Der Name ist Programm, schoss es durch seinen Kopf. Slaughter Beach klingt ja schon nicht besonders einladend. Man stellte sich unweigerlich die Frage, wer dort geschlachtet werden sollte. Und trotzdem kamen die Bewohner der nahegelegenen Stadt immer wieder über den Coast Highway und die Road 224 an genau diesen Strand gefahren, an dem der Atlantik mehr oder weniger friedlich auf die Vereinigten Staaten von Amerika traf. Meist war es ein eher ruhiges Aufeinandertreffen, denn der Küstenabschnitt lag in der Delaware Bay. Was genau er sich dabei gedacht hatte, ausgerechnet an diesem Tag mit seinem ehemaligen Schulfreund und inzwischen recht gutem Freund dessen neues Boot auszuprobieren, wusste er inzwischen nicht mehr. Natürlich hatte der keine Ahnung von Booten und natürlich hatte er trotzdem ein ziemlich schrottreifes Exemplar erstanden. Der große Plan bestand eigentlich darin, es akkurat zu restaurieren. Dann wäre es sicher ein stolzes Gefährt geworden. Doch in ihrem Übereifer waren die beiden Männer einfach auf das klapperige Boot gestiegen und in See gestochen, sofern man das so nennen konnte. Besonders weit waren sie allerdings nicht gekommen. Es hatte gar nicht viel gebraucht, um das Boot ins Straucheln zu bringen. Abgesehen von dem morschen Holz war schon nach kurzer Zeit der Motor ausgefallen. Erst dann hatten die Männer bemerkt, dass sie sich doch schon ein ganzes Stück von der sicheren Küste entfernt hatten. Vielleicht war der Motor auch bloß abgesoffen, weil niemand daran gedacht hatte, den Sprit aufzufüllen. Der inzwischen weniger stolze Bootsbesitzer machte sich auf den Weg in den Maschinenraum, der diesen Namen nicht verdiente. Bloß ein paar ausgetretene Holzstufen führten in das Innere des Bootes. Dort gab es auch nur einen Raum, der sowohl Unterkunft der Besatzung als auch Maschinenraum darstellen sollte. Unterdessen hielt sich sein Kumpel an Deck auf und fragte sich, wie sie das außer Kontrolle geratene Boot steuern könnten. Ihm fiel nichts ein, der er hatte ebenso wenig Ahnung von der Seefahrt, wie sein Freund. Dafür fiel ihm auf, dass der Wellengang stärker wurde. Er wusste nicht, ob das daher rührte, dass der Wind tatsächlich auffrischte, oder daher, dass sie immer weiter von der Küste weggetrieben wurden. Vermutlich hing das eine mit dem anderen zusammen.
„Bekommen wir die Kiste wieder zum Laufen?“, rief er nach unten. Es war klar, dass er mit „wir“ nicht „wir“ meinte. Doch es kam keine Antwort. Vielleicht war der Wind zu laut oder das unerträgliche Knarren und Knartschen des alten Holzes übertönte seine verzweifelte Frage. Er seufzte tief und warf einen Blick über das graue Wasser, das auf beinahe ebenso graues Land zu treffen schien. Allerdings lag dies in weiter Ferne. Beinahe kamen ihm die größeren Schiffe, die in der Bay unterwegs waren, schon näher vor, als das Festland. Ein wahnwitziger Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Vielleicht wurden sie von der Strömung auf die andere Seite der Bay getrieben und konnten ganz entspannt und gelassen in Cape May wieder von Bord gehen. Das wäre zu schön. Er steckte den Kopf ein Stück weit unter Deck und spähte ins Halbdunkel hinunter. Noch einmal rief er nach seinem Kumpel und bekam wieder keine Antwort. Dann atmete er tief ein und machte sich auf den Weg ins Innere des Bootes.
Hier unten waren die schaukelnden Bewegungen noch intensiver zu spüren. Eigentlich mochte er die Seefahrt gar nicht. Daran hätte er vorher unbedingt denken sollen, doch nun war es zu spät für diese eigentlich schon vorhandene Erkenntnis. Mit tastenden Bewegungen watete er weiter den Bauch des Bootes entlang. Der Motor befand sich am anderen Ende des schmalen Schlauches, der wohl so etwas wie die Kajüte sein sollte. Er hörte, wie sein Kumpel sich mit dem wenigen vorhandenen Werkzeug am Motor zu schaffen machte. Allerdings sah es nicht eben fachmännisch aus, was er da tat. Wahrscheinlich wusste er auch nicht, wozu das führen sollte. Sie befanden sich ja nicht gerade in einem Comic, in dem ein herzhafter Tritt mit dem Fuß den Motor wieder zum Laufen gebracht hätte. Inzwischen war er jedoch schon fast so weit, es einmal zu versuchen. Was hatten sie schon zu verlieren? Er warf einen Blick auf den Motor, als sein Kumpel einen Schritt beiseite trat, und zuckte die Schultern. Davon hatte er absolut keine Ahnung.
„Lass uns versuchen, uns den anderen Schifffahrern bemerkbar zu machen“, schlug er vor und deutete mit einem Kopfnicken nach oben.
„Wie denn?“
„Hast du keine Leuchtraketen an Bord?“, fragte er zurück.
