Die Sonne kroch gerade erst über den Horizont, als Maya sich mit ihrem Dackel Hugo auf den Weg machte. Seit ihr Mann es vorgezogen hatte, mit einer ihr unbekannten Dame durchzubrennen, gab es in ihrem Leben nur noch Hugo. Und der brauchte für sein Seelenheil einen Spaziergang morgens früh im Sonnenaufgang. Zumindest schloss Maya das aus seinem Verhalten, denn es war meist noch dunkel, wenn er sie durch einen Sprung auf ihr übergroßes Bett weckte. Inzwischen hatte sie sich schon so daran gewöhnt, dass es sogar vorkam, dass sie es war, die den Hund weckte. Sie atmete die klare und frische Morgenluft ein, als sie sich vom Ort entfernte. Am liebsten spazierte sie morgens am Schötener Grund entlang. Wenn es warm war, spendeten die mächtigen Bäume ihr Schatten. Und war es zu kühl, dann ging sie einfach auf der Sonnenseite des Weges. Auch Hugo bevorzugte es mal, im Wald herum zu streunen, und mal, auf den Felder nach Mäusen zu jagen. Sie lächelte, als sie ihn ableinte und zusah, wie er begeistert losstürmte. Er fühlte sich wohl und das ließ auch ihr Herz den Schmerz vergessen, der sie zu zerfressen drohte, seit sie allein gelassen worden war. Es tat ihr richtig gut, ihre Zuneigung auf Hugo zu fokussieren, und die schlechten Gefühle wenigstens für eine Weile zu vergessen. Außerdem freute sie sich auf die Arbeit im Blumenladen, die sie angenommen hatte, um endlich aus dem Haus und der Trauer heraus zu kommen. Sie hatte von ihrem Chef die Erlaubnis erhalten, Hugo mitzunehmen, und seit der Hund dabei war, kam sie viel häufiger mit Leuten ins Gespräch. Vielleicht war ja auch irgendwann mal ein netter Mann dabei, phantasierte sie vor sich hin. In den Romanen, die sie las, passierte das jedenfalls. Meist waren das auch noch außergewöhnlich gutaussehende und wohlhabende Männer, die den dicken und hässlichen Protagonistinnen unter die Augen und ins Herz traten. Ein ganz gewöhnlicher netter Mann würde ihr ausreichen, stellte sie fest. Obwohl sie gegen einen reichen Modeltypen natürlich auch nichts einzuwenden hätte. Sie passte nur sehr wahrscheinlich nicht in dessen Beuteschema. Andererseits passten die Damen in ihren Romanen auch nicht dazu. Vielleicht bestand also tatsächlich noch Hoffnung. Sie schaute auf und ließ ihren Blick suchend über die Felder schweifen. Wo war der Hund?
„Hugo!?“, rief sie nach dem Dackel.
Doch er ließ sich nicht blicken. Verzweifelt rief Maya noch ein paar mal seinen Namen. Er gehorchte doch sonst immer. Gerade noch hatte sie in Gedanken von dem kleinen Schlingel geschwärmt, jetzt war er verschwunden. Doch ihre größte Angst war, dass ihm etwas passiert sein könnte. Schnell rief sie sich ins Gedächtnis, dass sie schließlich nur auf dem Feld war. Was sollte Hugo hier schon passiert sein? Trotzdem legte sie einen Zahn zu und eilte zu der Stelle, an der sie ihn zuletzt gesehen hatte. Dabei rief sie immer wieder nach ihm. Schließlich hörte sie ihn bellen. Erleichtert horchte sie, aus welcher Richtung das Geräusch kam. Er musste in den Wald gelaufen sein. Hoffentlich tauchte er bald auf. Sie konnte es sich nicht erlauben, zu spät auf der Arbeit zu erscheinen.
„Wo bist du denn, Hugo?“, wollte sie wissen.
Hier draußen konnte niemand hören, dass sie mit dem Hund sprach. Seit er ihr einziger Gefährte war, tat sie das wohl mehr, als es gut war. Selbstverständlich antwortete er ihr nicht. Nach einer Weile gab er ein weiteres Bellen von sich und führte Maya so langsam aber sicher zu sich. Sie kämpfte sich auf dem noch feuchten Waldboden durch das dichte Gestrüpp, das sich an den Baumstämmen entlang hangelte. Was musste Hugo bloß durch den Kopf gehen, dass er so einen Aufstand machte. Das war normalerweise gar nicht seine Art. Doch Maya überlegte nicht, als sie ihrem Liebling folgte. Sie wollte ihn nur wieder finden. Und dann würde sie ihn an die Leine nehmen für den Rest des Tages. Sicherheitshalber. Endlich entdeckte sie den kleinen Freund, der immer schneller hintereinander bellte. Es klang richtig aufgeregt. So hatte sie ihn noch nie erlebt. Was hatte er bloß entdeckt?
„Komm schon her, Hugo“, forderte Maya ihn auf, als sie ohnehin beinahe bei ihm angekommen war.
Etwas Helles, fast Weißes lag dort vor ihm im Dreck. Es wirkte schon auf den ersten Blick ungewöhnlich. Maya wagte sich nur langsam näher. Ihr wäre es wesentlich lieber gewesen, wenn Hugo ihr wenigstens ein Stück entgegen gekommen wäre. Doch er ließ sich einfach nicht beruhigen und ließ nicht von dem Etwas ab, das dort hell schimmerte. Wie in Trance ging Maya immer näher heran und setzte einen Fuß vorsichtig vor den anderen. Sie nahm einen morschen Ast vom Boden und tippte das Etwas unbeholfen an. Dann schrie sie auf, als sie erkannte, was es war. Sie schnappte sich ihren Hund und rannte in wilder Panik aus dem Wald heraus. Erst, als sie wieder näher am Ort war, fischte sie mit zitternden Händen ihr Handy aus der Tasche und wählte. Ihr war klar, dass sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch zu spät zur Arbeit kommen würde.
