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Container

Cassia hatte seit fast vier Wochen auf diesen Moment gewartet. Seit sie beinahe fluchtartig mit ihrem Vater aus Irland in die USA geflogen war, hatten sich ihre Habseligkeiten auf das beschränkt, was sie in ihrem Koffer und Rucksack transportieren konnte. Das war nicht gerade viel. Neben ihren Schulsachen hatte Cassia bloß ein paar ihrer Klamotten bei sich gehabt. Doch nun war die Zeit der Improvisation vorbei, denn endlich erreichte der Container, in dem ihr Besitz verschifft worden war, Kentucky. Genauer gesagt die Broard Brook Farm, auf der Cassias Vater als Trainer arbeitete. Dort bewohnten sie seit kurzem ein gemütliches Cottage. Es war, genau wie all die anderen Wohnungen, in denen Cassia bisher gelebt hatte, bereits möbliert. Daher beschränkte sich der Inhalt des Containers weitgehend auf große Umzugskartons.

 

Schon von weitem hatte Cassia den Container gesichtet und war durch den Schnee zu ihrem Cottage gelaufen. Neugierig waren Ryan und Janice ihr gefolgt. Endlich hatten auch sie erkannt, warum ihre neue Freundin so aus dem Häuschen war. Sie folgten ihr, so schnell sie konnten und erreichten bald ebenfalls das Cottage, da aus dunklem Stein errichtet worden war. Dann entdeckten sie Cassias Vater, der bereits fleißig damit beschäftigt war, den Container auszuräumen.

„Dad, warte!“, rief Cassia ihm begeistert zu.

Sie stürmte nur kurz in das Haus, warf ihre Schultasche in die Ecke und trat sofort wieder heraus.

„Ganz ruhig, das Meiste ist schon im Haus“, bremste ihr Vater sie lachend.

„Hallo Mister Moran“, sagte Janice. „Können wir auch helfen?“

„Wie gesagt, der Container ist schon fast leer“, antwortete der Mann. „Aber vielleicht könnt ihr Cassia dabei helfen, die Sachen oben zu tragen.“

Fragend sahen Janice und Ryan Cassia an.

“Das wäre echt lieb von euch”, seufzte sie.

Gemeinsam betraten sie das Wohnzimmer, in dem sich die Umzugskartons stapelten. Mit einem Blick auf deren Beschriftung stellte Ryan fest:

„Das sind ja fast alles deine Sachen.“

Cassia machte ein entschuldigendes Gesicht und hob zur Probe einen der Kartons an. Einige waren gar nicht so schwer, wie sie aussahen. Trotzdem bestand Ryan darauf, als einziger allein ein paar Kartons zu tragen, während Cassia und Janice das jeweils zu zweit übernahmen.

„Er kann ein richtiger Gentleman sein“, kommentierte Janice amüsiert.

Doch genau wie Cassia fand sie das ganz angenehm, denn es war nicht so einfach, einen Umzugskarton nach dem anderen in die erste Etage zu schleppen. Dort hatte Cassia genau genommen ihr eigenes Reich. Neben ihrem Schlafzimmer und einem Bad stand ihr unter dem Dach noch ein weiteres, größeres Zimmer zur Verfügung. Noch immer wusste Cassia nicht ganz sicher, was sie damit anfangen sollte. Allerdings zeichnete sich langsam ab, dass es sich um eine Art Wohnzimmer handeln könnte. Inzwischen hatte Cassia dort ein Sofa und ein Bücherregal aufgestellt. Und trotzdem saß sie abends meist in ihrem Schlafzimmer, weil sie es einfach gemütlicher fand.

 

„Du besitzt ziemlich viel Zeug“, stöhnte Janice schließlich und rieb sich den Rücken.

Sie fühlte sich um Jahre gealtert und ahnte, dass ihr die ungewohnten Bewegungen garantiert einen ausgewachsenen Muskelkater bescheren würden.

„Mir kommt es auch gerade mehr vor, als beim Einpacken“, gestand Cassia und lehnte sich kurz an die Wand.

„Ihr könnt ja schon mal mit dem Auspacken beginnen“, schlug Ryan vor, der gerade scheinbar mühelos einen Karton allein die Treppe hinauftrug.

Janice tauschte einen Blick mit Cassia und ihnen war klar, dass sie das gleiche dachten. Entweder hatte Ryan einen der leichteren Kartons erwischt, oder er wollte vor ihnen ein bisschen stärker tun, als er war.

„Und du möchtest all die anderen Kisten ganz allein nach oben tragen?“, hakte Cassia skeptisch nach.