„Du kannst ja sehen, ob du welche findest“, lautete die wenig ermutigende Antwort.
Er machte sich trotzdem auf die Suche. Diese gestaltete sich als ausgesprochen kurzes Unterfangen, denn abgesehen von einem wackeligen Schrank, der an der Wand montiert war und auch noch schief hing, gab es keine Aufbewahrungsmöglichkeiten. Vielleicht war das eine dieser Tatsachen, die sie von Anfang an hätte stutzig machen sollen.
„Und?“, wollte sein Kumpel wissen und Hoffnung lag in seiner kratzigen Stimme.
„Nichts“, kam die ernüchternde Antwort viel zu schnell.
Die plötzliche Stille war direkt unheimlich, nachdem sie eben noch vom Getöse des Windes und dem Knarren des morschen Holzes umgeben waren. Die beiden Männer tauschten noch einen kurzen Blick. Sie erkannten die Panik in den Augen des anderen und waren unfähig, sich zu bewegen. Wie gelähmt standen sie auf dem wackeligen Boden, das bisher doch noch immer standgehalten hatte. Aber eben nur bisher. Der Bruch des Holzes kam so plötzlich, dass sie keine Zeit für theatralische letzte Worte hatten. Die Seiten gaben nach und das Wasser des Atlantiks strömte ungehindert hinein. Durch den Wasserschwall wurden sie an die Wand geschleudert und fanden sich benommen im steigenden Wasser wieder. Er sah, dass sein Kumpel bereits das Bewusstsein verloren hatte. Ob er es nach oben schaffen konnte? Er schaute zur kaputten Treppe und bemerkte schnell, dass das nicht funktionieren konnte. Dann gab es ein weiteres Knarren und ein weiteres Stück Holz gab dem Druck der Wassermassen nach.
Inzwischen war er beinahe vollständig vom kalten Wasser umgeben und merkte dennoch, dass sich etwas veränderte. Sie befanden sich nicht mehr an der Wasseroberfläche. Der Atlantik war schon dabei, das kleine, wackelige Boot zu verschlingen-mitsamt seiner Passagiere. Die Luft wurde knapp, das Wasser verdrängte auch den letzten Rest. Er stieß sich von dem, was einmal der Fußboden gewesen war, ab, um nach der Luft zu schnappen. Dabei stieß er sich den Kopf an der Decke, die jedoch ebenfalls drohte, vom Druck zerquetscht zu werden. Ihm kamen plötzlich die seltsamsten Gedanken. Wie viele Liter Wasser befanden sich eigentlich im Atlantik? Und hatten die eigentlich nichts anderes zu tun, als dieses unschuldige Boot zu verschlucken? Ein letztes Mal holte er tief Luft.
„Ist Jules nicht ein Männername?“, fragte Ernest Ousley skeptisch und schaute auf seinen Informationszettel, den er fest in der Hand hielt.
Vor ihm stand eine junge Frau, die angeblich schon 35 Jahre alt sein sollte, die er jedoch auf höchstens 25 geschätzt hätte.
„Offensichtlich nicht“, antwortete sie nun für ihn eine Spur zu keck.
„Also sind Sie Jules Short“, fragte er dennoch erneut.
„Ganz genau“, nickte sie.
Ernest Ousley schüttelte den Kopf kaum merklich. Doch sie war eine gute Ermittlerin und merkte es trotzdem.
„Dann kommen Sie mal mit“, bat er sie und führte sie in ein kleines Büro, in dem bereits zwei Detectives warteten. Einer von ihnen war groß und blond, der andere das genaue Gegenteil, klein und dunkelhaarig. Jules fragte sich, wo sie hier gelandet war. Bevor sie sich den beiden Männern vorstellen konnte, ergriff Ernest Ousley das Wort:
„Das sind Detective Shay und Detective Dejong.“
Zuerst stand der kleine, dunkelhaarige Mann auf und gab Jules die Hand, dann erhob sich auf der große, der auf den Namen Dejong hörte.
„Ich darf Sie bekanntmachen mit Detective Jules Short“, sprach Ernest Ousley weiter und deutete auf die junge Frau, die höflich lächelte. Dann wandte sie sich an ihn und fragte:
„Und Sie sind?“
Ben Shay hätte sich beinahe an seinem Kaffee verschluckt, denn im ganzen Kent County gab es eigentlich keinen Detective, der nicht den Namen Ernest Ousley kannte.
„Meine Wenigkeit?“, fragte Ernest Ousley erstaunt, „Ich bin Detective Ernest Ousley.“
„Sehr erfreut“, sagte Jules und gab ihm die Hand, denn sie hatten sich noch gar nicht richtig begrüßt, wenn man einmal von seinen verwunderten Rückfragen absah.
„Sind wir dann vollzählig?“, wollte Paul Dejong wissen.
„Davon gehe ich aus“, murmelte Ernest Ousley und schaute sicherheitshalber doch noch einmal auf seinen Zettel, den er nicht aus der Hand gelegt hatte. Jules lehnte sich an die Wand, da ihr niemand einen Platz angeboten hatte, und wartete auf weitere Erklärungen. Der Sheriff hatte ihre seltsam anmutende Truppe zusammengestellt, so viel wusste sie. Doch mehr Details waren ihr leider nicht bekannt. Hoffentlich würde Ernest Ousley sie nicht allzu lange auf die Folter spannen.
