Ich bin eine Verrückte. Keine Angst, ich gehöre weder in eine Irrenanstalt noch droht von mir irgendeine Gefahr. Ich bin durch und durch harmlos, bodenständig, vernünftig. Mein Wahnsinn bezieht sich nur auf mein Hobby, meine Leidenschaft. Ich möchte behaupten, dass desöfteren in meinem Kopf eine Kreativitätsbombe explodiert, die alle anderen Fähigkeiten meines Gehirns lahm legt. Es ist ein brennendes Verlangen, ein Zwang. Ich muss Worte zu Papier bringen, Sätze formulieren, um meine Emotionen auszudrücken. Egal, was ich gerade tue. Egal, wo ich gerade bin. Ein Fluch für mein Umfeld, für mich jedoch mein Traum.
Ich bin kein einfacher Mensch. Es gibt genug Personen, die das bestätigen können. Ich bin dankbar, dass meine Familie und meine Freunde meine Verschrobenheit akzeptieren. Wie jeder andere Mensch lerne ich ständig dazu, ändere meine Meinung durch meine Erfahrungen und habe einen ziemlichen Dickkopf. Aber egal, was ich tue, egal worüber ich mich sonst noch definiere, egal was ich in meinem Leben verändere, eine Konstante wird es auf ewig geben. Ich werde in meinem Herzen immer eine Großwetzdorferin bleiben.
Niederösterreich ist meine Heimat, aber die Gemeinde Heldenberg im Weinviertel ist mein Zuhause, meine Wurzel, ein untrennbarer Teil von mir selbst.
Heldenberg ist eine kleine Gemeinde mit lediglich gut 1.140 Einwohnern. Über den Ort Großwetzdorf selbst wurde einmal gesagt, dass man sofort beim Ortseingang das Auto abbremsen müsse, weil man sonst erst nach dem letzten Haus stehen bleiben würde. Auch wenn diese Formulierung übertrieben ist, trifft die Beschreibung die Ausmaße des Ortes recht gut.
Aber für mich ist diese Übersichtlichkeit der Reiz, den Großwetzdorf auf mich ausübt. Ich genieße es, lediglich ein paar Schritte gehen zu müssen, und mich sofort in Mitten von Wiesen, Feldern, Wäldern und Weingärten wieder zu finden. Hier gibt es nichts Städtisches, und ich kann nur sagen, dass ich dankbar dafür bin. Ich finde die Vertrautheit, dass jeder jeden kennt, dass man sich auf der Straße grüßt, dass man über Nichtigkeiten plaudert, unglaublich schön.
Weingärten prägen zu jeder Jahreszeit unsere Umgebung. Im Frühjahr sind ihre grünen Blätter und die ersten Blüten ein Zeichen des Erwachens der Natur. Im Sommer geben die heranreifenden Trauben uns Hoffnung, dass es ein gutes Jahr werden wird.
Ich liebe auch die Weinlese, diese verbindende Arbeit des in unserer Gemeinde vorherrschenden Weinbaus. Der frische, erdige, holzige Geruch der Weingärten erfüllt mich mit Zufriedenheit und innerer Ruhe. Die Gemeinschaft, die durch den frühen, kollektiven Aufbruch vom Betrieb entsteht. Durch das nur vom gleichmäßigen Geräusch der die Weinrebe vom Stock schneidenden Weingartenscheren unterbrochene morgendliche Schweigen. Durch das später einsetzende fröhliche Geplauder. Beim gemeinsamen Essen mit den Personen, mit denen man die eigentlich eintönige Arbeit verrichtet hat. Und die nicht zuletzt durch die Gewissheit verstärkt wird, dass man in der Gruppe etwas Sichtbares geleistet hat. Diese Gemeinschaft ist etwas unglaublich Befriedigendes.
Im Herbst lässt die rötliche Farbe der Blätter an ein flammendes Meer denken. Nachdem die Blätter abgefallen sind, heben sich die Weinstöcke wie Skelette vom Himmel ab. Eine Armee von Knochenmännern. Die nackten Weinstöcke halten dann einsame Wache bis zum ersten Schnee und bis ein neuer Kreislauf im Frühjahr beginnt.
Aber in unserer Gemeinde gibt es auch einige Kuriositäten. Der Name Heldenberg steht nämlich nicht nur für die Gemeinde, die aus fünf Katastralgemeinden zusammengesetzt ist, und für die Hügel und Wälder, für das Land, das zu der Gemeinde gehört. Der Heldenberg ist eigentlich hauptsächlich durch die Grabstätte von Feldmarschall Josef Graf Radetzky und Feldmarschall Maximilian Freiherr von Wimpffen bekannt.
Die Errichtung der Gedenkstätte war von Josef Gottfried Pargfrieder, dem Besitzer von Schloss Wetzdorf, im Jahr 1848 in Auftrag gegeben worden. Der Grund für den Bau war ein ziemlich ungewöhnlicher. Josef Gottfried Pargfrieder, ein wohlhabender Armeelieferant und Freund von Feldmarschall Radetzky, hatte die Schulden der beiden verarmten Feldmarschalle bezahlt. Als Gegenleistung wollte er neben ihnen am Heldenberg begraben werden.