„Nicht ganz, dein Vater hilft mir dabei“, meinte Ryan.

Eigentlich hatte Cassia ein schlechtes Gewissen bei dem Gedanken, dass ihr Vater und Ryan die ganze Arbeit übernahmen. Aber sie war ihnen auch sehr dankbar dafür, denn genau wie Janice war sie schon unglaublich erschöpft. Also öffneten sie gemeinsam die Kartons. Janice begann, das Bücherregal zu füllen. Immer wieder blieb sie dabei an einem besonders spannenden Buch hängen und musste sich zwingen, es wegzulegen und weiterzumachen. Sie nahm sich fest vor, Cassia zu fragen, ob sie sich das eine oder andere Buch einmal ausleihen durfte.

 

Unterdessen war Cassia damit beschäftigt, ihren Kleiderschrank einzuräumen. Es war ihr langsam schon peinlich geworden, dass sie in der Schule ständig die gleichen Klamotten hatte tragen müssen. Als Mann hatte Mister Moran für Cassias Beschwerden darüber kaum Verständnis aufgebracht. Lediglich ein paar wärmere Kleidungsstücke hatte er ihr gekauft. Noch wichtiger, als ihr Auftreten in der Schule, war Cassia jedoch etwas anderes: Endlich waren ihre Reitklamotten wieder bei ihr. Seelig schloss sie ihren Reithelm in die Arme, als sei er ein lange verschollener Freund. Jetzt brauchte sie nur noch ein Pferd, das sie reiten durfte. Und das war gar nicht so einfach.

„Darf ich kurz stören?“, riss eine Stimme sie aus ihren Gedanken.

Janice stand in der Tür.

„Klar, komm rein“, sagte Cassia.

„Ich habe das hier in einer Kiste gefunden“, eröffnete Janice und hielt ein paar Turnierschleifen in der Hand. Fragend sah sie Cassia an, die leicht errötete.

„Ach, das ist lange her“, wehrte sie ab.

Janice zog skeptisch eine Augenbraue nach oben. Cassia war auch erst dreizehn Jahre alt-genau wie Janice und Ryan. Was also konnte es schon bedeuten, wenn sie behauptete, ihre erfolgreichen Turniere wären schon lange her?

„Du hast nie erzählt, dass du eine Turnierreiterin bist“, sagte Janice gespielt vorwurfsvoll.

„Warum denn auch?“, gab Cassia schulterzuckend zurück. Irgendwie lag es ihr nicht so, etwas ungefragt zu erzählen. Das kam ihr vor, wie Prahlen. Schließlich wusste auch Janice nicht, wann Cassia eine Gelegenheit dazu gehabt hätte, um ihnen zu verraten, dass sie schon erfolgreich auf Turnieren geritten war.

„Wo bist du denn gestartet?“, wollte Janice vorsichtig wissen.

„Am liebsten Springen“, antwortete Cassia.

„Das macht Ryan auch“, sagte Janice.

„Er hat ja auch ein tolles Pferd dazu“, meinte Cassia bitter.

„Aber du musst doch auch ein Turnierpferd gehabt haben“, warf Janice ein.

„Es war nicht mein Pferd, ich durfte es nur eine Weile reiten“, erklärte Cassia.

Bei dem Gedanken daran wurde sie ganz sehnsüchtig. Es war doch immer dasselbe. Kaum hatte sie ein gutes Pferd ergattern können, dass sie reiten durfte, da wurde es auch schon verkauft, oder Cassia war wieder umgezogen. Aber das konnte Janice wohl nicht verstehen, schließlich besaß sie ein wunderbares eigenes Pferd.

 

„Quatscht ihr nur oder packt ihr auch aus?“, zog Ryan die beiden Mädchen auf, als er endlich den letzten Karton nach oben getragen hatte.

Janice warf wortlos ein Kissen nach ihm, doch er konnte ausweichen.

„Sieh mal, Cassia war schon als Springreiterin erfolgreich“, verriet Janice dann und zeigte Ryan die Turnierschleife.

„Cool“, fand Ryan und wollte sofort mehr darüber erfahren. Doch Cassia wehrte ab:

„Da gibt es nichts zu erzählen.“

„Wie hoch bist du gesprungen?“

„Nicht so hoch.“

„Teddington und ich springen auch gerne.“

„Ich weiß“, seufzte Cassia.

Ryan merkte anscheinend nicht, dass sie gerade nicht darüber sprechen wollte. Oder es war ihm egal. Glücklicherweise kam in diesem Moment Cassias Vater in ihr Zimmer.