„In Milford verschwinden seit einiger Zeit Menschen spurlos“, begann Ernest Ousles. Er hatte sich an den Schreibtisch gesetzt, so dass Jules Short, Ben Shay und Paul Dejong nun aussahen, als wären sie drei Schüler, die in Schwierigkeiten geraten waren, und nun beim Direktor antreten mussten.
„Ist es nicht normal, dass die Menschen Milford den Rücken kehren?“, spottete Paul Dejong, womit die Rolle des Scherzkekses offiziell besetzt war.
Ernest Ousley überging die Bemerkung, doch Jules war sich ziemlich sicher, dass er später darauf zurückkommen würde. Er war einfach kein Mann, mit dem man solche Späße machen konnte. Dazu war er viel zu autoritär. Außerdem kam er aus Milford, soweit sie wusste, und würde einen solchen Kommentar sicher nicht auf seiner Heimatstadt sitzen lassen.
„Also inzwischen haben wir drei Vermisstenmeldungen“, sprach Ernest Ousley weiter „Auf den ersten Blick konnten wir keinen Zusammenhang feststellen, was aber nicht heißt, dass es keinen gibt.“
Jules Short und Ben Shay nickten nachdenklich. Es war immer schwer zu sagen, ob Kriminalfälle einzeln oder zusammen betrachtet werden sollten. Vor allem zu Beginn der Ermittlungen, wo noch alle Fäden einzeln verlaufen, waren solche Aussagen rein spekulativ.
„Damit nicht unkoordiniert ermittelt wird, wurden wir Vier damit beauftragt, die drei Fälle genauer zu untersuchen“, erklärte Ernest Ousley.
„Wir sind so eine Art Sondereinheit?“, wollte Paul Dejong wissen und grinste.
Ernest Ousley dagegen seufzte tief, antwortete aber:
„Ja, irgendwie schon. Wir arbeiten eng zusammen, informieren uns regelmäßig über alle neuen Informationen und sprechen und genau ab, damit Überschneidungen schnellstmöglich sichtbar werden.“
Jules nickte erneut und kam sich langsam vor wie ein Wackeldackel. Doch da auch Ben Shay nichts sagte, dachte sie sich nichts weiter dabei.
„Damit wir also möglichst effizient arbeiten, teilen wir uns zur Einsicht der Akten auf“, beschloss Ernest Ousley. Er drückte auf seinem Telefon einige Tasten und rief in einem anderen Büro der Wache an, um sich die Akten bringen zu lassen.
Jules befürchtete schon das Schlimmste, dabei wusste sie noch gar nicht, wie lange und wer überhaupt vermisst wurde. Wenige Augenblicke später klopfte eine Dame an die Tür und kam mit mehreren Ordnern auf dem Arm herein.
„Jeder von Ihnen bekommt einen Fall zur Durchsicht. Anschließend besprechen wir uns und wenn nötig sieht sich jeder noch einmal die anderen Fälle genauer an“, erklärte Ernest Ousley.
Paul Dejong stöhnte wenig begeistert auf. Er sah schon aus wie einer dieser Detectives, die lieber als strahlende Helden in Uniform durch die Straßen spazierten und älteren Damen über die Straße halfen. Doch das hier war harte und langwidrige Arbeit, das roch man sofort.
„Was ist mit Ihnen, Sir?“, wollte Paul Dejong dann auch noch von Ernest Ousley wissen.
Jules hätte sich am liebsten mit der flachen Hand an die Stirn geschlagen. Noch lieber hätte sie ihre flache Hand auch noch ganz woanders landen lassen, doch das hätte keinen guten Eindruck gemacht.
„Ich enttäusche Sie ungern, Mister Dejong, aber ich habe die Akten bereits gelesen“, erklärte Ernest Ousley, „Und zwar alle Akten zu allen Fällen.“
Während Ben Shay und Jules Short beeindruckt davon waren, bremste selbst diese Aussage Paul Dejong nicht in seiner Selbstsicherheit.
„Oh, das ist gut, Sir“, sagte er, „Aber dann müssten wir das doch eigentlich nicht auch noch, oder?“
Die Tatsache, dass Ernest Ousley wieder nicht auf diese Bemerkung einging, konnte nichts Gutes verheißen. Stattdessen bat er sie, ihm zu folgen, und führte sie in einen Arbeitsraum mit einem großen Konferenztisch, an dem sie alle sitzen konnten.
„Ich wünsche viel Spaß bei der Lektüre und bin gespannt auf ihre innovativen Ideen, die Sie mir sicher zeitnah präsentieren können“, sagte Ernest Ousley und ließ die drei Detectives allein zurück.
„War das ein Scherz?“, wollte Paul Dejong wissen.
„Ich befürchte nicht“, gab Jules Short zurück.
„Und er hat ihn hier zum Anführer ernannt?“, stänkerte Paul Dejong weiter.
„Anscheinend der Sheriff von Kent County“, antwortete Ben Shay, „Und abgesehen davon sprechen wir hier von Ernest Ousley.“
„Ja und ihr sprecht von ihm, als wäre er ein Heiliger oder so“, spottete Paul Dejong.
