen drücken sacht dagegen, als könne ich es öffnen und hindurchtreten, hinaus in eine andere, neue Welt.

Noch eine Welt.

 

Ich fahre mir durch die Haare. Sie sind lang geworden. Als Kind hatte ich mal lange Haare, aber dann wurde ich so oft für ein Mädchen gehalten, dass meine Mutter entschied, sie mir abzuschneiden. Ich kann mich nicht mehr erinnern, irgendetwas dafür oder dagegen gesagt zu haben.

Ich kann mich nicht erinnern, überhaupt irgendwann mal etwas für oder gegen eine Entscheidung meiner Eltern gesagt zu haben.

Ich wusste, es hatte keinen Sinn.

Ich kann mich jetzt kaum mehr an mein Leben erinnern. Es ist, als würde ich jeden Morgen aufwachen und nur diesen einen Tag erleben.

Es fühlt sich an, wie das Aufwachen nach einer durchzechten Nacht, von der man nur verzerrte Bilder hat.

Ich habe andere Bilder.

 

Wenn ich die Augen schließe, sehe ich mich selbst in meinem Zimmer. Meine starren Augen, die bedeuten, dass ich schon wieder weggetreten bin. Meine Hände, die, nicht mehr zu mir gehörend, um sich schlagen, sich bewegen. Meine Beine, die ohne mein Zutun vorwärts gehen.

Meine starren, leeren Augen. Wie die meiner Mutter an diesem einen Mittwochnachmittag.

Ich sehe mich selbst, wie ich wieder in der kargen Zelle bin, den Pfleger hinter der Tür, dessen Lächeln durch meinen Filter betrachtet zu einer Fratze wird.

Ich sehe mich auf den Boden liegend, hilflos, unfähig meiner Welt zu entrinnen.

 

Ich spüre, wie Tränen in meine Augen schießen. Ich habe keinen Grund zu weinen, aber die Traurigkeit überkommt mich trotzdem, wie ein Schleier legt sie sich über mich, bis ich den blauen Himmel nicht mehr sehen kann.

Ich atme langsamer, schwerer. Manchmal weiß ich nicht, was besser ist, die Halluzinationen oder diese andere, kalte Welt, in der ich weiß, dass alles echt ist. Das Glas an meiner Hand, die Tränen auf meinen Wangen, der Schmerz in meiner Brust. Alles echt, alles echt. Wenn ich meine Alpträume habe, kann ich aufwachen. Wenn Voice mich drangsaliert, weiß ich, dass er irgendwann verschwindet.

Das hier wird nie enden.

 

Ich blicke hinunter auf den Platz und frage mich, was für ein Gefühl es ist, aufzukommen.

 

 

Es war wohl irgendwann im Mai oder Juni, als ich nach Hause kam und alles anders war. Es roch schon anders. Ein fremdes Parfüm lag in der Luft, das Parfüm einer Frau. Neben den Schuhen meiner Mutter stand ein weiteres Paar, hohe Schuhe, schwarz und klein.

Ich lief leise zur Küche, meine Füße berührten kaum den Boden.

Die Tür war geschlossen, aber ich konnte eine fremde Stimme hören und meine Mutter, die weinte.

Ich verstand nicht, was sie sagte, ihre Stimme war zu leise, mehr ein Murmeln. Ich widerstand der Versuchung, die Tür zu öffnen und blieb noch eine Weile stehen. Ich verstand ein paar Wortfetzen und, dass die Frau mit den kleinen Füßen wütend war, mehr aber nicht. Eine Viertelstunde später klopfte ich schüchtern und trat ein.

Sie sahen mich beide an und ich glaube, sie hatten den gleichen Gedanken im Kopf: Wie lange ich schon da draußen gestanden hatte, bevor ich geklopft hatte. So sahen sie mich an.

„Lukas, warum… bist du denn schon zu Hause?“, fragte meine Mutter, als sie ihre Stimme wieder gefunden hatte. Ich hatte sie gestört, bei etwas Wichtigem, das spürte ich jetzt.

Ich zuckte die Achseln. Ich verspürte nicht den leisesten Wunsch, ihr von meinem Tag zu erzählen. Ich fühlte mich überflüssig.

Sie nickte der anderen Frau kurz zu und stand dann auf, nahm mich sanft am Arm und schob mich aus der Küche. „Lass mich und die Dame kurz alleine, ja?“, sagte sie leise, aber ich wusste, dass die Frau mit den kleinen Füßen sie hören konnte.

Ich nickte, rührte mich aber nicht von der Stelle.

Sie seufzte und bückte sich ein wenig, sodass sie auf gleicher Höhe mit mir war. Ihre Augen waren dicht vor meinen, ihre Nase berührte mich fast.

„Ich erkläre dir später alles. Bitte lass uns jetzt allein.“ Sie richtete sich wieder zu voller Größe auf und als ihre Augen zu mir heruntersahen, wusste ich, dass ich verloren hatte.

Ich ging auf mein Zimmer, konnte mich aber auf nichts konzentrieren und so starrte ich wieder an die Decke, die weiße, löchrige Decke und dachte nach. Ich lauschte nach den Stimmen, aber sie waren zu leise, erreichten mich nicht.

Sie kam nicht, um mir zu erklären, was vorging. Sie sagte mir nie, was ihr unheilvoller Tonfall und die fremde Frau in der Küche zu bedeuten hatten. Als ich abends zum Essen kam, war mein Vater da. Er hatte eine seiner Geschäftsreisen abgebrochen und aß schweigend, niemanden von uns ansehend.

Geschirr klapperte und meine Mutter redete fröhlich vor sich hin, mit uns vielleicht, aber wir hörten ihr nicht zu. Ich wartete darauf, dass sie mich erwartungsvoll ansah, dann nickte ich oder sagte „mhhh“ oder etwas in der Art. Es war leicht, sie glauben zu lassen, man höre ihr zu.

Später hörte ich wieder Stimmen. Diesmal waren es die meines Vaters und meiner Mutter. Sie riefen laut, aber diesmal hielt ich mir die Ohren zu, um nicht zu verstehen, was sie sagten. Sie durchdrangen meine Hände mühelos, also begann ich zu singen. Ich wollte ihre Worte nicht verstehen.

„Schlampe.“, rief er und der dumpfe Laut verriet mir, was ich früher nicht hatte begreifen wollen. Ich weiß nicht, wie lange es so ging. Manchmal verebbten die Stimmen, nur um wieder anzuschwellen, wie Wellen im Meer.

Irgendwann knallten Türen. Ich erkannte sie: die Tür zum Schlafzimmer meiner Eltern, die Flurtür, dann verlagerten sich die Stimmen und nach einer Weile schließlich die Haustür. Ich hörte das Klicken von Frauenschuhen auf der Straße. Schuhen, die sich entfernten.

 

Eine Weile lang wagte ich nicht zu atmen. Die Welt stand still, hatte sich plötzlich aufgehört zu drehen. Später bemerkte ich, dass das Kissen durchnässt von meinen Tränen war. Ich hatte mein Weinen kaum bemerkt.

Ich muss wohl eingeschlafen sein, denn als ich später, verkrampft und mit geballten Fäusten wieder aufwachte, war ich nicht mehr allein im Zimmer. Ich spürte die Anwesenheit einer anderen Person noch, ehe ich die Augen öffnete.

Erst dachte ich daran, mich schlafen zu stellen, aber ich wusste, er würde lange ausharren. Mein Vater kann unglaublich geduldig sein.

Also öffnete ich die Augen und sah ihn an. Einfach nur das. Er schaute zurück. Und so blieb es eine Weile, bis ich die Stille nicht mehr aushielt.

„Sie ist weg, nicht?“

Er nickte.

„Wann kommt sie wieder?“

Es war still. Meine Uhr tickte, unbarmherzig und laut zählte sie die Sekunden der Abwesenheit meiner Mutter.

Er schwieg. Meine Hände fingen an zu kribbeln. Ich legte sie hinter meinem Rücken ab, als ich mich aufsetze und ballte sie zu Fäusten. Öffnete sie wieder und bewegte jeden Einzelnen Finger. Bis das Kribbeln verschwand.

„Und du, wirst du bleiben?“

„Ich muss, mein Junge.“, sagte er. Er hatte mich nie so genannt, aber es hörte sich nicht freundlich an, als er das sagte. Eher wie eine Bezeichnung für einen lästigen Klotz am Bein.

Und der war ich.

Darf ich vorstellen: Lukas. Immer. Allen. Im. Weg.

„Und wenn sie nicht kommt?“, wollte ich fragen, aber mein Mund weigerte sich, auszusprechen, was ich nicht einmal denken wollte.

Doch, sie kam wieder.

 

Natürlich tat sie das.

 

Als er ging, war ich erleichtert. Er war mir keine Hilfe, anwesend oder abwesend. Naja, eigentlich hatte er mir bisher mehr geholfen, wenn er nicht da war. Dann war alles ruhiger, vor allem sie.

Aber das war jetzt nicht mehr von Bedeutung.

Zum zweiten Mal an diesem Tag schlief ich erschöpft ein, ohne mich körperlich betätigt zu haben. Die Tränen taten ihr Übriges.

 

Ein paar Tage später kam sie wieder, aber er ging nicht mehr weg. Er hatte Ärger mit seiner Firma weil er diese Reise abgebrochen hatte. Ich glaube, er war deswegen sehr wütend auf meine Mutter.

Sie bewegte sich vorsichtig, wenn er in der Nähe war, machte keinen Lärm, ihre Füße berührten den Boden kaum, wenn sie lief. Neben ihrem rechten Auge war die Haut lila verfärbt und hätte ich bisher noch nichts geahnt, diesmal hätte ich es nicht leugnen können. Er schrie sie manchmal an, wenn das Essen zu kalt war, oder sie mit ihren zitterten Händen einen Teller hatte fallen lassen, aber er rührte sie nicht mehr an. Jedenfalls nicht in meiner Gegenwart.

Ich versuchte, mich zu dieser Zeit unsichtbar zu machen. Es funktionierte gut, besser noch als früher, denn die Beiden waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie keine Notwendigkeit darin sahen – oder keine Zeit dafür hatten, nach mir zu sehen. Die Stunden, auf die ich hoffte, waren die in der Schule, wenn Alice und ich in unserer eigenen kleinen Ecke des Pausenhofs saßen, nur wir, denn die Welt hatten wir ausgeschlossen.

 

Ihre Augen waren halb geöffnet. Der Schatten ihrer Wimpern lag auf ihren Wangen, so tief stand die Sonne. Wir hatten uns nach der Schule getroffen, schon seit ein paar Wochen verbrachten wir unsere Zeit unten am Fluss, im Schatten eines der großen Bäume, deren Zweige einen so hoch überragen, dass man glaubt, dort oben müsste man den Himmel berühren können. Ich hob meine Hand vor die Augen und verdeckte die Sonne mit meinen Fingern.

„Bald ist das Schuljahr vorbei.“, sagte sie leise. Wir spürten es an der Kraft der Sonne, die sich langsam entfaltete und einen Vorgeschmack auf den Sommer bot.

Ihre Hände waren ineinander verschränkt über ihrem Bauch gefaltet. Sie sah entspannt aus, aber ich wusste, dass ihre Hände verkrampft waren, dass das kaum merkliche Schwanken in ihrer Stimme ein Zittern war.

„Ja.“, sagte ich, unfähig alles andere in Worte zu fassen. Meine Hand, eben noch über meinen Augen, strich wie von selbst über ihre Schulter. Sie lächelte mich an, ein echtes Lächeln und es machte mich stolzer als irgendetwas sonst mich hätte machen können.

 

Ich hab sie gesehen, wie sie andere Menschen anlächelt. Es bewegt sich nur ihr Mund dabei, ihre Augen bleiben dunkel und die feinen Grübchen in ihren Wangen unsichtbar. Ich hab sie mit ihren Eltern gesehen, einmal, als ich ihnen zufällig in der Stadt begegnet bin. Ich hab sie viel früher gesehen als sie mich und sah sie mir eine Weile an, nur die drei, sie, ihre Mutter, ihr Vater. Sie standen vor der Eisdiele, die Eltern vertieft in eine Unterhaltung, sie gelangweilt, die nackten dünnen Scheinbeine schaben aneinander. Sie trug eine kurze Jeans, die oberhalb der Knie abgeschnitten ist, kurz, aber nicht so kurz wie die Mädchen sie manchmal tragen, wenn man die Innentaschen herausragen sehen kann. Ihre Beine waren blass, sonst hatte ich sie auch noch nie mit kurzer Hose gesehen, immer nur mit ihren langen, kaputten Jeans. Ihre gebräunten Arme bildeten einen Kontrast zu der blassen Haut, die übersäht war von feinen Linien, fast unsichtbar, wenn man nicht auf sie achtet.

 

Ich musste an diesen Moment denken, als ich mit ihr am Fluss war. Daran, wie sie ihre Mutter angesehen hat, an ihre hochgezogenen Mundwinkel, als ihr Vater ihr das Eis reichte und die dunklen Augen, die immer ein bisschen zu traurig für ihr Gesicht waren.

Auch jetzt waren ihre Augen dunkel, aber die Schatten schwanden bereits. Sobald wir die Schule und alle Menschen hinter uns gelassen haben, wurden sie immer nach und nach heller, bis sie mit ihrem echten Lächeln um die Wette strahlen.

Nichts konnte uns trennen in diesem Augenblick und das war alles, was zählte.

„Was glaubst du?“, fragte sie mich. „Wie wäre die Welt ohne uns?“

„Nicht anders.“, sagte ich damals. „Wem würde das schon auffallen?“

Sie zuckte die Achsel, aber sie widersprach mir weder, noch stimmte sie mir zu.

„Vielleicht würde etwas fehlen.“, sagte sie nach einer Weile. „Selbst wenn es uns nie gegeben hätte. Vielleicht würden die Leute das merken, aber sie wüssten nicht, was es ist. Hast du manchmal nicht das Gefühl, es fehle etwas, ohne zu wissen was?“

Ich musste an das Foto meiner Mutter mit dem Baby denken.

Dann schüttelte ich den Kopf und verstrubbelte ihr das Haar. „Worüber denkst du denn nach?“

Sie lächelte, aber ein Rest Traurigkeit blieb in ihren Augen. Dann schüttelte auch sie den Kopf und das Dunkle verschwand aus ihren Augen.

„Lukas.“, sagte sie. Ich wartete darauf, dass noch mehr kommen, sie mich ausschimpfen würde, aber sie ließ meine Namen einfach so stehen und nach einer Weile wurde er blasser und floss mit dem Wasser davon. Wir sahen ihm beide nach, schweigend, aber bei uns war das Schweigen nicht unangenehm. Es war mehr, als würden wir gemeinsam nachdenken oder vor uns hin träumen und die Stille war nur ein Teil davon, nicht das Eigentliche. Niemand von uns hatte je die Notwendigkeit gesehen, die Stille zwischen uns zu vertreiben. Sie war keine Wand, die uns trennte, sondern ein leichtes, sanft im Wind wehendes Band, das uns vereinte. Stärker als das von Hannes und mir, es würde nicht so schnell reißen. Ich starrte eine Weile dem Wasser nach, folgte mit den Augen den leichten Unregelmäßigkeiten im Strom, bis ich merkte, dass sie mich ansah. Ihr Gesicht war jetzt direkt vor meinem, so nah, dass ich ihre Anwesenheit auf meiner Haut spüren konnte. Wie feine Fäden, die uns verbanden, fühlte sich die Luft plötzlich an und ich bemerkte, dass sie anders aussah, als sonst. Erst später wusste ich, was anders war, an ihr. Es war ihr Blick. Sie sah mich nicht forschend oder neugierig an, wie sie es sonst tat. Sie sah mich an wie jemanden, über den man entweder schon alles weiß oder nichts wissen will, nicht unangenehm oder negativ, sondern vielmehr… selbstverständlich. Als würde sie mit mir reden, ohne Worte zu sagen. Als könnte ich ihre Gedanken lesen und sie ließe mich.

Ich dachte einen kurzen Moment lang, sie würde mich küssen und bis heute weiß ich nicht, ob ich recht hatte. Sie lächelte und kam mir für den Bruchteil einer Sekunde so nah, dass ich sicher war, dass ihre Lippen die meinen berührten. Der Hauch eines Kusses.

Dann legte sie sich zurück ins Gras, lächelte und schloss die Augen, dass Gesicht der Sonne zugewandt. Und ich glaube, so perfekt wie in diesem Moment war mein Leben bis dahin noch nie.

 

Die Schatten trieben uns irgendwann nach Hause, jeden zurück in sein eigenes Leben, jeder dieses Band hinter sich herziehend, das uns fortan verband. Die Dinge würden sich ändern, bald schon, aber für diesen ganz kleinen Augenblick waren wir wohl die zwei glücklichsten Teenager auf dem Planeten. Denn, Himmel, wir wussten beide, wie unbequem das Leben manchmal sein konnte. Aber gerade deshalb.

 

Wir bewegten uns in Blasen, abgeschirmt von der Außenwelt. Während des Unterrichts und auf dem Pausenhof sahen wir uns kaum an. Unser geheimer Platz auf dem Schulgelände und die Stunden am Nachmittag waren unsere Zeit.

Alice brachte mir bei, das Gift an mir abprallen zu lassen, selbst wenn ich den Zirkus in der Schule mit machte. Sie zauberte die Farben zurück, die mit Hannes´ wortlosem Geständnis verschwunden waren und noch viel mehr. Wenn sie durch den Raum ging, ließ sie kleine, bunte Akzente zurück, überall. Ein Blick von ihr reichte, um die Trostlosigkeit des Alltags zu verscheuchen. Besser bemerkt, kein Tag, an dem ich sie sah, war mehr Alltag. Wenn wir gemeinsam am Fluss lagen, hielten wir uns manchmal an den Händen, nur das, und wir versprachen uns, zusammen die letzten Jahre in der Schule zu überstehen, uns gegenseitig davor zu bewahren, dem Zombie-Virus zu verfallen, bis wir endlich frei sein würden und die Mauern des Gefängnisses hinter uns lassen könnten.

Aber wie das Schicksal eines jeden Traumes war auch das des unseren, an der Realität zu scheitern.

 

*

 

Ich lächle, als ich den Raum betrete, in dem er schon auf mich wartet. Ich hoffe, er glaubt, es ist ein gutes Zeichen, wenn ich lächle. Sonst weiß ich nämlich nicht, wie ich hier je wieder rauskommen soll.

Die im Vergleich zum Raum riesige Fensterfront ist auf den Park gerichtet, vermutlich um den armen, depressiven Seelen wenigstens einen schönen Ausblick zu bieten. Er sitzt wie immer in seinem Sessel, regungslos und lächelt mich an, als ich durch die Tür komme. Natürlich fragt er mich auch, ob ich etwas trinken möchte, das tut er immer, aber ich antworte wie immer mit einem stummen Kopfschütteln. Wenn ich jetzt etwas wollen würde – würde er das vielleicht als Zeichen sehen? Sich auf seinem Block eine Notiz machen, etwas in der Richtung „hat erste positive Reaktion auf Interaktion gezeigt, vielleicht bald bereit, in die zweite Phase überzugehen…“ oder „Sucht Kontakt mit der betreuenden Person, unbedingt näher beobachten!“ oder einfach nur „Er will Wasser.“ Mit der Randbemerkung „Wasser kann er jederzeit auch auf seinem Zimmer haben. Unbedingt genau beobachten!“.

Ja, ich denke zu viel. Nein, es ist nicht unbedingt das Denken. Es ist das, was ich denke…

„Stimmts?“, frage ich laut und grinse in mich hinein, während meine innere Vernunft sich die Hand gegen die Stirn schlägt. Ja, ich weiß wie verrückt das aussieht. Voice lacht sich in mir drin einen ab. Klar, der fühlt sich mal wieder sauwohl in meinen persönlichen Wahnsinn.

„Entschuldigung.“, sagt er. „Ich war wohl in Gedanken. Was stimmt?“

Natürlich weiß er, dass er mich nicht einfach überhört hat.

„Ach, das Wetter. Es ist wundervoll, richtig?“

Er sieht nach draußen. Naja. So schlimm ist es nicht. Blauer Himmel, bis auf ein paar, zugegeben graue Wolken.

Ich setze mich. Voice löst sich langsam aus meinem Körper und nimmt den Platz gegenüber ein. Ich bemühe mich, ihn nicht anzustarren, innerlich frage ich ihn mit Bettelstimme, ob er nicht mal eine Nacht lang hier bleiben will. Er grinst sein viel zu breites Joker-Grinsen. Wahrscheinlich renkt er dafür eigens seinen Kiefer aus oder so. Nur um mich zu ärgern.

Neben mir räuspert sich jemand und ich lenke meine Aufmerksamkeit auf den immer noch lächelnden Therapeuten.

„Wie geht es dir?“

Ja, er duzt mich. Ich bin wohl zu jung, um gesiezt zu werden. Oder nein, mein Status ist zu niedrig. Das ist es. Ein-deu-tig.

„Ja.“, sage ich und suche mit meinen Augen die Decke nach Spinnen oder Fliegen ab. Da hinten – ein schwarzer Punkt. Aber der ist immer da. Keine Spinnen – schade.

„Jaaa…“, fahre ich gedehnt fort, um Zeit zu gewinnen. „Geht so.“. Etwas kleinlaut. Nach der Aktion gestern (?) kann ich ja auch nicht freudestrahlend erzählen, dass Voice mich endgültig verlassen hat und ich nun endlich bereit bin, diesem Sanatorium den Rücken zu kehren.

„Dieser Vorfall vor Kurzem. Kannst du mir beschreiben, was da passiert ist, aus deiner Sicht? Es könnte sehr wichtig sein.“

„Ich bin ein bisschen außer Kontrolle geraten.“, sage ich zögernd. Man weiß nie, was man diesen Leuten anvertrauen darf. Erzähl ihnen von deinem inneren, imaginären Freund/Feind, der dich regelmäßig in den Wahnsinn treibt und sie stellen dir einen geradezu Ewigkeiten währenden Klinikaufenthalt in Aussicht. So sind sie, ja.

„Was hast du gesehen?“

Klar.

„Ich kann mich nicht genau erinnern. Ich war müde und ich wollte mich hinlegen. Dann wurde mir auf einmal schwindlig und ich bin irgendwie… naja, ausgetickt. Ich weiß nicht. Da kam dieser Typ und ich hab ihn nur noch verschwommen gesehen. Ich hatte Angst. Alles war ein bisschen verzerrt.“

„Sonst war da niemand im Raum?“

„Wieso?... Achso doch, dann kamen glaube ich noch andere Männer. Dann weiß ich nichts mehr. Tut mir Leid.“

„Du hast, um Hilfe gerufen, Lukas. Du hast jemanden gebeten dir zu helfen, der auf deinem Bett saß.“

Ich senke den Kopf und zucke die Achseln.

„Voice.“, sagt er.

„Ich…“, beginne ich, aber er lässt mich mit einer Bewegung verstummen.

„Es ist in Ordnung, Lukas. Ich kann verstehen, dass du nicht willst, dass wir uns damit beschäftigen. Du hast Angst, dass er nicht verschwindet und du hier nicht mehr rauskommst. Aber so läuft das nicht. Wir sind nicht deine Feinde.“

„Ich weiß.“, sage ich und senke den Kopf.

Er wartet, weiß, dass ich erzählen werde.

„Es ist nicht nur er.“, sage ich schließlich leise. „Mein ganzer verdammter Kopf“ – ich schlage mir mit der flachen Hand gegen die Schläfe – „ist gegen mich. Ich weiß nicht, ob das jemals aufhört. Was, wenn ihr das nicht flicken könnt? Ich will hier nicht bleiben. Nicht einmal einen weiteren Tag.“

Er sieht mich ernsthaft an. Einen kurzen Moment lang, sieht es so aus, als würde er tatsächlich darüber nachdenken, was ich gesagt habe. Was mich bewegt. Dann lächelt er sein unverbindliches Psychiater-Lächeln.

„Dir ist klar, dass ich dich nicht sofort entlassen kann. Aber ich verspreche dir, dass du nicht den Rest deines Lebens hier verbringen wirst. Auch wenn du jetzt vielleicht glaubst, dass alles gegen dich spricht, wirst du sehen, dass sobald wir uns damit beschäftigen, du dich immer besser fühlen wirst, immer mehr Herr der Lage. Eine stationärer Aufenthalt ist nur eine zeitlich begrenzte Lösung.“

„Und wenn es nie aufhört?“

Er lächelt mir aufmunternd zu.

„Vertrau mir Lukas. Wir Menschen sind sehr flexibel. Unser Verstand ist sehr flexibel. Du wirst nach und nach lernen auszublenden, was dir schadet. Es mag für dich aussehen, als sei dein ganzer Kopf gegen dich, aber es ist dein Kopf. Keine Fremde Macht, die auf dich zugreift. Es ist möglich für dich, das zu kontrollieren, du musst nur lernen, wie.“

Ich wende mich ab und starre aus dem Fenster.

 

„Was ist mit dir?“, fragte mich eine Frau um die fünfzig, als ich aus dem Zimmer komme, neugierig. Sie sieht mich an wie eine Attraktion im Zirkus, von unten nach oben und wieder herunter.

„Nichts.“, sage ich. Sie hebt einen Finger.

„Na, na, na.“, sagt sie. „Was hast du denn da drinnen gemacht?“

Die ist aber neugierig.

„Fußball gespielt.“, sage ich.

Sie nickt zufrieden.

„Jetzt weiß ichs.“

„Was?“

„Was mit dir ist.“

Ich sehe sich fragend an. Sie pfeift und wedelt mit der flachen Hand vor ihrem Gesicht herum.

Ich lache und halte ihr die Hand hin.

„Ich bin Lukas.“, sage ich.

„Maria.“, sagt sie und beäugt meine Hand misstrauisch, bevor sie sie ergreift.

„Und was ist mit Ihnen?“, frage ich sie, als sie sich gerade umdreht.

Sie wendet sich mir wieder zu und lacht. „Geheimdienst.“

Ich hebe die Augenbrauen.

Sie lacht.

„Staatsverschwörung. Vielleicht. Vielleicht hat denen auch einfach meine Visage nicht gepasst. Auf einmal waren die vor meiner Tür und ich lande hier. So einfach ist das.“

„Was haben Sie denen denn getan?“

„Dir, Jungchen. Hier drinnen ist das eh egal mit der Formanrede.“

„Und?“

Sie zuckt die Achseln.

„Zu viele Katzen?“

Wir lachen beide.

„Bis später.“, sagt sie und geht in das Therapiezimmer, das ich gerade verlassen habe.

 

„Endlich mal jemand vernünftiges hier.“, sage ich, als ich in mein Zimmer komme und muss lachen bei diesem absurden Gedankenspiel.

Ich höre abrupt auf, als ich merke, dass ich alleine bin.

 

*

 

„Los, Schatz, der Zug fährt in ein paar Minuten!“, meine Mutter braucht immer ewig um fertig zu werden, aber wenn man dann einen wichtigen Termin verpasst, ist es immer die Schuld der anderen. Diesmal wird es meine sein, der ich mich erdreistet habe, eine Cola vom Automaten zu holen, weil in der urplötzlich aufgekommenen Eile, keine Zeit war, etwas zu trinken zu organisieren.

„Ja!“, ich hetze ihr hinterher.

