Leseprobe zu
In Arbeit – Kurzgeschichten
Mein Chef
Mein Chef besitzt den Jähzorn eines Stiers angesichts eines roten Tuches. Obwohl ich weiß, dass diese Tiere farbenblind sind. Für die Wutanfälle meines Chefs ist es ebenfalls egal, welche Farbe das Tuch hat, mit dem ich ihn unabsichtlich reize. Gestern habe ich mich geweigert, einen seiner abgedrehten Wünsche zu erfüllen. Da hat er zu brüllen begonnen, sodass ich gedacht habe, er würde mich jeden Moment feuern.
Er ist auch nicht im Geringsten geduldig. Weil ich seinem Auftrag heute Vormittag nicht im selben Augenblick nachgekommen bin, in dem er ihn mir erteilt hat, rannte er mir lange Zeit verärgert hinterher, obwohl mir das furchtbar peinlich vor allen Leuten war.
Außerdem ist mein Chef ein Tyrann. Er sagt mir ständig, was ich zu tun habe und kontrolliert alles, was ich tue, sogar wenn ich nur aufs Klo gehe. Will ich Mittagspause machen und er ist nicht einverstanden, muss ich weiterarbeiten. Er schreibt mir vor, wann ich morgens aufstehen soll beziehungsweise darf, was ich kochen soll und will immer an erster Stelle stehen. Der Despot möchte jede Sekunde meines Lebens bestimmen. Doch was ist mit meinen Wünschen, meiner Privatsphäre? Sollte ich nicht auch ein paar Rechte haben? Hin und wieder einen Urlaubstag für mich?
Ich habe quasi einen 24-Stunden-Job. Wenn sich andere nach Dienstschluss in ihre diversen Beförderungsmittel setzen, um sich selbst in ihren wohlverdienten Feierabend zu entlassen, kann ich lediglich nach einem Blick auf die Uhr hoffen, dass ich bald schlafen gehen kann. Ich kann nicht einfach die Tür hinter mir schließen und habe meine Ruhe. Mein Chef greift rund um die Uhr auf meine Fähigkeiten zurück. Da kann ich noch so sehr auf seine Pflichten nach dem Arbeitsrecht pochen. Seine Vorstellungen von meinem Arbeitstag sehen anders aus. Er wohnt nämlich gleich nebenan.
Wenn wenigstens die Bezahlung stimmen würde, könnte man meine Arbeitsmoral ja noch verstehen. Aber ich verdiene auch noch schlecht! Sie werden sich fragen, wieso ich mich beschwere und nicht stattdessen bessere Arbeitsbedingungen fordere. Doch das ist nicht so leicht. Meinen Job kann man nicht so einfach kündigen.
Es ist halb zwei, als ich geweckt werde. Schlaftrunken greife ich nach meiner Brille. Ich setze mich auf und versuche erst einmal meinen Kreislauf am Abstürzen zu hindern. Das Seufzen, das in meinem Kopf hallt, lasse ich nicht über meine Lippen. Neben mir schläft mein Mann, und den will ich nicht wecken. Das Denken fällt mir schwer. Wenn ich nur nicht so schrecklich müde wäre!
Schließlich stelle ich beide Füße auf den Boden und schlüpfe in den Morgenrock, welcher auf meiner Bettseite bereit liegt. Auf müden, wackeligen Beinen tapse ich in der Dunkelheit aus dem Schlafzimmer. Der Weg ist mir wohlbekannt, sodass ich weder gegen eine der Kommoden stoße noch über die Pantoffeln meines Mannes stolpere.
Mein Chef klingt ungeduldig. Was jetzt wohl los ist? Durst, Albtraum oder etwas ganz Neues, das ich mir im Moment nicht vorstellen kann? Ich frage mich mal wieder, wieso ich mich für diesen Job entschieden habe, aber die Antwort ist klar.
Die Tür ziehe ich hinter mir leise ins Schloss. Ich durchquere den schmalen Gang und öffne die nächste Tür. Bei meinem Betreten verstummt das leise Weinen im hellrosa gehaltenen Zimmer.
„Mama, ich hab Durst“, tönt es aus dem Gitterbett mit den Leuchtsternen an der Stirnseite.
Wenn Marie ihr Trinken nicht immer auf der Matratze verteilen würde, könnte ich es meiner zweijährigen Tochter beim Schlafengehen griffbereit hinstellen. Mit einem stummen Seufzen trete ich im Schein der Salzkristallleuchte neben das Bettchen und reiche Marie das Glas, das auf der Kommode schon wartet. „Hier hast du, Schatz“, flüstere ich.
Während ich warte, bis Marie ihren Durst gestillt hat, streiche ich ihr sanft übers Haar. Es fühlt sich feucht an, aber nicht so durchgeschwitzt, dass ich beunruhigt sein müsste.
Marie setzt das Glas ab und holt endlich tief Luft. Ihr Durst scheint unstillbar, lächle ich in Gedanken. „Danke“, murmelt sie schließlich schlaftrunken.
„Genug?“
Sie nickt.
„Leg dich wieder hin, Schatz“, bitte ich und helfe ihr dabei. Ich beuge mich über das Gitterbettgitter und drücke ihr einen Kuss auf die rosige Wange.
Meine Tochter seufzt. Sie ist bereits wieder am Einschlafen. „Du bist hübsch wie eine Pflanze“, meint Marie mit einem Gähnen.
„Danke“, antworte ich und muss lächeln. Mir ist nicht ganz klar, ob das wirklich ein Kompliment ist. Marie unterscheidet bei Pflanzen lediglich Bäume, Tomatensträucher und Kaktusse.
„Mimi liegt auch neben mir“, murmelt meine Tochter. „Sie ist so schön kuschelig.“
Mimi, die Maus aus der von mir ausgedachten Geschichte, die nachts heimlich auf ihrem Kopfpolster schläft. Für Marie ist die kleine Maus seither ein fester Bestandteil ihrer Träume.
Nachdem ich die Decke bis zu ihrem Kinn hochgezogen habe, schleiche ich auf Zehenspitzen zur Tür. Meine Hand greift gerade nach der Türschnalle, als noch einmal Maries Stimme aus dem Dunkeln zu mir dringt.
„Ich hab dich lieb, Mama.“
Mein Herz weitet sich, und ein Teil meiner Müdigkeit wird dabei gen Himmel getragen. ‚Bitte, Gott. Lass einen Engel über sie wachen’, schicke ich ein Gebet hinterher. Leise flüstere ich mit warmer Stimme: „Ich hab dich unendlich lieb, mein Schatz. Schlaf gut.“
Dann verlasse ich endlich das Zimmer, klettere wieder in mein Bett und versuche von Marie zu träumen. Vielleicht träume ich, wie sich mein Chef an mich kuschelt, während ich ihm seine Lieblingsgeschichte vorlese. Meist gelingt es mir.
Wieso ich nicht kündige, haben Sie mich gefragt. Meine Antwort lautet: Weil mein Chef das süßeste Lächeln der Welt hat, mit einer Liebeserklärung jeden Kündigungsgedanken unmöglich macht und weil ich ihn lieb habe.
Tag der Veröffentlichung: 02.06.2011
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