„Seit wann duzen wir uns?“, wollte Jules erstaunt wissen.
„Tun wir das etwa nicht?“, war Paul Dejong ehrlich erstaunt, „Wir sind doch jetzt ein Team.“
„Also gut, ich bin Ben“, stellte Ben Shay sich vor.
„Jules“, sagte Jules Short.
Paul Dejong hielt es nicht für nötig, sich noch einmal namentlich vorzustellen. In diesem Augenblick ärgerte Jules sich schon, dass sie seiner blöden Idee, sich zu duzen, zugestimmt hatte. Sie rückte ein Stück näher an Ben, griff sich eine der Akten und begann zu lesen. Die Arbeit eines Detectives war ja selten so, wie es in den Filmen der Traumfabrik dargestellt wurde, doch das Einarbeiten in Fälle gehörte ganz sicher nicht zu Jules´ Lieblingsaufgaben. Ben schien es da anders zu gehen, denn er stürzte sich enthusiastisch in den halbwegs geordneten Blätterwald und machte sich schon bald eifrig Notizen. Dass Paul nicht begeistert war, hatte er bereits mehr als deutlich gemacht. Doch das hielt ihn nicht davon ab, seinen Unmut auch weiterhin kundzutun. Er seufzte genervt, blätterte halbherzig und unkonzentriert durch die Seiten und Jules hörte sogar einmal ein unheilvolles Geräusch, das das Reißen von Papier verursachte. Inzwischen fragte sie sich auch, wer ihr seltsames Team zusammengewürfelt hatte. Vielleicht hatte der Sheriff alle Detectives genommen, die an anderer Stelle nicht gebraucht wurden. Bei diesem selbstzerstörerischen Gedanken musste sie unwillkürlich grinsen. Wurde sie wirklich nirgends gebraucht? Und was war mit Ben? Einen so fleißigen Mitarbeiter ließ doch niemand gern gehen. Was man über Paul nicht unbedingt sagen konnte. Wenn es etwas Auffälliges gab, dann war es der Fakt, dass sie alle ziemlich unterschiedlich waren. Jemand mit sehr viel Fantasie hielt das wahrscheinlich für einen strategischen Vorteil. Noch einmal grinste Jules vor sich hin und hoffte, dass es den Männern nicht auffiel.
Er schloss die Augen, als das kalte Wasser um ihn herum immer dunkler wurde. Wie ein Kind, das sich aus Angst in der Dunkelheit die Hände vor das Gesicht hielt. Dabei war die Dunkelheit gerade das geringste Problem. Viel schlimmer war der Sauerstoffmangel. Seit seinem letzten Atemzug waren Minuten vergangen. Jedenfalls fühlte es sich so an. Vielleicht täuschte das aber auch, denn sein Herz raste vor Angst und Panik viel schneller, als es gesund war. Der Druck auf seiner Lunge wurde unerträglich. So hatte er sich immer gefühlt, wenn sein Sportlehrer ihn zu unerreichbaren Leistungen angetrieben hatte. Als würde seine Lunge platzen, so brannte alles. Er versuchte, ruhig zu bleiben, doch am Ende würde auch das ihm nichts bringen. Von allen Seiten umgab ihn nicht nur das erbarmungslose Wasser, sondern auch der erbärmliche Rest des kleinen Holzbootes. Er hatte versucht, durch ein Loch hinauszuschwimmen, jedoch vergeblich. Inzwischen fehlte ihm sogar gänzlich die Orientierung. Vielleicht war er schon metertief im Atlantik versunken, vielleicht näherten sie sich aber auch nur ganz langsam dem Grund. Er versuchte noch einmal, die Augen zu öffnen, doch es gelang ihm nicht. Mit brennenden Schmerzen in der Lunge entließ er den letzten Rest der eingeatmeten Luft aus dem Mund. In kleinen, lächerlich tanzenden Bläschen verschwand die Luft im Meer.
„Dann begeistern Sie mich mal“, forderte Ernest Ousley seine Kollegen auf, als er am Abend zu ihnen in den Konferenzraum trat.
Beim Betreten des Raumes hatte er vielsagend die Nase gerümpft und das konnte Jules ihm auch nicht übel nehmen. Sie hatten den gesamten Tag darin verbracht und wahrscheinlich zu wenig gelüftet, so dass sie nun seit Stunden in ihrem eigenen Mief vor sich hin köchelten. Selbst ihre Malzeiten hatten sie in dem Konferenzraum eingenommen. Das war zwar bezogen auf ihre Arbeitsmoral ein kluger Schachzug gewesen, doch damit mischte sich auch der Geruch von Pauls Pizza, Jules´ Mikrowellenmalzeit, die entfernt an einen Kartoffeltopf erinnerte, und den undefinierbaren Brei von Ben, den seine Frau ihm mitgegeben hatte, zu ihrem eigenen Geruch.
