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Die Stille dröhnte in ihrem Kopf. Nicht einmal der Schnee auf den Bäumen wagte für ein paar Sekunden mit dem typischen leise, raschelnden Geräusch zu Boden zu fallen. Dieses Rieseln hatte zuvor noch verheißungsvoll wie Geschenkpapier geklungen, das liebevoll um eine Weihnachtsüberraschung gewickelt wurde. Doch nun harrten scheinbar die Vögel, die anderen Tiere des Waldes, die gesamte Natur ihrer Entscheidung.
Ihr Herz trommelte ein fremdes, unheimliches Lied, als sie erschöpft und ratlos den Blick über die Umgebung schweifen ließ. Ihr Atem formte dünne, weiße Wölkchen, wie Rauchzeichen auf der Waldlichtung, bevor er bedächtig gen Himmel stieg.
Der Schnee unter ihren Füssen knirschte wie Glassplitter, während sie zum zweiten Mal am heutigen Tag auf das Holzhaus mit den geschlossenen grünen Fensterläden zuging. Im Sommer wirkte es, als würde es von den hohen Tannen ehrenvoll flankiert. Jetzt aber sahen die Bäume eher wie drohende, lauernde Riesen aus.
„Wieso, in Gottes Namen, fährst du ausgerechnet zu dieser Jahreszeit in unser altes Ferienhaus? Natürlich ist der Strom abgestellt und kein Feuerholz da! Wir waren noch nie im Winter im Waldviertel, seit wir das Haus im Dorf unten verkauft haben. Es ist nicht dafür gedacht, um kalte Nächte dort oben zu verbringen.“ Die Stimme ihrer Mutter hatte weniger irritiert als vielmehr schockiert geklungen, als Elisabeth sie vom Auto aus angerufen hatte.
Es war eine überstürzte Entscheidung gewesen, sich hier in diesem Wald zu verkriechen. Verrückt zu hoffen, dass in ihrer alten Heimat der Schmerz nicht so groß wäre, obwohl sie das Leben hier vor langer Zeit zurück gelassen hatte, mit all seinen Vor- und Nachteilen. Der Anruf bei ihrer Mutter hatte ihr noch einmal klar gemacht, dass ihre Überlegungen vor der Abreise nicht weit genug gediehen waren. Wenigstens wusste sie nun, dass sie wirklich auf sich alleine gestellt war, auch wenn sie sich die Einsamkeit in ihren naiven Träumen weniger trostlos vorgestellt hatte. Eindeutig mehr Abgeschiedenheit als eingeplant.
Doch dass sie jetzt am Nachmittag nach endlos scheinenden Stunden nicht noch einmal ins Auto setzte, um die 200 km zu ihrer Mutter zurückzulegen, stand für sie ohne Überlegung fest. Wenigstens hatte sie genug Proviant, um die nächsten Tage zu überstehen. Auch wenn sie noch nicht wusste, wie sie das Essen erhitzen sollte.
Ihr Blick wanderte zu der Person neben sich, die ihr die Kraft gab durchzuhalten, für die sie alles auf sich nehmen würde. Sie griff nach der Hand ihres vierjährigen Sohnes und stellte bemüht fröhlich fest: „Das wird ein Abenteuer, das wir nicht so schnell vergessen.“ Jakob musste förmlich die letzten Meter zum Haus gezerrt werden.
„Warum müssen wir hier bleiben? Hier ist alles so … alt. Und mir ist kalt!“ Wattebäusche stiegen aus seinem Mund, während er weiter versuchte, sich ihr zu widersetzen.
„Ich habe dir doch gesagt, dass wir Weihnachten heuer einmal anders feiern“, seufzte Elisabeth und stellte fest, dass ihr Sohn bereits jetzt genauso gut Nachstochern konnte wie seine Großmutter.
Natürlich verstand sie, dass alle über ihren Entschluss überrascht waren, dass sie das eiskalte, lichtlose Ferienhaus aufgesucht hatte, aber wie sollte sie die Wahrheit erklären? Dass sie schon wieder einmal mit Peter gestritten hatte? Dass sie ihm schon wieder damit gedroht hatte, ihn zu verlassen? Ihre Mutter würde – übrigens genauso wenig wie eine ihrer Freundinnen - nicht glauben, dass sie es dieses Mal ernst meinte, dass es keinen Weg zurück gab. Dass Peter es diesmal übertrieben hatte. Sie mit einer Frau zu betrügen, die halb so alt wie er war! Wie gerne hätte sie dafür gesorgt, dass er genauso litt, wie sie es tat. Neuerlich kroch Kälte in ihr Herz und ließ sie mehr frösteln, als es der plötzlich auffrischende, ihre Wangen rötende Wind zustande gebracht hatte.
