Elina versuchte auszublenden, wie hoch ihr das Hindernis vorkam, auf das sie gerade mit Poldi zusteuerte. Immer wieder wiederholte sie in Gedanken, was Sandra, ihre Reitlehrerin, ihr gesagt hatte: In Gedanken musst du schon auf der anderen Seite des Hindernis sein. Natürlich wusste Elina auch, dass das Hindernis gar nicht so hoch war. Außerdem war es für Poldi kein Problem, auch sehr hoch zu springen. Trotzdem fühlte sie sich mulmig, als sie auf den Steilsprung zusteuerte. Umso erleichterter war sie, als sie mit Poldi sicher auf der anderen Seite landete und weiter geradeaus galoppierte. Der Kommentar ihrer Reitlehrerin ließ nicht lange auf sich warten.
„Bleib bei ihm, lass ihn nicht alleine“, rief Sandra.
Elina wusste, was damit gemeint war. Sie sollte mutiger voranreiten, anstatt ihr Pferd allein über das Hindernis gehen zu lassen. Aber das war gar nicht so einfach. Gerade beim Springen fühlte sie sich häufig wie ein Passagier auf Poldis Rücken und versuchte, ihn bloß nicht zu sehr zu stören. Dass sie ihm sagte, was er im Parcours tun sollte, kam eher selten vor. Meist übernahm er das Kommando und brachte sie sicher über alle Hindernisse. Nur gelegentlich gelang es ihr, ihm eine Parade zu geben, die ihn zurückhielt, wenn er zu eilig wurde. Allerdings hatte sie festgestellt, dass sie wesentlich besser auf Poldi aussah, wenn sie es ihm überließ, in welchem Tempo und an welchem Punkt er abspringen wollte.
Elina wusste, dass Poldi mit ihrer Tante Hella vor deren Tod sehr viel höher gesprungen und sogar auf Turnieren erfolgreich gewesen war. Nicht zuletzt rieb ihre beste Freundin Ida ihr das oft genug unter die Nase. Genau wie Sandra kritisierte auch Ida immer wieder, dass Elina viel zu passiv auf Poldis Rücken saß und ihm nicht klar sagte, was sie von ihm erwartete. Dabei war Elinas Sorge, dass sie Poldi etwas Falsches sagen könnte. Wie würde er reagieren, wenn sie ihretwegen einen Fehler machten? Ida behauptete dann, dass Poldi Elinas Fehler ausbaden würde, so dass ihnen schon nichts passierte. Gelegentlich war das auch schon vorgekommen, wenn Poldi über ihren Willen hinweg beschloss, ein Hindernis lieber sofort zu nehmen, anstatt noch einen Galoppsprung einzubauen.
„Mach das noch einmal!“, forderte Sandra Elina auf und sie atmete tief ein.
Diesmal wollte sie es besser machen und mit ihrem Pferd als Team auftreten. Doch schon beim Ansteuern des ersten Hindernisses merkte sie, dass ihr die Kraft fehlte. Poldi dagegen war nicht zu bremsen und ahnte, was zu tun war. Elina versuchte, ihn zurückzuhalten, doch es gelang ihr kaum. Zwar schoss er nie völlig unkontrolliert los, aber er übernahm die Kontrolle und bestimmte, wann er sprang. Immerhin waren er und Elina sich bei den weiteren Hindernissen einig darüber, wann gesprungen wurde. Als Elina Poldi nach dem letzten Sprung austraben ließ, lobte Sandra sie zumindest.