Von Begeisterung konnte jedenfalls inzwischen bei keinem von ihnen noch ansatzweise die Rede sein. Draußen war es schon dunkel geworden und die meisten Kollegen hatten den Heimweg angetreten. Aber im Konferenzraum brannte noch Licht. Romantisch, dachte Jules sarkastisch und war dennoch froh, dass sie hier sein konnte, und eben nicht nach Hause fahren musste. Arbeit lenkte immer gut ab. Auch, wenn sie monoton und nervig war. Paul war von Anfang an kein Fan von dieser Art Arbeit gewesen, doch nun warf selbst Ben sehnsüchtige Blicke auf die Uhr. Jules glaubte, dass sein Handy zwischendurch geklingelt beziehungsweise leise vibriert hatte. Doch Ben hatte sich keine Blöße geben wollen und war nicht rangegangen.
„Es gibt keine Gemeinsamkeiten“, behauptete Paul gerade heraus und fügte noch ein leises „Sir“ hinzu.
„Da muss ich widersprechen“, sagte Ben, „Die Vermissten stammten alle aus Milford.“
„Ja, genau wie knapp 7000 weitere Menschen, die nicht vermisst werden“, meinte Paul giftig.
„Eine Gemeinsamkeit ist eine Gemeinsamkeit“, verteidigte Ben sich.
„Das ist doch Quatsch“, rief Paul.
„Meine Herren“, unterbrach Ernest Ousley die Streithähne. Mehr musste er gar nicht sagen, denn sie wurden sofort ruhig. Um diese Eigenschaft beneidet Jules ihn. Zwei Worte, kein Inhalt, trotzdem eine klare Botschaft: Ruhe jetzt. Und es funktionierte auch noch.
„Haben Sie noch etwas für mich?“
„Alle drei werden seit August vermisst“, verkündete Jules.
Ernest nickte und trotzdem hatte sie das Gefühl, ihn enttäuscht zu haben. Auch wenn Ben ganz recht hatte, wenn er sagte, dass es sich dennoch um Gemeinsamkeiten handelte, so fand Jules auch, dass Paul nicht ganz falsch lag, wenn er behauptete, dass ihnen das nicht weiterhalf.
„Ansonsten ist Ihnen nichts aufgefallen?“, wollte Ernest Ousley wissen.
„Nein, Sir“, antwortete Ben.
„Mir auch nicht“, seufzte Ernest Ousley. „Und das macht es so schwierig.“
„Was ist mit der Tatsache, dass die Autos der drei Vermissen unversehrt gefunden wurden?“, überlegte Jules.
„Das bedeutet doch nur, dass es vermutlich nicht um Wertgegenstände ging“, wehrte Paul ab.
„Aber immerhin“, meinte Ben nachdenklich. „Das könnte bedeuten, dass Raum ausgeschlossen werden kann.“
Er warf einen prüfenden Blick zu Ernest Ousley, der bedächtig nickte, und dann sagte:
„Wahrscheinlich können wir das, denn in den Autos wurden die Portemonnaies der Vermissten gefunden. Das Geld sowie alle Ausweise lagen noch darin.“
„Es gibt auch keine Lösegeldforderungen oder?“, überlegte Jules weiter.
„Wieso zählst du denn jetzt Dinge auf, die nicht vorliegen?“, wollte Paul leicht genervt wissen.
„Ausschlussverfahren nennt man das“, erklärte sie ihm und sprach extra langsam, damit er es auch begreifen konnte.
„Das ist eine gute Idee, Miss Short“, fand Ernest Ousley, „Fahren Sie fort.“
Das Lob tat Jules gut, aber gleichzeitig fühlte sie sich von seiner Forderung etwas überfordert. Schnell sprach sie weiter:
„Betrachtet man Alter und Geschlecht der Vermissten, dann würde ich auch ein Sexualdelikt eher ausschließen.“
„Was noch?“, fragte Ernes Ousley.
„Rassismus kommt als Motiv wohl auch nicht in Frage, die Vermissten sind sowohl weiß als auch dunkelhäutig und gehören unterschiedlichen Religionen an.“
„Was noch?“
Jules zuckte die Schultern und hoffte, dass ihren Kollegen noch etwas einfallen würde. Doch die beiden schwiegen eisern.
„Was bleibt noch übrig?“, fragte Ernest Ousley weiter wie in einer mündlichen Prüfung.
„Ein ganz banales Gewaltverbrechen“, antwortete Paul.
„Wer sagt, dass es banal ist?“
„Nicht das Verbrechen, aber der Geist, der dahinter steckt“, meinte Paul abfällig, „Ich meine, wer bringt denn wahllos Menschen um?“
„Geht Ihnen da nicht gerade etwas die Fantasie durch?“, hakte Ernest Ousley nach, „Niemand spricht bisher von Toten.“
„Ich bitte Sie, Sie sind doch hier der Experte“, sagte Paul unverfroren, „Drei Erwachsene Menschen verschwinden für mehrere Wochen. Ihre Autos werden gefunden, aber Spuren gibt es nicht. Auch keine Forderungen irgendeiner Art. Was soll das denn sonst sein?“
„Wo wurden die Autos denn gefunden?“, wollte Ben plötzlich wissen.
„Das hatten wir doch schon“, wehrte Paul ab, „Sie standen an unterschiedlichen abgelegenen Straßen ein Stück außerhalb der Stadt.“
„Und es gab keinerlei Hinweise auf einen Kampf und keinerlei fremde Spuren an den Wagen“, meinte Jules.
„Aber sie standen alle auf kaum befahrenen Straßen“, beharrte Ben.