Wir kriegen den Zug noch und ich entgehe somit meinem sicheren Tod.

Sie schiebt sämtliche Passagiere achtlos vorbei und quetscht sich mit unserem Hartschalenkoffer durch den Flur. Irgendwo am anderen Ende des Zuges hat sie Plätze in einem Abteil reserviert. Bis wir sie erreichen sind wir wahrscheinlich längst in Hamburg angekommen und vermutlich sind sie ohnehin längst okkupiert von der Großfamilie, die den Rest des Abteils gebucht und es nicht für nötig befunden haben, die zwei Kleinkinder und den Säugling ebenfalls anzugeben. Mit einem netten Lächeln und den leicht entrüsteten „Sie können die Kleine doch jetzt nicht aufwecken“, werden sie dann darauf hinweisen, dass es furchtbar nett von uns wäre, andere Plätze zu suchen. Das heißt, meine Mutter wird eines der Kleinkinder von einem Platz verjagen und sich neben dem Säugling setzen, den sie die ganze Fahrt lang finster anschaut, während ich es mir auf dem Flurfußboden gemütlich mache. Falls dort noch Platz ist.

Tatsächlich ist es ein junges Paar, das es sich auf unseren Plätzen gemütlich gemacht hat und der Rest des Abteils ist auch nicht von einer Großfamilie, sondern dem Kaffeekränzchen der Seniorengruppe gemietet worden, die sich lautstark auf die Reeperbahn freut. Natürlich ist es mein Platz, der nicht geräumt wird, da der nette junge Herr Probleme mit dem Knie hat, dass es unmöglich für ihn macht, länger als zehn Minuten am Stück zu stehen. Und selbstverständlich ist das alles gar kein Problem, wie meine Mutter lächelnd betont, bevor sie sich mit einem Ächzen auf den Sessel fallen lässt.

Ich mache gute Miene zu bösem Spiel und es mir auf dem Flurfußboden gemütlich.

Um nicht daran zu denken, wo wir hinfahren.

Eigentlich ist es ja toll und aufregend, die Großeltern zu besuchen. Ein paar beschauliche Abende auf der Veranda mit Blick aufs Meer (oder die Reeperbahn), Klamotten für lau („Kindchen, dir muss man doch mal was G´scheites anziehen!“) und Essen bis zum Erbrechen („Nur Haut und Knochen, meine Liebe, womit fütterst du ihn denn, wenn ihr zu Hause seid?“). Ich mag auch meine Großeltern. Wirklich. Aber jetzt würde ich überall sonst lieber hinfahren, als zu ihnen, Es ist wegen diesem einen Satz, den meine Mutter zu Dad gesagt hat, vor ein paar Tagen. Die Spannung war schon die ganze Zeit da, fest und dicht als könne man sie mit der Hand greifen, aber ich habe sie lieber ignoriert, als mich damit auseinander zu setzen. Auch wenn ihre Hände immer mehr zitterten und ihre Füße kaum den Boden berührten und wenn, dann nur begleitet von einem Gesichtsausdruck, der bedeutete, dass sie auf glühenden Kohlen lief (Ja, wie früher, als der Boden aus Lava bestand), habe ich nichts davon wissen wollen. Was hätte ich denn sagen sollen und wem? Zur Polizei gehen und meinen eigenen Vater wegen häuslicher Gewalt anzeigen? Zu meinem ach-so-tollen Vertrauenslehrer in dessen Büro ich schon zig Mal wegen Verhaltensauffälligkeiten gesessen habe?

Dann, vor zwei Tagen kam ich aus der Schule und sie sagte „Wir fahren zu meiner Mutter.“

Man kennt diesen Satz. Er bedeutet so viel wie „Ich will mich scheiden lassen, aber ich bin zu feige, um es dir sofort oder überhaupt persönlich zu sagen.“

Nur, sie hat sich nicht scheiden lassen. Bis jetzt noch nicht. Aber ich habe auch irgendwann die Orientierung verloren.

In diesem Sinne bedeutet die Fahrt zu Oma und Opa für mich viel Mitleid, nächtliches Weinen und der leidige Kampf um meine Gunst (nicht der meines Vaters und meiner Mutter, sondern meiner Großeltern). Ernsthaft, wieso teilt ihr mich nicht einfach auf?

Aber ich schätze, so läuft das nicht.

Der Zug füllt sich langsam und während meine Mutter finster den jungen Mann mit den Knieproblemen anstarrt überlege ich mir ernsthaft, an der nächsten Haltestelle auszusteigen. Sie würde es nicht mal merken, so sehr ist sie mit sich und der Erzeugung zusätzlicher Falten beschäftigt und ich würde mir den ganzen Trubel ersparen. Aber es hat keinen Sinn wegzulaufen und so bleibe ich sitzen und starre teilnahmslos auf das Toilettenzeichen, dass in regelmäßigen Abständen blinkt, während sich Reisende frohgemut an mir vorbeidrängen.

 

Der wahrscheinlich spannendste Moment des folgenden Urlaubs ist, als ich glaube, meinen Vater in einer kleinen Seitenstraße zu sehen. Er starrt zu uns heraus, grinst so ein komisches Grinsen und kommt mit schwankenden Schritten auf uns zu. Mir bleibt fast das Herz stehen und ich habe schon gerufen: „Mama, lauf!“, da tritt er ins Licht der Straßenlaterne und entpuppt sich als Bettler, der uns seine Büchse unter die Nase hält und „Almosen“, ruft. Ich habe noch nie jemanden gehört, der dieses Wort tatsächlich verwendet.

Nach der ersten Schrecksekunde bekam der Bettler wahrscheinlich die Almosen seines Lebens und ich könnte ein neues Herz gebrauchen.

Meinen Großeltern ist das nicht entgangen und noch am gleichen Abend kommt die so lange vermiedene Frage auf. „Was zur Hölle geht zwischen dir und deinem Ehemann vor?“

Regina ziert sich. Sie murmelt was von Differenzen, einer anderen Frau oder einem anderen Mann (an dieser Stelle verlasse ich kurz das Zimmer). Ich kann irgendwann nicht anders und mir rutscht heraus „sag doch, was los ist.“

Keine gute Idee. Den Rest des Abends verbringen meine Großeltern damit, alles aus meiner Mutter herauszuholen, was irgendwie möglich ist. Sie erinnern mich dabei an meinen Vater. Ihre Schläge sind nur trainierter, kaum festzustellen, wenn man nicht genau hinhört, den tadelnden Blick nicht genau analysiert. Es dauert eine halbe Stunde, eine halbe Stunde voller leichter Schläge: ein schmerzvoller „ich will doch nur dein Bestes“-Tonfall (den kenne auch ich nur zu gut), mal ein scharfes, dann ein sanftes Wort, untermalt von einer Krokodilsträne, die wirklich bühnenreif eingeleitet wurde. Ich könnte kotzen. Stattdessen schaue ich lieber mitleidig und warte und hoffe, dass es irgendwann endet.

Es endet mit einem Geständnis „Oh, Mutti, ich hätte dir schon längst davon erzählen sollen“ und jeder Menge Tränen.

Meine Oma tätschelt mir dann und wann die Schulter und meint, ich solle tapfer sein. Ich bin tapfer. So tapfer, dass ich mich nach 10 Minuten zum Schlafen verabschiede.

Gott sei Dank, hat unser Zimmer einen Balkon. Ich schnappe mir meine heimlich eingepackten Zigaretten und verdrücke mich nach draußen.

Meine Mutter weiß nicht, dass ich manchmal rauche. Ich bin ja „viel zu jung dafür“. Aber manchmal beruhigt es mich einfach. Nur, manchmal weiß ich wirklich nicht, wie ihr das entgehen kann. Oder ob sie es weiß oder nur so tut. Ich meine, ich bin vorsichtig. Ich rauche nur draußen, wechsle meine Kleider wenn ich reinkomme und putze mir die Zähne. Aber in meinen Haaren rieche ich es selbst noch.

Aber ich weiß ja, wie leicht man Dinge ignorieren kann.

Nach ein paar Minuten, die Zigarette ist fast aufgebraucht, kommt mein Großvater. Zuerst will ich in Panik verstecken, was ich tue, dann mache ich einfach selbstverständlich weiter. Das ist der Trick dabei. Wenn ich mich dumm anstelle und schuldig aussehen lasse ist es viel schlimmer, als wenn ich einfach so tue, als wäre das das Normalste auf der Welt.

„Junge.“, sagt er. „Es tut mir Leid, dass du das alles so mitkriegst. Das ist nichts für ein Kind.“

„Ich bin kein Kind mehr.“, sage ich. Und mit ein bisschen Bitterkeit in der Stimme: „Dafür haben die schon gesorgt.“

Und plötzlich möchte ich weinen. Aber ich kann nicht.

„Ich will nur…“, sagte er und hört sich dabei ziemlich unbeholfen an.

 

*

 

„…, dass du weißt, dass ich immer für dich da bin.“, sagt sie und gibt mir einen Kuss auf die Wange.

„Das weiß ich doch.“, sage ich. „Du bist doch meine beste Freundin. Ich vertraue dir blind.“

Sie kichert und ich weiß, dass etwas nicht stimmt. Sie ist normalerweise nicht so.

„Was ist los?“, frage ich. „Willst du weggehen?“

„Nein.“, sagt sie. „Wohin denn?“

Ich atme erleichtert auf.

„Ich weiß nicht. Berlin. In die große weite Welt. Das wolltest du doch immer.“

Sie wird ernst und seufzt.

„Nein, ich sitze hier wohl noch lange fest. Mindestens zwei Jahre.“

Dann ist sie volljährig. Ich weiß, dass sie nur noch dafür lebt.

„Was ist es dann?“, frage ich.

„Die anderen.“, sagt sie. „Sie reden.“

„Das haben sie schon immer.“

„Nicht so. Lukas… ich glaube, du musst gut auf die aufpassen. Sie machen sich lustig und es geht das Gerücht um, dass du… leicht zu provozieren bist.“

„Wie meinst du das?“

„Naja.“, sagt sie und blickt zu Boden.

„Wie mein Vater.“, sage ich und stehe auf. Das ist mehr als ich ertragen kann. Ich drehe mich um Kreis und balle die Fäuste.

„Du…“. Hilflosigkeit umgibt mich. Ich starre sie an. Flehend.

„Nein, ich weiß, dass du nicht so bist. Ich sage nur, sei vorsichtig. Sie werden irgendetwas versuchen, ich bin mir sicher. Um dich zu provozieren, dich vorzuführen.“

„Woher weißt du das?“

Sie sieht zu Boden.

Ich weiß sofort, was sie mir nicht sagen will, aber ich werde nicht wütend. Stattdessen öffne ich meine Hände, löse die Anspannung und drehe mich um.

„Ist okay.“, sage ich. „Aber mach dir keine Sorgen. Es ist mir egal, ob da was gegen mich läuft. Alles nicht so schlimm, solange wir uns haben, richtig?“ Und dabei stupse ich sie freundschaftlich an. Sie nickt, aber ich sehe, dass sie mir nicht glaubt. Und ich weiß, der Grund dafür ist nicht, was ich gesagt habe, sondern was sie nicht gesagt hat. Wie Hannes kann sie den Wunsch nicht unterdrücken, dazuzugehören, nur ein einziges Mal. Ich hoffe nur, sie weiß, mit welchem Opfer das verbunden ist.

„Ich bin kein Zombie.“, sage ich deshalb. „Das haben wir den anderen voraus.“

 

*

 

„Hey!“, schreit Hannes und wirft einen Kieselstein nach mir. Ich öffne die Augen und drehe mich in die Richtung, aus der der Schlag kam. Dann renne ich los.

Unsere Beine fliegen über den Boden hinweg, über Steine, Staub und getrocknete Blätter aus dem letzten Herbst. Ich höre ihn lachen und fange an zu brüllen, irre laut, damit er mich hört und vielleicht doch ein bisschen Angst bekommt. Das ist ein Spiel zwischen uns.

Ich habe ihn fast eingeholt. Er ist nicht so schnell, dazu ist er viel zu selten draußen. Er ist mehr so der Stubenhocker und ich glaube, auch jetzt ist er nur hier, weil ich nichts mit mir anzufangen weiß, drinnen im Sommer und er so dringend einen Freund haben will.

„Raaaahhhhhh!“, brülle ich noch einmal und mache ein bisschen langsamer, um ihm noch einen kleinen Vorsprung zu geben. Ich bin so nah, dass ich ihn schon keuchen hören kann, zu lachen hat er längst aufgehört, er bekommt kaum noch genug Luft. Ich erlöse ihn von seinem Leid und stürze mich von hinten auf ihn und reiße ihn mit zu Boden. Wir fallen weich, zumindest glaube ich das, bevor ich merke, dass der spitze Schrei, den er beim Aufprall ausgestoßen hat nicht vor Schreck oder aus Spaß kam. Ich rolle herum und richte mich auf. Er hält seine Hand vors Gesicht und dreht sie und verzieht dabei das Gesicht.

„Du hast mir das verdammte Handgelenk gebrochen.“, sagt er. Ich weiß nicht was ich sagen soll, also robbe ich näher an ihn heran und inspiziere seine Hand.

„Echt?“, frage ich mit schuldbewusster Stimme. „Tut mir Leid, ich…“

Dann sehe ich sein Grinsen. Er schiebt sich mit seinen Händen weiter von mir weg, bis er außer Reichweite ist, hebt einen kleinen Stein auf und schleudert ihn mir entgegen. Ich will gerade losrennen, da bleibt er stehen und sein Lächeln erlischt. Er sieht mich alarmiert an. „Hinter…“

 

*

 

„…dir. Los, du bist doch schneller als das.“

Ich verdrehe die Augen.

„Ich hab keine Zeit für sowas. Und keine Lust.“ Ich strecke die Hand nach meinem linken Schuh aus und ziehe die Augenbrauen hoch, um zu betonen, wie verdammt kindisch das ist.

Er kommt feixend näher und hält mir den Schuh hin. Ich begehe den Fehler danach zu greifen. Natürlich zieht er ihn sofort wieder weg und wirft ihn einem seiner Freunde zu. Patrick.

„Hey, Patrick, lasst doch mal den Scheiß. Ich will nach Hause, ihr wollt nach Hause. Es ist für mich nicht lustig und für euch…“, er wirft den Schuh hoch in die Luft und fängt ihn mit der linken Hand hinter seinem Rücken. „Verdammt noch mal! Gib! Mir! Meine! Sachen!“ Ich laufe mir einem Schuh auf ihn zu und versuche ihm den Schuh wegzunehmen. Er ist größer als ich. Ich mache mich vollkommen lächerlich.

Der Schuh wird weitergereicht. Jonas, Justin und wieder Patrick. Ich lasse den Jungs ihren Spaß und laufe von einem zum anderen, bis ich keine Lust mehr habe und mich in der Mitte des Kreises auf den Boden setze. Es geht noch eine Weile so weiter, dann trifft mich ein Schlag in den Rücken.

Ich zähle bis drei, um mich zu beruhigen, aber ich weiß jetzt schon, dass sie damit zu weit gegangen sind.

 

Ich werde nie wieder Opfer sein, das habe ich mir geschworen. Vor meinem inneren Auge sehe ich die Jungentoilette wieder, rieche den widerlichen Geruch nach Putzmittel und Urin. Es war keine gute Idee, in der Freistunde hierher zu kommen, aber ich hätte echt gedacht, Thomas und seine Sklaven hätten besseres zu tun, als  mir hierher zu folgen. Wahrscheinlich hat er einen davon dazu abgestellt, mir zu folgen und die anderen zu rufen, wenn sich eine Gelegenheit ergibt. Es würde mich nicht wundern.

Die altvertraute Angst setzt sich in meiner Brust fest, als ich seine Stimme höre. „Hey, Lucky!“, sagt er. „Was für eine Überraschung.“ Ich presse die Lippen aufeinander und beschließe, dass ich gar nicht so dringend pinkeln muss. Aber die Toilette hat nur einen Ausgang und der ist versperrt. Ich versuche mich, an Thomas vorbei zu drängen, aber er schubst mich zurück.

„Nicht so schnell.“, sagt er. „Ich hatte gehofft, wir könnten uns unterhalten.“

Ich schüttle den Kopf. Meiner Stimme vertraue ich nicht.

„Ich hab gehört, du willst weg.“, sagt er. Also hat es sich herumgesprochen. Herr Fähnrich hatte mir versprochen, es keinem der Schüler zu erzählen. Ich wusste, dass sie mir die letzten Tage zur Hölle machen würden. Und das hatte ich ihm gesagt. Wahrscheinlich dachte er, es sei nicht so schlimm. So wie mein Vater, der mich für verweichlicht hält. Aber ich würde zum Halbjahr wechseln, da hatte ich ihm keine Wahl gelassen. Das, oder ich gehe gar nicht mehr in die Schule.

Thomas kommt näher, die Lippen zu einem bösen Lächeln verzogen.

„Ich dachte, ich mache dir ein kleines Abschiedsgeschenk.“, sagt er. Mir wird kalt. Ich muss hier raus, denke ich.

„Lass mich gehen.“, sage ich so ruhig wie ich kann. Aber meine Stimme verrät mich. Sein diabolisches Grinsen wird breiter. „Du brauchst keine Angst haben, Lucky.“, sagt er. „Es wird nur ein bisschen wehtun.“

Dann packt er mich im Nacken und zieht mich zu einer der Kabinen. Scheiße, denke ich. Das hat der nicht wirklich vor. Ich dachte das gibt´s nur im Film. Mit beiden Füßen stoße ich gegen die Wand neben der Kabinentür. Ihr kriegt mich da nicht rein, denke ich. Aber dann spüre ich einen Tritt in der Kniekehle und werde nach vorne katapultiert. Mein anderes Bein wird zwischen Thomas und der Kabinen Tür eingeklemmt. Ein weiterer Tritt zwingt mich in die Knie, vor der Toilettenschüssel.

Thomas hat noch immer meinen Nacken umklammert. Seine Finger graben sich schmerzhaft in die weiche Haut, als er mich weiter nach unten zwingt. Aber ich bin verzweifelt und Verzweiflung verleiht ungeahnte Kräfte.

Ich hätte es nie gegen ihn und seine Sklaven gleichzeitig geschafft, aber die Kabine ist so klein, dass nur wir beide darin Platz haben. Ich werfe meinen Kopf zurück und erwische sei Gesicht damit. Ihm tut es wahrscheinlich kaum mehr weh als mir, aber er lässt mein Genick los. Ich drehe mich um, stehe auf und versuche an ihm vorbeizukommen, aber er hat sich von seinem ersten Schock erholt und greift nach mir. Ich kratze ihn im Gesicht und stoße ihn mit aller Kraft zur Seite. Sein Kopf schlägt gegen die Kabinenwand. Ich will mich an ihm vorbeidrücken, aber das brauche ich nicht mehr, denn schon packen mehrere Hände nach mir und ziehen mich aus der Kabine. Ich falle zu Boden.

Während seine Sklaven mich festhalten, kommt Thomas aus der Kabine. Ich glaube, er blutet. Aber das hält ihn nicht auf, denn er hat wieder sein Grinsen im Gesicht als er sich zu mir hinunterbeugt. Jetzt kann ich erkennen, dass Blut aus seiner Nase fließt. Gleichzeitig spüre ich einen Schmerz in meinem Hinterkopf, dort, wo ich ihn getroffen habe. Ein Gefühl von Genugtuung macht sich in mir breit und ich ertappe mich bei dem Wunsch, ihm tatsächlich die Nase gebrochen zu haben. Aber es hält nicht lange an, denn Thomas holt sich durch gezielte Tritte in meine Magengegend seine Rache.

Es bleibt unsere letzte Begegnung. Thomas fehlt die letzten Tage bis zu meinem Aufbruch und auch wenn mein ganzer Körper schmerzt, empfinde ich es als Sieg über ihn.

 

An diesen Tag muss ich denken, als mich der Schuh im Rücken trifft. So hat es damals auch angefangen. Mit genau solchen Dummen-Jungen-Streichen. Ich weiß, dass ich jetzt handeln muss, oder ich werde wieder nicht mehr sein, als der Junge, der nirgendwo dazugehört.

 

Mit einer stummen Entschuldigung an Alice und einem Grinsen im Gesicht drehe ich mich um. Sie haben den Spaß an mir verloren und bewegen sich fort von mir, aber das wird sich gleich ändern. Die Show beginnt.

Ich springe auf und renne auf den Erstbesten von ihnen zu. Es ist mir scheißegal, wen ich erwische. Hauptsache den Kloß in meinem Hals, der mit jeder Provokation größer wird, loswerden. Hauptsache frei. Für einen Bruchteil von einer Sekunde befinde ich mich in der Schwebe, dann pralle ich mit aller Gewalt an Patricks Rücken und wir fallen zusammen zu Boden.

 

*

 

Der Aufprall ist so heftig und schmerzhaft, dass ich einen Moment glaube, mir die Schulter, den Arm oder sonst etwas Wichtiges gebrochen zu haben. Ich sauge gierig die Luft ein und warte darauf, dass seine Hände mich erwischen und schütteln, schlagen, was weiß ich. Ich warte auf den Kampf, aber er bleibt aus. Erst da merke ich, dass ich alleine gefallen bin. Ich rapple mich wieder auf und reibe mir die Schulter. Von hinten kommt eine Schwester angelaufen und schaut mich mit besorgtem Blick an.

„Alles okay?“, fragte sie.

„Ja.“, murmle ich und bin nur froh, dass ich offenbar wieder in der richtigen Zeit gelandet bin. Auf dem Weg in mein Zimmer setzen die Kopfschmerzen ein.

Voice erwartete mich schon auf dem Bett.

„Jetzt nicht.“, flüstere ich. Ich hab keine Energie mehr für sowas.

„Tut mir Leid.“, sagt er.

Ich blinzle.

„Was?“

„Tut mir Leid.“, sagt er noch einmal. „Dass hier alles so aus dem Ruder läuft. Ich weiß wie das ist.“

Klar. Ich muss lachen. Und dann weinen. Ich lasse mich aufs Bett fallen und krümme mich zusammen und weine, bis meine Tränen irgendwann versiegen. Dann schäme ich mich dafür. Ich will nicht schwach sein. Ich weiß nicht mehr, wann ich das letzte Mal dem Drang, zu Weinen nachgegeben habe, aber es ist eine ganze Weile her. Weil ich nicht so sein will.

„Voice.“, sage ich. „Ich schaff das nicht mehr. Ich kann das nicht mehr.“ Ich presse meine Hände an meine Schläfen, um den Strom Erinnerungen aufzuhalten, der wieder über mich einzubrechen droht. Bilder, Töne, Gesprächsfetzen. Als hätte man Ausschnitte aus einzelnen Kinofilmen aneinandergeschnitten, ohne Zusammenhang, ohne Pause.

„Tut mir Leid.“, sagt Voice schon wieder. „Aber da musst du durch.“

„Dann kannst du mir nicht wenigstens schöne Erinnerungen schicken?“, frage ich, als mir klar wird, dass er dafür verantwortlich ist.

Er lächelt und ich konzentriere mich auf einen Film.

 

*

 

„Vöglein, Vöglein,

siehst mich wandern

hoch am Himmelszelt.

 

Vöglein, Vöglein,

siehst sie alle,

auf der weiten Welt.

 

Bist du selbst

So ungebunden

Frei von jeder Last

 

Hast noch immer

Heimgefunden

´drauf zu deinem Ast.

 

Wo du sitzt und für mich singst

Deine Zeit mit mir verbringst

Bis auch ich muss weiter gehen,

wirst´s verstehn.

 

Vöglein, Vöglein,

lass mich wandern,

endlos weit und fort.

Bin wie du auch ungebunden,

bleib nicht lang an einem Ort.

 

Vöglein, Vöglein,

könnt ich fliegen,

weit wär meine Reis´

endlos hoch in weite Ferne,

denn so frei wär ich auch gerne,

das um jeden Preis.“

 

Ich höre ihr versonnen zu. Ihre Stimme ist klar, als sie singt, eine merkwürdige Melodie und ein noch merkwürdigerer Text, ich traue ihr zu, dass sie sich das selbst ausgedacht hat, vielleicht gerade eben erst. Bei Alice weiß man nie so genau. Sie ist still, aber hinter ihrer ruhigen, glatten Fassade stecken unglaublich viele komplexe Gedanken, Wert- und Weltvorstellungen, die man manchmal nur noch bestaunen kann, wenn auch nicht immer verstehen.

„Willst du weg?“, frage ich sie, nachdem sie geendet hat.

Sie lächelt.

„Vielleicht.“, sagt sie. Es ist nicht das erste Mal, dass sie davon spricht. Wir wissen beide, dass es nicht nur darum geht, die Stadt zu wechseln.

„Ich könnte gerne fliegen“, redet sie weiter. „Ich würde nie wieder landen.“

„Dann würdest du verhungern.“, sage ich. „Auch Vögel müssen einmal landen.“

„Ich wäre ja kein Vogel.“

„Sondern?“

„Ein Engel.“

Wir prusten beide los. Ich schaue sie von der Seite an. „Wo ist dein lockiges, goldenes Haar?“, frage ich sie. Sie zwinkert mir zu. „Gefärbt und geglättet. Undercover.“

„Und deine Mission?“

„Dich zu retten.“

„Vor wem?“

„Das herauszufinden ist meine erste Aufgabe.“

Ich lache. „Vielleicht hat es jemand auf mich abgesehen. Meine geheimen Millionen. Im Garten vergraben.“

Sie schüttelt den Kopf. „Du wärst längst tot. Du könntest die Klappe nicht halten.“

„Warum darf ich eigentlich nicht der Engel sein?“

„Das wär doch sinnlos. Außerdem sind Engel immer weiblich.“

„Und Gabriel?“

Sie seufzt. „Na gut. Du bist der Engel. Und was ist deine Mission?“

„Na, dich zu beschützen.“

„Vor wem?“

Vor mir, möchte ich sagen, aber ich beherrsche mich.

„Das herauszufinden…“

Sie gibt mir eine leichte Kopfnuss.

Ich bin albern, ich weiß.

 

Unsere Füße sind wenige Zentimeter vom Wasser entfernt. Ich habe längere Beine und kann das Wasser mit den Zehenspitzen berühren. Ich spritze ein bisschen nach vorne und sehe sie an. Das Licht der Sonne hat sich in ihren Wimpern verfangen. Sie schaut in die Ferne mit diesem Blick, der sagt, dass jetzt gerade alles passieren könnte, und sie würd es nicht merken. Ich hab diesen Blick schon so oft an ihr gesehen. Manchmal glaube ich, es ist ihr Schutz, wenn sie nicht wissen will, was vor sich geht. Wie in der Schule, wenn sie alleine läuft oder wenn alle sie so anschauen, weil sie ist doch ein bisschen verrückt, sagt man. Wegen der feinen Linien, die sich über ihre Arme und Beine ziehen und ihren schwarzen Fingernägeln, die bis unten hin abgekaut sind, oder ihrer dünnen Beine. Weil sie nie ins Schwimmbad geht und jeder glaubt, zu wissen warum. Weil sie noch nie jemand essen gesehen hat und dabei wissen sie alle, dass das Quatsch ist. Ich hab sie schon oft essen sehen. Sie kriegt das nicht mit, wenn sie in diesem Modus ist und in die Ferne schaut und denkt vielleicht, oder ihr eigenes Lied singt, im Kopf, weil sie nur manchmal laut singt und nur für mich.

