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Unauffällig und mühelos

„Na, wie ist es gelaufen?“, wollte Cassias Vater wissen, als sie mit Cielo über den Hof ging. Gerade hatte sie den grauen Wallach von einem Anhänger der Broard Brook Farm geladen und drehte nun noch ein paar Runden, bevor sie ihn in seine Box bringen wollte.

„Es war gut“, schwärmte Cassia und strahlte.

Erwartungsvoll schaute ihr Vater sie an und erwartete eine detailliertere Antwort. Immerhin war Cassia gerade mit Cielo vom Turnier gekommen. Zum dritten Mal hatte Misses Newgard ihr erlaubt, den Wallach auf dem Turnier im Springen zu reiten. Nachdem die ersten beiden Starts schon erfolgreich gewesen waren, hatte Cassia sich auch diesmal gute Chancen ausgemalt.

„Wir sind dritte geworden“, antwortete sie nun, auch wenn das nicht wesentlich genauer war, als die erste Aussage.

„Sehr schön“, freute sich ihr Vater und lächelte. Er ahnte, dass sie sich vielleicht ein bisschen mehr erhofft hatte. Deshalb war er auch nicht sicher, ob es eine gute Idee wäre, nach Ryans Ergebnis zu fragen. Als er es trotzdem tat, knirschte Cassia mit den Zähnen und sagte:

„Er ist Zweiter geworden.“

Mister Moran wusste, dass Ryan bisher noch jedesmal vor Cassia in der Platzierung gelandet war. Das war zwar kein Wunder, schließlich kannte er sein Pferd Teddington wesentlich länger und besser. Cassia hingegen ritt Cielo erst seit ein paar Wochen und konnte dafür wirklich zufrieden sein. Dennoch war Cassia ehrgeizig und wünschte schon jetzt, nicht immer hinter Ryan zu landen. Sie wusste, dass Cielo das Potenzial hatte, Teddington zu schlagen. Deshalb nahm sie es auf ihre Kappe, dass es bisher nicht geklappt hatte. In Zukunft würde sie noch härter trainieren und noch mehr an sich arbeiten.

Trotzdem war Cassia sehr zufrieden mit Cielo. Er war ein so perfektes Pferd, dass sie ihren Vater schon mehrfach gebeten hatte, ihn für sie zu kaufen. Immerhin stand Cielo zum Verkauf und es war nur eine Frage der Zeit, bis sich jemand für ihn entscheiden würde. Vor diesem Moment hatte Cassia Angst und dennoch wollte sie das Beste aus ihrer gemeinsamen Zeit rausholen. Dazu gehörte auch, irgendwann einmal auf dem Turnier besser als Ryan zu sein.

Sie lobte Cielo ausgiebig und ging mit ihm in die Stallgasse, wo ihn andere Pferde brummelnd und wiehernd begrüßten. Ryan folgte ihnen mit Teddington und kurz darauf gingen sie gemeinsam zum Anhänger um ihr Sattelzeug zu holen. Cassia hatte schon lange nicht danach gefragt, ob es einen Interessenten für Cielo gab. Meist dachte sie sich, dass sie es gar nicht wissen wollte. Solange gab es schließlich noch Hoffnung für sie. Andererseits hatte sie auch keine Lust darauf, dass der Wallach eines Tages einfach verkauft sein würde, ohne dass sie sich hatte verabschieden können.

 

„Wie war eigentlich dein Tag?“, fragte Cassia ihren Vater beim Abendessen.

Sie hatten sich etwas beim Asiaten bestellt, weil sie beide keine großen und vor allem keine begeisterten Köche waren.

„Sehr erfolgreich“, lächelte ihr Vater, der sich freute, wenn sie sich für seine Arbeit interessierte. Als Trainer der Rennpferde auf der Broard Brook Farm war er verantwortlich für die Siege auf den Bahnen des Landes. Und manchmal auch darüber hinaus. Das bedeutete allerdings auch, dass er am Wochenende beinahe immer unterwegs war. Cassia hatte sich daran gewöhnt und fand es nicht weiter schlimm. Meist kam ihr Vater ja wenigstens am Abend nach Hause. Nur selten blieb er über Nacht weg. Außerdem war auch sie nun mit Cielo schon ein paar Mal am Wochenende unterwegs gewesen, wenn sie an Turnieren teilgenommen hatte.