„Das wird mit der Zeit immer besser“, versprach ihre Reitlehrerin. „Poldi muss lernen, dass du weißt, was du ihm sagst. Dann vertraut er dir noch mehr und ihr könnt euch besser abstimmen.“
Manchmal bezweifelte Elina, dass Poldi ihr überhaupt vertraute, doch das behielt sie lieber für sich. Seit dem Beginn der Sommerferien sprangen sie fast jeden zweiten Tag im Unterricht bei Sandra, während sie sonst nur einmal pro Woche sprangen. Obwohl es Elina durchaus Spaß machte, fand sie es auch noch immer aufregend und sehr anstrengend. Aber Ida hatte darauf bestanden, ihr Springtraining zu intensivieren und die Ferien dazu zu nutzen. Und wie es so Idas Art war, hatte sie ihre Freundinnen mehr oder weniger dazu genötigt, mitzumachen. Ein bisschen bereute Elina schon, dass sie sich hatte breitschlagen lassen, auch wenn sie sicher viel lernen würde. Doch ihr fehlte auch der Mut, Ida zu sagen, dass es ihr zu viel wurde.
Als wenig später Ida an der Reihe war, den Parcours zu springen, schaute Elina ganz genau hin. Wie so oft sah es bei Ida aus, als wäre das Springreiten ein reines Kinderspiel. Idas schneeweiße Stute Damura bewegte sich elegant, zügig und scheinbar immer kontrolliert durch den Parcours. Dabei machte Ida auf ihrem Rücken eine hervorragende Figur. Sie gab ihrem Pferd genau vor, wo es langging. Elina seufzte und fragte sich, ob sie jemals so gut reiten könnte. Jedes Hindernis nahm Damura nicht nur mühelos, sondern mit dem richtigen Abstand und der richtigen Linie.
„Lehrbuchmäßig“, nannte ihre Reitlehrerin Sandra das und war sichtlich stolz auf Ida.
Auch Ida wirkte sehr zufrieden, was nicht immer selbstverständlich war. Oft war sie zu sich selbst noch strenger als ihre Reitlehrerin. Elina vermutete, dass das der Schlüssel zu Idas Erfolg war. Sie trainierte wirklich hart und arbeitete sehr streng an sich selbst und an Damura.
Während als nächste Reiterin Nina mit Scando anritt, um durch Sandras Trainingsparcours zu gehen, tauschte Ida die Pferde. Denn seit einiger Zeit ritt sie nicht nur ihr eigenes Pferd Damura, sondern auch noch Bering, einen Wallach, der einem Herrn aus dem Stall gehörte. Gerade brachte Idas Mutter den hellen Fuchs mit der breiten Blesse an den Reitplatz. Ida ritt an das Tor und sprang elegant von Damuras Rücken. Sie drückte ihrer Mutter Damuras Zügel in die Hand und nahm sich Bering. Elina versuchte, sich auf Ninas Ritt zu konzentrieren, doch ihr Blick wanderte immer wieder zu Ida, die sich in den Sattel von Bering schwang und anritt. Sie winkte noch kurz ihrer Mutter, die sich mit Damura auf den Weg in den Weg zum Dressurplatz machte, um sie dort trockenzureiten. Mit raumgreifenden Bewegungen schritt Bering in die Mitte des Platzes. Endlich schaffte Elina es, ihren Blick abzuwenden, und Nina zu beobachten.
Elina wusste, dass auch Nina zwar Spaß am Springen hatte, jedoch nicht so ehrgeizig war, wie beispielsweise Ida. Dennoch machte sie mit Scando große Fortschritte. Der Wallach war insgesamt etwas ruhiger und musste häufig motiviert werden. Doch inzwischen bewegte er sich mit einem konstanten Tempo durch den Parcours. Nina hatte einen hochroten Kopf, der darauf schließen ließ, dass sie Scando auch an diesem Tag ordentlich vorwärts treiben musste. Ansonsten jedoch ließ sie sich nicht anmerken, wie anstrengend es für sie war. Als Scando mit dem Huf gegen eine der Hindernisstangen schlug, zuckte Elina zusammen, doch die Stange blieb oben.