„Hey.“, flüstere ich und stoße sie an und ihre Augen werden groß, als sie zurück in die Wirklichkeit kommt.

„Soll ich dir noch etwas singen?“, fragte sie. Ich lächle.

„Aber ich muss dich warnen.“, sagte sie weiter. „Es ist furchtbar traurig.“ Und dann fängt sie an.

„Es waren zwei Königskinder,

die hatten einander so lieb…“

Sie singt weiter und ich lausche ihren Zeilen. Sie hat Recht, es ist sehr traurig. Ich kenne den Text, ich habe das Lied schon einmal irgendwo gehört.

Es geht um zwei Königskinder, die einander lieben, sich aber nicht erreichen können, wohl wegen dem Meer, das sie trennt. Als er beschließt, zu ihr zu schwimmen, sorgt eine Intrige dafür, dass er das Ufer nicht findet und ertrinkt. Sie merkt, dass etwas schiefgegangen ist und macht sich am nächsten Tag auf ans Ufer, um ihn mit Hilfe eines Fischers zu suchen. Als sie einen leblosen Körper finden, streift sie ihre Reichtümer ab, schenkt sie den Fischer und stürzt sich selbst in die Wellen.

Vielleicht würde das Lied schöner enden, wenn das Ende darauf hinweisen würde, dass sie jetzt zusammen sind oder so, aber es endet mit dem Jammer des Volkes über den Tod der Kinder.

Ich will sie fragen, warum sie gerade an dieses Lied denkt, aber ich schweige und genieße stattdessen ihre Stimme, als sie wieder von vorne beginnt. Sie ist nur hier so, nur mit mir.

Das kann uns keiner nehmen.

 

*

 

Irgendwann hat meine Mutter beschlossen, dass sie trotz aller Streits, trotz der Frau mit den kleinen Schuhen und trotz dem Satz „Wir fahren zu meine Mutter.“ bei meinem Vater bleiben wird. Als er nach Hause kommt, reden sie lange miteinander. Sie streiten auch und werden laut, aber die meiste Zeit reden sie tatsächlich nur. Am Ende sagen sie mir natürlich nicht, was dabei herausgekommen ist, aber er bleibt und sie auch und es wäre fast harmonisch, wenn sie nicht so viel weinen würde.

Manchmal glaube ich, sie hat alle ihre Tränen aufgespart, um sie dann, an dem Abend, als sie mit meinen Großeltern sprach, plötzlich loswerden zu wollen, als sei ein Damm gebrochen und sie könnte endlich weinen, eimerweise, wie ein Wasserfall. Sie sagt immer, es tut ihr gut, wenn ich sie dabei erwische und dann streichelt sie mir über den Kopf und lächelt ein unehrliches Lächeln. Wenn er da ist, weint sie nicht.

Ich treibe mich viel herum, wenn ich zu Hause bin, verkrieche ich mich schnell in meinem Zimmer und liege herum, lese, weiß nichts mit mir anzufangen. Manchmal erwische ich mich bei dem Gedanken, dass es besser gewesen wäre, wenn sie sich getrennt hätten, denn die Tränen meiner Mutter nehmen einfach kein Ende und jetzt ist es, auch wenn mein Vater nicht da ist, so als ob er da wäre. Das ganze Haus steht unter Spannung und ich spüre, wie sie sich auf mich und meine Mutter überträgt, sie weint, ich kann nicht weinen. Vielleicht, weil ich stark sein will, aber wenn ich es versuche, bleiben die Tränen trotzdem aus. Ich will schreien, aber ich bleibe still und halte aus, warte. Sie ist ein alter Bekannter, diese Spannung und ihre Züge sind mir vertraut wie der Schmerz, den sie bringt.

Wenn ich laufe, wird es besser. Wenn ich draußen bin, wird es besser. Fast weg ist es, wenn Alice und ich am Fluss sitzen, die Beine ins Wasser halten, und sie für mich singt. Ganz weg ist es nie.

Das Gummiband von Hannes wird immer attraktiver. Die Vorstellung, es zu ziehen, zu spüren, wie es sich spannt und selbst zu entscheiden, wann ich loslasse, wann der Schmerz kommt, hat etwas Magisches. Es wäre schön, einen kleinen Teil dessen unter Kontrolle zu haben, was mir passiert. Ich entscheide mich zuletzt für dicke Haargummis. Sie gehen fast als Armbänder durch.

Wie komme ich überhaupt schon wieder darauf?

 

*

 

Auf dem Weg durch den Flur nach nirgendwo begegne ich Maria und kann sie zu einem kleinen Fußballspiel überreden.

„Darf ich meine Katzen mitbringen?“, fragt sie misstrauisch, bevor sie zustimmt.

Dr. Martin hilft mir, noch ein paar andere Leute zu motivieren und wenig später stehen wir alle in mehr oder weniger tauglichen Sportklamotten auf dem nassen Rasen und schießen einen alten, schon ziemlich platten Fußball in imaginäre Tore. Das können wir, ja, uns Tore vorstellen, die gar nicht da sind. Es lebe die Geisteskrankheit.

Wir formieren zwei Teams mit je fünf Spielern. Maria und ich sind in verschiedenen Teams, aber so bekomme ich auch mal die Gelegenheit, ein paar mehr Leute kennen zu lernen. Da ist Bob, ein schüchterner, stiller Typ, den ich nie zuvor habe laut genug reden hören, dass man ihn hätte verstehen können. Ich glaube, er hat versucht, sich umzubringen. Einsamkeit ist ein großes Thema hier, das habe ich in den Gruppensitzungen mitbekommen. Ich war nur zweimal da, weil ich irgendwie nichts damit anzufangen wusste, lieber für mich sein wollte, aber jetzt merke ich, wie viel leichter es mir fällt, zu akzeptieren, dass ich hier bin, wenn ich nur die anderen sehe. Wenn Dr. Martin mir sagt, dass ich nicht alleine bin, ist das nur eine leere Floskel, oder kommt mir so vor, weil er keine Ahnung hat, weil er abends nach Hause gehen kann und mit der Tür der Anstalt unsere Welt schließt, ohne ein Teil davon geworden zu sein. Die anderen hingegen… ich weiß nicht, ob einer von ihnen jemanden hat, der im Zimmer auf ihn wartet, um ihn zu den unpassendsten Gelegenheiten vollzuquatschen, ob einer von den anderen diese Wut und Verzweiflung in sich hat und in regelmäßigen Abständen austickt und nicht mehr unterscheiden kann, was ist und was nicht. Aber sie bleiben hier, wenn Dr. Martin geht und Maria hat sicher auch ihre Geister, genau wie Bob, den sie vielleicht so lange in den Wahnsinn getrieben haben, dass er keinen Tag mehr länger damit leben konnte. Ich schließe die Augen und atme tief ein und aus und versuche, diesen Zwang von mir abzuschütteln, den Druck, normal sein zu müssen, nach außen hin und möglichst schnell hier wieder herauszukommen. Ich bin so damit beschäftigt gewesen, mich selbst zu bändigen, dass ich nicht anderes mitbekommen habe und keinen anderen Gedanken zugelassen.

„Hey!“, sagt Bob neben mir leise und ich öffne überrascht die Augen. Aber vielleicht habe ich mich auch verhört. Er nickt mit dem Kopf in Richtung Spielfeldmitte, eine kurze Bewegung, die mir fast entgangen wäre, hätte ich nicht darauf geachtet. Er hat Recht. Es geht los.

 

Als wir vom Spielfeld kommen, sind wir dreckig und durchgeschwitzt. Niemand redet, und ich bin mir nicht ganz sicher, ob das jetzt so eine unbeholfene Stille ist, in der niemand etwas zu sagen hat, oder ein einvernehmliches Schweigen, dass niemandem unangenehm sein muss. Ich entscheide mich für letztere und lächle zur Sicherheit jedem zu, dessen Blick ich einfangen kann. Ich merke, dass meine Hände leicht zittern und mein Herz wie verrückt zu Pochen anfängt. Ich senke meinen Blick und kann kaum fassen, dass ich aufgeregt bin, andere Menschen einfach nur anzusehen. Dass ich Angst habe, an einem Lächeln könnte etwas falsch sein. Ich schüttle den Kopf und denke noch einmal an die Einsamkeit, die zu unserem Leben dazugehört wie die Luft, die wir atmen. Mit jedem Zug saugen wir sie in uns ein und vergessen allmählich, wie es ist, mit anderen zu lachen, zu wissen, wie man sich verhalten muss, gar nicht darüber nachzudenken, weil es natürlich ist.

Ich schleiche mich an den anderen vorbei in mein Zimmer, hole meine Sachen und dusche im Eiltempo, damit ich fertig bin, bis die anderen ankommen.

Voice wartet geduldig in meinen Zimmer auf dem Bett und wartet, bis ich mich fertig gemacht habe, ehe er loslegt.

Nur – er legt nicht los. Er sieht mich an und wartet, bis ich weiß, worauf.

Mit zitternden Schritten gehe ich zum Bett, falle hinein und weine so lange, dass ich jedes Zeitgefühl verliere. Und während ich weine, streicht Voice über meinen Rücken und flüstert mir zu, dass alles gut wird und dass ich wütend sein muss, wenn ich nicht traurig sein will.

Nur ich weiß nicht, auf wen.

 

*

 

Der Tag, an dem Hannes geht, ist sonnig und warm. Es sind noch zwei Wochen bis zu den Ferien, aber seine Eltern wollen nicht länger warten. Der Glückpilz darf acht Wochen Ferien genießen.

Der Schweiß beginnt schon langsam, mein T-Shirt zu verfärben, als ich mich die Straße zu ihm hoch quäle, dabei ist es noch nicht mal Mittag. Er hat darauf bestanden, dass ich zu ihm nach Hause komme anstatt, wie sonst, unten an der Straße auf ihn zu warten. Vielleicht sollen seine Eltern sehen, dass er einen Freund hat, ich weiß es nicht.

Er steht schon vor der Haustür, von einem Bein auf das andere tretend und sieht mir in regelmäßigen Abständen entgegen. Dazwischen guckt er in die Luft, als wisse er nicht wohin mit seinem Blick, wohin mit seiner Nervosität. Als ich vor ihm stehe, deutet er eine linkische Umarmung an, aber ich gehe nicht darauf ein.

„Heb dir das für später auf“, sage ich und versuche so, die Anspannung zu nehmen, die über sein Gesicht geschrieben ist wie schwarzes Pech, aber er lächelt und nickt ebenso linkisch, sodass es fast schon grotesk lächerlich ist. Ich drehe mich um und laufe vor ihm her. Bald höre ich seine Schritte hinter mir, zögernd erst, dann regelmäßiger. Er hat seinen Rhythmus wieder gefunden. Wir haben unseren Rhythmus wieder gefunden.

Nach einer Weile hat er mich eingeholt.

„Wo gehen wir hin?“, fragt er mich etwas atemlos. Seine Stimme klingt heiser.

„Lass dich überraschen.“, sage ich nur. „Berlin, mh?“

Er zuckt die Achseln.

„Ich hab´s mir nicht ausgesucht. Hätte aber schlimmer kommen können.“

„Wie könnte es schlimmer kommen als Berlin?“

Seine Schritte bleiben aneinander hängen und fast hätte es ihn der Länge nach hingelegt, aber er fängt sich wieder.

Manchmal glaube ich, Hannes kann genau eine Sache auf einmal tun. Reden und Laufen ist zu viel verlangt. Laufen und atmen ist schon fast zu viel verlangt. Im Grund genommen kann man ihn am besten aus dem Konzept bringen, indem man ihn zwingt, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun. Manchmal nutze ich das aus, um ihn zu ärgern. Aber heute bin ich guter Laune und will ihn nicht ärgern, also bleibe ich stehen.

„Berlin ist wahnsinnig groß, oder? Wie willst du dich da zurechtfinden? Ich würde mich da nicht zurechtfinden!“ Ich drehe mich um mich selbst und deute auf den Wald, der in Greifweite scheint.

„Sowas hast du in Berlin nicht.“

„Es gibt Parks.“, sagt er zögernd.

Ich zögere. Dann atme ich ein und aus und sage, was ich bereuen werde, garantiert, irgendwann, aber ich weiß, dass Hannes das jetzt hören muss, dass ich es ihm schon viel früher hätte sagen müssen.

„Nun“, sage ich. „Ich zeig dir einen Platz, den gibt es in Berlin nicht. Dazu musst du schon herkommen.“

Er wartet. Er weiß, dass jetzt noch etwas kommt.

„Wenn dir danach ist…“, beginne ich und führe seufzend fort. „…kannst du mich jedenfalls jederzeit besuchen kommen.“

Sein Gesicht verzieht sich zu einem Strahlen und er umarmt mich, diesmal weniger linkisch und auch wenn ich nicht so auf Körperkontakt stehe, weiß ich, dass alles davon abhängt, dass ihm so etwas einmal jemand sagt.

Nach einer Sekunde, die eine halbe Ewigkeit lang zu dauern scheint – ich bin nicht der Einzige, der dank der Hitze unter Schweißausbrüchen leidet – lässt er mich los.

„Dann zeig mal diesen Platz.“

Ich komme mir verräterisch vor, als ich ihn durchs Dickicht an unseren Platz führe, Alice und meinen Platz, aber ich weiß, dass er nicht wiederkommen wird, so bald jedenfalls nicht und ihn somit auch keinem verraten kann.

Seine Beine sind noch länger als meine und so schafft er es mühelos, die Füße ins Wasser zu stecken, ohne sich allzu weit über den Rand zu lehnen.

Er starrt ins Wasser, den Turbulenzen hinterher, die seine Füße aufgewirbelt haben. Die Baumkronen zeichnen Schatten über sein Gesicht, das aufgeregt und verzückt zugleich schein. Er legt sich zurück ins Gras und starrt in den Himmel.

Ich sehe den Fluss hinterher und versuche das Gefühl zu verdrängen, dass ich ihn an einen zu intimen Ort geführt habe. Am liebsten hätte ich ihn weggeschickt oder gegen Alice ausgetauscht.

„Das. Ist. Der. Wahnsinn.“, sagt er und richtet sich auf.

Dass man sich noch so über ein Fleckchen Natur freuen kann, denke ich etwas missgünstig. Aber ich weiß, dass es viel mehr ist als das, Zuflucht vor dem Sturm, der dort draußen in jeder Sekunde in ihm tobt. Der in mir tobt. Ich weiß, wie viel so ein Ort bedeuten kann, an dem einen niemand finden kann. Alice hat meine Welt verzaubert, aber sie kann nicht über alles hinweg täuschen.

Ich finde dich überall, flüstert die Stimme von Patrick in meinem Ohr. Ich versuche, sie zu vertreiben, aber sie ist zu laut, zu bestimmt und am Himmel scheint sich eine Wolke vor die Sonne zu hängen. Hannes bemerkt es nicht.

Ich denke an meine alten Schuhe, daran, wie sie mich in den Rücken treffen.

Das Gefühl als meine Faust an sein Gesicht schlägt und alles danach und ich schaudere.

Du kannst dich verstecken, wo du willst, Lukas., er wischt sich Blut aus dem Gesicht, das von seiner Nase aus übers Kinn läuft und von dort auf dem Boden tropft. Mein eigenes Gesicht fühlt sich taub an. Meine Fäuste taub. Nahkampf scheint schon mal nicht meine Stärke zu sein. Dafür wirst du bezahlen.

„Ich will nie wieder woanders sein.“, sagt Hannes und auch wenn seine Stimme klingt, als weine er, sehe ich ihn diesmal nicht an, will mich nicht über ihn lustig machen, denn ich weiß, was er fühlt und ich glaube ihm aufs Wort.

Stattdessen nehme ich eines meiner Haarbänder – das am wenigsten ausgeleierte – und lasse es mit geschlossenen Augen gegen mein Handgelenk schnalzen.

 

*

 

Meine Haarbänder ums Handgelenk haben sie mir gelassen, Dr. Martin sagt, sie schaden mir nicht und können helfen, mich unter Kontrolle zu halten. Ich soll mal versuchen, sie schnalzen zu lassen, wenn Voice mich nicht in Ruhe lässt, hat er gesagt und genau das versuche ich jetzt.

Er seufzt nur.

Sieht aus, als würde es wehtun. Pass auf, dass du dich nicht verletzt, sonst nehmen sie die dir auch noch weg.

Auch noch?, frage ich und bereue es sofort wieder. Jetzt wird er mich wieder manipulieren. Er grinst mich an und hat plötzlich ein Messer in der Hand. Ich schrecke zurück, mehr verwirrt als ängstlich. Voice hat mich noch nie bedroht. Ich frage mich, was passieren würde, wenn er mich verletzt. Würde ich mich selbst verletzen? Würde das Messer durch mich hindurchgleiten, ohne mich zu berühren? Er spielt mit der Klinge, lässt sie in seiner Hand tanzen. Er sieht mir in die Augen, triumphierend. Er hebt die Augenbrauen und lässt sie wieder fallen, wie um mich zu provozieren.

Voice, sage ich vorsichtig. Was hast du vor?

Er sieht mich an und wüsste ich nicht besser, dass ich ihn nicht überraschen kann würde ich seinen Ausdruck als Überraschung interpretieren.

Oh, das weißt du nicht?, fragte er und lächelt. Die Klinge springt wieder zwischen seinen Händen hin und her.

Keine Angst, ich habe nicht vor, dir weh zu tun.

Ich zweifle schon an seinen Worten, als er dir Klinge ansetzt. Aber nicht bei mir – er hält sie an seine eigene Haut. Langsam bahnt sie sich einen Weg hindurch und als er sie absetzt sammelt sich Blut in dem frischen Schnitt. Ich starre ihn an.

„Warum tust…

 

*

 

„…du das?“, ich versuche meine Stimme sanft klingen zu lassen und das Zittern zu unterdrücken, aber ich schaffe es nicht ganz. Alice merkt es nicht, sie ist in ihrer eigenen Welt versunken und sieht mich fragend an. Vorsichtig streife ich mit meiner Hand über ihre Schienbeine – an die Oberschenkel wage ich mich nicht und berühre die feinen Linien, die näher betrachtet Wölbungen sind, von Narben. Manche haben noch eine unnatürlich rote, fast lila Farbe, andere sind verblasst und zeugen von Leid, das weiter in der Vergangenheit liegt. Neue Wunden kann ich nicht erkennen, habe ich noch nie an ihr gesehen, aber ich vertraue dem Frieden nicht.

Sie sieht mich an, nicht schockiert, sondern nachdenklich. Aber sie kann mich nicht täuschen. Ich weiß, wie sie reagiert, wenn man sie nach dem Ursprung ihrer Narben fragt. Ich kenne ihren steif werdenden Körper, ihren Blick, der überall hin nur nicht in die Augen des Gegenübers schaut und die Hitze, die sich in ihr zu stauen scheint. Ehe sie etwas Unverständliches murmelt und sich abwendet, geht oder das Thema wechselt.

 

So ist es mir beim ersten Mal auch mit ihr gegangen. Aber bevor sie gehen konnte, sagte ich zwei Worte, die alles zwischen uns verändern konnten.

„Ich weiß.“

Sie war stehen geblieben. Einen Moment lang hatte sie nur gestanden zwischen kommen und gehen und ich glaube nicht, dass sie selbst wusste, wofür sie sich entscheiden würde. Aber ich wusste es. Ich hatte es zuvor in ihren Augen gesehen, in der Art, wie sie selbst mit ihren Narben umging. Achtlos auf den ersten Blick, aber manchmal betrachtete sie sie auch, mit Reue aber auch Sehnsucht in ihrem Blick. Ich wusste, dass sie darüber reden wollte – darüber reden musste und dankbar sein würde, jemanden gefunden haben, vor dem sie sich nicht rechtfertigen musste.

 

Jetzt betrachtet sie mich voll Vertrauen als sie anfängt zu sprechen. Sie sieht mich nicht an, während sie redet, aber ich weiß, dass keine Beleidigung darin enthalten ist, sondern nur Unsicherheit und ihre Gedanken, die sie besser beisammen halten kann, wenn sie den Himmel betrachtet und nicht mich.

„Ich wusste, dass du das fragen würdest, irgendwann.“

Es ist zwei Wochen her, dass ich sie auf ihre Narben angesprochen habe.

„Ich komme ganz gut zurecht, falls es das ist, was du fragen willst.“

Kluges Mädchen.

„Nein, das meine ich nicht. Ich will nicht wissen, was du tust oder getan hast, ich will wissen, warum.“

Ihr Gesichtsausdruck verhärtet sich. Sie scheint die Zähne aufeinander zu beißen und gleichzeitig das Kinn trotzig hervor zu strecken. Dann ist der Augenblick vorbei und sie sieht mich wieder unschuldig und entspannt an.

„Ich weiß nicht.“, sagt sie und ich weiß – das war alles, was ich heute von ihr erwarten kann. Also bringe ich mit einer Hand ihre Haare in Unordnung und schubse sie mit der anderen leicht an, sodass sie sich spielerisch an mit festhält, um nicht nach vorne zu kippen. Sie lacht und wieder einmal spüre ich den unbändigen Wunsch, sie zu küssen. Und wieder einmal weiche ich davor zurück, verwirrt und ängstlich darüber, wie weit wir miteinander gekommen sind.

Du darfst niemand an dich ranlassen, flüstert eine Stimme in mir. Es ist zu gefährlich.

„Sie tun dir nur weh.“, sagt Alice und ich schrecke hoch.

„Was hast du gesagt?“, frage ich verwirrt und ängstlich. Mein Herz pocht wie verrückt, aber sie scheint es nicht zu bemerken.

„Sie tun nicht mehr weh.“, sagt sie leiser, als habe meine Unaufmerksamkeit ihr die Erlaubnis genommen, sich auszudrücken. „Die Narben. Sie sind hässlich. Mehr nicht.“

Sie sieht plötzlich müde aus und weiß nicht woran sie denkt, aber es scheint nichts Angenehmes zu sein. Ich schweige und beobachte dabei, wie sie langsam in die Ferne driftet, weg von mir und doch näher zu mir hin. Ich betrachte wieder die Narben, die ihre Haut wie die Falten einer alten Frau zerfurchen und frage mich, welche Geschichte hinter jeder Einzelnen steckt. Und ob ich das überhaupt so genau wissen will.

 

*

 

Zurück in meinem Zimmer lasse ich gedankenverloren meine Armbänder schnalzen während die Wunde an Voice´s Arm langsam verblasst.

Du hast ihr nicht helfen können.

Ich starre durch ihn hindurch in der Hoffnung, dass er sich auflöst. Er tut mir den Gefallen nicht.

Vielleicht hast du alles nur noch schlimmer gemacht.

Ich möchte etwas erwidern, halte aber meinen Mund. Es ist sinnlos. Er weiß, was ich denke.

Sie hat nach jemandem gesucht der ihr zuhört, ja. Aber hat sie auch jemanden gebraucht? Wer weiß, wie viele Therapeuten sie schon zum Reden hatte. Wer weiß, ob sie nicht auf dem besten Wege war es aufzugeben, bevor du aufgekreuzt bist. Vielleicht war es die Aufmerksamkeit, die…

Hör auf!, ich springe auf, obwohl ich weiß, wie verrückt es aussehen mag. Ich weiß, dass die anderen draußen stehen.

Drücken ihre Gesichter gegen die Schei-

Nein! Wir reden jetzt darüber, was du gesagt hast.

Über das Mädchen.

Über Alice.

Ich kann nicht ertragen, wenn er schlecht über sie redet. Über mich, ja. Über meine Mutter, meinen Vater – aber nicht über Alice. Denn alles was Voice sagt, müssen auch meine Gedanken sein, meine tiefsten, geheimsten Gedanken. Ich will diese Gedanken nicht denken. Ich will sie erst recht nicht hören.

Du möchtest also nicht über sie reden.

Nein. Nicht so, wie du es tust.

Worüber möchtest du dann reden?

„Verschwinde einfach.“, sage ich jetzt laut. Es ist mir egal, was die anderen denken. Ich will, dass er geht. Meine Stimme habe ich ihm voraus. Mein Fleisch habe ich ihm voraus. Er ist nur Schatten und Rauch.

Aber er ist meinem Kopf verankert und das hat er mir voraus.

Worüber, Lukas? Wir müssen uns doch unterhalten.

Lass mich in Ruhe.

Mein Widerstand wird kleiner.

Über Patrick?

Ich denke an sein großkotziges Getue, seine laute Klappe, aus der eine nie enden wollende Flut an Beleidigungen und Drohungen zu kommen scheint. An seine Fäuste, seine stechenden Augen, den Klang seines Lachens, das mich zeitweise bis in meine Träume verfolgte. Ich spüre Wut, aber weiter komme ich nicht, denn Voice führt etwas anderes im Schilde.

Über Regina.

Meine Mutter. Ich möchte nicht an sie denken. Aber Voice lässt nicht locker, er hat einen wunden Punkt gefunden, auf den er sich einfahren kann. Ich spüre, wie er mich in einen Gedanken mitreißt, seine Hände zerren an meinem Kopf, bis ich loslasse und…

 

„Lukas? Lukas!“, ein Arm greift nach mir.

„Was machst du denn schon wieder?“, ich richte mich vorsichtig auf und öffne die Augen.

Etwas stimmt nicht.

Es ist nicht die Stimme meiner Mutter, die mit mir spricht und es ist nicht ihr Gesicht, das direkt vor meinem in der Luft zu hängen scheint, mit einem Ausdruck, der von Besorgnis und Belustigung zeugt.

Es ist Maria.

Mit einer Selbstverständlichkeit, deren Herkunft mir schleierhaft ist, nimmt sie mich an der Hand und zieht mich hinter sich her.

„Gruppensitzung.“

Ich folge ihr zögernd und sehe mich um.

Das Zimmer ist leer.

 

„Ich dachte, du wärest vielleicht gerne mal wieder dabei.“, sagt Dr. Martin und schließt die Tür hinter mir. Maria huscht auf ihren Platz, das Grinsen eines Menschen auf ihrem Gesicht, der seine Aufgabe zufriedenstellend erfüllt hat. Ich nickte und setze mich auf den einzigen freien Platz. Ich kenne die beiden, die neben mir sitzen nur vom Sehen her. Einer war beim Fußballspiel gestern dabei, aber ich kann mich an seinen Namen nicht erinnern. Er lächelt mich aufmunternd an. Sie alle lächeln mich aufmunternd an. Mir wird unheimlich zumute und ich räuspere mich.

Dr. Martin beginnt die Sitzung damit, dass er etwas über Zusammenhalt redet über Unterstützung und darüber, dass wir den Kontakt zur Außenwelt, zu anderen nicht verlieren dürfen. Selbstverständlich meldet sich niemand, als es darum geht, wer den Anfang machen soll. Glücklicherweise habe ich trotzdem nicht das Pech, der Auserkorene zu sein, obwohl die anderen mich neugierig angucken.

Als ich dann schließlich doch an der Reihe bin, habe ich immer noch keine Ahnung, was ich sagen soll. Aber die anderen schauen nicht weg.

Also schaue ich zu Boden.