„Was bedeutet sehr erfolgreich?“, hakte Cassia nach und stocherte in ihren Nudeln herum.

„Einer der Dreijährigen hatte sein erstes Rennen und ist direkt als Sieger eingelaufen“, verkündete ihr Vater begeistert.

„Das ist ja super“, freute sich Cassia mit ihm.

„Durchaus, ja“, meinte ihr Vater. „Es war zwar auch noch keine große Konkurrenz, aber er hat das wirklich super gemeistert.“

„Kennt man ihn?“, wollte Cassia wissen.

Sie hatte noch nicht alle Pferde der Farm wirklich auf dem Schirm. Erst am Anfang des Jahres war sie mit ihrem Vater nach Kentucky gezogen. Das Ganze hatte eher einer Flucht geglichen, denn nahezu über Nacht hatte ihr Vater diese Entscheidung getroffen und direkt umgesetzt. Cassia hatte nicht einmal genug Zeit gehabt, sich von all ihren Freunden zu verabschieden. Noch immer machte es sie ein bisschen wütend, wenn sie daran dachte. Denn eigentlich hatte ihr Vater ihr versprochen, zumindest bis zu ihrem Schulabschluss nicht noch einmal umzuziehen. Dieses Versprechen hatte er nun gebrochen. Im Nachhinein hatte Cassia dafür zumindest ein bisschen Verständnis entwickelt, denn ihr Vater war schon lange mit Mister Newgard, dem Besitzer der Broard Brook Farm, befreundet. Und dieser wiederum hatte nach dem plötzlichen Tod eines seiner besten Trainer dringend einen Ersatz gebraucht. Cassia redete sich gern ein, dass ihr Vater nur deshalb eine Ausnahme gemacht und sein Versprechen gebrochen hatte. Doch ganz so sicher war sie sich darüber auch nicht.

 

„Er heißt Mighty Native“, erklärte ihr Vater nun kauend.

Cassia überlegte, doch zu dem Namen hatte sie kein Bild im Kopf.

„Sein Vater ist Mighty Argot, wie der Name vermuten lässt“, sprach ihr Vater weiter.

Cassia grinste, denn das hatte sie wirklich schon vermutet. Mighty Argot war einer der bedeutendsten Deckhengste der Farm gewesen, bevor er durch eine schwierige Operation zuchtuntauglich geworden war.

„Bisher war Mighty Native eher ein unauffälliges Pferd“, meinte ihr Vater. „Ich glaube, ihn hatte niemand wirklich auf dem Schirm.“

„Obwohl sein Vater Mighty Argot ist?“

„Das heißt ja nichts, sieh dir nur mal Mighty Valentino an“, murmelte ihr Vater.

Eines der letzten Fohlen des prämierten Deckhengstes, Mighty Valentino, war ausgesprochen klein zur Welt gekommen und hatte sich bisher auch sonst etwas langsamer als die anderen Fohlen entwickelt. Deshalb war er von den meisten schon abgeschrieben worden. Niemand glaubte so recht, dass er das Potenzial zum erfolgreichen Galopper besaß.

„Mighty Native war aber sicher nicht so klein wie Mighty Valentino, oder?“

„Nein, er war ein total durchschnittliches Pferd, von dem niemand besonders viel erwartet hat“, sagte ihr Vater. „Er war nie besonders schlecht im Training, aber eben auch nie besonders gut. Es gab immer Pferde, die besser waren. Egal auf welcher Distanz wir ihn trainiert haben.“

„Aber jetzt hat er gewonnen“, lachte Cassia. „Das ist doch super.“

„Er hat nicht nur gewonnen, sondern er hat sich auf der Rennbahn total routiniert verhalten“, berichtete ihr Vater. „Als hätte er nie etwas anderes gemacht. Es sah gar nicht aus, als wäre es sein erstes Rennen gewesen, so cool war er. Und er hat die anderen Pferde scheinbar mühelos besiegt.“