Als Scando zum Schritt durchparierte, war schwer zu sagen, wer sich darüber mehr freute; Das Pferd oder seine Reiterin. Nina lobte den Wallach ausgiebig und ließ die Zügel lang. Das Fell des Braunen glänzte vom Schweiß und auch Nina standen die Schweißperlen auf der Stirn. Zwar hatte sie tapfer durchgehalten, doch nun war sie ziemlich erschöpft. Obwohl sie sich extra vormittags mit Sandra zu ihrer Springstunde getroffen hatten, war es schon unfassbar heiß an diesem Tag.
Ida ließ sich davon nicht erschüttern und trabte Bering um die Hindernisse herum, bis er aufgewärmt war. Dann nahm sie ein paar der Sprünge einzeln und wartete dazu gar nicht erst auf Sandras Aufforderung. Bering bewegte sich ganz anders als Damura, so viel konnte Elina schon erkennen. Trotzdem saß Ida wie eine Eins auf seinem Rücken und führte ihn von Sprung zu Sprung. Es dauerte nicht lange, da bat sie ihre Reitlehrerin, die Hindernisse zu erhöhen. Sandra tat ihr den Gefallen und gab ihr dann Anweisungen, wie sie zu reiten hatte. Vermutlich hätte Ida diese gar nicht unbedingt gebraucht. Zwar war Ida schon ein paar Mal ziemlich hoch gesprungen, doch an diesem Tag erschienen die Hindernisse zumindest für Elina unglaublich hoch. Während sie Poldi am langen Zügel ritt, ließ sie Ida nicht aus den Augen. Bering sah mindestens genauso gut aus, wie Damura, wenn Ida ritt.
„Du startest am Wochenende mit beiden Pferden?“, wollte Sandra wissen, als Ida mit Bering durchparierte.
Ida nickte und war sichtlich stolz. Dass Thomas, Berings Besitzer, ihr erlaubte, mit seinem Pferd aufs Turnier zu fahren, war für sie eine große Sache. Und auch ihre Freundinnen waren ehrlich beeindruckt davon. Selbst Sandra nickte anerkennend und freute sich für Ida.
„Wir werden erst einmal ein kleineres Springen reiten“, erklärte Ida und Sandra nickte verständnisvoll. Elina wollte gar nicht wissen, was für Ida „klein“ bedeutete.
„Startest du mit Damura und Bering im gleichen Wettbewerb?“, wollte Nina wissen, deren Kopf langsam wieder seine normale Farbe annahm.
„Ja“, sagte Ida schulterzuckend, als wäre das keine große Sache.
Unterdessen schielte Luisa schon eine Weile auf die Hindernisse, die Sandra hochgestellt hatte, und traf schließlich eine Entscheidung.
„Dürfen wir das auch mal probieren?“, fragte sie und sah Sandra fast schon schüchtern an.
„Was möchtest du probieren?“, hakte ihre Reitlehrerin etwas irritiert nach.
„Diese Hindernisse zu springen“, erklärte Luisa. Dafür musste sie ihren ganzen Mut zusammennehmen. Immerhin war Jazzy nur ein Schulpony und Sandra traf die Entscheidung, wie es geritten wurde. Dennoch wusste Luisa, dass Jazzy ziemlich gut und auch sehr gerne sprang. Bisher war noch keines der Hindernisse zu hoch gewesen. Sie machte keine Fehler. Luisa wusste auch, wie sie mit Jazzy gut durch den Parcours kam, denn sie waren inzwischen ein sehr eingespieltes Team. Jazzy vertraute nicht jedem, doch auf Luisa konnte sie sich verlassen. Es war nicht immer einfach gewesen, doch Luisa wusste nun genau, wann sie Jazzy Sicherheit geben musste, und wann die gescheckte Stute selbst wusste, was zu tun war.