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“

Dass ich das alles nicht wollte? Dass ich niemandem wehtun wollte? Dass es einfach…

„Erzähl von deiner Freundin.“, sagt Maria. Ich glaube, sie kann mich wirklich gut leiden. Oder sie hat wirklich Mitleid mit mir. Jedenfalls hat sie mir gerade nicht das Erste Mal den Moment gerettet, seit ich hier bin. Ich stelle sie mir inmitten von Katzen vor und muss lachen. Ich hebe die Hand vor den Mund, damit sie es nicht sieht.

Auch Maria hat noch nicht erzählt, warum sie hier ist. Aber vielleicht hätte ich auch nur besser zuhören müssen.

„Alice.“, sage ich leise. „Woher weißt du von ihr?“

„Da steht ein Bild neben deinem Bett, Dummchen.“

„Maria, wir wollen hier respektvoll miteinander umgehen.“, sagt Dr. Martin.

„Sie ist hübsch, Lukas.“, sagt Maria also. „Eine gute Wahl.“

Ich lache.

„Ich habe sie mir nicht ausgesucht. Sie war einfach da, irgendwann.“

Sie sehen mich erwartungsvoll an. Also muss ich wohl erzählen.

 

*

 

„Folgst du mir?“, fragte sie, als ich zum zweiten Mal direkt nach ihr durch die Hecke schlüpfte.

Ich schüttelte den Kopf, sagte aber „Vielleicht.“.

„Bist du nicht auf die Idee gekommen, dass ich hier bin, um allein zu sein?“, fragte sie frei heraus.

Ich kaute auf meinen Lippen herum.

„Vielleicht.“, sage ich wieder. Sie setzte sich.

„Man kann auch zusammen alleine sein.“, sagte ich schließlich. Mir fiel der Buchtitel von Anna Gavalda ein, der sich fast genauso anhört. „Aber wenn du nicht mehr alleine genug bist, nach deinem Geschmack, dann gehe ich wieder.“

Sie nickte zufrieden. „Dann geh.“

Ich sah sie etwas schockiert an.

„Du kannst morgen wieder kommen und es versuchen.“, sagte sie, ein Lächeln in den Augen, aber die Stimme schneidend. Ich meine es ernst, sagte ihre Stimme, ohne dass sie es aussprechen musste.

Ich nickte, verbeugte mich, und ging.

 

Am nächsten Tag war ich schon vor ihr da.

Als sie mich sah blieb sie stehen, sah über ihre Schulter in den Pausenhof hinein und entschied schließlich, dass ich das geringere Übel war.

Sie setzte sich neben mich, holte ihr Pausenbrot heraus und bot mir eine Hälfte an.

Ich schüttelte den Kopf.

„Komm.“, sie legte es auf meinen Oberschenkeln ab.

„Du bist ja nur Haut und Knochen.“

War ich nur Haut und Knochen?

Schließlich nahm ich es, auch, weil ich es für eine Art Friedensangebot hielt. Vielleicht würde ich ab sofort die Pausen mit ihr hier verbringen dürfen.

Ich sah sie von der Seite an, während sie aß. Ihre Haare fielen ihr ins Gesicht, sodass ich es kaum erkennen konnte. Sie schien sich unter ihnen zu verstecken. Ihre Hände waren schmal, die Finger lang und knochig. Wer ist hier nur Haut und Knochen?, dachte ich, als ich ihren schmalen Körper zum ersten Mal so nah sehen konnte.

Aber ich schämte mich ein bisschen dafür und hätte es nie ausgesprochen, denn ich wusste, was man sich über sie erzählte.

Ich konnte dieses Gerede nicht ausstehen. Ich wusste, dass man auch über mich sprach und über Hannes und die Natur unserer Freundschaft. Manchmal verspürte ich den unbändigen Wunsch diesen Lästermäulern mal gehörig das Maul zu stopfen, aber davon würde das Gerede, würden die Blicke nicht aufhören. Angst ist selten das richtige Mittel, um die Gedanken anderer Menschen zu ändern. Du kannst ihr Verhalten damit ändern, das wusste ich von meinem Vater, aber du kannst nie verhindern, dass sie denken, was sie denken. Ich weiß nicht, ob es möglich ist, dafür zu sorgen, dass Menschen anders denken. Heute ist es vielleicht möglich, den Laut ihrer Gedanken zu dämpfen, mit leichter Unterhaltung in Fernsehen und Internet, aber du kriegst ihre Gedanken nicht tot, nicht, wenn sie richtig stark sind.

Und so warf ich ihnen nur todbringende Blicke zu und stellte mir vor, was ich nicht tun konnte und holte meine Energie aus Momenten wie diesen.

Als sie fertig gegessen hat, schaute sie mich an.

„Boah, wenn du mir jetzt immer zuguckst, darfst du hier nicht mehr bleiben.“

Sie nahm mir die zweite Hälfte aus der Hand und nahm augenrollend einen großen Bissen davon, als hätte sie meine Gedanken gehört.

Und dann waren wir zusammen alleine. Und es fühlte sich gut an.

 

*

 

Als die Sitzung zu Ende ist, will ich eigentlich schnell an Dr. Martin und den anderen vorbeigehen. Es strengt mich unerwartet an, mit so vielen Leuten in einem Raum zu sein, dabei waren es gerade mal zwei Stunden, die wir hier drinnen verbracht haben. Ich würde wieder zurück zur Schule müssen. Wie sollte ich da sechs Stunden am Tag zusammengepfercht mit dreißig Leuten in einem Raum aushalten?

Zum ersten Mal seit ich hier bin, denke ich an ein Leben danach, wie ich es führen könnte, wenn ich hier herauskomme. Falls ich hier je herauskomme, aber Dr. Martin scheint da ja zuversichtlich zu sein.

Der Gedanke macht mir Angst. Ich spüre eine unsichtbare Hand auf meiner Schulter.

Wir stehen das gemeinsam durch, sagt Voice, der unbemerkt wieder hinter mich getreten ist, nachdem er sich die ganze Zeit zurückgehalten hat.

Aber ich weiß, dass er lügt. Wenn es soweit ist, wird er fort sein.

Ich werde nie fort sein, sagt er und es hört sich eher wie eine Drohung als ein tröstender Gedanke an, aber im Moment ist es beides.

Nach allem, was passiert ist, werde ich keine anderen Freunde mehr haben.

Bevor ich aus der Tür bin, hält Dr. Martin mich auf.

„Willst du in Zukunft öfter teilnehmen?“, fragte er.

Nur ein Angebot. Keine versteckte Drohung. Ich zucke mit den Schultern.

„An der Informationstafel hängen jedenfalls die Zeiten aus.“, sagte er und nickt mir zu, wie um mich zu entlassen.

„Ich würde mich freuen.“, sagt er noch, ehe ich mich abwende und gehe.

Warum eigentlich nicht? Wenn ich lernen muss, wieder mit Menschen umzugehen, warum nicht jetzt gleich?

 

In meinem Zimmer sitzt Voice auf meinem Bett. Er sieht nicht sonderlich zufrieden aus. Ich ignoriere ihn erstmal und nehme das Bild in die Hand, von dem Maria gesprochen hat. Ich wusste kaum noch, dass es hier liegt. Alice scheint ein Leben weit weg zu sein.

Tja, sagt Voice. Du hättest damals auf mich hören sollen. Vertraue niemandem. Auch nicht ihr. Nicht einmal mir. Nicht einmal dir selbst.

Aber ich könnte so nicht leben, sage ich ihm.

Ich glaube nicht, dass es ihn beeindruckt.

Was hat es dir schon gebracht, dein Vertrauen? Wem hast du je vertrauen können? Deinem Vater? Deiner Mutter? Du weißt, wohin es dich geführt hat. Bleib für dich. Egal wie weh es tut. Du musst für dich bleiben.

Ich lehne mich zurück, bis er sich unter mir auflöst. Dann liege ich auf dem Bett, starre an die Decke.

Du weißt, wohin es dich geführt hat, höre ich den Nachklang seiner Stimme. Aber das war niemand anders, denke ich. Das war nur ich.

Und ich weiß, dass ich nicht ewig davor davonlaufen kann.

Irgendwann musst du es beim Namen nennen.

Aber heute ist nicht dieser Tag.

Stattdessen stelle ich mich einem anderen Dämon.

 

*

 

Als ich an diesem Nachmittag nach Hause komme, Hannes´ Stimme noch im Kopf, seinen Blick, als er die Tür hinter sich schließt, nicht hoffnungsvoll, eher als höre seine Welt an dieser Stelle auf, als ich an diesem Nachmittag nach Hause komme, weiß ich noch nicht, dass etwas nicht stimmt, als ich durch die Haustür trete. Die Schuhe sind im Schuhschrank, die Flurtür geschlossen, alles ist wie immer. Auch als ich meine Mutter in der Küche nicht finden kann, spüre ich noch nicht, dass etwas nicht stimmt. Stattdessen schaue ich im Kühlschrank nach dem Resten vom Mittagessen, das ich heute wegen Hannes verpasst habe. Es überrascht mich ein bisschen, dass ich keine finde, aber manchmal macht sie sich auch nicht die Mühe zu kochen, wenn Dad nicht da ist. Ich glaube, manchmal hat sie auch nicht die Kraft dazu. Stattdessen lege ich mir Käse auf eine Scheibe Brot, schnappe mir einen Joghurtbecher und esse, während ich mich in mein Zimmer verkrieche.

Normalerweise wäre mir die offene Tür zum Schlafzimmer nicht aufgefallen, hätte ich mich nicht umgedreht, um meine mit dem Ellbogen aufzumachen. Meine Hände sind voll und ich arbeite ungeschickt an der Türklinge. Gerade als ich die Tür dann offen habe, fällt mir der Spalt auf, der zum Elternschlafzimmer offen ist und die Schwärze dahinter.

Es ist mitten im Sommer. Es kann nicht pechschwarz im Schlafzimmer sein, außer jemand hat alle Rollläden herunter gelassen.

Vielleicht hat sie Migräne, denke ich und gehe zögernd in mein Zimmer. Ich lege mein Essen auf dem Schreibtisch ab.

Ich sollte sie jetzt nicht wecken, denke ich und setze mich an den Stuhl.

Aber jetzt ist das ungute Gefühl da.

Das letzte Mal, als sie Migräne hatte, hatte sie auch ein mächtiges blaues Auge. Aber Dad war nicht da, oder? Ich hätte seinen Wagen gesehen. Er wird nicht gekommen sein, um sofort wieder zu gehen.

Außer wenn sie sich gestritten haben. Vielleicht haben sie sich gestritten und er musste danach raus, ist wieder weggefahren.

Seufzend stehe ich auf und gehe auf Zehenspitzen zum Schlafzimmer. Ich öffne die Tür und schlängle mich vorsichtig durch, ehe ich sie wieder anlehne. Das war ein Fehler, denn jetzt sehe ich gar nichts mehr.

„Regina?“, frage ich leise, flüsternd in den Raum. „Ma?“

Es rührt sich nichts. Ich lausche, ob ich ihren Atem hören kann. Irgendein Ton ist jedenfalls hörbar. Vorsichtig öffne ich die Tür wieder, um mich rückwärts aus dem Zimmer zu schleichen. Wenn sie so tief schläft, sollte ich sie wirklich nicht wecken.

Das Licht aus dem Flur fällt aufs Bett und trifft ihren Körper und erst in diesem Moment weiß ich, auf welche Möglichkeit das ungute Gefühl mich aufmerksam machen wollte.

Meine Mutter schläft nicht.

Ihr Kopf hängt über dem Bettrand, auf eine Hand hat sie ihr Gesicht gelegt, die andere hängt herunter und liegt in einer Pfütze von etwas, das ich später als Erbrochenes identifizieren werde.

Die Welt bleibt stehen.

 

*

 

Der Rest ist zu schmerzhaft, um mich daran zu erinnern.

Ich lasse nur noch die Bilder durch meinen Kopf laufen, ohne aktiv daran teilzuhaben, ohne mich in der Situation wiederzufinden.

Ich spüre nicht, wie schwer der Körper meiner Mutter ist, sehe aber, wie ich an ihre rüttle und sie vergeblich versuche, zu wecken. Ich sehe mich auf dem Weg zum Telefon fallen, aber ich spüre nicht den Schmerz, nicht die Verzweiflung – jetzt zählt jede Sekunde.

Ich höre die Sirenen des Krankenwagens, beobachte mich in den Armen meiner Nachbarin.

Aber ich fühle nichts davon.

Irgendwann musst du es zulassen, sagt Voice.

Ich schließe die Augen. Voice hat Recht.

 

*

 

Ohne zu wissen, wo ich suchen soll, öffne ich alle Schränke. Die Frau vom Rettungsdienst steht noch vor der Tür, aber ich habe sie gebeten, alleine zu sein. Nein, sie muss mir nicht dabei helfen, Sachen für meine Mutter zusammen zu packen. Nein, ich brauche einfach nur einen Moment Zeit.

Einen langen Moment.

Ich sinke vorm Schrank zu Boden und bleibe liegen, den Kopf auf den Boden gelegt. Der Schock hat mich noch nicht verlassen, jetzt schlägt er erst richtig zu.

Ich fange an, zu Schluchzen. Ich kann mich kaum beruhigen. Meine Hände schlagen auf dem Boden und ich rolle mich zusammen.

Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal geweint habe. So richtig mit Tränen und so.

Ich kann nicht verstehen, was ich gerade gesehen habe. Ich will den Geruch von Erbrochenem aus meiner Nase kriegen, aber es geht nicht. Wie konnte ich das nicht riechen, als ich nach Hause gekommen bin, als ich das Zimmer betreten hatte. Ich erinnere mich an das Essen in meinem Zimmer. Ich erinnere mich daran, wie ich mit Hannes gelacht hatte.

War sie da gerade dabei, die Tabletten in sich hineinzustopfen? Hatte sie sie schon heruntergeschluckt? Wie viel Zeit ist vergangen, ehe sie sie zusammensammelte und sie erste nahm? Wie viel Zeit verging, seit sie die letzte geschluckt hatte, bis ich nach Hause kam? Wo war ich gewesen, als sie mich brauchte?

Ich reiße an meinen Haaren und krümme mich noch enger zusammen.

„Alles in Ordnung?“, fragte die freundliche Stimme der Frau, die vor dem Zimmer steht und auf mich wartet.

„Ja.“, sage ich nach einigen Sekunden, mehr bringe ich nicht heraus. Ich ersticke mein Schluchzen und richte mich auf, langsam, in Zeitlupe.

 

„Hallo, Ma.“, sage ich und drücke mich gegen den Körper meines Vaters, der hinter mir den Ausweg durch die Tür versperrt. Ich hätte nie gedacht, dass seine Anwesenheit mir einmal Sicherheit einflößen würde, nicht nur Angst und Abscheu und Wut.

Er schiebt mich sanft, aber bestimmt nach vorne.

Ich bewege mich nur einen einzigen Schritt weiter.

„Lukas.“, meine Mutter streckt ihre Hand aus. Sie sieht müde aus, aber nicht krank. Sie sieht nicht aus wie jemand, der dem Tod gerade von der Schippe gesprungen war. Nachdem sie sich freiwillig darauf gelegt hatte.

Ich gehe einen Schritt nach vorne.

Neben ihrem Bett steht ein Stuhl. So nah an ihr dran. Ich weiß, es ist schlecht, aber ich will nicht so nah bei ihr sein. Ich will sie nicht berühren.

Aber mein Vater steht immer noch in der Tür und ich kann der Situation nicht entfliehen.

Also setze ich mich und nehme ihre Hand.

„Wie geht´s dir, Mama?“, frage ich. Die Anrede kommt mir kaum über die Lippen. So habe ich sie als Kind genannt. Ich bin kein Kind mehr.

Ich sehe sie an und glaube, sie ist keine Mutter mehr.

Aber das ist Schwachsinn.

„Ich bin okay.“, sagt sie leise. „Es tut mir Leid, dass du das sehen musstest, Lukas. Ich konnte… ich wollte nicht, dass…“, sie findet nicht die richtigen Worte. Wahrscheinlich weil es keine Worte dafür gibt. Der Knigge des „Wie gehe ich mit meinem Kind um, nachdem ich versucht habe, es zu verlassen.“ ist leer. Und dann merke ich, was mich so von ihr wegstößt.

Sie hat sich von mir weggestoßen.

Sie wollte nicht bei mir bleiben. Nicht bei Dad. Sie wollte sterben.

Wie konnte sie sterben wollen, solange es mich noch gab?

Es ist egoistisch, das zu denken und deshalb schiebe ich den Gedanken weit von mir.

„Schon okay, Mama.“, sage ich stattdessen und drücke ihr mit all meiner Willenskraft einen Kuss auf die Stirn. „Ich werde da sein, wenn du wieder nach Hause kommst.“

Sie sieht meinen Vater an.

Oh, Nein.

„Es wird noch eine Weile dauern, bis ich nach Hause komme, Schatz.“, sagt sie zu mir.

Ich betrachte die Nadel, sie aus ihrem Arm heraus an einen Infusionsbeutel führt und verstehe erst dann, dass es nicht deshalb länger dauern wird, weil sie körperlich krank ist.

„Wo soll ich dann hin?“, frage ich, daran denkend, dass Hannes weg ist und ich bei Alice nicht bleiben kann. Ihre Eltern haben mich noch nicht einmal kennen gelernt.

„Ich werde erst einmal zu Hause bleiben.“, sagt mein Vater.

Nein, denke ich. Und ich sehe meine Mutter an und weiß, dass ich das niemals aussprechen darf. Lass mich nicht allein, denke ich.

Aber es gibt nichts, was sie tun könnte und es gibt nichts, was ich tun kann.

Ich trete einen Schritt zurück. Ich spüre die Anwesenheit meines Vaters direkt hinter mir, aber sie hat nichts Tröstliches mehr.

Langsam drehe ich mich um.

„Du musst jetzt stark sein, Junge.“, sagt mein Vater, ehe er zur Seite tritt.

Ich verlasse das Zimmer.

Ich muss jetzt stark sein, denke ich, aber alles, wonach mir gerade ist, ist mich zu verkriechen, zu verstecken, nicht mehr herauszukommen, bis sie wieder zu Hause ist und zwischen mir und meinem Vater steht, wie eine unsichtbare schützende Hand.

Vielleicht wird es nicht so schlimm, versuche ich mir zu sagen, aber ich sehe seinen enttäuschten Blick vor mir, jedes Mal, wenn ihm etwas nicht gefällt, was ich tue. Ich sehe die Drohung dahinter. Und ich weiß, dass ich keinen Tag lang mit ihm alleine sein kann.

Du musst, sagt eine Stimme in meinem Kopf, die so laut ist, dass ich sie fast physisch hören kann.

Du musst härter werden, sagt die Stimme. Du darfst nicht mehr schwach sein.

Und ich höre meinen Vater genau das Gleiche sagen, nach dem ersten blauen Auge, das ich aus der Schule mitgebracht hatte.

„Hat er wenigstens ein paar ausgeschlagene Zähne?“, hatte er gefragt und nicht verstanden, dass ich niemandem wehtun wollte.

Aber ich hatte gemerkt, dass er Recht hatte. Und auch wenn ich mich immer dagegen gewehrt habe weiß ich heute, weiß ich jetzt, dass ich ihm damals hätte zuhören sollen. Dass ich jetzt hart werden muss, wenn ich nicht untergehen will. Neben ihm kann man nur hart werden oder untergehen. Ich sehe es an meiner Mutter.

Und so werde ich hart.

 

*

 

Meine Hände zittern, als ich langsam aus meiner Erinnerung aufwache.

Ich schaue Voice an, dessen Hand auf meiner Schulter ruht.

Du warst das, sage ich. Dir hätte ich nicht vertrauen sollen.

Ich habe dir gesagt, du kannst niemandem vertrauen, sagt er. Sein Gesicht sieht nun aus, wie das des Jokers aus Batman.

Er wiegt sich vor und zurück, das Grinsen scheint von Ohr zu Ohr zu reichen. Ich spüre, wie ich wieder die Kontrolle verliere, über mich, über ihn.

Willst du einen kleinen Vorgeschmack auf das was kommt?

Ich schüttle meinen Kopf, aber es ist zu spät.

 

Blut an meinen Händen. Ich glaube nicht, dass es mein eigenes ist. Alice ist nicht weit von mir, aber sie sieht mich nicht. Ich weiß nicht, ob sie mich je wieder ansehen wird. Je wieder ansehen kann. Die Kette mit dem grünen Stein an ihrem Hals scheint mich anzulachen und ich weiß nicht, wie ich sie nicht eher sehen konnte, wie ich sie übersehen konnte, als hätte ihr Anblick mich davor bewahren können, zu tun, wovon mich niemand mehr abhalten konnte, auch Alice nicht. Ich spüre den Schrei in mir frei werden und weiß, dass es viel zu spät ist. Die Welt bleibt stehen, während ich die einzige Entscheidung treffe, die mir offen bleibt. Und während ich meine rechte Hand wieder hebe, lasse ich den Schrei heraus, der so lange in meiner Kehle steckte, dass ich vergaß, zu atmen.

 

Hände rütteln an mir. Mein Blick klärt sich und erfasst Voice, dessen Joker-Gesicht zur Seite gedreht ist, so weit, dass ein normaler Mensch seinen Kopf schon hätte verlieren müssen. Er lässt seine Füße vom Bett baumeln, aus dem ich gerade gefallen bin.

Dann erst sehe ich den Pfleger und seinen Mund, der sich bewegt, aber ich kann nicht hören, was er sagt. Ein schriller Laut dröhnt stattdessen in meinen Ohren. Es ist mein Schrei.

Ich kriege keine Luft.

Hilflos wie ein Fisch auf dem Trockenen schnappe ich und endlich verebbt der Schrei. Meine Lungen wollen sich immer noch nicht füllen. Vielleicht will ich sie nicht füllen.

Der Pfleger hält mir den Mund zu, sodass ich nur durch die Nase atmen kann.

Es wirkt.

„Ich kann nicht.“, sage ich.

„Es ist okay.“, sagt er. Ich glaube, ich kenne ihn vom Sehen her, aber sein Name will mir nicht einfallen.

„Nein.“, sage ich. „Ich kann nicht… ich war nicht…“, die Worte fehlen mir, aber ich muss reden, muss diese Bilder aus meinem Kopf reden, bis sie übertönt werden, überdeckt werden von der schwarzen Farbe, die meine Worte auftragen, wenn ich sage, ich habe das nicht getan.

„Ich habe nicht…“, fange ich an, aber dann sehe ich Voice auf dem Bett, blutend aus tausend Wunden. Er sieht aus, als wäre er gegeißelt worden und auf seiner Stirn beginnt ein Loch, das durch den ganzen Kopf hindurch geht. Ich kann die weiße Wand durch seinen Kopf sehen.

Ich schnappe wieder nach Luft.

Der Pfleger greift nach einem Knopf neben meinem Bett und drückt ihn.

Ich weiß, was das bedeutet. Ich habe es am Anfang ein paar Mal erlebt.

Und so, wie ich mich erinnere, kommt ein paar Minuten später eine Schwester mit einer Spritze und so, wie ich mich früher dagegen gewehrt habe, so willkommen heiße ich heute den Schlaf, den sie bringt.

 

*

 

Meinen ersten Tag zurück in der Schule begehe ich mit gesenktem Blick, ganz so wie Alice, als ich sie das erste Mal sah. Sie hat mich so weich gemacht, dass ich die prüfenden, mitleidigen Blicke meiner Klassenkameraden überall auf einem Körper spüre, wie leichte Schläge. Aber ich bin hart. Und so hebe ich meinen Kopf und schaue trotzig zurück. Sie sind ja doch alle nur Zombies.

Ich selbst habe darauf bestanden, die letzten Schultage noch mitzunehmen. Ich wüsste nicht, was ich sonst mit mir anfangen sollte, zu Hause, und wie ich den ganzen Tag mit meinem Vater allein sein könnte. Und so setze ich mich lieber meinen Mitschülern aus. Ich bemerke, dass Alice meinen Blick sucht, das erste Mal vor allen Leuten, hier in der Klasse, scheint sie bereit zu sein, zu mir zu stehen, aber es ist zu spät dafür. Ich sehe sie nicht an. Ich muss hart sein.

Herr Hocker hält sich zurück, er hat mich vor der Stunde beiseite genommen und ich habe ihn ausdrücklich gebeten, keine Ansprache über besondere Rücksicht mit mir zu halten. Ich hatte die Hoffnung, dass es sich nicht herumgesprochen hat. Aber da lag ich wohl im Unrecht.

Ich muss hart sein.

Unter dreißig hungrigen Blicken bewege ich mich zu meinem Platz und lasse mich fallen. Noch zwei Wochen. So schwer kann es ja nicht sein.

Ist es. In der Pause kann ich keine paar hundert Meter gehen, bis sie alle um mich herum sind.

„Tut mir Leid, Lukas.“, sagt Julius und klopft mir auf die Schulter.

Manche fragen, ob alles okay ist. Andere drücken ihr Mitleid direkter aus. Eine große Zahl starrt mich mit hungrigen Augen an und wartet geduldig, bis sie an der Reihe sind, mich zu zerfleischen. Als Lisa versucht, mich zu umarmen, ist es vorbei mit meiner Geduld. Ich stoße sie von mir. „Lasst mich alle in Ruhe!“, brülle ich dabei, ein wenig drastisch vielleicht, aber ich hätte keine weitere Sekunde in der Traube ausgehalten. Lisa stolpert auf ihren hohen Schuhen und fällt.

Sie schürft sich die Handfläche auf und läuft weg, nicht ohne mir vorher einen vernichtenden Blick zuzuwerfen.

Die Moralpredigt fällt aus, auch werde ich nicht zum Vertrauenslehrer gerufen, wie es sonst in einem solchen Fall gelaufen wäre. Erst in der zweiten Pause wird mir klar, warum.

„Ist schon okay, Lukas.“, sagt Lisa, die es irgendwie geschafft hat, sich von hinten anzuschleichen. „Ich weiß ja, was du im Moment durchmachst.“ Sie klimpert mit ihren überlangen Wimpern.

„Einen Scheißdreck weißt du.“, sage ich, mich daran erinnernd, dass ich hart sein muss. Aus den Augenwinkeln sehe ich wie Alice an der Ecke zu unserem gewohnten Platz auf mich wartet. Ich schüttle den Kopf. Ein Teil von mir hofft, sie versteht es nicht als Ablehnung, obwohl es sehr wohl als solche gemeint ist. Es ist der gleiche Teil, der sich zu ihr sehnt, zurück in eine Zeit, die noch unbefleckt schien von den aufkommenden Schatten.

 

*

 

„Schließ die Augen.“, flüstere ich.

Sie kichert und tut wie ihr geheißen.

Ich hänge ihr den Anhänger um, den ich vor einer scheinbaren Ewigkeit gefunden habe, ein ganzes Leben scheint es her zu sein. Das zerrissene Band habe ich ersetzt durch eine feingliedrige Kette. Sie passt zu ihr.

Sie öffnet die Augen.

„Du Schwachkopf!“, sagt sie und es hört sich an, als sei sie ein bisschen wütend.

„Ich hab´ sie gefunden.“, sage ich, um sie zu beruhigen. „Ich trage sowas selbst halt nicht.“

Sie kichert wieder, ein bisschen misstrauisch noch, aber fast schon wieder versöhnt.