Jetzt saß sie hier fest, in tiefem Schnee und weitab jeglicher Zivilisation. Und morgen war Weihnachten. Ein Weihnachten, dass sie für ihren Sohn in einigermaßen gewohnten Bahnen stattfinden lassen wollte. Wie sollte sie das bloß schaffen? War sie gerade dabei, ihm eines seiner Lieblingsfeste für immer zu verderben? Die Sorgenfalte, die in letzter Zeit ihr stetiger Begleiter war, erschien auf ihrer Stirn und brachte die Schmerzen dahinter zum neuerlichen Aufflammen.
Sie schüttelte die unschönen Gedanken ab, blieb stehen und rieb Jakobs Hände zwischen ihren. Endlich hatte sie eine Idee. „Komm, wir sammeln jetzt ein wenig Holz, damit wir den Kamin anheizen können. Dann wird es warm und gemütlich.“

Als sie sich gut eine Stunde später von der Hinterseite aus dem Haus näherten, war Jakob nass und bester Laune, Elisabeth unterkühlt und gereizt und die Ausbeute unzureichend.
Sie drängte Jakob zur Eile, blieb aber stehen, sobald der Eingang in Sicht kam. Ihr Instinkt sagte ihr sofort, dass etwas nicht stimmte.
Ein fremder Wagen stand vor dem Haus. Allem Anschein schon länger, denn der Motor gab keine warme Luft mehr an die Umgebung ab. Tiefe Fußspuren führten von dem Geländewagen zur Haustür. Und sie hatte nicht abgesperrt, weil sie gedacht hatte, dass hier in der Einöde um diese Jahreszeit bestimmt niemand vorbeikommen würde.
Sie war es aus ihrer Jugendzeit gewöhnt, dass man seinen Nachbarn vertrauen konnte, doch jetzt war sie dafür verantwortlich, dass Jakob nichts passierte. Deshalb hätte sie sich eindeutig vernünftiger verhalten sollen. Wie sollte sie nun tun? Was wollte der Fremde überhaupt in der spärlich ausgestatteten und unwirtlichen Hütte? Wer war er? Ein neugieriger Spaziergänger, ein Einbrecher, ein Serienmörder?
Als sie ängstlich ihre weiteren Schritte überlegte, wanderte ihr Blick zufällig nach oben. Jetzt erst bemerkte sie den Rauch, der aus dem Schornstein drang. Wenn der Unbekannte vorhatte, es sich im Holzhaus bequem zu machen, dann hatte sie ein Problem. Jakob brauchte dringend frische Kleidung, damit er sich keine Erkältung zuzog. Und die Reisetasche hatte sie bereits hineingetragen.
Schließlich forderte Elisabeth ihren Sohn auf, hinter einem Baum versteckt auf sie zu warten, und schlich dann zu einem Fenster, das einen eingeschränkten Blick auf das Wohnzimmer gewährte. Ein Späher auf feindlichem Gebiet.
Zuerst konnte sie nichts erkennen, sondern sah lediglich das Innere der Eingangstür. Das bedeutete, dass sie sich noch weiter vorwagen musste. Um zu entscheiden, was sie tun sollte, brauchte sie mehr Informationen. Zentimeter um Zentimeter schob sie ihren Kopf weiter in Richtung Fenstermitte. Alles schien noch im selben Zustand zu sein, in dem sie die Hütte gut eine Stunde zuvor verlassen hatte. Doch dann bemerkte sie einen Mann, der in Jeans und Pullover seitlich neben dem offenen Kamin stand. Und das, was er dort tat, verblüffte sie dermaßen, dass sie sekundenlang an ihrem Verstand zweifelte.
Der Mann war gerade dabei, eine kleine Tanne mit Lichterketten, Weihnachtskugeln und Lametta zu schmücken!