Nicht nur Sandra, sondern auch Nina, Elina und vor allem Ida starrten sie nun an. Beinahe bereute Luisa die Frage schon, doch sie hatte sie einfach stellen müssen. Wenn Sandra nein sagte, dann würde sie es auch akzeptieren. Doch erstaunlicherweise sagte Sandra etwas anderes:
„Wenn du dir das zutraust, kannst du gerne mal die beiden großen Steilsprünge versuchen.“
Luisa strahlte und nickte schnell.
„Dann trab erst noch einmal eine Runde“, riet Sandra ihr. „Dann wendest du in einem großen Bogen ab und kommst auf den ersten Sprung zu.“
Jazzy trabte schneller als sonst, obwohl sie das Springtraining schon hinter sich hatte. Luisa ahnte, dass die Stute genau wusste, was von ihr erwartet wurde. Vielleicht nahm sie auch nur wahr, dass ihre Reiterin angespannt war. Luisa wusste nämlich auch, was von ihr erwartet wurde. Sandra wollte sehen, ob sie sich und ihre Reitkünste, aber auch Jazzys Leistung, richtig einschätzen konnte. Oder ob sie sich zu viel vorgenommen hatte. Es galt, Sandra zu zeigen, dass sie gut genug war, um mit Ida mitzuhalten. Und deshalb stand sie auch unter besonderer Beobachtung von Ida, die mehr als skeptisch aussah. Dass Luisa es auch nur wagen konnte, mit einem Schulpferd so hoch springen zu wollen, wie sie mit Damura und Bering, das kratzte an ihrem Ego.
Luisa versuchte, all diese Gedanken beiseite zu schieben, und konzentrierte sich auf Jazzy. Sie wusste, dass sie es schaffen konnten. Und das mussten sie nur noch allen anderen zeigen.
Sie trabten bloß ein kurzes Stück und galoppierten an, bevor sie auf das erste Hindernis zusteuerten. Luisa hielt Jazzy ruhig und dennoch fleißig am Bein. Sie sollte aufmerksam sein aber nicht zu eilig werden. Es war wichtig, dass sie passend an das Hindernis herankamen.
Und das kamen sie auch, Jazzy flog nahezu mühelos über den ersten Steilsprung und landete sicher. Luisa atmete auf und galoppierte weiter. Sie ging auf den Zirkel und wartete auf weitere Anweisungen von Sandra, die auch nicht lange auf sich warten ließen.
„Sehr schön! Reite einen Handwechsel und komm von der anderen Seite über den zweiten Steilsprung!“, ordnete ihre Reitlehrerin an.
Luisa ritt den Wechsel und Jazzy sprang im Galopp sauber um. Der zweite Steilsprung erschien Luisa noch etwas höher, als der erste. Einen Moment lang zögerte sie, doch dann riss sie sich zusammen und ritt Jazzy noch energischer darauf zu. Die Stute hob den Kopf und spannte alle Muskeln an, bevor sie mit einem großen Satz über den Sprung flog. Luisa bekam eine Gänsehaut, als sie mit ihrem Pferd in der Luft zu stehen schien. Bisher war Springen für sie immer nur ein kurzer Moment, eher ein Hüpfen, gewesen. Doch nun hoben sie und Jazzy richtig ab, sie nahm die Sekundenbruchteile wahr, in denen sie keinen Bodenkontakt hatten. Nach der Landung machte Jazzy einen kleinen, übermütigen Hüpfer, bevor sie weitergaloppierte.
„Das war super!“, entfuhr es Luisa voller Euphorie, als sie Jazzy durchparierte und ausgiebig lobte. Die gescheckte Stute schnaubte zufrieden ab, was Luisa als Zustimmung deutete.
„Das war wirklich gut“, stimmte auch Sandra ihr zu. Ein gewisses Erstaunen konnte sie dabei nicht unterdrücken, doch das fand Luisa nicht
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Betty J. Viktoria
Bildmaterialien: Betty J. Viktoria
Tag der Veröffentlichung: 10.01.2025
ISBN: 978-3-7554-8050-1
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Peròn, der seine Seelenverwandte gefunden hat