Dann wird sie unruhig und ich verstehe zuerst nicht warum, bis sie mir einen Kuss auf die Wange gibt. Und ihre Unruhe sagt mir mehr als der Kuss und ich spüre auf einmal ein Gefühl in meinem Bauch, das so schön ist, wie nichts, was ich zuvor gefühlt habe.

Ich versuche, meine Hände ruhig zu halten, meinen Mund ruhig zu halten, denn mein Körper möchte sie berühren, ihr näher sein, als wir es je waren und ich weiß, wie viel Risiko es birgt, diesem Wunsch nachzugeben. Sie lehnt sich an mich und schaut in die Wellen.

Ich entspanne mich langsam wieder und streiche über ihr Haar, das Glück mit großen Zügen auskostend.

Ich hätte es speichern sollen, für schwere Zeiten, aber das wusste ich damals noch nicht und so sog ich es in mich ein und atmete es wieder aus, bis die ganze Luft davon schwirrte.

Es war unser letzter heller Tag, bevor ich hart werden musste und keinen Platz mehr für das Risiko hatte, das sie barg, aber auch das wusste ich nicht.

Nächstes Mal, dachte ich stattdessen, werde ich nicht mehr zögern.

 

*

 

Voices Gesicht erscheint vor mir und ich weiß nicht, ob es noch im Traum ist oder ich schon wieder wach bin.

Mein Körper lässt sich nicht bewegen und so kann ich ihn nur ansehen.

Er kichert und hüpft aus meinem Gesichtsfeld. Fast zärtlich bewegt er meinen gelähmten Kopf, sodass ich ihn wieder sehen kann.

Und dann merke ich, dass ich träumen muss, denn ich bin zu Hause in meinem Zimmer. Er setzt sich auf einen Schaukelstuhl neben meinem Bett, der in meinem Zimmer zu Hause allerdings nicht vorhanden ist. Als er beginnt zu schaukeln, wird sein Gesicht unscharf und als ich es wieder erkennen kann, ist es weiblich. Nach einer Weile erkenne ich meine Mutter darin, jünger, ein bisschen unbeschwerter und sie singt während sie mich beobachtet.

Dann ist Voice wieder da. Er nimmt meine Hand und zieht mich mühelos aus meinem Körper heraus und zusammen treten wir zurück und beobachten das schlafende Kind.

Das Summen meiner Mutter verstummt und meine Augen öffnen sich.

„Mama.“, meine Stimme ist so kindlich, so jung, dass ich sie nicht erkenne.

„Schh…“, sie steht auf und kniet neben dem Bett nieder, sodass ihr Gesicht auf gleicher Höhe mit meinem ist.

„Les mir noch was vor.“, flüstere ich.

Sie schüttelt den Kopf. Stattdessen setzt sie sich an den Bettrand und beginnt wieder zu summen.

Dann dreht sich ein Schlüssel im Schloss und sie haucht mir einen Kuss auf die Stirn und verlässt eilig den Raum.

„Sie hat dich geliebt.“, flüstert Voice mir ins Ohr. Ich merke, dass ich hier genauso körperlos bin wie er. Hier sind wir wirklich eins.

Das Kind im Bett steht auf und geht zur Tür.

Mir schwant nichts Gutes.

„Hey.“, zische ich. „Geh wieder ins Bett. Dad ist daheim.“

Der kleine Junge an der Tür hört mich nicht.

„Da merkst du mal, wie frustrierend das ist.“, sagt Voice.

„Lass mich hier raus.“, sage ich ihm. „Ich will das nicht sehen.“

Denn jetzt erinnere ich mich an jene Nacht, dunkel und mit den Augen eines Kindes, aber deshalb nicht weniger bedrohlich und ich möchte es nicht noch einmal erleben.

„Woher weißt du, dass der nächste Traum besser ist?“, fragte er und ich weiß, dass er Recht hat. Nach allen, was passiert ist, ist das wahrscheinlich noch eine der nettesten Erinnerungen, mit denen er mich quälen kann.

Also bleibe ich. Und noch während ich meine Entscheidung treffe, werde ich kleiner, senke mich in den kleinen Jungen hinein und finde mich schließlich in ihm wieder, klein, aber nicht hilflos, noch nicht.

Wenn ich mich so weit strecke, wie ich nur kann, erreiche ich die Türklinke. Ich kenne ihren Laut in- und auswendig. Sie bewegt sich in Zeitlupe und obgleich ich weiß, was passieren wird, hoffe ich, dass sie diesmal nicht nachgibt, so wie man den Helden im Lieblingsfilm tausendmal hat Sterben sehen und immer noch hofft, dass er diesmal nicht in die Falle tappt.

Aber die Tür gibt nach und ich schlüpfe aus dem Spalt.

„Mama.“, rufe ich. „Du hast mein Lied nicht fertig gesungen.“

Ich höre Stühle in der Küche zurück geschoben werden. Schritte auf dem Flur, der unendlich hoch und unendlich lang ist. Am Ende sehe ich meinen Vater auftauchen.

„Papa!“, ruft meine Kinderstimme und mein Kinderkörper hüpft aufgeregt auf der Stelle.

An Schlaf ist jetzt nicht mehr zu denken.

„Regina!“

Meine Mutter erscheint im Türrahmen. Ich spüre, dass etwas nicht stimmt, kann es aber nicht einordnen und so laufe ich auf sie zu, um mich in ihre Arme zu werfen, damit sie mich zurück ins Bett bringt und mein Lied zu Ende singt, so wie jeden Abend.

Aber ihre Arme kommen mir nicht entgegen. Ich lande mit meinem Kopf an ihren Oberschenkeln, kurz oberhalb ihrer Knie. Verwirrt sehe ich an ihr hoch, aber sie sieht gar nicht herab und sie lächelt auch nicht.

„Warum ist der Junge noch nicht im Bett?“

„Er konnte wohl nicht schlafen, Frank. Ich bringe ihn wieder zurück.“

Endlich bückt sie sich und ich strecke ihr meine Arme entgegen.

„Regina, der Junge kann selbst laufen.“

Sie verharrt in ihrer Bewegung.

„Sonst trägt Mama mich immer ins Bett.“, höre ich mich sagen und versuche, Augen und Ohren zu schließen. Voice, hol mich hier raus!, will ich rufen, aber ich habe keine Stimme.

Mein Arm wird weggerissen. Ich fange an zu schreien, spüre Angst und Unverständnis in mir aufsteigen.

Mama schaut nur zu.

Und Papa zerrt mich weiter, bis wir im Schlafzimmer sind. Er ist groß wie ein Riese und stark wie ein Bär.

Ich winde mich, will zurück zu meiner Mutter, aber er lässt mich nicht los, unbarmherzig und hart ist sein Griff.

Inzwischen laufen Tränen über mein Gesicht und Rotz aus meiner Nase.

„Papa!“, kreische ich, werde aber schlagartig still, als er mich mit beiden Händen an den Schultern festhält und sein Gesicht dicht vor meinem zum Stillstand kommt.

„Lass dich nicht behandeln wie ein Mädchen.“, sagt er. Ich schniefe.

„Hör mir zu, wenn ich mit dir rede!“, seine Stimme ist zu laut. Ich versuche, mich aus seinem Griff zu ziehen, aber er ist zu fest. Ich bekomme wieder Angst und fange an zu schreien.

Das ist mein Vater, der mich beschützt und liebt, aber jetzt ist er laut und tut mir weh. Mein Geschrei wird schriller, auch wenn ich mir innen zuschreie, die Klappe zu halten, es nicht noch schlimmer zu machen.

„Du willst es nicht anders.“, sagt mein Vater und drück mich unsanft aufs Bett. Danach schreie ich nicht wirklich, weil seine Schläge so wehtun – ein paar auf den Hintern sind kein sehr traumatisches Erlebnis – sondern weil ich solche Angst habe, weil ich ihn nie so gesehen habe. Als er der Meinung ist, seinen Standpunkt deutlich gemacht zu haben, deckt er mich sogar noch zu und gibt mir einen Kuss auf die Stirn, aber ich fühle mich nicht mehr geborgen.

Und die gedämpften Stimmen – wütend, schneidend – lassen mich auch nicht mehr einschlafen. Später höre ich meine Mutter an meinem Zimmer vorbeigehen, sie schluchzt dabei, aber obwohl sie mich immer tröstet, wenn ich traurig bin, wage ich es nicht, sie heute zu trösten.

Und ich spüre, dass es nicht richtig ist und schäme mich dafür.

 

„Es ist nicht deine Aufgabe gewesen, sie zu beschützen.“, sagt Voice, als er mich wieder mitnimmt, aber ich kann ihm nicht glauben.

 

*

 

„Wie geht es deiner Mutter?“, fragte Alice, die Stimme besorgt, die Augen forschend in mein Gesicht gerichtet.

Ich sehe weg. Ich will nicht antworten. Ich kann es nicht sagen, aber ich will sie auch nicht sehen.

Ich kann ihren Anblick nicht mehr ertragen. Ich kann die Kette nicht ertragen, die an ihrem Hals hängt und mich daran erinnert, was ich von ihr will. Was ich von ihr wollte.

Ich kann nur noch an den Kuss denken, der zwischen uns schwebt und den sie einfangen will, ich sehe es in ihren Augen. Nicht heute. Aber bald.

Und ich kann nicht aufhören daran zu denken, was nach dem Kuss kommt. Ich kann nicht aufhören, darüber nachzudenken, dass der Apfel nicht weit vom Stamm fällt. Ich kann mich nicht davon abhalten, mir vorzustellen, dass wir ein Paar werden und dass sie wie meine Mutter wird und ich wie mein Vater, nur wird sie nicht zögern, wenn sie gehen will, sie hat ihre Klingen und sie fürchtet keinen Schmerz.

Ich stehe auf, weil ich ihre Nähe nicht länger ertragen kann.

„Tut mir leid.“, sagt sie leise und ich kann hören, dass sie verletzt ist. Und ich will ihr Gesicht in meine Hände nehmen und meines in ihrem Haar vergraben, aber ich kann nicht.

Ich darf nicht.

Sie sagen, du lässt dich leicht provozieren, höre ich ihre Stimme aus weiter Ferne, einer anderen Zeit, einem anderen Leben.

Was wenn sie recht haben?

Du musst hart werden, sagt die Stimme in mir und ich richte mich noch weiter auf, spanne jeden Muskel an.

Sie steht auch auf und legt mir eine Hand auf die Schulter.

Ich muss hart werden.

„Wir schaffen das, Lukas.“

Ich brauche all meine Kraft, all meine Härte, um sie wegzuschicken.

Ich sehe ihr nicht ins Gesicht. Denn sähe ich in ihre Augen, ich müsste sie festhalten und nie mehr loslassen.

 

Ich übe das hart sein. Jeden Tag werde ich ein Stück kälter. Wenn ich Alice vor dem Tor stehen sehe und an ihr vorbeigehe, werde ich härter. Wenn ich Patrick auf dem Bolzplatz sehe und mich nicht klein mache, dass er mich übersieht, werde ich härter. Wenn mein Vater die Zeitung auf den Tisch knallt und ich seine Hände zucken sehe, weil wieder irgendetwas nicht stimmt, werde ich härter.

Wenn meine Mutter meine Hand halten will und ich sie berühren muss. Wenn ich ihr sage, dass ich sie liebe. Wenn ich Alice sage, sie soll sich verziehen.

Immer dann werde ich härter.

 

Nicht ganz so hart fühle ich mich, als ich neue Kleider für meine Mutter zusammen suchen soll. Das letzte Mal war alles egal, heute schäme ich mich, in ihrer Unterwäsche zu wühlen. Mein Vater hat diese Aufgabe schlauerweise auf mich delegiert.

Unschlüssig stehe ich vor dem Schrank.

Hauskleider. Was zum Teufel sind Hauskleider?

Ihr Bademantel? Misstrauisch betrachte ich den Frotteestoff. Daneben der Jogginganzug, ist das vielleicht Hauskleidung?

Vermutlich. Ich ziehe die Jacke vom Bügel und werfe dabei die Hose hinunter. Seufzend bücke ich mich danach und fasse, als ich danach greife, an etwas Hartes.

Neugierig wische ich die Klamotten beiseite, die die Kiste bedecken.

Es ist eigentlich keine richtige Kiste, mehr ein Koffer.

Ich lasse den Verschluss aufschnappen, gleichzeitig ängstlich und neugierig. Ich sollte nicht in ihren Sachen wühlen. Die Versuchung ist dann aber doch zu groß.

Darin liegt gepolstert eine Pistole, daneben ein kleiner Karton mit Munition.

Ich starre die Waffe fasziniert und gleichzeitig abgestoßen an. Was will meine Mutter mit so einem Ding? Dann fällt mir ein, dass es gar nicht ihre sein kann. Warum, wenn sie eine Waffe hatte, hätte sie...

Ich denke den Gedanken nicht zu Ende.

Die Pistole muss also meinem Vater gehören. Ich hebe sie vorsichtig aus dem Koffer und streife darüber. Stelle mir vor, wie er sich fühlt, wenn er sie in der Hand hält. Mächtig, stark. Unaufhaltbar. Aber was hatte er vor, als er sie gekauft hat? Wollte er sie einfach besitzen, ab und zu in der Hand halten, so wie ich jetzt? Für dieses Gefühl?

Oder war sie für schwere Zeiten gedacht, wenn seine Faust nicht mehr ausreicht?

Um meiner Mutter ihren Platz zu zeigen?

Hat er sie damit bedroht, wenn ich nicht da war?

Hat er auf sie gezielt, den Finger am Abzug, ihre Tränen ignorierend und erst aufgehört, als sie ihm alles gesagt hatte, was er hören wollte?

Meine Finger zittern bei diesem Gedanken. Ich möchte die Waffe auf ihn richten und Angst in seinen Augen sehen, dieselbe Angst, die meine Mutter vor ihm gehabt haben muss, jeden Tag wenn er zu Hause war.

Aber das bin ich nicht und so lege ich den kalten Gegenstand zurück.

Ich möchte das Ding wegwerfen, in einen Gulli oder den Fluss. Weg aus diesem Haus, das schon genug Leid gesehen hat.

Stattdessen stelle ich mir seine Wut vor, wenn er feststellt, dass der Koffer fort ist.

Deshalb schließe ich den Koffer, lege ihn zurück und wische die Kleider wieder darüber. Ich bemühe mich, nicht hinzusehen, als ich die restlichen Klamotten zusammen suche.

 

*

 

Als ich wieder richtig zu mir komme, ist es schon Mittag.

Ob ich das Essen verpasst habe?

Ich habe Angst vor den Erinnerungen, die auf mich einprasseln, in mich eindringen, in mein Innerstes, ohne dass ich sie aufhalten könnte, aber ich fühle mich auch stärker, sie zuzulassen.

Vielleicht hat Dr. Martin Recht.

Voice ist nicht da, aber ich zweifle nicht daran, dass er wieder kommt. Ich bin nicht naiv. Nicht mehr.

Vor dem Essen gönne ich mir eine Dusche. Mit dem Angstschweiß scheint das Gefühl langsam von mir abzuwaschen, das mich seit dem Aufwachen nicht loslässt. Es fühlt sich ähnlich an wie das ungute Gefühl, dass mich überkommen war, bevor ich meine Mutter im Schlafzimmer fand.

Damals hätte ich darauf vertrauen sollen.

Diesmal versuche ich es dennoch wieder weit von mir zu schieben.

Es sind nur die Nachwirkungen der anstrengenden Nacht.

Ich setze mich neben Maria, die etwas lustlos in ihrem Essen herumstochert. Es ist eine Art Eintopf, aber es könnte schlimmer sein. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal bewusst gegessen habe. Etwas ängstlich sehe ich an mir herunter. Haut und Knochen. Wie Alice gesagt hat.

Marias Ausdruck hellt sich auf, als sie mich sieht.

„Kommst du heute wieder in die Sitzung?“, fragt sie.

Ich nicke. Offenbar hat sich der kleine Zwischenfall gestern Nacht nicht herumgesprochen. Umso besser.

 

Dass Dr. Martin Bescheid weiß, hätte ich mir allerdings denken können. Aber als ich in den Raum der Gruppensitzung komme und seinen besorgten Blick sehe, ist es schon zu spät. Nun, ich hätte mich ihm ohnehin einmal stellen dürfen.

„Heute.“, sagt er. „Möchte ich, dass wir von unseren schweren Erinnerungen erzählen. Es muss nicht die Schwerste sein. Aber wir können auch nicht immer nur das Gute sehen und hoffen, dass der Rest von selbst verschwindet.“

Wäre ich bloß auf meinem Zimmer geblieben.

Ein Mädchen fängt an, ich weiß nicht, ob ich sie hier schon gesehen habe. Letztes Mal war sie jedenfalls nicht da.

„Meine Mutter“, fängt sie an. „Hat immer darauf bestanden, unsere Haare selbst zu schneiden. Sie wollte das Geld für den Frisör sparen oder hatte solche Freude daran, uns die Haare zu schneiden, ich glaube letzteres.“

„Uns bist du und deine Schwester?“, fragt Dr. Martin sanft.

Sie nickt.

„Sie konnte es nur nicht besonders gut. Also hat sie immer den gleichen Bob geschnitten. Es sah furchtbar aus. Am Anfang haben wir es nicht gemerkt, aber als wir älter wurden, haben die Kinder in der Schule uns ausgelacht. Die Beatles-Schwestern haben sie uns genannt. Deswegen hatte ich auch nie Freunde, damals. Ich war zwölf, als ich zum ersten Mal zum Frisör gegangen bin. Ich durfte nicht, aber niemand hätte mich mehr davon abhalten können.“

„Warum nicht?“, fragt Dr. Martin.

„Ich hatte mich verliebt.“, sagt sie ohne jede Scham. Ich sehe sie an. Sie ist nicht viel älter als ich, siebzehn vielleicht. Oder sie sieht so jung aus.

„Ich habe ihn nicht bekommen, aber meine Mutter habe ich nie wieder an meine Haare gelassen. Sie wirft es mir heute manchmal noch vor.“

Sie schweigt eine Weile.

„Möchtest du noch etwas sagen?“, fragt Dr. Martin.

Sie zögert.

„Heute denke ich oft noch, dass ich nicht gut aussehe. Ich muss ständig im Spiegel nachsehen, dass noch alles in Ordnung ist. Und dann denke ich, ich kann das gar nicht einschätzen, dass es in Ordnung ist, damals fand ich den Bob ja auch nicht schlimm.“

Stille.

„Deine Haare sehen toll aus.“, sagt Maria. Ich glaube, sie hilft hier jedem aus der Patsche.

„Danke.“, sagt das Mädchen und lächelt schüchtern, ohne jemanden anzusehen.

„Das sehe ich auch so.“, sage ich und bin sehr stolz darauf. Nach und nach pflichten die anderen mir bei.

 

*

 

Ich verbringe die restlichen Tage in der Schule damit, mir alle anderen vom Leib zu halten, wann immer mich jemand versucht, anzusprechen, werde ich laut und ungemütlich. Nach ein paar Tagen habe ich meinen Ruf weg und die Leute lassen mich in Ruhe.

Ich sehe sie tuscheln, wenn sie außer Hörweite sind. Ich brauche nicht zu hören, was sie sagen, ich weiß es ohnehin.

„Tragisch, das mit seiner Mutter, aber das gibt ihm nicht das Recht sich so aufzuführen.“, sagen sie. „Er war ja schon immer komisch, aber das hat ihn jetzt endgültig von der Kante der Vernunft gestoßen.“

Ihre Blicke werden abfällig, der „Hab-ichs-doch-gewusst“-Ausdruck tritt in ihre Augen und die der Lehrer. Ich bin stigmatisiert als hoffnungsloser Fall, Abschaum. Nun, sie werden mich mit der Zeit vergessen. Auch Alice.

Sie steht jetzt jede Pause mindestens fünf Minuten am Eingang zu ihrem Geheimort, ehe sie durch die Lücke schlüpft. Sie sieht mich an, ich kann ihren Blick im Rücken spüren. Aber sie geht nicht auf mich zu. Vielleicht hat sie sogar Angst vor mir.

Manchmal scheint sie sich auch anders zu entscheiden und statt den Rest der Pause alleine zu verbringen, stellt sie sich zu den anderen, meist einer Gruppe von weniger beliebten Mädchen. Aber auch von da aus lässt sich mich nicht aus den Augen.

Manchmal vergesse ich mich fast und gehe zu ihr, aber ich weiß, dass es das nur schlimmer machen würde. Ich darf sie auch nicht im Geringsten spüren lassen, dass es eine Chance gibt, dass alles so wird wie früher, denn das wird es nicht. Nie mehr. Da ist sie bei den Zombies noch besser aufgehoben als bei mir. Und wenn sie sich langsam selbst in eines verwandelt – was soll es mich kümmern.

 

*

 

Als nächstes ist Bob an der Reihe.

„Ich wurde mal verprügelt. In der Schule, richtig schlimm. Die nannten mich Fettsack und alles Mögliche andere.“

Er schweigt, bis er beschließt, dass es jetzt ruhig auch raus kann.

„Schweinchen, nannten die mich. Dickie. Schweinchen Dick. Ich war noch etwas korpulenter als jetzt. Ich habe gegessen, wenn ich traurig war. Es hat angefangen, mit den Pausenbroten, die sie mir weggenommen haben. Komm, wir helfen dir beim Abnehmen, haben sie gesagt. Dann haben sie angefangen, mich zu jagen und wenn ich nicht gelaufen bin, haben sie mich getreten, in den Hintern, richtig fest, ich hatte blaue Flecken davon. Komm, haben sie gesagt, ein bisschen Sport schadet keinem. Immer wieder. Ich wusste nicht, was ich machen sollte, ich wollte nicht petzen, das hätte alles nur schlimmer gemacht. Also habe ich über Bauchschmerzen geklagt, aber wenn ich wieder in die Schule kam, haben sie mich umso mehr drangsaliert. Dann, einmal, bin ich gestolpert und gefallen, als ich vor ihnen weggelaufen bin. Steh auf, Schweinchen, haben sie gesagt. Ich bin liegen geblieben. Schlimmer kann es nicht werden, habe ich gedacht. Aber schlimmer geht immer, das hätte ich wissen müssen. Sie haben mich getreten, fest in die Rippen und gesagt: Steh auf. Ich bin nicht aufgestanden. Und dann haben sie weiter getreten und jedes Mal: Steh auf, Schweinchen. Aber da konnte ich schon nicht mehr aufstehen.

Die haben mir zwei Rippen gebrochen und einer hat mir gegen den Kopf getreten, dass ich eine Gehirnerschütterung hatte und zwei Wochen zu Hause bleiben musste. Die Rippe, das hat länger gedauert.

Ich hab sie immer noch nicht verpetzt. Aber eine Gruppe von Mädchen aus meiner Klasse. Die hätten auch früher schon etwas sagen können, aber das hat keiner getan. Erst, als sie mich so verletzt haben, dass der Krankenwagen kommen musste, da haben sie auf einmal alle gesehen, was passiert war.“

Er stockte und schwieg.

„Ich wäre für dich eingetreten.“, sagt das Mädchen, das vorher gesprochen hat.

„Ich würde heute für dich eintreten.“, sagt ein Mann, dessen Namen ich immer noch nicht gelernt habe. Und dann sagen wir alle etwas in der Art. Und Maria tätschelt ihm kurz die Schulter, als sie ihm Taschentücher bringt, damit er sich seine Tränen vom Gesicht wischen kann.

 

*

 

Der Showdown mit Patrick lässt nicht lange auf sich warten. Es ist zwei Wochen in die Ferien hinein, einige Tage seit ich mich nicht mehr unsichtbar mache, wenn ich an ihm vorbeigehe.

Man könnte fast sagen, ich hätte ihn provoziert.

Aber ich kann nicht mehr warten. Ich halte dem Druck nicht mehr stand, der sich in mir aufbaut. Jeden Tag ein bisschen mehr. Und die Wut, die sich sammelt, wenn mein Vater schweigt, statt sich zu entschuldigen, bei mir oder meiner Mutter, völlig egal. Und die Wut, die sich sammelt, wenn ich an Alice vorbeigehen muss, damit sie mich nicht schwach machen kann. Und die Wut die sich sammelt, wenn ich sehe, wie schwach meine Mutter ist und ich mich frage, was gewesen wäre, wäre sie nur ein bisschen stärker gewesen. Hätte sie ihm nur einmal Paroli geboten. Oder hätte sie die Stärke besessen, ihn zu verlassen.

Dann müsste ich ihn jetzt nicht um mich herum wissen, lauernd auf eine Gelegenheit.

Die Stunden zu Hause sind unerträglich.

Und so stehe ich am Bolzplatz und sehe den Jungs aus meiner Klasse beim Spielen zu. Und so warte ich auf Patrick, der garantiert kommen wird, um eine Tracht Prügel auszuteilen oder sich eine abzuholen.

Er hat es verdient. Ich habe es verdient. Es ist mir völlig egal, wen es am Ende trifft.

Hauptsache der Druck lässt nach.

 

Und er kommt. Unsicher, misstrauisch, aber als er sieht, dass ich nicht gehen werde, scheint er an Mut zu gewinnen. Er hat keine Angst vor mir. Wie auch, das letzte Mal habe ich eindeutig den Kürzeren gezogen.

Ich denke an meine Mutter, an Alice und an Hannes, als ich meine Faust in seinem Gesicht lande, noch ehe er einen Anfang machen konnte.

Nichts ist so befreiend wie diese Prügelei. Es ist mir auch völlig egal, dass seine Freunde sich einmischen. Ich kratze, beiße, kämpfe alles aus mir heraus, bis nichts mehr da ist und ich mich nicht mehr bewegen kann, weil alles weh tut. Ich liege auf dem Boden, sie können alle noch gehen. Aber Patrick hinkt. Einer seiner Freunde hält sich sein Ohr, zwischen seinen Fingern sickert Blut hervor. Ich schmecke Blut in meinem Mund, lehne mich zurück und sehe in den Himmel.

 

„Was ist nur los mit dir, Lukas?“, fragt Herr Hocker. Nicht gedacht, dass ich diesen Wichser in den Ferien auch noch sehen muss.

Tatsächlich sehe ich ihn gar nicht so gut. Meine beiden Augen sind ziemlich zugeschwollen. Ein kleiner Trost.

Ich zucke die Achseln, das ist das höchste der Gefühle und es tut auch schon verdammt weh. Aber ich genieße den Schmerz auf eine perverse Art und Weise.

„Er ist sicher provoziert worden.“, sagt mein Vater neben mir und zum ersten Mal höre ich etwas wie Stolz in seiner Stimme.

Krass. Ich muss mich erst prügeln, bis er stolz ist.

„Die anderen sind sich einig, dass Lukas zugeschlagen hat, noch ehe das erste Wort gefallen ist.“, sagt Herr Hocker. Sein Blick ist forschend, aber auf eine merkwürdige Weise auch hart, fast verächtlich. Ich glaube, er hat aufgegeben, dass je noch etwas aus mir wird.

Da sind wir ja schon mal zwei.

„Einer hatte eine Gehirnerschütterung, sagten Sie?“, fragt mein Vater.

„Ja, einige der Schüler hat es ziemlich erwischt. Ihr Sohn hat sich aufgeführt wie ein Berserker. Sie konnten ihn zu fünft erst bändigen.“

Mein Vater nickt.

„Könnte ich vielleicht alleine mit ihm reden?“, fragt Herr Hocker.