„Im Umreis von mehreren Kilometern wurden diese Straßen bereits von Spezialkräften mit Hunden abgesucht“, erklärte Ernest Ousley, „Dabei wurde leider nichts gefunden.“
„Wurden in anderen Countys Leichen gefunden, die auf unsere Vermissten passen könnten?“, hakte Paul nach.
„Verfahren Sie sich nicht zu früh in einer Theorie“, riet ihm Ernest Ousley, sagte dann aber: „Das haben wir im Blick, wir werden informiert, sobald Funde dieser Art auftreten. Bisher ist das nicht der Fall.“
„Suchen wir nun nach Leichen?“, wollte Ben verunsichert wissen.
„Wenn wir das wüssten“, seufzte Ernest Ousley, „Wir müssen vom Schlimmsten ausgehen, da geben ich Herrn Dejong leider recht.“
Jules fragte sich, ob er leider sagte, weil er vom Tod der Vermissten ausging, oder weil er es hasste, Paul Dejong recht zu geben.
Als sie endlich die Wache verließen, war es schon spät und die Straßen wie leergefegt. Das Milford Police Department lag relativ abseits von bewohntem Gebiet. Auf der Rückseite befand sich die Goat Island Nature Area und beim Verlassen des Gebäudes auf der Straßenseite fand man sich gegenüber von brachliegendem Gelände. Das Licht der Straßenlaternen spendete wenig Trost an diesem nasskalten Abend. Der Herbst näherte sich unaufhaltsam. Jules ließ sich ein Stück zurückfallen und damit den Männern den Vortritt. Bloß Ernest Ousley blieb noch immer in der Wache. Es ging das Gerücht um, dass er dort sogar schon mehrere Nächte hintereinander verbracht hatte. Ben Shay lief an Jules vorbei, wünschte ihr höflich einen schönen Abend und eilte zu seinem Auto, einem Familienvan. Kurz darauf eilte auch Paul aus dem Gebäude. Doch er sprang in einen Sportwagen aus den neunziger Jahren. Jules legte den Kopf schräg und versuchte, die Marke zu erkennen. Vermutlich ein europäisches Modell. Auf jeden Fall war es ein Zweisitzer. Sie grinste und ging dann um die Ecke, wo sie ihr Fahrrad abgestellt hatte. Sie nahm ihren Helm, den sie in einem Beutel an den Lenker gehangen hatte, und setzte ihn auf. Dann schloss sie das Rad ab und machte sich kurz darauf auf den Weg. Zuerst radelte sie die Front Street entlang, dann bog sie auf die Walnut Street ein. Von nun an musste sie nur noch geradeaus fahren. Das machte es jedoch bei dem mäßigen Wetter nicht wesentlich besser. Der Nieselregen prasselte ihr kalt ins Gesicht und kroch langsam aber stetig durch die Ritzen ihrer Jacke. Den Kragen hatte sie schon aufgestellt, doch was ihr fehlte, war ein richtiger Schal. Und noch etwas ärgerte Jules. An jeder Einmündung musste sie aufpassen, dass sie nicht von einem Autofahrer übersehen wurde. Ausgerechnet dann, wenn sie gerade ein schönes Tempo erreicht hatte, musste sie wieder abbremsen und zweimal schauen, ob sie auch gesehen wurde. Wenigstens wurden es weniger Autos, je weiter sie sich vom Stadtkern entfernte.
Er war umgeben von Finsternis, die an ihm zerrte und ihn zu zerreißen drohte. Langsam und vorsichtig öffnete er die Augen und konnte kaum glauben, dass er endlich wieder Boden unter den Füßen hatte. Doch was für Boden war das? Schwarzer, fließender Boden, der ihn auf wackeligen Beinen davontrug. Wie auf einer Welle aus Lava waberte er unkontrolliert dahin. Um ganz sicher zu gehen, fasste er sich mit der rechten Hand an die Brust. Er musste einfach feststellen, ob seine Sinne ihm gehorchten. Dann konzentrierte er sich erst einmal auf seinen Atem. Immerhin konnte er atmen, so viel war sicher. Doch die Luft war ekelerregend, sie schmeckte nach einer Mischung aus fauligen Eiern und Abgasen. Auf jeden Fall keine gesunde Zusammensetzung. Das Atmen fuhr er schnell auf ein notwendiges Minimum runter. Es war ihm nicht möglich, sich großartig umzusehen, denn seine Fortbewegung, über die er keine Kontrolle besaß, zog ihn erbarmungslos weiter. Bei jeder Bewegung hatte er Angst, er könnte fallen. Inzwischen brannten seine Augen von der schlechten Luft und trübten seine Sicht. Er kam sich vor wie in einer überbelichteten Mondlandschaft. Alles war schwarzgrau und kahl, doch dann wiederum überstrahlte ein rötliches Licht die Gegend in eine noch unwirklichere Farbe. An manchen Stellen konnte er Hügel und Höhlen erahnen. Aus einigen davon stieg Rauch auf.
Der Eingang der Hölle, schoss es ihm durch den Kopf.