Der Spottvers: „Hier ruhen drei Helden in ewiger Ruh, zwei lieferten Schlachten, der dritte die Schuh.“ war von den Heldenbergern auf Pargfrieder gedichtet worden, was nur zu deutlich macht, dass es nicht gerne gesehen wurde, wenn Geld dazu benutzt wurde, um „in bessere Gesellschaftsschichten hinein zu sterben“. Aber mal ehrlich: der Mann musste schon ziemlich große Komplexe gehabt haben, um so eine verrückte Idee umzusetzen. Überhaupt auf sie zu kommen.
Pargfrieder selbst ließ sich schließlich auf seinen Wunsch hin in einer Ritterrüstung und mit einem roten Mantel bekleidet sitzend in der Gruft begraben, nachdem er von Kaiser Franz Joseph in den österreichischen Ritterstand erhoben worden war. Er wurde – angeblich um Mitternacht - in einem Milchwagen auf den Heldenberg gebracht. Bei seinem eigenen Begräbnis fehlten jegliche Trauergäste.
Neben der Gruft, dem - den 1848 errungenen Siegen der österreichischen, kaiserlichen Armee gewidmeten - Obelisken, den Siegessäulen und dem Säulenhaus befinden sich auf dem großen Areal noch die Kaiserallee sowie die Heldenallee. Dort stehen mehr Statuen und Büsten als im Wachsfigurenkabinett von Madame Tussauds. Nun ja, vielleicht nicht ganz so viele, aber über hundert steinerne Gesichter starren gespenstisch mit blicklosen Augen über die Köpfe der Besucher hinweg und schweigen über Geheimnisse, die nur sie kennen.
Als Kind beeindruckte mich das Areal mit den geheimen Wegen, den Respekt einflößenden Statuen und der Feierlichkeit, die es durch die Größe und die strenge Ordnung der Anlage ausstrahlte, ungeheuer. Aber auch noch heute ist der Anblick erhebend.
Eine weitere, als Sehenswürdigkeit bezeichnete Skurrilität meiner Gemeinde ist die Glaubendorfer Kreisgrabenanlage. Dabei handelt es sich um geheimnisvolle Großbauten aus der Jungsteinzeit. 37 oder mehr über 7000 Jahre alte kreisrunde Erdgräben, umgeben von aus Baumstämmen gefertigten Palisaden, sind den Forschern immer noch ein Rätsel. Auch wenn diese riesigen Bauwerke sogar aus Flugzeugen deutlich zu erkennen sind, entzieht sich deren Sinn unserem Verständnis. Auf den ersten Blick erinnern mich Bilder stets an die Markierungen auf den Maisfeldern im Kinofilm „Signs“. Bleibt die nicht ernst gemeinte Frage, ob vielleicht auch Außerirdische unsere friedliche Abgeschiedenheit zu schätzen gewusst haben und der Landschaft ihren Stempel aufgedrückt haben.
Eine Veranstaltung möchte ich aber keinesfalls nicht unerwähnt lassen, nämlich die Glaubendorfer „Nacht des Grauens“, welche seit 2006 einmal im Jahr in einer Vollmondnacht im November stattfindet. Jedes Jahr versammeln sich mehr und mehr Adrenalinjunkies der umliegenden Gemeinden und von weit her spät am Abend am Ausgangspunkt, um sich von den Veranstaltern auf dem ungefähr vier Kilometer langen Weg des Grauens schockieren zu lassen und der Legende der Chluben auf den Grund zu gehen. Mögen das Blut, die abgetrennten Körperteile und die übrigen Requisiten auch nicht echt sein, der Schrecken und die unheimliche Atmosphäre sind auf jeden Fall real. Ein wahrhaft gruseliges Vergnügen.
Neben all unseren Kuriositäten wissen wir Wetzdorfer aber auch zu feiern. An jedem 1. Mai findet unser Weinwandertag statt, bei dem zahlreiche Besucher auch aus anderen Gemeinden den 6,4 Kilometer langen Rundwanderweg durch die einzigartige Landschaft entlang marschieren. Dabei wird auch ein Wildgehege mit Bisons ja, bei uns leben sogar Bisons passiert. Auf neun Stationen wird für das leibliche Wohl gesorgt. Und das kommt auch nicht beim Wetzdorfer Kirtag, beim Feuerwehrheurigen mit Steckerlfischessen und bei den zahlreichen anderen Musikfesten zu kurz. Eh, klar. Wir genießen halt gern!
Natürlich kann ich nicht für alle Niederösterreicher sprechen, aber wir Wetzdorfer sind trotz unserer Eigenheiten ein fröhliches Völkchen, ein hilfsbereiter, freundlicher Menschenschlag. Wir haben ein Faible sowohl für Traditionelles als auch für Ungewöhnliches. Darauf bin ich stolz. Allein der Gedanke, dass ich aus irgendeinem Grund „meine“ grünen Hügel und Wiesen, „meine“ Weingärten, Felder und Wälder missen müsste, ist ein unbeschreiblicher Schmerz, ein Zerreißen meine Seele.
Manchmal überlege ich, wer ich eigentlich bin, was mich ausmacht. Dann durchstreife ich die Landschaft, erforsche geheimnisvolle Pfade, folge verschlungenen Wegen im Wald, bis ich einsame, verwunschene Lichtungen entdecke, atemberaubende Ausblicke auf meine Heimat. Und einen Teil von mir selbst finde.
Wie gesagt: ich bin kein einfacher Mensch. Aber ich denke, ich habe mein Herz am rechten Fleck. Ich habe es in Großwetzdorf, einem einzigartigen Ort der Gemeinde Heldenberg im niederösterreichischen Weinviertel.
August 2009
Tag der Veröffentlichung: 16.10.2009
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