Mein Vater sieht mich an. Ich zucke wieder mit den Schultern.

Er verlässt den Raum.

„Lukas.“, fängt er an. „Ich weiß, dass es nicht ganz einfach zu Hause ist, bei dir, im Moment.“

Ich versuche etwas zu sagen, aber es tut verdammt weh. „Ach.“, ist das Einzige, das ich heraus bekomme und es hört sich ziemlich frech an, aber das scheint er nicht zu hören.

„Aber du musst verstehen, dass ich solches Verhalten nicht billigen kann. Ich muss dich zur Klassenfeier ausschließen. Ich hoffe zu verstehst das.“, er seufzt, als würde es ihm wirklich schwer fallen. Heuchler.

Ich nicke.

„Ift okay.“, bringe ich hervor.

Die verdammte Klassenfeier. Als wäre ich da aufgekreuzt.

Als mein Vater wieder da ist, werde ich nach draußen geschickt, weil sie sich unter Erwachsenen unterhalten sollen.

Ich schlendere, vorsichtig und langsam, über den Schulhof. Er wirkt fast friedlich, jetzt wo keine Schüler da sind.

Fast keine Schüler, fällt mir auf, als ich Lisa und ein paar ihrer Freundinnen in einer Ecke stehen und Rauchen sehe. Als sie mich bemerken, verstecken sie die Zigaretten in der hohlen Hand, bis sie mich erkennen.

Lisa lacht. Ihr Rock ist kürzer als alles, was ich für gewöhnlich noch als Rock bezeichnen würde.

„Freak!“, ruft sie lauter, als es nötig gewesen wäre.

Eine ihrer Freundinnen kichert unkontrolliert. Eine andere schnickt ihre abgerauchte Zigarette nach mir, aber sie landet nur vor meinen Füßen.

Hinter mir kommt mein Vater mit sorgenvollem Gesicht aus dem Schulgebäude. Er schaut auf die Zigarette vor meinen Füßen und dann mich an.

„Ich glaube, wir können davon absehen, dir dafür die Leviten zu lesen.“, sagt er mit einem Blick auf mein Gesicht und es hört sich fast freundschaftlich an.

 

*

 

„Als mich mein erster Freund verlassen hat, war ich am Boden zerstört.“, sagt Maria. Ich versuche, mir ihren ersten Freund vorzustellen. Es gelingt mir nicht. Sie muss so alt sein wie meine Mutter.

„Er war toll. Groß, schlank und er hatte diese Augen, in denen man versunken ist. Natürlich war ich nicht die Einzige, dem er gefallen hat, aber in dem Alter glaubt man das gerne noch. Und so bin ich aus allen Wolken gefallen, als ich ihn mit einer anderen gesehen habe, in der Eisdiele, in der er mich bei unserem ersten Date ausgeführt hat.

Ich habe mich tagelang in meinem Zimmer eingeschlossen. Mein Leben hat keinen Sinn mehr, habe ich meinen Eltern zugerufen, bis sie darüber nachdachten, einen Therapeuten zu holen. Aber ich brauchte keinen Therapeuten. Ich brauchte einen verdammten Baseballschläger.“, sie lacht.

Ich zucke kaum merklich zusammen.

„Aber ich war nicht nur wütend. Ich war auch gekränkt in meinem Stolz. Und ich fing an, mich länger im Spiegel zu betrachten und mich mit dem Mädchen zu vergleichen, etwas zu finden, was uns unterschied, weswegen er sie mir vorgezogen hatte. Sie war kein Model, aber sie hatte einen schönen Busen und einen wundervoll flachen Bauch. Nun, an einer Veränderung meines Busens war mit meinen sechzehn Jahren und erzkatholischen Eltern nicht zu denken, aber an meinem Bauch konnte ich arbeiten.

Und so fing ich an, zu hungern. Ich aß nicht mehr, ich ernährte mich. Gerade so, dass ich keine Schwächeanfälle zu fürchten hatte.

Sechs Monate lang.“

Sie macht eine Kunstpause.

„Dann kam der nächste Mann und hat mich wieder aufgepäppelt.“

Es soll lustig sein und das ist es auch, aber wir spüren alle die Ernsthaftigkeit dahinter.

„Verluste sind schwer.“, sagt Dr. Martin. „Aber weißt du, was aus ihm geworden ist?“

Sie schüttelt den Kopf.

„Er hat eine Glatze und eine Wampe bekommen und arbeitet als Schichtleiter bei McDonalds.“, sage ich.

„Nichts gegen Mitarbeiter von McDonalds.“, sagt eine Frau.

Aber Maria lacht.

 

*

 

Am nächsten Tag steht Alice wieder vorm Gartentor. Ich bin so perplex, dass ich tatsächlich stehen bleibe. Sie war seit Tagen nicht mehr da.

Insgeheim sehne ich mich auch nach ihr, aber dieses Gefühl schiebe ich so weit nach hinten, dass ich mir erfolgreich einreden kann, es sei nicht vorhanden.

„Lukas.“, sagt sie.

„Hmpf.“, sage ich.

„Ich hab davon gehört.“, sagt sie und blickt zu Boden.

„Nich fo flimm.“, sage ich. Man kann mich nur schwer verstehen. Aber immerhin kann ich schon wieder besser sehen.

Und auch wenn ich es nicht zugeben will, bin ich froh darüber, denn sie ist noch schöner, als ich sie in Erinnerung habe.

„Es tut mir leid.“, sagt sie. „Ich wollte dir davon erzählen. Ich dachte nur… du hast gar nicht mehr mit dir reden lassen. Ich wusste doch nicht, was ich machen sollte. Ich kann ja nicht ewig darauf warten, dass du wieder mit mir redest.“, sie sieht mich an. Ich kapiere nicht.

„Jedenfalls tut es mir leid.“

„Waff?“, frage ich.

Sie schaut mich an und ich sehe Zweifel in ihre Augen steigen. Aber jetzt kann sie nicht mehr zurück.

Plötzlich will ich nicht mehr hören, was sie sagen will und wünsche mir inständig, ich wäre weiter gelaufen.

„Patrick.“, sagte sie. „Patrick und ich hatten letzte Woche ein Date.“

So wie sie es ausspricht weiß ich, dass es ihr gefallen hat. Aber ich kann auch sehen, dass ihr der Gedanke gefallen hat, ich hätte mich für sie geprügelt.

„War ffön?“, frage ich ohne jede Ironie.

Sie starrt mich an.

„Lukas.“, sagt sie. „Ich habe dich echt gern. Ich weiß nicht, was aus dir geworden ist.“, sie hebt die Hand und streicht über mein geschundenes Gesicht. Ich zucke zurück, nicht weil es so weh tut, sondern weil ich ihre Berührung nicht ertragen kann.

Der Lukas, den sie gern hat, ist nicht mehr da.

Ich würde ihr das sagen, aber es tut zu weh.

„Dann allef Guke“, sage ich leise und drehe mich um.

Sie lässt ihre Hand sinken.

Ich versuche, ihr tatsächlich alles Gute zu wünschen, stattdessen wünsche ich ihr und Patrick die Krätze an den Hals.

Aber ein Teil von mir ist froh, dass ich das gestern noch nicht wusste.

Als ich die Haustür hinter mir schließe, sehe ich sie noch am Tor stehen. Was ich nicht sehe, ist die Kette mit dem grünen Stein an ihrem Hals, die sie Halt suchend umklammert.

 

*

 

„Am schlimmsten finde ich es, meine Freunde am Boden zu sehen. Ich hatte eine Freundin, deren Eltern sind in einem Verkehrsunfall umgekommen. Sie waren auf dem Weg vom Urlaub nach Hause. Das fand sie immer am Schlimmsten, hat sie gesagt. Dass sie bald zu Hause gewesen wären.

Ich weiß nie, wie ich damit umgehen soll. Ich versuchte, ihr Halt zu geben, aber ich wusste nicht, was ich tun sollte. Es gibt kein Rezept dafür. Niemand bringt es einem bei und ich war auch nie besonders gut in solchen Dingen.

Deshalb stand ich nur da und sah zu und konnte förmlich sehen, wie sie zerfloss in ihrem Leid, aber ich wusste, dass es nichts gab, was es besser machen konnte und so tat ich nichts. Und ich habe mich später so oft gefragt, warum ich sie nicht wenigstens in den Arm genommen habe. Heute sehe ich sie noch manchmal vor mir. Und ich frage mich, ob was mit mir nicht stimmt, weil ich so ungeschickt bin, so wenig Empathie habe. Dabei stimmt das nicht mal. Ich kann schon mit anderen fühlen. Ich habe nur einfach keine Intuition dafür, was sie brauchen.“

 

*

 

„Das erste Mal war ich elf.“, sagt sie.

Ich sehe sie an. Ich wusste, dass ich nur warten musste. Heute ist sie soweit. Und ich bin da, um ihr endlich zuzuhören. Vielleicht bin ich einer der ersten, die sie einfach reden lassen, denke ich. Ohne Bewertung.

Sie sieht mich nicht an, als sie spricht.

„Ich wusste nicht, was ich tue.“, sagt sie. „Nicht richtig.“

Sie streicht über ihre Arme.

„Ich weiß es heute noch manchmal nicht.“

Ich lege ihr zögernd einen Arm, um die Schulter. Sie presst die Lippen zusammen.

„Meine Mutter sagt, es geht mir nur um Aufmerksamkeit.“

Ich kann hören, wie dieser Gedanke sie beleidigt, ihr wehtut.

„Mein Therapeut sagt, das glauben viele, aber es ist nicht wahr. Aber soll ich ihm mehr glauben als meiner eigenen Mutter?“

Es ist eine echte Frage, aber ich weiß, dass sie die Antwort darauf selbst kennt, sie ihr aber nicht helfen kann.

„Glaub mir.“, sage ich deswegen. „Aufmerksamkeit könntest du leichter bekommen. Ohne, dass sie so wehtun muss.“

Ich denke an meine schlechten Noten und den Verdacht meines Vaters, dass auch sie mit dem Wunsch nach mehr Aufmerksamkeit einhergehen. Aber auch das tut weh.

„Ich verstehe mich selbst nicht, Lukas.“, sagt sie. „Jedes Mal… ich habe keine Ahnung, was da passiert. Ich habe… ich kann…. Ich rede mir ein, dass ich nicht anders kann. Aber ein Teil von mir will es nur so sehr, dass ich nicht widerstehen kann. Nicht widerstehen will.“, ihre Hände sind zu Fäusten geballt.

„Und dann muss ich mich so sehr hassen.“

Ihre Wortwahl irritiert mich.

„Du musst dich nicht hassen, Alice.“, sage ich und ziehe sie enger an mich. Auf ihren Armen hat sich Gänsehaut gebildet und ich habe das Gefühl, dass sie nicht daher kommt, dass sich gerade eine Wolke vor die Sonne geschoben hat.

„Doch.“, flüstert sie. „Bevor sie es tun.“

Sie hört sich so zerbrechlich an.

Und ich weiß nicht wer sie sind. Aber in diesem Moment hasse ich sie ebenso sehr, wie Alice glaubt, von ihnen gehasst zu werden.

„Wirst du aufhören?“, frage ich, denn es ist nicht mehr die Frage, ob sie aufgehört hat. „Irgendwann?“

„Ich habe aufgehört. Es sind nur die Nachwirkungen.“, sagt sie und ihre Stimme ist fest, aber ich weiß, dass sie diese Antwort eingeübt hat.

Sie muss mich nicht anlügen.

Aber ich brauche sie die Wahrheit auch nicht aussprechen hören, um sie zu kennen.

Deshalb fahre ich nur sanft über ihre Haare.

„Weißt du, warum du angefangen hast?“

Sie sagt nichts. Über uns bricht die Sonne wieder hervor und lässt ihre Haare glitzern. Vorsichtig lehne ich meinen Kopf gegen ihren und fahre mit der Hand über ihr Haar, um sie zu beruhigen. Ich kann ihr Shampoo riechen.

„Ich konnte nicht vergessen, was passiert war.“, sagt sie.

„Was ist passiert?“, frage ich und jetzt ist alles in mir angespannt. Ich kann spüren, dass es ihr genauso geht. Sie beginnt zu zittern und greift nach meiner Hand.

„Ich…“, sie fängt an, aber sie kann nicht weiter sprechen. Ihre Stimme klingt fremd.

„…habe. Mich.“, sie bricht wieder ab. Dann kommt der Rest der Worte, einzeln aus ihrem Mund gepurzelt, als könne sie sie nicht zusammenhängend aussprechen.

„noch. nie so schmutzig gefühlt. Ich konnte nur denken: Du warst das. Du hast das selbst getan.“ Es dauert eine Ewigkeit, bis die die Sätze ausgesprochen hat.

Sie atmet laut, als müsse sie ein Schluchzen unterdrücken. Sie weint nicht. Aber ich weiß, dass diese Anspannung stärker ist als jedes Weinen.

Sie atmet noch ein paarmal hintereinander hörbar aus und ein, ganz langsam, um wieder zu sich zurückzufinden.

„Es ist okay, heute.“, sagt sie dann, immer noch stockend, aber langsam wieder zu ihrer eigenen Stimme zurückfindend. „Ich kann nur noch nicht darüber reden.“

Es dauert lange, aber innerhalb der nächsten Stunde erzählt sie mir, was sie selbst getan zu haben glaubt. Und ich weiß, dass es nicht ihre Schuld ist. Und ich weiß, dass sie es weiß. Aber wir können es so oft aussprechen, wie wir wollen, sie wird es niemals glauben.

 

*

 

„Eine der Schlimmsten Zeiten für mich.“, sage ich zögernd, als ich an der Reihe bin. „War, nachdem meine Mutter aus dem Krankenhaus in die Klinik gekommen ist und ich alleine zu Hause mit meinem Vater war.

Ich konnte nie wissen, was er wollte, wenn er nach Hause kam. Manchmal wollte er seine Ruhe und ich sollte ihn am liebsten nicht ansprechen. Manchmal wollte er sich unterhalten. Anfangs versuchte ich, nicht da zu sein, wenn er nach Hause kam, aber das war ihm natürlich auch nicht recht. Und so begann ich auf Zehenspitzen zu laufen, wenn er da war, wie meine Mutter und traute mich nicht meine Zimmertür zu schließen, damit er nicht das Gefühl hatte, ich würde ihn ausschließen.

Vielleicht habe ich da erst richtig verstanden, womit meine Mutter gelebt hat. Und das auch nur ansatzweise, denn sie hat es so viel schlimmer gehabt. Mit mir ist er nur laut geworden, angerührt hat er mich nie oder vielleicht nicht nie, aber selten und nie so schlimm, dass man es gesehen hätte. Er hat mir vielleicht mal eine gelangt. Aber ich hätte es nicht Schlagen genannt. Trotzdem ich hatte immer Angst davor. Nicht vor dem Schmerz, da bin ich relativ unempfindlich. Vor dem Gefühl des Ausgeliefertseins. Dem Nicht-weg-können. Und das war völlig unabhängig davon, ob er mich tatsächlich verletzt hätte. Das galt für sein Schweigen und seine verbalen Wutausbrüche und die Unberechenbarkeit, was von beidem es sein würde, genauso. Und dann war mir auf einmal nicht mehr egal, ob ich ein Jahr länger zur Schule gehen müsste, denn es wäre ein Jahr länger, dass ich in diesem Haus bleiben musste. Ich wusste nicht, ob meine Mutter wieder kommen würde und ob sie noch so sein würde wie vorher. Ich wusste nicht, ob er wieder anfangen würde auf Geschäftsreisen zu gehen, oder ob diese Zeit immer so weiter gehen würde. Und vielleicht war die Ungewissheit darüber, wie lange das noch so gehen mochte, schlimmer als die Zeit es sonst gewesen wäre, hätte ich gewusst, dass ich ihm irgendwann entfliehen kann.

Und den Tag über redete ich mir ein, dass er mir nichts anhaben kann, dass ich ihm meine Meinung sagen kann, wenn ich will. Aber noch bevor er kam, wurde ich unruhig. Wenn ich den Schlüssel im Schloss hörte sprang ich auf und versuchte, mich irgendwie natürlich zu verhalten, aber eben auch „brav“, nicht herumzulungern oder so. Früher wollte ich so sehr, dass er mich mag. Damals hätte mir dann schon gereicht, wenn er mich in Ruhe gelassen hätte. Aber er hatte immer etwas auszusetzen.

Die Küche unordentlich. Der Pappkarton von der Tiefkühlpizza im Papiermüll – habe ich dir nicht gesagt, Junge, dass der Fraß ungesund ist? Die Schuhe im Weg. Der Kühlschrank leer – du bist doch den ganzen Tag zu Hause, ist es da wirklich zu viel verlangt, dass du mal einkaufst?

Ich bin so früh ins Bett, wie noch nie in meinem Leben. Manchmal bin ich danach heimlich zum Fenster raus und hatte doch gleichzeitig Angst, dass er mich einmal dabei erwischt. Wenn er da war, war die Welt nur noch darauf ausgerichtet, ihm alles recht zu machen. Und ich habe meine Mutter verflucht, dass sie mich alleine lässt mit ihm. Aber ihn, ihn habe ich gehasst.“

 

*

 

Er ist wieder zum Riesen gewachsen. Ich kann seine Anwesenheit in meinem Rücken spüren. Sein Schatten überdeckt mich sicher ganz.

„Ich bin gleich fertig, Dad.“, sage ich.

Meine Hände gleiten immer wieder von der Glasplatte ab, die im Spülwasser schwimmt. Die Knöchel sind noch leicht gerötet und schmerzen bei jeder Bewegung, aber ich beschwere mich nicht, denn ich bin ja selbst schuld, wenn ich mich prügeln muss.

Kuchen von der Nachbarin. Als hätte irgendeiner von uns den Nerv für Kuchen.

Nun, mein Vater scheint ihn zu haben, jedenfalls setzt er sich und mampft genüsslich das letzte Stück, das ich auf einem Teller beiseite gestellt habe.

Ich hatte keinen Bissen von dem Zeug heruntergekommen. Und während ich ihn aus den Augenwinkeln beim Essen beobachten kann, fällt mir wieder auf, wie dick der Kloß geworden ist, der in meinem Hals steckt und sich nicht entfernen lässt.

Wie könnte ich essen, solange er da ist? Ich kann kaum atmen.

Ich kann leicht schmatzende Geräusche aus seinem Mund hören, so still ist es.

Ich würde ja Musik anmachen, aber Mom hat das einmal versucht und dann nie wieder.

„Was soll das Gedudel? Mach das aus.“, hatte er gesagt und damit hatte sich die Sache erledigt.

Ich würde ihm die Glasplatte wirklich gerne über den Schädel ziehen. Stattdessen halte ich sie prüfend ins Licht, um eventuelle Essensreste zu sehen. Sie rutscht mir aus der Hand und fällt mit einem lauten Krachen ins Wasser.

Er hält inne.

Ich halte inne. Bewege mich nicht, als könne ich ihn dadurch vergessen lassen, dass ich da bin.

„Pass.“, sagt er. „Doch. Mal. Auf.“

Er bleibt sitzen. Das ist ein gutes Zeichen.

Ich fische nach dem Teller.

Keine Scherben im Wasser. Glück gehabt, denke ich, bis ich mich an einer Kante schneide. Ich fluche leise, leider nicht leise genug.

Vorsichtig ziehe ich meine Hand aus dem Wasser. Es ist nur ein kleiner Schnitt, aber an den Fingern blutet es immer am Meisten.

„Tut mir leid.“, sage ich, als er seinen Stuhl zurückschiebt, so schnell, dass es fast zu einem Wort wird. „Ich… es kommt nicht wieder vor, Dad. Tut mir leid.“

Er sagt nichts.

Ich schließe die Augen.

Es hilft nichts. Ich muss mich umdrehen.

„Bitte Papa, ich wollte dich nicht stören.“

Er schmeißt seinen Teller samt Kuchen ins Spülwasser und rauscht aus der Küche.

Ich halte mich an der Spüle fest und obwohl ich mich glücklich schätze, dass er ohne weiteres Wort gegangen ist, spüre ich, wie der Kloß dicker wird. Ich werde explodieren, wenn ich ihn nicht irgendwie loswerden kann, da bin ich sicher.

Aber ich habe alle meine Möglichkeiten ziehen lassen.

Ich vergrabe meinen Kopf in den Händen und denke an Alice und Patrick.

Und ich hasse Patrick, aber ich mag Alice und deshalb hoffe ich, dass es ihr besser geht, mit ihm. Und ich weiß, egal ob ich irgendwann ersticke oder nicht, es war die richtige Entscheidung.

Ich hätte ihr nie gerecht werden können.

 

*

 

„Du weißt, dass du nicht schuld daran warst, wenn dein Vater wütend auf dich war, Lukas?“, fragt Dr. Martin. Ich kenne die richtige Antwort auf diese Frage. Wir haben dieses Spiel schon mal gespielt.

„Mein Kopf.“, sage ich. „Sagt ja. Aber mein Bauch sagt, ich hätte nur alles richtig machen müssen. Nur ein einziges Mal.“

„Er hätte etwas anderes gefunden.“, sagt das Mädchen mit der ehemaligen Bobfrisur. Sie ist wirklich hübsch. Ich versuche zu lächeln.

Und tatsächlich fühlt es sich ein klein bisschen besser an.

Aber Voice steht direkt hinter ihr und schüttelt traurig den Kopf.

 

*

 

„Was wünscht du dir am Meisten?“, frage ich. Meine Stimme hört sich jetzt anders an, wenn ich mit ihr rede. Vielleicht hört sie es. Sie lässt es sich nicht anmerken.

Ihre Wimpern schlagen nieder und wieder hoch. Ich kann jede Einzelne sehen, so nah bin ich ihr.

„Früher“, sagt sie. „Hätte ich gesagt, ich will dazugehören. Nur ein einziges Mal. Ich will wissen, wie es ist, ganz normal zu sein, nicht so wie du oder ich. Mit den anderen zu lachen. Pläne für das Wochenende zu schmieden. Ich wollte immer wissen wie sich das anfühlt.“

Ich bin überrascht. Ich dachte immer, sie merke nicht, wenn die anderen sie ignorieren oder über sie reden. Ich dachte, wenn sie in ihren Gedanken, ihrer Welt ist, kann sie das nicht sehen. Aber ich habe mich getäuscht. Vielleicht, denke ich, ist ihre eigene Welt nicht die Ursache, dass man über sie redet, sondern die Folge davon. Und einen Moment lang frage ich mich, ob sie schon immer so war, aber dann denke ich an ihren elften Geburtstag und beschließe, der Sache nicht weiter auf den Grund zu gehen.

„Aber jetzt.“, sagt sie, als ich schon glaube, dass sie nicht mehr darauf zurückkommen wird. „Bin ich mir nicht mehr so sicher.“

„Du brauchst die anderen nicht.“, sage ich. „Du bist schöner ohne sie.“

 

*

 

Auf dem Weg in mein Zimmer trottet Voice hinter mir her. Er sieht mich nicht an. Er spricht nicht mit mir. Und das ist gruseliger als alles, was er bisher getan hat.

Ich ignoriere ihn, so gut ich kann, bis ich es nicht mehr aushalte.

„Was ist los?“, frage ich „Heute keine guten Sprüche auf Lager? Werde ich etwa langsam gesund?“

Er schaut auf und seine Augen sind ganz schwarz und so tief, dass ich erschrocken zurückschrecke.

Dann grinst er und entblößt dabei wieder viel zu viele Zähne und sein Mund ist von Ohr zu Ohr geöffnet.

Es ist Zeit, Lukas, sagt er.

Ich habe ihn so satt. „Warum lässt du mich nicht in Ruhe?“, frage ich und lasse mich aufs Bett fallen. „Warum siehst du mich gerne leiden? Warum hasst du mich?“

Zeit, dass du dich kennen lernst, sagt er und auf einmal bin ich mir nicht mehr sicher, ob es Genugtuung in seine Stimme ist oder Müdigkeit.

 

*

 

Mein letzter Tag war ein Mittwoch zweieinhalb Wochen vor Schulbeginn. Die Schwellungen in meinem Gesicht hatten nachgelassen und nur ein paar unschöne Verfärbungen erinnerten noch an den Zusammenstoß mit Patrick. Ich sehne schon die Zeit herbei, wenn die Leute auf der Straße nicht mehr komisch gucken.

Ich will einfach nur ein paar Stunden für mich haben. Ich will nicht auf den Schlüssel in der Haustür warten. Ein einziges Mal nicht.

Und so treibe ich mich noch in der Stadt herum, als mein Vater wahrscheinlich längst auf dem Weg nach Hause ist. Es wird sechs, halb sieben.

Ich bin unendlich müde.

Meine Beine tragen mich gerade noch bis vor den Brunnen an der Eisdiele und dann muss ich mich setzen.

Mit beiden Armen umschlinge ich meine Beine und sehe den Kindern dabei zu, wie sie gefühlte Stunden bei der Auswahl verbringen, während die Eltern verstohlen auf die Uhr schauen. Betrachte das Paar, dass sich unbeholfen an einem der Tische niedergelassen hat und auf Teufel komm raus versucht, Konversation zu betreiben, obwohl man beiden ansehen kann, dass es sie stresst.

Das Mädchen, das in der einen Hand ihr Eis und in der anderen ihr Smartphone hält.

Und ich muss an Alice denken und wie ich sie mir ihren Eltern hier gesehen habe.

Ich muss oft an Alice denken.

Du musst hart sein, flüstert die Stimme wieder. Ich habe verlernt, sie abzustellen. Sie schallt in der Stille, die mich umgibt, seit ich den Flur im Krankenhaus entlangging.

Und plötzlich finde ich sie widerlich, diese Menschen und ihr kleines, klägliches Leben. Ihre Münder, die sich ständig öffnen, um noch mehr sinnloses Gebrabbel loszuwerden, ihre Hände, die aneinander Halt suchen, weil sie zu feige sind, allein zu sein, all das widert mich an.

Dabei weiß ich, dass ich selbst es bin, der mich so abstößt. Nur ich habe den Zeitpunkt verpasst, etwas daran zu ändern.

 

Zu Hause erwartet mich ein wütender Vater, aber ich bin so müde, dass ich einfach warte, bis er fertig ist und dann in mein Zimmer gehe. Während er redet, stelle ich mir vor, wie ich ihm den Kugelschreiber in den Hals ramme, der lächerlicherweise in seiner Hemdtasche steckt.

Aber das sind nur Fantasien.

 

Die Dämmerung hat noch nicht begonnen, als es an mein Fenster klopft. Ich ignoriere das Geräusch, bis ich einen weiteren Laut höre, der einem Weinen gleicht.

Es ist ein weibliches Geräusch.

 

Sie sagt kein Wort, als sie ins Zimmer klettert, sondern legt sich nur aufs Bett und rollt sich zusammen. Ihr schwarzer Pullover hebt sich vom weißen Laken ab und eine Weile betrachte ich sie irritiert, bis mir auffällt, was an dem Bild nicht stimmt.

Ein zweites Mal in diesem Sommer bleibt die Welt stehen.

 

Sie weint, aber wenigstens kann sie inzwischen wieder sprechen. Ihre Worte sind leise und von Schluchzern durchbrochen, aber ich habe Zeit und in der Stille meine Ohren geschärft.

„Patrick hat mich verlassen.“, sagt sie.