„Das hört sich wirklich toll an.“

 

Mühelos war in Cassias Leben eigentlich noch nie etwas gelaufen. Zumindest in einem Punkt kam sie sich wie Mighty Native vor: Es gab immer jemanden, der besser war als sie. Im Moment war dieser jemand Ryan auf seinem eigenen Pferd. Die beiden waren ein unschlagbares Team. Obwohl Cassia sich sicher war, dass sie es schaffen konnte. Und wenn sie es schaffen konnte, dann mit Cielo. Doch wenn sie sich nicht wirklich anstrengte, dann würde die Zeit ihr einen Strich durch die Rechnung machen. Einen kurzen Augenblick lang spielte sie mit dem Gedanken, ihren Vater noch einmal zu bitten, Cielo zu kaufen. Er war gerade in so guter Stimmung, vielleicht ließ sich das ausnutzen. Doch sie entschied sich dagegen. Sie wollte ihm den erfolgreichen Tag nicht verderben. Und genau so hätte er es wahrscheinlich aufgefasst, wenn sie ihn damit schon wieder belästigt hätte.

 

„Trainieren Sie heute wieder mit uns?“, wollte Cassia am nächsten Tag von Misses Newgard wissen, als sie die Besitzerin der Farm im Stall traf. Zu Anfang hatte sie sich kaum getraut, die elegante Frau anzusprechen, doch dann war ihr klar geworden, dass Ryans Mutter eigentlich sehr nett und gar nicht abgehoben war. Das hatte Cassia auch schon ganz anders erlebt.

Nun sah Misses Newgard sie erstaunt an und fragte:

„Wollt ihr das Wetter nicht lieber für einen Ausritt nutzen und euch vom gestrigen Turnier erholen?“

Normalerweise freute sich Cassia immer über die Gelegenheit zu einem Ausritt, doch dazu war sie im Moment viel zu angespannt. Lieber wollte sie jede freie Sekunde nutzen, um mit Cielo für das nächste Turnier zu trainieren.

„Ich bin auch für einen Ausritt“, rief Ryan aus Teddingtons Box heraus und grüßte Cassia. „Die Pferde haben es sich verdient und wir auch.“

Sie wusste, dass er recht hatte, doch für ihn war es auch anders. Er hatte Teddington ganz für sich allein und konnte ausreiten, wann immer er wollte. Und natürlich konnte er auch auf Turnieren starten, wie es ihm passte. Cassia seufzte und kam sich undankbar vor, immerhin hatte sie kostenlos ein hervorragendes Pferd zur Verfügung gestellt bekommen.

„Also gut, reiten wir aus“, meinte sie und zwang sich zu einem Lächeln.

„Nett, dass ihr mich auch fragt“, sagte Janice wenig begeistert und steckte ihren Kopf aus der Box ihrer Stute Finetta.

Irgendwie hatte Cassia gehofft, dass Janice nicht dabei wäre, obwohl sie durchaus gesehen hatte, dass das Mädchen schon im Stall war. Die Putzkiste vor Finettas Box hatte sie bereits verraten.

„Natürlich kommst du mit“, lachte Ryan und widmete sich wieder Teddington.

 

Der März war regnerisch, kalt und vor allem stürmisch in Kentucky. Doch seit der Monat sich seinem Ende entgegen neigte, wurden die nassen Tage weniger und der Wind ließ zumindest tagsüber auch schon nach. Cassia trug ihre dicke Reitjacke und die warmen Handschuhe. Vor dem Stall schwangen sie sich in den Sattel und folgten Ryan, der die kleine Gruppe anführte. Diesmal ritten sie zwischen dem Anwesen der Familie Newgard und den Weiden entlang bis zur Trainingsbahn der Farm. Von dort führte der Weg entlang an unendlich weiten Wiesen, auf denen das Bluegrass leuchtete. Das blaugrüne Gras der Region schimmerte vor allem zwischen März und Mai in seinen legendären Farben. Nach einer Weile aber schlug Ryan einen Weg ein, der in den Wald führte. Cassia freute sich darüber, denn im Wald gab es auch Springstrecken mit Geländehindernissen. Vielleicht könnte sie Ryan überreden, eine davon zu reiten. Auf einen reinen Schrittausritt hatte sie eigentlich gar keine Lust.