Er wusste nicht einmal, wie er darauf kam. Er war weder religiös, noch hatte er sich jemals Gedanken darüber gemacht, was nach seinem irdischen Leben kommen konnte. Genau genommen war er immer davon ausgegangen, dass es nichts dort gebe. Aber was war schon nichts? Gab es das überhaupt? Doch er hatte genug schlechte Filme und seltsame Gemälde in seinem Leben gesehen, die sich mit so etwas wie einer Hölle auseinander gesetzt hatten. Und die stellten es durchaus so dar, wie das, was jetzt vor ihm lag. Dunkelheit und Dampf, da fehlten eigentlich nur noch die Dämonen.
„Gibt es schon Leichen?“, wollte Paul wissen, als er am nächsten Tag irgendwann im Laufe des Vormittages das Milford Police Department betrat.
„Noch nicht, aber das lässt sich schnell ändern“, knurrte Ernest Ousley.
Jules musterte den Mann eindringlich, um herauszufinden, ob er die Nacht tatsächlich auf der Wache verbracht hatte. Doch sie fand keinerlei eindeutige Beweise dafür. Es war reine Spekulation.
„Falls es dich interessiert, es gibt auch keine anderen Spuren auf die Vermissten“, erklärte Ben Paul.
Ben war als erster auf der Wache aufgetaucht. Allerdings sah er genauso müde aus, wie Paul. Jules wusste zwar nicht, wie die beiden Männer ihre Nacht verbracht hatten, doch sie selbst hatte lange wach gelegen und sich Gedanken gemacht. Einerseits ärgerte es sie, dass sie vor Ernest Ousley nicht mehr hatte glänzen können. Obwohl das wirklich eine besondere Leistung gewesen wäre, denn es kam nicht oft vor, dass der Mann überhaupt etwas übersah. Andererseits wollte sie diesen Fall unbedingt lösen, denn es ging ihr an die Nieren und an ihren Ehrgeiz, dass in ihrer Stadt Menschen einfach so verschwanden. Sie wollte, dass die Bevölkerung der örtlichen Polizei vertrauen konnte. Da wäre es ganz sicher das falsche Signal, eine übergeordnete Behörde um Schützenhilfe zu bitten. Allerdings war sie bei ihrem nächtlichen Grübeln zu keinem Ergebnis gekommen.
Ernest Ousleys Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
„Sie machen sich auf den Weg zur Familie des Mannes, der zuerst verschwand“, ordnete er gerade an.
„Wir alle?“, hakte Paul nach, „Ist das nicht ein bisschen aufdringlich?“
„Hören Sie grundsätzlich nicht zu?“, fragte Ernest Ousley zurück und sah langsam wirklich böse aus.
„Sie fahren mit Miss Short“, erklärte er dann.
Jules konnte nichts dagegen machen. Sie begann noch auf dem Weg zum Polizeiauto mit der Analyse. Warum schickte Ernest Ousley ausgerechnet sie und Paul los. Hielt er Ben bei der akribischen Arbeit auf der Wache für unersetzlich? Und bedeutete das im Umkehrschluss, dass er auf sie und Paul am besten verzichten konnte? Sie hoffte eigentlich nicht, dass sie mit Paul auf einer Stufe stand. Zwar kannte sie ihn noch nicht besonders lange oder besonders gut, doch seine etwas zu direkte Art, die am Rande der Respektlosigkeit wandelte, fand sie nicht eben sympathisch. Vielleicht ging es Ernest Ousley ebenso und er hielt sie für geeignet, diese Aufgabe mit Paul trotzdem zu meistern.
„Ich fahre“, bestimmte Paul und klemmte sich hinter den Fahrersitz des Ford.
Jules zuckte nur die Schultern. Solange er ordentlich fuhr, und davon ging sie erst einmal aus, schließlich war er Detective im Einsatz, sollte es ihr recht sein. Sie war ohnehin gern Beifahrerin. So ließ sich die Umgebung beobachten und das liebte sie. Dann ließ sie den Blick über Straßen, Häuser und Menschen schweifen, einfach nur aus Neugierde.
„Was wissen wir denn über das Opfer?“, wollte Paul wissen, der die Stille offensichtlich nicht lange ertrug.
„Du sprichst schon wieder von Opfer“, tadelte Jules halbernst, „Dabei wissen wir doch noch gar nichts über die Hintergründe des Verschwindens.“
Paul sah sie beinahe mitleidig an und sie wusste, dass er sie für naiv hielt. Allerdings war sie sich nicht sicher, ob er auch wusste, was sie von ihm hielt. Vermutlich war es ihm schlicht egal.
„Also gut, was wissen wir über den Mann, was auch immer ihm passiert sein mag?“, stellte Paul die Frage erneut.
Eigentlich hätte er das nach der Arbeit und der Besprechung des Vortages durchaus wissen sollen, doch Jules verkniff sich wie so oft einen Kommentar.
„Wir besuchen die Ehefrau eines 49-jährigen Mannes, der vor zehn Tagen zum letzten Mal gesehen wurde“, berichtete sie stattdessen.
„Und die Dame meint, es gibt neue Informationen für uns?“, hakte Paul nach, der anscheinend doch gelegentlich auf der Wache aufpasste.
„Ja, sie hat gesagt, es gäbe eine Entwicklung oder so etwas“, bestätigte Jules.