 

„Seid ihr hungrig von der Plackerei?“, wollte er von ihnen wissen.

„Allerdings“, rief Cassia.

„Gut, dann lasst uns Pizza bestellen“, beschloss Mister Moran.

„Ja gerne“, riefen Ryan und Janice begeistert.

Überrascht sah Cassia die Beiden an. So viel Enthusiasmus hatte sie nicht erwartet. Bloß, weil ihr Vater Pizza bestellen wollte. Da sie nur zu zweit waren, gab es bei ihnen ständig tiefgekühltes oder bestelltes Essen.

„Wieso seid ihr denn so scharf darauf?“, fragte sie ihre Freunde neugierig.

„Du kennst doch meine Mutter“, antwortete Ryan. „Glaubst du wirklich, dass sie mich Pizza bestellen ließe?“

Bei dem Gedanken musste Cassia unwillkürlich grinsen. Ryans Familie verfügte über ein ganzes Küchenteam in ihrem Anwesen. Sie konnte sich gut vorstellen, dass Misses Newgard nur hochwertiges und frisch zubereitetes Essen duldete.

„Nicht, dass ich noch Ärger mit deiner Mutter bekomme“, sagte Mister Moran grinsend zu Ryan.

„Nein, nein“, wehrte der schnell ab. „Ich sage ihr noch eben Bescheid, dass ich hier esse.“

Janice wollte ebenfalls ihre Eltern informieren und so riefen sie Beide kurz zu Hause an. Cassia sah Janice fragend an und wartete noch auf eine Erklärung.

„Mein Vater kocht momentan bei uns, weil meine Mutter fast rund um die Uhr arbeitet“, sagte Janice.

„Kann dein Vater nicht gut kochen?“, wollte Ryan wissen.

„Doch schon, aber er hat nicht gerade viele Gerichte auf Lager und die kann ich langsam alle nicht mehr sehen“, seufzte Janice.

Da ihre Mutter als Tierärztin auf der Broard Brook Farm arbeitete, hatte sie gerade allerhand zu tun, denn es war die Zeit, in der die Fohlen geboren wurden.

 

„Wie sieht es denn bei Vale Avoa aus?“, wollte Ryan von Janice wissen.

„Soweit ich weiß kann es jeden Tag so weit sein“, antwortete sie schulterzuckend.

„Bei wem?“, hakte Cassia neugierig nach.

„Vale Avoa“, erklärte Ryan. „Sie ist eine unserer besten Zuchtstuten, wenn nicht sogar die allerbeste. Das Fohlen, das sie erwartet, ist von Mighty Argot und wir erhoffen uns Großartiges aus dieser Verbindung.“

Mighty Argot war bis vor kurze der erfolgreichste Deckhengst der Broard Brook Farm gewesen, bis er bei einer komplizierten Operation aufgrund einer Entzündung kastriert werden musste. Es war also auf jeden Fall das letzte Fohlen aus dieser vielversprechenden Verbindung. Kein Wunder also, dass alle gespannt waren und große Hoffnungen hegten. Dabei war die Zeit, in der die Fohlen kamen, ohnehin spannend genug. Cassia war jedes Mal wieder aufgeregt, wenn sie die kleinen Geschöpfe im Stroh liegen sah. Momentan konnte sie beinahe jeden Tag ein neues Pferd im Stall entdecken.

„Vale Avoa ist schon ein bisschen überfällig“, erklärte Janice ihren Freunden gerade.

„Das ist doch gut“, fand Ryan. „Dann wird es hoffentlich ein kleiner Hengst.“

„Ein Nachfolger von Mighty Argot, wenn er groß ist“, schwärmte auch Janice. „Das wäre schön.“

„Lasst das Fohlen doch erst einmal auf die Welt kommen, bevor ihr seine Karriere plant“, lachte Cassia.

„Die steht eigentlich kaum zur Debatte“, hielt Ryan ernst dagegen und sie schüttelte nur den Kopf.

 

Als der Pizzabote endlich an der Haustür klingelte, liefen die drei Freunde begeistert die Treppe hinunter. Doch Mister Moran war natürlich schneller gewesen. Gerade bezahlte er schon und drückte Cassia den Stapel der Pizzakartons in die Hand. Insgesamt waren es ihr an diesem Tag eindeutig zu viele Kisten, mit denen sie zu tun hatte. Als ob ihr Leben nur noch daraus bestand. Schnell holten sie sich Besteck und machten es sich auf dem Sofa bequem.