 

Obwohl Janice und Cassia sich nicht immer einig waren, so teilten sie zumindest die Meinung über das Tempo im Gelände. Auch Janice wollte unbedingt mehr als nur eine Schrittrunde reiten. Nach einer Weile drängte sie Ryan dazu, wenigstens ein Stück zu traben. Ryan gab sich geschlagen und trabte an. Die Mädchen folgten ihm sofort. Cassia fühlte sich im Wald sehr wohl. Die Wege waren begrenzt und es gab weniges, was die Pferde erschrecken konnte. Obwohl sie brav hintereinander ritten und dafür sorgten, dass ihre Pferde nicht zu eilig wurden, fühlte Cassia sich frei und unbeschwert. Cielo machte weite Tritte und seine Hufe setzten kräftig auf. Er war ein energisches Pferd und trotzdem sehr lieb im Umgang. Nur manchmal spielte er sich wie ein kleiner Angeber auf. Doch nun schien auch er den Ausritt zu genießen. Cielo schnaubte zufrieden ab, was Finetta zu einem kleinen Hüpfer animierte.

 

Als Ryan wieder durchparierte, war Cassia enttäuscht. Nicht nur, weil er schon wieder Schritt reiten wollte, sondern auch, weil er die Springstrecke links liegen lassen hatte. Dabei wäre sie gern noch ein bisschen mit Cielo gesprungen. Doch an diesem Sonntag wollte Ryan es wirklich ruhig angehen, wie er immer wieder betonte.

„Und was wäre, wenn jetzt der Wendigo aus dem Unterholz käme?“, wollte Cassia wissen und streckte ihm zum Spaß die Zunge heraus.

„Das wäre dann wohl eine Ausnahme“, lachte Ryan. „Dann würde ich wahrscheinlich auch einen wilden Ritt hinlegen.“

Vor kurzem hatte Janice Cassia ausgerechnet auf einem Ausritt im tiefsten Wald die Legende vom Wendigo erzählt, einer mystischen Kreatur aus den Sagen der amerikanischen Ureinwohner. Der Wendigo trieb sich bevorzugt im Wald umher, um Menschen zu jagen und zu fressen, weshalb es Ryan gar nicht gefiel, wenn die Mädchen davon sprachen solange sie noch ebendort unterwegs waren. Obwohl er im Grunde wusste, dass es diese Kreatur nicht wirklich gab, bekam er regelmäßig eine Gänsehaut, wenn er glaubte, im dichten Wald etwas Unheimliches zu erkennen.

„Buhu!“, machte Janice um ihn nun zu erschrecken, doch stattdessen erschrak nur Finetta unter ihr, was sie alle zum Lachen brachte.

„Wenn wir hier draußen schon nicht springen“, begann Cassia und merkte, dass Ryan beinahe schon genervt von dem Thema eine Augenbraue hochzog, „können wir dann nicht vielleicht ein kleines Stück galoppieren?“

„Ja, bitte Ryan?!“, machte Janice und Cassia war sich nicht sicher, ob das Mädchen sie nachäffte.

Auch Ryan war etwas irritiert und sagte erst einmal gar nichts. Cassia wusste, dass Janice natürlich niemanden um Erlaubnis bitten musste, wenn sie im Gelände galoppieren wollte. Immerhin gehörte Finetta ganz allein ihr. Nur, weil sie sich Ryan bei dem Ausritt angeschlossen hatte, hieß das noch lange nicht, dass sie nicht tun und lassen konnte, was sie wollte. Cassia dagegen war sich nicht sicher, ob sie

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 04.01.2021
ISBN: 978-3-7487-7037-4

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Ruffian

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