Unter anderen Umständen hätte ich mich vielleicht gefreut, irgendein perverser Teil in mir.

Aber nicht, wenn sie sich das Blut von den Armen wäscht, während sie spricht. Die Schnitte sind tief, nicht so tief, wie manche ihrer Narben erzählen, aber so viel Schlimmer als alles, was ich erwartet hätte, nach dem, was sie mir in den letzten Wochen erzählt hatte.

Er hat sie wieder hineingestoßen. Genau an den Punkt, von dem sie mit so viel Kraft gerade entflohen war.

Ich reiche ihr Klopapier, um sich trocken zu wischen und helfe ihr anschließend, sich zu verbinden.

„Sollten wir das Klammern?“, frage ich. Irgendwo haben wir vielleicht noch Klammerpflaster.

„Schon okay.“, sagt sie. „Ich habe Schlimmeres erlebt.“

Ich weiß, dass sie versucht tapfer zu klingen, aber ich glaube ihr nicht.

Ich möchte sie fragen warum. Ich möchte sie schütteln. Sie anschreien. Aber eigentlich bin ich wütend auf mich selbst. Dieser Idiot. Wieso haben wir das nicht gewusst?

Wieso habe ich sie je gehen lassen?

Ich, der einzige Freund, den sie je hatte? Der Einzige, bei dem sie sich sicher fühlen konnte?

 

Sie weint wieder stärker, als wir ihre Wunden versorgt haben.

„Ich weiß nicht, was ich tun soll.“, sagt sie. „Ich kann so nicht nach Hause. Meine Eltern lassen mich einweisen.“

Ich nehme sie in den Arm und versuche, mein eigenes Zittern zu unterdrücken.

„Du musst mich beschützen, Lukas. Bitte. Du bist alles, was ich noch habe.“

„Ich lass nicht zu, dass dir was passiert.“, sage ich.

Vielleicht kann jetzt alles gut werden. Vielleicht ist es noch nicht zu spät.

 

Wir gehen zurück in mein Zimmer und ich mache ihr eine der von meinem Vater so verhassten Tiefkühlpizzen.

Aber sie hat keinen Appetit und ich kann nicht mehr essen, so groß ist der Kloß in meinem Hals geworden.

„Was ist eigentlich passiert?“, frage ich vorsichtig, als ich glaube, dass sie bereit ist, davon zu erzählen.

Sie starrt ins Leere.

„Ich war so dumm.“, sagt sie. „Ich wollte dazugehören, wie ich es gesagt habe. Nur ein einziges Mal. Und er war auch nett, Lukas, war er wirklich. Ich hab gespürt, dass was nicht stimmt, aber ich hab es ignoriert, weil ich so gerne glauben wollte, dass ich ein einziges Mal Glück haben konnte.

Heute Abend wollte er… nach dem Klassenfest… er hat gesagt, es wäre Zeit. Er will mal mehr, hat er gesagt.“, sie atmet schwer. „Und ich dachte, naja, vielleicht kriege ich es ja hin. Und ich hab ihm gesagt, okay. Und dann hat er angefangen.“, sie weint wieder.

„Warum nicht gleich?, hat er gesagt und ich wollte ja, aber… ich konnte nicht. Als ich meine Hand hatte, wo… da konnte ich nicht mehr. Du weiß, was…“ Sie wischt sich die Tränen ab und putzt sich die Nase.

Ich weiß, wovon sie spricht und spüre Wut in mir hochkochen. Meine zitternden Hände schaffen es nur gerade so, sich nicht zu Fäusten zu ballen, die ich in Patricks Gesicht rammen will. Stattdessen streiche ich über ihre Haare und nehme ihre Hand.

Mein Körper bebt, aber Gott sei Dank steht sie zu sehr neben sich, um es zu bemerken.

„Ich hab ihm gesagt, er muss mir mehr Zeit lassen, aber da ist er plötzlich wütend geworden.“, fährt sie fort. „Er hat gesagt, ich sei prüde und…

Er hat es für eine Wette gemacht, Lukas. Sie haben gewettet, ob er mich rumkriegt, mich, die Unnahbare, die niemanden an sich ranlässt, die…“

Sie spricht nicht mehr weiter. Sie hat alles gesagt.

Ich ziehe sie an mich und halte sie so fest ich kann. Ich bin dabei, jede Kontrolle zu verlieren.

„Wer hat davon gewusst?“, frage ich leise und sie weiß nicht, wie viel ihre Antwort bedeuten wird.

„Seine Freunde.“, sagt sie. „Justin, Jonas… Ein paar aus der Klasse glaube ich. Sie haben es auf Lisas Geburtstag ausgemacht. Aber es ist egal. Ich werde nie wieder in die Schule gehen. Meine Eltern werden mich nicht lassen.“

„Schhh…“, flüstere ich und streiche über ihr Haar. Ich kriege kaum noch Luft.

Als sie weiter spricht, höre ich sie nur noch aus weiter Ferne. In meinen Kopf hat sich eine andere Stimme eingeschlichen, und diesmal kann und will ich sie nicht verscheuchen.

Sie müssen bezahlen, sagt die Stimme.

Alice wird ruhiger in meinen Armen. Ich lockere meinen Griff und lege ihren Oberkörper vorsichtig auf dem Laken ab. Trotz allem ist sie noch schöner, als ich sie je gesehen habe. Aber ich kann nicht bleiben.

„Schlaf ein bisschen.“, flüstere ich deshalb leise. „Ich bin in der Küche.“

Vorsichtig ziehe ich meine Arme unter ihr hervor.

Sie sieht zu mir auf, unschuldig, zerbrechlich, zerbrochen. Ihre Arme halten an mir fest. Der Verband färbt sich rot unter den Schnitten.

Meine Welt ist nur noch Hass.

„Geh nicht.“, flüstert sie. Aber sie hat keine Chance mehr gegen das Geschrei der Stimmen in meinem Kopf.

Ich drücke ihr einen Kuss auf die Stirn, berühre sie so lange, wie ich es irgendwie ertragen kann, ohne zu zerfließen.

„Ich liebe dich.“, flüstere ich, weil ich weiß, dass es meine letzte Gelegenheit ist, es sie wissen zu lassen.

Sie lässt los. Ich bleibe noch eine Weile neben ihr und lausche ihren regelmäßiger werdenden Atemzügen. Jetzt, wo die Entscheidung getroffen ist, habe ich keine Eile mehr.

Langsam stehe ich auf und gehe in das Schlafzimmer meiner Eltern.

Ich habe den Koffer nicht vergessen. Er war die ganze Zeit da, in meinem Kopf. Ich habe ihn dort nur nicht mehr gesehen.

 

Vielleicht hätte ich mich entmutigen lassen, wenn der Koffer abgeschlossen gewesen wäre, oder die Munition nicht direkt neben der Pistole darin gelegen hätte. Aber ich glaube, ich war an einem Punkt angelangt, wo mich auch das nicht mehr aufgehalten hätte. Ich hätte einen Weg gefunden.

 

Im Flur begegne ich meinem Vater.

„Was hast du im Schlafzimmer getrieben?“, fragt er misstrauisch. Ich muss an meine Fantasien denken, das erste Mal, als ich die Waffe in die Hand hatte und fange plötzlich und zu lachen. Jetzt hat er keine Macht mehr über mich. Ich bin befreit.

Als er die Brauen wütend zusammenzieht, hole ich die Pistole hinter meinen Rücken hervor.

Er weicht zurück. Seine Augen weiten sich.

„Was ist, Papa?“, frage ich mit einer Stimme, die nicht zu mir gehört. „Hast du Angst, ich könnte dir wehtun?“

Ich ziele auf ihn.

„Junge…“

„Was, Papa? Du wirst nicht gerne bedroht? Oh, das wundert mich aber. So wie Mama Angst vor dir hatte, hätte ich gedacht, du findest es völlig normal, dass der Stärkere dem Schwächeren einen Schrecken einjagt, um ihn gefügig zu machen. Oh, du warst noch nie der Schwächere? Tja, willkommen in der Realität.“

Ich drücke den Abzug durch, aber es klickt nur im Lauf.

„Glück gehabt, Papa.“, sage ich lächelnd, die Munition fest in der anderen Hand.

 

Als ich das Haus verlasse, fühle ich die Luft vibrieren. Die Welt hat angehalten, der Staub in der Luft unbewegt, die Menschen unbewegt. Ich fliege die Straße entlang. Die Sonne steht still am Horizont und beginnt, den Himmel rot zu verfärben.

Meine Hände zittern, als ich die Waffe in meinen Hosenbund stecke und meine Finger von ihr löse. Sie scheinen an ihr festzukleben, der Griff ist schon warm von der Hitze, die mich durchströmt.

Und während ich laufe füllt der Hass jede meiner Zellen auf, bis nichts mehr übrig bleibt, alles restlos aufgefüllt ist mit unbändigem Zorn. Ich möchte meinen Kopf in den Nacken werfen und schreien, aber es ist zu spät dafür. Der Kloß in meinem Hals hat sich in meinem ganzen Körper verteilt und wird nie wieder gehen. Das Gift ist in meinen Adern. Ich bin meiner Wut rettungslos verfallen.

 

Es dauert fast zwanzig Minuten, bis ich an meinem Ziel ankomme und eigentlich könnte man meinen, dass ich mich bis zu meiner Ankunft beruhigt hätte, aber jeder Schritt hat meine Haut nur noch mehr zum Zerreißen gespannt. Meine Hände klammern sich aneinander und ich schwitze wie ein Tier.

Als ich vor der Tür stehe, muss ich durchatmen. Mein Herzschlag verlangsamt sich nicht. Ich kann sie lachen hören, hier draußen. Wahrscheinlich muss ich nur am Haus vorbei in den Garten gehen und dort werden sie sein und auf mich warten. Vorsichtig ziehe ich die Waffe hervor. Sie wiegt schwer in meiner Hand. Ich lege die Munition ein. Gerne würde ich einen Probeschuss machen, den Rückschlag spüren, das Gefühl, wenn eine Kugel die Kammer verlässt.

Aber dazu ist keine Zeit mehr.

Meine rechte Hand verberge ich hinter meinem Rücken, als ich langsam den Klingelknopf drücke. Ich kann es drinnen läuten hören. Nach einiger Zeit kommt der Ruf „Im Garten!“, aber ich bewege mich nicht.

Man könnte behaupten, ein Teil von mir hofft, dass mich niemand einlässt, aber das wäre gelogen. Es ist kein Platz mehr dafür übrig.

Dann, als Schritte an die Tür kommen, fühle ich tatsächlich, ganz kurz nur, den Impuls, wegzulaufen.

Und als die Tür sich in Zeitlupe öffnet schreit alles in mir danach, mich zu entschuldigen, ich hätte mich in der Hausnummer geirrt.

Ich weiß es zu diesem Zeitpunkt nicht, aber dieser Moment gleicht dem Gefühl, das Alice überkommt, wenn sie die Klinge zum Arm führt und all ihre Instinkte Zeter und Mordio schreien. Aber so wie sie die Augen schließt und das Messer in die Haut schneiden lässt, so setze ich ein Lächeln auf für die Frau, die im Eingangsbereich steht.

„Ja, bitte?“, fragt sie, leicht verwirrt, aber nicht wirklich überrascht. Klar, in ihrem Garten ist ja auch eine Horde Schüler.

„Haben Sie eine Minute Zeit, sich mit mir über Jesus, unseren Retter, zu unterhalten?“

Das Gefühl des Unaufhaltsamen flaut ab. Stattdessen bin ich jetzt ruhig. Immer noch wütend, aber nicht mehr heiß wütend, sondern nur unglaublich kalt. Sie sieht mich verwirrt an. Sie steht mir im Weg.

„Kleiner Scherz.“, sage ich schließlich seufzend und lache gekünstelt.

„Ich bin ein bisschen spät dran.“, sage ich und weise mit meiner linken Hand hinter sie, in die Richtung, in der ich den Garten und die Party vermute.

Sie nickt ein bisschen verdutzt.

„Klar, komm rein.“, sie nickt mir zu und reicht mir die rechte Hand, die ich leider nur mit der linken ergreifen kann. Sie dreht sich nachdenklich um und geht mir voraus.

„Sagtest du nicht, es seien alle da?“, höre ich sie ihren Mann fragen.

Seine Stimme ist mir zuwider.

„Alle außer…“, beginnt er und dann sieht er mich.

Seine Miene verfinstert sich, aber dann lächelt er ein bisschen und einen Moment lang glaube ich, er würde gar nichts sagen.

„Wir hatten darüber gesprochen, Lukas.“

Meine rechts Hand fällt langsam hinter meinem Rücken hervor an meine Seite, aber er sieht es noch nicht.

„Ich habe noch etwas zu klären.“, sage ich und laufe an ihm vorbei.

Er macht kurz Anstalten mich aufzuhalten, dann lässt er mich gehen. Noch immer scheint er nicht bemerkt zu haben, was sich in meiner Hand befindet.

Was die Menschen nicht alles übersehen.

 

Sie stehen in Grüppchen zusammen, genau wie in der Schule. Eine einzige graue Masse, die dem Rhythmus von Befehlen folgt, die ich nicht hören kann.

Markus steht am Grill und hebt eine Grillzange mit einer Wurst zur Begrüßung. Auch er nur ein Zombie.

Ich fange an zu lachen, als ich daran denke, dass ihm diese Geste vielleicht das Leben rettet.

Spätestens jetzt bemerken mich die anderen und richten ihre schwarzen Schweinsaugen auf mich. Befehl Angriff.

„Ey Freak, du darfst hier nicht aufkreuzen.“, ruft eine weibliche Stimme, wahrscheinlich Lisa. Sie ist in den letzten Wochen noch nerviger geworden. Heute trägt sie roten Nagellack und hält ein Glas mit einer gelben Flüssigkeit in der Hand.

Hach Lisa, wärest du jetzt nur ein bisschen freundlicher gewesen. Ich lache wieder.

„Hey, der hat ´ne Waffe.“, höre ich jemanden zischen, hörbar, aber unmöglich festzustellen, wer es gesagt hat.

Ich lächle in die Runde und fixiere sicherheitshalber jeden einmal mit einem irren Blick. Es wird wieder still.

Schließlich scheint sich Patrick der Sache annehmen zu wollen.

„Hey Lukas, mach ma´ kein Scheiß hier, ja?“, sagt er. Er sollte wissen, dass seine Person die wohl schlechteste Wahl ist, mich zu beruhigen. Nun gut, die Spielchen sind also vorbei.

Es beginnt.

Ich lächle ihn süffisant an und drehe mich einmal im Kreis. Meine Haut ist zum Zerreißen gespannt. Mein Körper scheint zu vibrieren. Und war ich es vorher noch, so bin ich spätestens ab diesem Moment nicht mehr ich selbst, sondern jemand anderes, irgendein dunkler Teil von mir. Ich stelle mir vor, wie mein Lächeln von Ohr zu Ohr geht und die Narben aufreißen. Ich hebe meine Hände zum Himmel.

„Alter, hast du gesoffen?“, fragt Patrick und bleibt wenige Meter vor mir stehen. Ich kann sehen, dass er unsicher ist. Wahrscheinlich hat er sogar Angst.

„Das Ding ist nicht echt, oder?“, fragt er leise.

Ein bisschen könnte ich ihn fast mögen.

„Echter als deine Beziehung zu Alice, würde ich sagen.“, und lasse die Arme wieder sinken. Ich komme langsam auf den Punkt. Seine Augen weiten sich.

„Das war… Das ist ein bisschen aus dem Ruder gelaufen. Ich habs nicht so gemeint, ehrlich. Sag ihr, ich habs nicht so gemeint.“

Ich lache und bin wütend und reiße den Kopf hoch, um den Schrei endlich loszuwerden, der in mir feststeckt und fast gelingt es mir, aber dann passiert etwas anderes.

Es hört sich an wie ein Knall.

Meine Ohren klingen. Ich kann sehen, wie Patrick nach hinten gestolpert ist. Aber die Pistole war zu Boden gerichtet. Noch.

Nicht mehr so mutig jetzt, was?

Aus den Augenwinkeln nehme ich eine Bewegung war. Meine Hand schnellt hoch und zielt auf Herrn Hocker, der auf dem Weg ins Haus ist. Er sieht mich nicht. Mutig, das muss man ihm lassen. Aber solchen Einsatz hätte er vielleicht früher mal beweisen sollen. Ich denke an die unzähligen Stunden in seinem Klassenzimmer, an die Demütigungen, die Lehrergespräche. Nein, mein lieber, du darfst noch nicht gehen. Ich ziehe den Abzug durch.

Noch ein Knall.

Herr Hocker, fast schon in der Terrassentür, fällt zu Boden.

„Keiner. Bewegt sich.“, sage ich laut und deutlich.

Ich kann die Angst und den Schock in ihren Augen sehen. Ein Mädchen fängt an hysterisch zu Schluchzen. Dämliche Weiber. Ich gehe dem Geräusch entgegen, die Waffe in meiner leicht zitternden Hand. Das Geräusch wird dumpf, als habe ihr jemand, oder sie sich, den Mund zugehalten. „Schon besser.“, sage ich und gehe weiter, die Menge ab, könnte man sagen. Ich sehe in ihre Augen und erwarte fast, dass mich etwas in ihnen rührt. Aber da ist nichts. Sie sind alle seelenlos, leer. Aber nicht die graue Masse ist mein Ziel. Sie mögen Zombies sein, aber sie haben mir nichts getan.

Und so drehe ich mich wieder um und gehe breit grinsend zu meinem Ausgangspunkt zurück.

„Nun zu dir.“, sage ich und gehe einen Schritt auf Patrick zu, der in der Zwischenzeit fast wieder in der Menge verschwunden ist.

„Ich habe die Geschichte ja schon gehört – aber ich möchte, dass du sie noch einmal erzählst.“

Er schüttelt den Kopf.

„Lukas.“, er atmet laut und heftig. Ich kann sehen, wie es in seinem kleinen Hirn zu rattern anfängt. Er geht seine Möglichkeiten durch. Gibt es ein Szenario, in der ich ihn am Leben lasse?

„Hey!“, schreie ich. „Hey, Justin!“

Ich muss die Bewegung nicht wahrnehmen, um zu wissen, wo er steht. Ich habe mir am Anfang eingeprägt, wo sie stehen, sie alle.

Noch ein Knall, gefolgt von zwei Schreien – einem von ihm und einen von Lisa, die direkt neben ihm stand. Ob ich die Bitch gleich mitnehmen soll? Ich lasse sie erst einmal zittern und wende mich wieder Patrick zu. Ich hebe die Augenbrauen.

„Also?“

Irgendwo in der Ferne höre ich ein Martinshorn. Er hat es auch gehört. Wir wissen beide, dass ich nicht mehr viel Zeit habe.

„Es tut mir leid.“, sagt er. „Es war nur eine dumme Wette.“

Ich strecke meinen Arm aus und drücke ab.

Jonas fällt, diesmal tonlos. Hätte kaum gedacht, dass ich so gut zielen kann.

Diesmal schreit nur Patrick auf.

„Hör doch auf!“, schreit er. „Ich sag dir alles, was du willst.“ Seine Stimme hat einen hohen, weinerlichen Klang angenommen. Ich glaube ein „Bitte“ aus der Menge zu hören, gefolgt von „wir haben dir doch nichts getan.“

Ich komme näher. Er rührt sich nicht. Ich setze ihm die Waffe an den Kopf. Er zuckt zurück, vielleicht ist die Mündung noch heiß.

„Nein, ich sage dir etwas.“

Ich gehe wieder einen Schritt zurück.

„Euch allen. Weißt du, Patrick, wer heute Abend in meinem Zimmer stand? Rate mal.“

„Alice?“

Ich lächle und wedle mit der Waffe vor seinem Gesicht herum.

„Richtige Antwort. Glück gehabt, mein Freund. Und rate mal, wie es ihr ging.“

„Beschissen?“

„Richtige Antwort. Und was meinst, woran hat man das am meisten gemerkt?“

Er zögert. Windet sich unter meinem Blick.

„Ich weiß es nicht, Lukas. Bitte, hör doch auf. Bitte, ich tue alles, was du willst. Es tut mir leid.“

„Falsche. Antwort.“ Ich drehe mich um meine eigene Achse und trete noch einen Schritt zurück. „Du hast noch einen Versuch.“

Er wimmert.

„Bitte.“, sagte er wieder.

„Nicht so auf Spielchen aus, wenn es um dein eigenes Fleisch geht, was?“, frage ich und halte ihm die Waffe an die Stirn. Er will zurücktreten, aber berühre ihn mit der anderen Hand an der Schulter, halte ihn nicht einmal fest, aber es reicht, dass er mit aufgerissenen Augen stehen bleibt.

„Lukas.“, sagt er. „Bitte tu das nicht. Es tut mir so leid, das mit Alice.“

„Du weißt doch noch nicht einmal, was mit Alice passiert ist.“, sage ich, die Stimme voller Wut und Hass.

Er schluckt und schnieft. Tränen laufen über seine Wangen. Würde mich nicht wundern, wenn er sich einpisst.

„Was ist mit Alice passiert?“, fragt er leise.

Ich drücke seine Schulter mit der Hand nach unten, bis er kniet.

Endlich kann ich auf ihn herabsehen.

„Du hast meine Frage noch nicht beantwortet.“, sage ich drohend. „Woran glaubst du, habe ich erkannt, wie sehr du ihr wehgetan hast?“ Meine Stimme wird lauter. Alle sollen es hören.

Er kann kaum noch sprechen. Sein Gesicht ist entstellt von Tränen und Rotz, die darauf herunterlaufen.

„Ich weiß es nicht.“, sagt er.

Vielleicht weiß er es wirklich nicht.

„Falsche Antwort.“, sage ich schließlich und nehme die Waffe von seiner Stirn, während ich mich ganz aufrichte. „Aber ich werde es dir sagen.“

Er nickt. Dabei sieht er so erbärmlich aus, dass ich lachen möchte. Nein, Patrick, diese Show wird dir auch nichts mehr nutzen.

„Weil ihre Arme...“, sage ich übertrieben laut. „Weil ihre verfickten Arme bis zur Unkenntlichkeit aufgeschlitzt waren.“

Er starrt mich an.

„Es tut mir so leid.“, sagt er. Es macht keinen Unterschied. Er kann sich verstellen wie er will, ich werde immer wissen was er ist. Ein brutales, schweinsäugiges Zombie. Die wievielte Alice ist ihm schon in die gierigen Hände geraten? Er mag ihr Gehirn nicht gegessen haben, aber ihr Glück, ihre Würde hat er verschlungen.

Es macht keinen Unterschied. Ich weiß, wie man Zombies tötet.

Und so fällt Patrick unter meiner vorletzten Kugel.

Objektiv betrachtet ist es wohl ziemlich eklig. Da meine Sicht Schwarz-Weiß ist, sehe ich nur eine dunkle Lache auf dem Boden und Spritzer einer fast schwarzen Flüssigkeit auf meiner Kleidung, meinen Händen, wahrscheinlich auch in meinem Gesicht.

Ich sehe aus, wie er Mörder eines Horrorfilms.

Ich bin der Mörder eines Horrorfilms.

 

Und dann ertönt ein erstickter Schrei hinter mir.

Da steht sie.

Ein letztes Mal kommt die Zeit zum Erliegen. Mein Atem stockt, während alles wie eingefroren stehen bleibt und einen Moment lang befinde ich mich in den Moment zwischen Schlafen und Aufwachen, wenn man sich verzweifelt an seinem Traum festkrallt, unwissend oder ignorierend, dass jeder Traum stirbt, wenn man ihn erst als solchen identifiziert hat. Am Ende kann man sich nicht dagegen wehren und muss die Augen aufschlagen. So auch ich. Und dann bin ich schon wieder ich selbst und die graue Masse hat sich aufgelöst in bunte Schüler, die ich gerade für immer verletzt, für immer traumatisiert, deren Leben ich für immer genommen habe.

Selbst jetzt noch, nachdem ich so lange daran gearbeitet habe, unempfindlich zu werden, kann Alice die Farben zurückbringen, die grauen Bilder aus meinem Kopf vertreiben. Und ich sehe die Dinge wie sie sind.

Diesmal wünschte ich, es wäre Schwarz-Weiß geblieben.

 

Blut an meinen Händen, meiner Kleidung, überall. Es ist nicht mein eigenes. In einem Anflug von Selbstüberschätzung drehe ich mich um, hoffe, dass das alles eine kranke Fantasie war, die anderen mich nur verwirrt und abgestoßen ansehen, aber es soll nicht sein. Da liegt er, vor mir auf dem Boden, ein Loch in den Resten seiner Stirn. Es nutzt nichts, die Augen zu schließen und bis zehn zu zählen. Er wird nicht verschwinden.

 

Alice ist jetzt nicht mehr weit von mir, aber sie sieht mich nicht. Ihre Augen sind aufgerissen und ihr Mund auch, die rechte Hand hat sie gehoben, vielleicht, um sie sich instinktiv vor den geöffneten Mund zu halten. Sie ruht jetzt neben ihrem Hals, die Finger nicht weit von dem grünen Stein und ich weiß nicht, ob sie ihn sich vielleicht fortreißen will, mich fortreißen will, aus ihrem Leben, ihren Erinnerungen. Aber das muss sie nicht. Das werde ich für sie tun.

Ich wünschte nur, sie wäre nicht hier gewesen, hätte das nicht sehen müssen, mich nicht so sehen müssen. Ich weiß nicht, ob sie mich je wieder ansehen wird. Je wieder ansehen kann.

 

Die Kette an ihrem Hals scheint mich anzulachen und ich weiß plötzlich nicht, wie ich sie vorher übersehen konnte, wie ich nicht bemerken konnte, dass sie sie die ganze Zeit lang getragen hat.

Als hätte ihr Anblick mich davor bewahren können, zu tun, wovon mich niemand mehr abhalten konnte, auch Alice nicht.

Sie hat sie die ganze Zeit lang getragen. Nicht Patrick war es, der ihr das Herz gebrochen hat. Ich bin es gewesen, viel früher schon.

 

Jetzt, endlich spüre den Schrei in mir frei werden und weiß, dass es viel zu spät ist. Die Welt dreht sich langsam weiter, während ich die einzige Entscheidung treffe, die mir offen bleibt. Und während ich meine rechte Hand wieder hebe, lasse ich ihn heraus, den Schrei, der so lange in meiner Kehle steckte, dass ich vergaß, zu atmen.

 

Langsam führe ich meine Hand zu meiner Schläfe.

Alice sieht mich, aber sie sieht durch mich hindurch. Ich weiß nicht, warum ich ihren Blick jetzt noch suche. Ich darf mich nicht abhalten lassen.

Mein Finger ist schon am Abzug, als jemand meine Hand festhält.

Ich drehe mich erschrocken um und lasse die Waffe fast fallen, als ich mich selbst sehe, mit anderen Gesichtszügen, aber trotzdem noch ich selbst.

„So einfach dürfen wir es uns nicht machen.“, sagt Voice und sieht mich ernst an.

„Fick dich.“, murmle ich leise und hebe die Hand wieder, aber da werde ich schon zu Boden geworfen von einem übereifrigen Markus, dessen Kampfsporttraining sich endlich mal auszahlt.