 

Janice betrachtete nachdenklich die umherstehenden Kartons und fragte sich, in wie vielen davon sie wohl ihr eigenes Leben unterbringen könnte. Bestimmt hatte sich bei ihr deutlich mehr Zeug angesammelt, als bei Cassia, die bei jedem Umzug einiges hatte zurücklassen müssen. Nicht nur Gegenstände, sondern natürlich auch immer Menschen und Tiere. Schnell schob sie den traurigen Gedanken beiseite. Sie war sehr froh, auf der Broard Brook Farm aufgewachsen zu sein und konnte sich kaum vorstellen, jemals woanders zu wohnen. So spannend es auch manchmal klang, in der ganzen Welt gelebt zu haben, so schreckte es Janice ab. Woher sollte man denn dann sein wahres Zuhause kennen?

 

Nachdem sie aufgegessen hatten, stand Ryan auf und sagte:

„Danke für die Pizza.“

„Danke für eure Hilfe“, entgegnete Mister Moran nur lächelnd.

„Ist doch selbstverständlich“, meinte Janice, obwohl sie sich am Anfang etwas schwer getan hatte, Cassia auf der Farm zu akzeptieren. Doch inzwischen verstanden sie sich richtig gut. Cassia brachte ihre Freunde zur Haustür. Draußen war es inzwischen schon wieder dunkel geworden.

„Danke“, sagte sie noch einmal zum Abschied.

„Kein Problem“, wehrte Ryan ab. „Viel Spaß noch beim Auspacken.“

Cassia nickte und sagte:

„Euch viel Spaß beim Reiten.“

Sehnsüchtig sah sie ihnen nach. Ja, Cassia war ein bisschen neidisch. Darauf, dass Ryan und Janice eigene Pferde besaßen, die sie täglich reiten konnten. So viel Glück musste man haben. Dabei war Cassia froh, wenn sie überhaupt die Gelegenheit bekam, reiten zu können. In den vergangenen Wochen hatte Misses Newgard ihr eine tolle Stute zur Verfügung gestellt, die jedoch verkauft worden war. Rennpferde, die ihre Karriere beendet hatten, und sich nicht für die Zucht eigneten, aber auch erfolglose Rennpferde wurden von Ryans Mutter als Reitpferde ausgebildet und verkauft. Misses Newgard war selbst eine erfolgreiche Springreiterin. Auf Turnieren ritt sie nicht nur ihre eigenen Pferde, sondern stellte dort auch die Verkaufspferde vor.

 

 

Tussis und Pferdemädchen

 Mit wackeligen Beinen brach Cassia am nächsten Morgen auf zu ihrer privaten Bushaltestelle. Der Schulbus holte sie, Janice und Ryan am imposanten Eingangstor der Broard Brook Farm ab. Obwohl Ryan genau genommen den kürzesten Weg hatte, kam er als Letzter. Auch seine Schritte wirkten seltsam ungleichmäßig, als er durch den Schnee und die Dunkelheit stiefelte.

„Tut euch auch alles weh?“, wollte Cassia von ihm und Janice wissen.

„Jeder einzelne Muskel“, seufzte Ryan. „Und du bist schuld.“

„Oh nein, du bist schön selbst schuld“, wehrte Cassia sofort ab. „Du wolltest doch den Helden spielen und für uns die Kisten tragen.“

Ryan brummelte etwas Unverständliches vor sich hin. Dann sah er Janice an und fragte:

„Und hast du auch Muskelkater?“

„Kaum“, antwortete sie lächelnd.

„Dann hast du wohl gestern nicht richtig mit angepackt“, stichelte Ryan.

„Oder ich bin einfach besser trainiert, als du“, meinte Janice.

„Das glaube ich nicht“, protestierte Ryan lachend.

Als der Schulbus sie endlich einsammelte, waren sie schon ganz durchgefroren. Zu dritt machten sie es sich im mittleren Teil des beheizten Busses bequem. Wenige Haltestellen weiter stiegen zwei Mädchen aus dem Jahrgang über ihnen dazu. Sie gingen langsam den Mittelgang entlang und drückten jedem Schüler einen Zettel in die Hand. Erstaunt nahm Cassia das Blatt entgegen und las, was darauf stand. An ihrer Schule wurde eine Valentinsaktion geplant. Doch so richtig schlau wurde sie daraus nicht.

„Was hat das zu bedeuten?“, fragte sie Janice.

„Das gibt es jedes Jahr zum Valentinstag“, seufzte die. „Man kann seinen Freunden oder dem Jungen, den man mag, eine Rose mit einer Nachricht zukommen lassen.“

Cassia verzog vielsagend das Gesicht

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 23.10.2016
ISBN: 978-3-7396-8004-0

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Zenyatta

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