Verwirrt stolperte sie rückwärts und zog Jakob beim Vorbeikommen mit sich. Sie mussten hier weg! Dort drinnen ging etwas zu Seltsames, Unheimliches vor. Doch beim Weiterhetzen trat Elisabeth auf einen dicken Ast, der mit einem lauten Knacken brach.
„Lauf“, befahl sie Jakob und versuchte einen Sturz zu verhindern. Mit einem Knie landete sie im Schnee. Hinter ihrem Rücken hörte sie, wie die Eingangstür geöffnet wurde. Allem Anschein nach hatte der Einbrecher das Geräusch gehört. „Lauf!“ brüllte sie nochmals und rappelte sich hoch. Das Blut begann so laut in ihren Ohren zu rauschen, dass sie nicht sicher war, ob Schritte hinter ihr im Schnee knirschten oder nicht.
Sich umblickend eilte sie weiter. Der Unbekannte verfolgte sie, winkte aufgeregt mit den Armen. Noch hatte er keine Waffe gezogen, aber wer sich so absonderlich verhielt, dem war alles zuzutrauen. Angst presste ihren Brustkorb zusammen, als würde eine Eisenzange immer fester zudrücken. Im Laufen hob sie Jakob hoch und presste ihn an sich.
„Elisabeth, warte!“ rief der Fremde ihr nach. „Ich bin’s! Manuel! Manuel Forster.“
Wieso wusste er, wie sie hieß? Und wieso kannte er das geheime Kodewort, den Namen, der bei ihr alle Türen öffnete? Sie blieb abrupt stehen, drehte sich langsam um. Und erkannte endlich den Freund aus Schulzeiten, den Schwarm von früher, ihre erste große Liebe. Sie hatte ihn wie vieles andere Schöne zurückgelassen, als sie mit ihren Eltern weggezogen war.
„Was tust du hier?“ fragte sie verblüfft und tastete mit den Augen über sein wohlbekanntes, nun halb hinter einem Bart verstecktes Gesicht.
„Ich habe einen Anruf von deiner Mutter bekommen. Sie meinte, du könntest vielleicht Hilfe gebrauchen.“ Er kam langsam näher. „Deswegen habe ich ein paar Sachen vorbeigebracht. Mir gehört das Nachbarhaus fünf Kilometer südwestlich von hier. Du hattest nicht abgeschlossen.“
Elisabeth lachte noch etwas gezwungen. „Jetzt bin ich wohl das erste Mal über die Fürsorglichkeit meiner Mutter dankbar. Und ich dachte, du wärst ein Einbrecher, ein weihnachtsmannspielender Freak.“

Als sie Jakob umgezogen hatte und selbst in frische Kleidung geschlüpft war, kehrten sie in den großen Wohnraum zurück, wo Manuel gerade ein Essen auf dem Gasherd zubereitete. Im Kamin brannte ein gemütliches Feuer, Kerzen in Laternen verbreiteten ein anheimelndes Licht, und das Zimmer war erfüllt vom Duft der frisch gefällten Tanne, während sich draußen langsam die Dunkelheit wie eine mollige Decke über die Landschaft legte. Dieses Weihnachten wurde eindeutig anders. Tränen traten ihr in die Augen. Keine Seltenheit in den vergangenen Tagen. Doch nun waren es Tränen der Erleichterung.
„Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll“, brachte sie mit unsicherer Stimme heraus, als er sie aufmerksam beobachtete. Wie schön, ihn nach all der Zeit wieder zu sehen! Gerade jetzt!
„Das musst du auch nicht. Deine Mutter hat mir genau gesagt, was ich einzukaufen und im Haus zu tun habe.“ Manuel zwinkerte ihr zu. „Außerdem hat sie nach meiner Bankverbindung gefragt, um meine Auslagen zu übernehmen. Ich hoffe, sie verlangt keine Belege, denn ich habe vor, ihre Großzügigkeit schamlos auszunutzen.“
Sie lachte befreit. Die Neugierde war in seinen Augen zu lesen. Allerdings gab er ihr nicht nach, eine Tatsache die sie ihm hoch anrechnete. Es wäre später noch Zeit zum Reden. Jetzt war sie nur froh, nicht allein zu sein. Und das Feuer des Kamins wärmte sie endlich. Bis in ihr Herz.

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Tag der Veröffentlichung: 16.12.2009

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