 

*

 

Vielleicht habt ihr bis zum bitteren Ende gehofft, dass ich mich anders entscheide. Glaubt mir, das habe ich auch. Sogar jetzt hoffe ich noch, dass sich alles als Irrtum herausstellt, als böser Alptraum. Aber die Welt dreht sich weiter und jeder Tag scheint nur noch dazu da zu sein, mich davon zu überzeugen, mir zu beweisen, dass es Wirklichkeit war, dass es Wirklichkeit ist, was ich getan habe. Ich wünschte, ich könnte mich loslösen, von diesem Körper befreien und zusammen mit Voice gehen, irgendwohin, nur weg von der Schuld. Aber sie lastet nicht an meinem Körper. Es gibt keinen Ort, an dem ich ihr entfliehen kann.

 

*

 

Es ist dunkel. Ich kann mich nicht orientieren aber ich spüre Voice Anwesenheit direkt neben mir. Seine unsichtbare Hand ruht auf meiner Schulter. Jetzt ist es überstanden, glaube ich ihn sagen zu hören. Aber es ist so dumm, das zu sagen oder überhaupt zu glauben. Jetzt fängt es erst an.

„Hol mich hier raus!“, schreie ich ihn an. Ich weiß, er kann es, kann mich wieder in die Träume, die Erinnerungen schicken, denn in jeder von ihnen, egal wie schmerzhaft, wäre ich lieber als hier. Und ich spüre die Ironie, denn flehte ich ihn vorher an, mich aus meinen Träumen zu holen, so bitte ich ihn jetzt, mich wieder darin zu entlassen. Aber er schüttelt nur den Kopf und streicht über mein Haar als wäre er meine verfluchte Mutter.

Ich atme schnell und heftig. Mein Herz wird sicherlich jede Minute aufgeben. Und ich beginne, zu schreien.

Ich schreie mir die Seele aus dem Leib und es dauert nicht lange, bis die Pfleger kommen und zu versuchen, mich zu beruhigen, bis einer schließlich die Spritze auspackt. Ich schreie weiter. Ich will die Spritze. Ich will alles, nur nicht wach bleiben.

 

Als ich die Augen wieder öffne, ist im Kontrast zu Schwärze der Nacht alles weiß. Es ist nicht mein Zimmer, es sieht mehr nach einem Krankenhaus aus. Ich konzentriere mich auf meinen Atem und versuche, alle Gedanken aus meinem Kopf fernzuhalten. Neben meinen Händen materialisiert Voice sich langsam, den besorgten Blick auf mich gerichtet. Und zum ersten Mal, so scheint es, kann ich ihn richtig beobachten. Er sieht wirklich aus, wie ich, aber anders, älter vielleicht, verhärmter, aber wann habe ich schon das letzte Mal in den Spiegel gesehen? Ich sehe vermutlich noch viel Schlimmer aus als er, mit den dunklen Ringen unter seinen Augen.

Und ich denke an das Foto, das meine Mutter mit einem Baby zeigt, das nicht ich bin und frage mich, ob er irgendeine kranke Projektion meines Unterbewusstseins darstellt, mein verlorener, älterer Bruder.

Was für ein Schwachsinn, sagt er.

„Bleibst du bei mir?“, frage ich. Es ist die einzige Frage, an die ich denken kann. Ich wollte ihn loswerden. Wie scharf war ich darauf, dieses kranke, sadistische Wesen aus meinem Kopf herauszubekommen. Aber jetzt, jetzt wo ich weiß, wie krank und sadistisch ich selbst bin, erscheint er mir keine so schlechte Gesellschaft mehr.

Du wusstest es, die ganze Zeit, sagt er. Du wolltest es nur nicht mehr wissen.

„Bitte.“, sage ich und versuche, ihn zu berühren, aber er verschwimmt unter meiner Hand und ich ziehe sie schnell zurück, aus Furcht, er könnte sich auflösen.

„Bitte, lass mich nicht mit mir selbst allein.“

Ich kann nicht bleiben.

Ich will protestieren, aber da ist keine Kraft mehr in mir. Ich habe jedes Recht, das ich jemals hatte, verwirkt. Ich habe nicht mehr das Recht, ihn um etwas zu bitten.

„Du hast das nicht getan.“, sage ich leise, die Erkenntnis formt sich erst langsam in meinem Kopf. „Niemand hat das getan. Niemand hat mich dazu getrieben. Ich war das ganz alleine. Nur ich.“

Er nickt.

„Aber warum hast du mich nicht sterben lassen?“

So einfach darfst du es dir nicht machen, sagt er nur wieder, ohne jede Genugtuung in der Stimme, aber auch ohne jedes Mitleid.

Die Tür öffnet sich.

Dr. Martin tritt ein. Er sieht besorgt aus aber auch sicher in dem, was er tut. Ich frage mich, ob er mich reparieren kann, obwohl ich weiß, dass er es nicht können wird. Ich bin nicht kaputt. Ich bin nicht krank. Ich bin nur böse.

„Weißt du, was passiert ist, Lukas?“, fragt er.

Es ist keine Fangfrage.

Ich nicke.

Ich glaube, er will meine Hand nehmen, aber irgendein Berufsethos wird es ihm vermutlich verbieten. Vielleicht will er mich auch nicht anfassen.

Vielleicht färbe ich ab. Vielleicht ist es ansteckend, das Böse.

„Ich kann das nicht.“, sage ich. „Ich bitte Sie. Lassen sie mich einfach schlafen.“

Ich bin nicht müde. Aber es auch nicht diese Form von Schlaf, an die ich denke.

„Wir können morgen darüber sprechen.“, sagt er und erhebt sich.

Vielleicht ist er erleichtert.

„Draußen ist eine Schwester, Tag und Nacht. Wenn du etwas brauchst, dann musst du nur rufen. Egal, was du brauchst. Wir sind für dich da.“

Ich verstehe nicht, was er sagt. Es hört sich an wie Mitleid. Es gibt kein Mitleid für Monster.

Kurz bevor er den Türrahmen erreicht, möchte ich ihm noch etwas zurufen, aber ich halte mich zurück, zu groß ist die Angst vor seiner Antwort.

Sind die anderen in Ordnung?, möchte ich fragen. Werden sie wieder gesund?

 

*

 

Es gibt nichts, was ich schreiben könnte, um diesen und die folgenden Tage zu beschreiben. Ich finde keine Worte dafür. Alles, was ich euch geben kann, sind ein paar Bilder und auch diese vermögen nicht zu beschreiben, was sich in mir abspielte, denn nach außen hin gab es nichts, was ich tun konnte.

Ich durfte nicht sterben, durfte nicht mehr vergessen, konnte nur versuchen, die Bilder aus meinem Kopf zu bekommen, ihre Augen, das Blut, die Angst in ihren Gesichtern. Und auch das durfte ich streng genommen nicht. Alles, was ich tun konnte, war den Hass auf mich zulassen, aushalten und zu versuchen, dabei zu überleben.

 

Fingernägel, die sich in meine Haut bohren, sie Schicht für Schicht abtragen. Geballte Fäuste. Mein Körper, am Fenster zusammengesackt, den Mund zu einem Schrei geöffnet, der ihn aber nicht verlässt. Ich kann nicht weinen. Krümme mich am Boden und versuche, Halt zu finden, irgendwo. Schlage mit den Händen auf den Boden. Schlage mir selbst ins Gesicht. Voice, über mich gebeugt, schüttelt den Kopf wie mein Vater, greift aber nicht weiter ein. Irgendwann kommt die Schwester rein und dann stellen sie mich endlich wieder ruhig.

 

Es könnten einige Tage auf diese Weise vergangen sein. Aber irgendwann kann ich mich der Realität nicht mehr entziehen. Dr. Martin bittet mich in sein Zimmer, dass er mich nicht besuchen kommt ist ein sicheres Zeichen dafür, dass ich mich langsam stellen muss.

Ich gehe langsam den Flur entlang. Ein Gefühl des Unheils überkommt mich, aber ich kann nicht zurück.

Mein einziger Gedanke gilt, hier so schnell wie möglich herauszukommen, oder wenigstens aus dem Krankenzimmer und dann ganz schnell den Abflug zu machen.

Mir fällt auf, dass ich meine Eltern seit Monaten nicht gesehen haben muss. Ob ich sie je wiedersehen werde? Und Alice? Bei dem Gedanken an Alice überkommt mich ein Gefühl, das ich in keiner Weise beschreiben kann, ich kann es nicht einmal insofern einordnen, ob es positiv oder negativ ist. Vielleicht bin ich erleichtert, dass sie jetzt ohne mich weiterleben kann, ohne meinen kranken Einfluss und ohne mich vermissen zu müssen, denn das wird sie nach dem, was ich getan habe, sicher nicht mehr.

 

Zum ersten Mal stehe ich vor verschlossener Tür. Ich sehe auf die Uhr, aber die Zeit stimmt, ich bin sogar wenige Minuten zu spät. Unschlüssig gehe ich zum Fenster und starre hinaus. Wieder frage ich mich, ob ich beim Aufprall auf den Hof unten stürbe. Das Fenster ist mit Sicherheit verriegelt.

Eine Frauenstimme weckt mich aus meinen Gedanken.

„Na, Jungchen? Ham´se dich wieder eingefangen?“

Ich sehe sie verständnislos an.

„Hast dich aus dem Staub gemacht, ich habs gemerkt, ja. Erzähl mir nur, wie du´s gemacht hast, ich mach´s genauso. Ich will auch hier raus. Vielleicht können wir zusammen abhauen.“ Sie zwinkert mir zu. Ich mag Maria. Wenn sie wüsste, was ich getan habe, würde sie nicht mehr mit mir abhauen wollen.

„Sie haben den Tunnel wieder zugekippt.“, sage ich mit trauriger Stimme. „Wir müssen wohl einen neuen graben.“

„Meine Schaufel hast du!“, sagt sie enthusiastisch. Ich lache freudlos.

Dann geht die Tür zu Dr. Martins Zimmer auf und augenblicklich fällt das Lachen aus meinem Gesicht und ich erinnere mich daran, dass ich nicht lachen darf. Nie wieder.

 

Er lächelt mich an, als ich durch die Tür laufe, aber ich kann nur daran denken, wie er wirklich über mich denkt. Und ich weiß, dass ich ihm nichts vormachen kann.

Deswegen antworte ich ehrlich, als er mich fragt, wie es mir geht.

„Ich habe keine Ahnung, wie ich einen einzigen weiteren Tag überstehen soll.“

„Ich werde dir dabei helfen, Lukas. Du bist nicht alleine.“

„Nein, ich will nicht, dass mir irgendjemand hilft. Ich will nicht wieder leben können. Ich will jeden Tag nicht wissen, wie ich ihn überstehen soll. Ich kann… Ich kann kein Mensch mehr sein. Nie mehr.“

Er sieht mich aufmerksam an.

„Lukas, ich weiß, dass es für dich im Augenblick so aussehen muss, als hättest du es nicht verdient, zu leben nach dem, was du getan hast. Ich werde es nicht banalisieren. Und du wirst dich damit auseinandersetzen. Du wirst deine Strafe verbüßen. Aber niemand kann dir das Recht nehmen, zu leben. Es ist furchtbar, was du getan hast. Aber du hast das Recht, die Pflicht weiterzuleben und du hast das Recht, eines Tages wieder glücklich zu werden.“

„Es fällt mir schwer, das zu glauben.“, sage ich wahrheitsgemäß.

Ich höre ihm nur mit halbem Ohr zu. Es ist Zeit für meine Frage. Ich bringe sie nicht über die Lippen. Ich fürchte mich so vor der Antwort.

„Wie…“, ich breche ab und hole Luft. „Wie geht es ihnen?“

„Den Menschen, die du angeschossen hast?“, fragt er.

Ich nicke und spüre, wie mein ganzer Körper zu zittern beginnt.

„Ihnen und... den anderen.“

Voice legt eine Hand auf meine Schultern, aber das Zittern lässt nicht nach, es wird nur stärker. Ich atme langsam ein und aus und das Schütteln wird weniger.

„Ich glaube, es ist zu früh, um mit dir darüber zu sprechen.“, sagt Dr. Martin.

Mein Herz bleibt stehen. Ich weiß, was das bedeutet.

„Dann ist noch jemand gestorben?“, frage ich und das Zittern kommt zurück, so heftig, dass Dr. Martin aufsteht und sanft meine Schultern festhält. Ich glaube, es ist das erste Mal, dass er mich berührt. Ich würde ich ihn abschütteln, aber es scheint, als hätte ich jede Kontrolle über meine Muskeln verloren.

„Ich habe jemanden umgebracht. Ich habe mehrere Menschen umgebracht.“, sage ich. „Ich bin ein Massenmörder.“ Meine Stimme hört sich völlig fremd an. Ich beobachte Voice, der neben Dr. Martin steht, fast in ihm steht, mit ihm zu verschmelzen droht. Ich blinzle, versuche zu atmen, kann nicht atmen.

„Außer Patrick ist niemand an deinen Schüssen gestorben.“, sagt Dr. Martin schließlich leise. Seine Betonung ist merkwürdig. Ich versuche, einen anderen Sinn in den Satz zu erkennen, finde aber keinen.

Ich sehe ihn an und versuche, in seinem Gesicht zu lesen, ob er mich anlügt. Sein Blick ist eindringlich, als wolle er die Worte auch mit seinen Augen in mein Gehirn bringen. Vorsichtig lässt er mich los und setzt sich wieder.

„Wir können darüber sprechen.“, sagt er zögernd. „Aber wenn du das Gefühl hast, es geht zu weit, musst du es sagen. Und wenn ich das Gefühl habe, es geht zu weit, werde ich aufhören. Okay?“

Ich nicke, aber ich kann mich nicht auf seine Worte konzentrieren. Etwas scheint nicht zu stimmen aber ich weiß nicht was.

„Was ist passiert?“, frage ich.

„Du hast zwei deiner Mitschüler und deinen Lehrer verletzt. Einen deiner Mitschüler hast du getötet.“, sagt er mit ruhiger Stimme und beobachtet mich dabei. Ich versuche, nicht auszuflippen und nickte.

„Herr Hocker“, beginne ich. „Wie geht es ihm?“

„Du hast seine Wirbelsäule verletzt.“, sagt Dr. Martin. „Es ist nicht klar, ob er wieder wird laufen können.“

Mir wir schwindelig, aber ich reiße mich zusammen. Ich muss es wissen.

„Justin und Jonas – werden sie bleibende Schäden davontragen?“

Ich kann kaum atmen.

Ich will nicht, dass er spricht.

„Die Lage war ernst, aber beide haben überlebt und werden langfristig wieder gesund werden. Aber du musst wissen, dass es nicht nur körperliche Wunden sind, die du deinen Mitmenschen zugefügt hast. Viele deine Klassenkameraden sind in psychologischer Behandlung, um das Geschehen besser verarbeiten zu können. Und diese Wunden verheilen nicht so leicht.“

„Alice!“, sage ich. Ich denke an ihre Eltern und daran, dass ich sie beschützen sollte. „Ist sie okay? Musste sie in eine Klinik?“

Er sieht mich an.

Sein Mund öffnet sich noch und schließt sich wieder, aber ich höre seine Worte nicht mehr, denn es reicht, dass ich seinen Blick gesehen habe und seine Worte „Außer Patrick ist niemand an deinen Schüssen gestorben“ klingen in meinem Kopf nach und plötzlich ergibt die Betonung Sinn.

„Was hat sie getan?“, frage ich entsetzt, mitten in seinen Satz hinein, den ich nicht gehört habe.

 

*

 

„Ich bring euch alle um!“, meine Stimme geht unter in dem plötzlichen Tumult, der ausgebrochen ist, nachdem man mich endlich unter Kontrolle gebracht hatte. Markus hält mich fest und er ist stark, aber das müsste er vermutlich nicht einmal sein. Ich frage mich, warum niemand die Waffe aufhebt und mir das Hirn wegpustet. Ich kann sie von hier aus sehen. „Hey!“, schreie ich, aber sie wollen alle nur möglichst weit weg von mir. Beende doch jemand, wozu ich zu schwach war, möchte ich rufen, aber ich vermute, dass könnte auch falsch verstanden werden. Ich versuche mich unter Markus Griff zu winden, aber es ist sinnlos.

Dann fällt mein Blick wieder auf Alice.

Zuerst sehe ich nur ihre Füße. Sie ist jetzt viel näher bei mir.

Das Martinshorn, zuletzt so laut, dass es sogar Lisas hysterisches Schluchzen übertönte, verstummt. Sie sind da.

Alles ist in Watte gepackt, als ich an ihren Beinen hochsehe und ihr ins Gesicht. Sie sieht mich an.

Ich habe noch niemals solch einen Blick in ihren Augen gesehen. Sie geht zwei Schritte weiter und als ich sehe, wohin sie will, versuche ich wieder, mich zu bewegen, aber Markus Knie steckt so tief in meinem Rücken, dass jeder Mucks schmerzt wie verrückt.

Sie hebt die Waffe auf. Prüfend hält sie sie in ihrer Hand. Einen Moment lang glaube ich, sie hat meinen stummen Schrei gehört, oder ihr Hass ist so groß geworden, dass sie mich töten wird und ich heiße sie willkommen. Aber sie sieht mich nur weiter an und dann dreht sie sich um und geht mit langsamen Schritten davon. Sie geht an den Polizisten vorbei, die Markus aufgeregtem Schrei „Hierher!“, gefolgt sind und ihn nun mit der Knie-in-Rücken-Geschichte ablösen wollen.

Niemand nimmt Notiz von ihr.

Niemand außer mir. Es dauert eine unendlich lange Sekunde, dann wird mir klar, was ihr Blick bedeutet hat.

Du bist alles, was ich noch habe, höre ich ihre Stimme in meinem Kopf.

Nein!

„Alice!“, schreie ich und jetzt endlich finde ich die Kraft, mich zu wehren. Ich kratze und beiße, ähnlich wie in der Klinik später während meiner nächtlichen Halluzinationen und einen Moment lang sieht es so aus, als könnte ich sie abschüttelt und loslaufen, zu ihr rennen, ihr die Waffe aus der Hand reißen, nicht einmal mehr, um mich zu töten, nur, damit sie ihr Vorhaben nicht in die Tat umsetzen kann.

Ich brülle jetzt aus voller Kehle und winde mich mit aller Kraft. Ich weiß nur eins: Sie darf dieses Haus nicht verlassen.

Aber ihre Griffe sind hart und trainiert und ich habe keine Chance. „Alice!“, schreie ich und der Polizist, der meinen linken Arm hält, kriegt einen Ellbogen ins Gesicht. Ich sehe, wie Markus zu ihr hinsieht, aber er sieht die Waffe nicht, sie ist schon zu weit weg. Er sieht nur ein Mädchen, das von einem Schauplatz der Gewalt flieht, so wie jede andere es tun würde.

„Alice! Nein!“

Es braucht fünf Männer, um mich zu bändigen, aber die Kapazitäten reichen aus.

Und das Mädchen verschwindet in der Tür, um nie mehr lebendig gesehen zu werden.

 

*

 

Ich liege auf dem Boden. Vielleicht bin ich ohnmächtig geworden, oder habe mich einfach fallen lassen. Dr. Martin rüttelt an meiner Schulter und spricht mit mir, aber ich verstehe seine Worte nicht. Ich will sie nicht verstehen.

Als die Pfleger kommen und mich auf mein Zimmer bringen, wehre ich mich nicht. Ich bewege mich nicht. Schlaff wie eine Puppe hänge ich in ihren Armen und ich sehe Marias Gesicht vor mir, als sie mich durch den Flur bringen, aber ich sehe durch sie hindurch.

 

Dann liege ich im Bett, alleine, ohne dass ich mich daran erinnerte könnte, hineingelegt worden zu sein. Ich sehe einen Pfleger in der Tür lehnen, der mich beobachtet. Weit entfernt scheint die Erinnerung von der verzerrten Fratze. Ein schöner Traum gegen das, was mich jetzt erwartet. Ich wünsche mir die Halluzinationen zurück.

Voice kniet an meinem Bett.

Seine Haut ist aschfahl und die Finger, die über meine Haut streichen bestehen nur aus Knochen.

Er wird gehen, denke ich.

Er sieht mir in die Augen. Seine sind ganz schwarz.

Ich kann mich nicht mehr bewegen, ich glaube, sie haben meine Arme fixiert.

Er fährt mit verhornten Fingernägeln über meine Haut. Als er sich schließlich auflöst, ist sie wund gekratzt, aber ich weiß, dass ich das in Wirklichkeit selbst getan haben muss.

Dann ist er weg.

Ich atme tief durch und sammle mich.

Ich beneide ihn, dafür, dass er gehen konnte. Ich habe keinen Zweifel daran, dass er nicht mehr wiederkehren wird. Es ist jetzt an mir, mich der Wahrheit zu stellen.

 

Alice ist fort. Voice ist fort. Meine Eltern auch, wenn sie ein bisschen Verstand haben.

Nur ich muss bleiben. Ich komme nicht weg von mir.

 

 

Nachwort

Die erste Version dieser Geschichte entstand noch zu meiner Schulzeit als ich etwa im Lukas´ Alter war. Auch deshalb möchte ich mich von ihrem Inhalt distanzieren: Dies soll unter keinen Umständen eine Erklärung oder Verharmlosung von Amokläufen darstellen. Es gab keinem Zeitpunkt in meinem Leben an dem ich etwas anderes als Entsetzen bei dem Gedanken daran verspürt habe.

Damals war das Thema Amoklauf in den Medien recht präsent, aus Amerika erreichten uns Nachrichten und in Erfurt hatte es auch erst vor kurzer Zeit einen Zwischenfall gegeben, so meine Erinnerungen mich nicht trügen. Wir hatten dies in der Schule sicher diskutiert. Eine Frage hat sich für mich jedoch nie geklärt und ich bin bis heute auf der Suche nach einer Antwort: Wer genau waren die Menschen, die eine solche Tat vollbrachten? Was ging in ihnen vor in den Wochen, Tagen vor dem Amoklauf? Welche Gedanken gingen ihnen durch den Kopf als es soweit war? Erkannten sie, wie weitreichend die Folgen für die direkt und indirekt Betroffenen sein würden? Erkannten sie ihre Schuld?

Was mir immer fehlte war die Information, was diese Menschen zu ihrer Tat getrieben hatte. Das Wort „Außenseiter“ fiel, wenn diese Frage erörtert wurde, aber ich war irritiert davon, denn ich hatte immer nur positive Erfahrungen mit Außenseitern gemacht, hatte gelernt, dass sie freundlich waren, weniger bewertend, weniger abwertend als meine anderen Mitschüler. Ich fragte mich also, welche Sorte Außenseiter zu einer solchen Tat in der Lage war.

Und deshalb tat ich, was ich damals immer tat, wenn ich die Gefühle von Menschen verstehen wollte. Ich schrieb. Denn eine Geschichte zu erzählen aus der Perspektive einer bestimmten Person zwingt mich zur Auseinandersetzung mit deren Gefühlen, Motiven, Abgründen, Hoffnungen. Zunächst ist mir dies jedoch nicht gut gelungen, denn das Entsetzen über eine solche Tat, das schwarz-weiß-Denken, dass man in seiner frühen Jugend noch nicht ablegen kann, verfälschte meine Sicht.

Die erste Version meiner Geschichte enthielt deshalb noch viele Klischees, das treibende Motiv der Hauptperson war Hass, die Gründe für diesen lagen in Mobbing, häuslicher Gewalt, schlechten Noten und Perspektivenlosigkeit. Ich baute all diese Gefühle in wenigen Seiten auf und ließ die Geschichte schnell zum Höhepunkt kommen. Sie endete mit dem Tod der Hauptperson, Selbstmord aus dem Gefühl der Reue heraus.

In den Jahren danach, mein Text längst in Vergessenheit geraten, lernte ich viele Menschen kennen, ließ mich dadurch überraschen, dass ich feststellen durfte, dass jeder Mensch etwas verbirgt, eine dunkle Seite in sich trägt und aus dieser dunklen Seite heraus oft scheinbar unerklärliche oder sozial unverträgliche Verhaltensweisen entstehen. Mir wurde klar, dass es nicht nur „gute“ oder „schlechte“ Menschen gab, dass ich in jedem Dunkel und Hell finden konnte, wenn ich nur an den richtigen Stellen danach suchte. Zweimal fiel mir meine vergessene Geschichte noch in die Hände, ehe ich einen neuen Versuch unternahm.

Einige Elemente davon habe ich in diesen Text mit übernommen, aber ich habe etwas einfügt, dass ich zuvor völlig vernachlässigt hatte: Hoffnung. Lukas ist zu Beginn der Geschichte kein glücklicher Mensch, aber er weiß seine negativen Gefühle anderen Menschen gegenüber zu unterdrücken. Erst die Hoffnung darauf, dass „nicht alle so sind“, dass es doch noch ein glückliches Leben für ihn geben könnte, macht ihn verletzlich. Er öffnet sich, lässt seine Gefühle zu und fast sieht es so aus, als hätte er eine Chance, da machen ihm die Gegebenheiten einen Strich durch die Rechnung. Er schafft es nicht schnell genug zurück in sein altes Leben, seine alte Ignoranz. Und gleichzeitig schafft er es nicht, den nötigen Schritt zu wagen, um seiner Liebe eine Chance zu geben, trotz seiner Angst.

Ich wusste, welchen Weg er einschlagen würde, gemessen daran schien mir die Entwicklung der Dinge unausweichlich und gleichzeitig so schmerzhaft, dass ich kurzzeitig erwog, das Ende abzufälschen und ihm einen positiveren Ausklang zu geben. Aber das wäre nicht ehrlich gewesen. Ich wollte keine Liebesgeschichte erzählen und es wäre auch nicht richtig gewesen, dies zu tun. Die Welt kümmert sich nicht um unsere Gefühle und Sympathien. Ich echten Leben wäre Lukas auch nicht glücklich mit Alice alt geworden.

 

Was als bloße „Typstudie“ eines „bösen“ Menschen begonnen hatte, war für mich zu einer schmerzhaften Odyssee über die Höhen und Tiefen eines jungen Menschen geworden, der neben all seiner Andersartigkeit doch nur leben wollte. Dem es nicht in der Natur lag, einem anderen Menschen Schaden zu wollen – dieser Wunsch ist erst gewachsen, als er den richtigen Nährboden dafür hatte und, so möchte ich betonen, diesem über lange Zeit hinweg ausgesetzt war. Der sich zuletzt mitreißen ließ aus einem Strom aus Angst, Wut, Verzweiflung und Hass, um zurückzuschlagen gegen eine ungerechte, bedrohliche Welt. Ja, Lukas hat sich entschieden, bewusst, möchte ich sogar sagen, lieber unsägliche Schuld auf sich zu laden als weiter hinzunehmen und zuzusehen.

Es fällt mir dennoch schwer, das Monster in ihm zu sehen, dass die Welt – ja sogar er selbst – sicher in ihm sehen würde. Aber dann wiederum gelingt es mir nicht, in irgendeinem Menschen ein Monster zu sehen.

 

Ich hoffe, dass diese Geschichte für Sie ebenso aufschlussreich und schmerzhaft war wie für mich. Ich hoffe, sie hat Ihnen geholfen, hinter die Fassade des „bösen“ Menschen zu schauen und den Funken Hoffnung zu sehen, der darin lebt. Ich hoffe, Sie verurteilen mich nicht dafür, so zu fühlen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 20.03.2016

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