Das Haus der Familie Dodson war klein aber sehr gepflegt. Jules saugte jedes Detail auf, das sie finden konnte. Allerdings gab es da gar nicht so viel zu bemerken. Die Gegend, in der die Dodsons wohnten, war ein relativ neues Viertel, das aus wenigen Straßen im Nordwesten von Milford lag. Hier waren die Grundstücke kleiner, als üblich. Dieses jedoch war ausgesprochen gepflegt. Kein einziges Blatt lag auf dem getrimmten Rasen, der den gepflasterten Weg zum Haus säumte. Blumenkästen schmückten den Eingangsbereich und die Fensterbänke. Alles war unglaublich liebevoll hergerichtet.
Jules und Paul verließen den Polizeiwagen und schritten auf die Haustür zu. Auch wenn der Weg nicht weit war, fror Jules leicht. Sie hatte nur ihre dünne Uniformjacke angezogen, was sich nun als Fehler herausstellte. Schnell drückte sie den Klingelknopf, um nicht unnötig lange in der Kälte stehen zu müssen. Unterdessen ließ auch Paul seine Blicke über die Umgebung schweifen. Es war keine Gegend, in der sie normalerweise präsent waren. Und wenn, dann höchstens, um anständigen Bürgern ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln.
Eine Frau in einem eleganten Kostüm öffnete ihnen die Tür und Jules kam sich vor wie in einer Nachmittagssitcom. Sie konnte sich gar nicht erinnern, wann sie zuletzt eine Frau in einem dieser Kleidungsstücke life gesehen hatte. Und wenn, dann war es vermutlich bei einer Theateraufführung gewesen. So gut es ging schüttelte sie ihre Bedenken ab und reichte der Frau die Hand, um sich vorzustellen. Paul tat es ihr immerhin nach, was sie beruhigte. Eine Dame, die sich dermaßen kleidete, und das an einem Wochentag, erwartete sicher tadellose Manieren. Die kostümierte Frau war Ruth Dodson, Ehefrau des vermissten Felipe Dodson. Außerdem war sie eine erstklassige Gastgeberin, die die Polizisten in ein schnörkeliges Wohnzimmer führte, und sie bat, sich zu setzen. Mit einem Blick auf das antike Möbiliar ließ Jules sich auf das Sofa fallen und hoffte, sie würde in diesem Museumsflair nichts dreckig machen. Während Paul sich wesentlich unbedachter neben sie fläzte, nahm Misses Dodson mit vornehm gekreuzten Beinen in einem Sessel ihnen gegenüber Platz. Auf ihrem Schoß hatte sie nun einen dunkelbraunen und sehr dicken Terminplaner. Sie blätterte darin herum, als würde sich ihr verschwundener Mann zwischen den Seiten verbergen. Anscheinend war Misses Dodson eine dieser Frauen, die als Familienmanager arbeiteten. Jede Kleinigkeit wurde in dem unendlich wichtigen Terminplaner festgehalten. Doch diesmal hatte es anscheinend ein Problem gegeben. Sie schlug mit der Hand auf die besagte Seite und begann mit ihrer Erklärung:
„Ich hatte Ihren Kollegen alles gesagt, was ich wusste. Mein Mann war an jenem Abend mit dem Auto zum Angeln gefahren. Jedenfalls hatte er mir gesagt, dass er das tun wollte.“
Sie machte eine bedeutungsschwere Pause, damit auch klar wurde, dass sie keine Schuld traf, dass sich diese Aussage nun offensichtlich falsch herausgestellt hatte. Jules nickte, damit die Frau weitersprach.
„Eine Bekannte hat mir verraten, dass mein Mann gar nicht beim Angeln war, sondern mit einem anderen Mann in der Nähe der Cedar Beach Road unterwegs war.“
„Die Cedar Beach Road führt doch aber zur Bay“, bemerkte Paul, „Kann es sein, dass die Beiden gemeinsam angeln gehen wollten?“
Misses Dodson sah ihn herablassend an und antwortete:
„Das glaube ich kaum. Immerhin ist es ein ganzes Stück weit von der Stelle, an der das Auto gefunden wurde, bis zum Meer. Und wieso haben dann seine Angelutensilien noch unberührt im Wagen gelegen?“
„Konnte Ihre Bekannte den anderen Mann identifizeren?“, wollte Jules wissen.
„Nein, leider nicht“, meinte Misses Dodson, „Und das wundert mich, denn wir haben ungefähr den gleichen Freundeskreis, so dass sie ihn hätte kennen sollen.“
„Dann verraten Sie uns bitte noch den Namen Ihrer Bekannten, damit wir die Details mit ihr klären können“, würgte Paul das Gespräch ab und war im Begriff, aufzustehen.
Jules hätte gern noch etwas auf dem Sofa gesessen und der Frau zugehört. Sie schien gerade richtig in Fahrt zu kommen und meist ergaben sich daraus Hinweise, eher zufällig, die sonst nicht zur Sprache kamen. Dank Pauls rabiatem Vorgehen konnten sie das zumindest für den Moment vergessen. Misses Dodson war wenig begeistert von Pauls Tonfall und reichte ihm wortlos einen Zettel mit Namen und Adresse besagter Bekannter.
Ethel Keene wohnte nicht weit entfernt in
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 05.11.2018
ISBN: 978-3-7438-8556-1
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle, die kämpfen.