„Vergiss auf keinen Fall, dir passende Schuhe zu kaufen!“, flötete es noch aus dem Telefon. Kora seufzte schon seit einigen Minuten nur noch in unregelmäßigen Abständen genervt.
„Ich muss jetzt langsam mal arbeiten“, versuchte sie sich erfolglos zu wehren.
Das Auto war geparkt und stand mit abgeschaltetem Motor vor der Polizeistation. Nur die Stimme am Telefon wollte nicht schweigen.
„Ich bin ja wohl wichtiger!“, kreischte es nun aus dem Lautsprecher.
„Aber sicher, das bist du doch immer“, murmelte Kora sarkastisch, doch der Unterton kam nicht an.
„Dann sehen wir uns zur Anprobe! Sei pünktlich!“, kam der vorerst letzte Befehl aus dem Telefon, bevor Kora endlich auflegen konnte.
Genervt von der Gesamtsituation stieg sie aus dem Auto und knallte die Tür zu. Da stand sie extra früh auf, um mal einen guten Eindruck beim Chef zu hinterlassen, und dann rief ihre Schwester an, die mitten in den eigenen Hochzeitsvorbereitungen steckte. Natürlich hätte Kora den Anruf ignorieren können, doch dann wäre ihre Schwester vollständig ausgeflippt und das wollte sie nicht riskieren. Eiligen Schrittes betrat Kora die Polizeistation und hoffte, dass niemandem auffiel, dass sie wieder einmal spät dran war.
„Frau Klein!“, hallte es plötzlich zu ihr herüber. Sie blieb stehen und drehte sich nach dem Kollegen um, der ihren Namen gerufen hatte. Fragend sah sie ihn an und er verkündete: „Bitte zum Chef!“
„Warum nicht gleich an Kasse drei?“, murmelte sie angesichts des befehlenden Tonfalles ihres Kollegen und machte sich auf den Weg.
Es war also doch aufgefallen, dass sie die Letzte war. Oder hatte sie etwas vermasselt? Sie wusste nicht, was. Also straffte sie die Schultern, zwang sich zu einem Lächeln und machte sich auf den Weg zu ihrem Chef.
„Da sind Sie ja“, begrüßte Helmut Pfeffermann sie kurz darauf in seinem trostlosen Büro, das noch aus der Zeit vor der Wende zu stammen schien.
„Was gibt es denn?“, wollte sie wissen.
„Erinnern Sie sich an die vermisste Frau?“, hakte Helmut Pfeffermann nach und wühlte in seinen Unterlagen herum.
„Allerdings“, seufzte Kora. „Hat uns ja auch lange genug beschäftigt. Ist sie wieder aufgetaucht?“
„Das ist sie vermutlich, aber sie ist tot“, erklärte Helmut Pfeffermann. „Ermordet.“
„Kommen Sie, Chef, hier ist doch seit Ewigkeiten niemand mehr ermordet worden“, wehrte Kora ab. Das musste doch ein Irrtum sein.
„Hier sind die Bilder“, meinte ihr Chef und legte ihr beinahe stolz ein paar Farbfotos hin.
„Da ist ja nicht mehr viel zu identifizieren“, murmelte Kora leicht angeekelt und schob die Bilder wieder weg.
„Da haben Sie Recht“, seufzte Helmut Pfeffermann. „Eine Spaziergängerin hat sie gefunden und uns informiert. Genau genommen war es ihr Hund. Jedenfalls hat er sie gefunden. Informiert hat uns die Frau.“
Kora nickte bedächtig. Soweit konnte sie ihrem Chef noch folgen.
„Die Finderin wird nachher noch zu uns kommen und alles noch einmal in Ruhe berichten. Sie war vorhin noch ziemlich geschockt“, erklärte der Mann weiter.
„Was ist mit der Leiche?“, wollte Kora wissen. „Weist sie Spuren auf, die uns irgendwie weiter helfen können?“
„Sie ist fast vollständig skelettiert, die endgültige Identifizierung muss mit Hilfe von DNA geschehen. Ich freue mich schon auf das Gespräch mit den Angehörigen“, seufzte Helmut Pfeffermann.
„Das glaube ich Ihnen sofort“, murmelte Kora. „Liegt die Leiche in der Obduktion?“
„Das will ich hoffen“, antwortete ihr Chef gedankenverloren. Wahrscheinlich bereitete er sich geistig schon mal auf die Konfrontation mit den Angehörigen der vermissten Frau vor. Wortlos reichte er Kora die Unterlagen zu dem Fall.
„Viel Spaß hier, ich bin in der Obduktion“, verkündete sie und verließ das Büro. Hinter ihr seufzte Helmut Pfeffermann noch einmal theatralisch über sein mitleidserregendes Schicksal.
Mit gemischten Gefühlen machte sich Kora auf den Weg, um sich die Leiche einmal genau anzusehen. Dazu musste sie von der Polizeistation ins Robert-Koch-Krankenhaus fahren. Sie nahm ihren Lieblingsdienstwagen und stellte fest, dass ihn wieder jemand anders gefahren war. Es regte sie auf, wenn sie alle Spiegel und den Sitz wieder ewig lange einstellen musste. Und dann das Radio. Irgendjemand schien wirklich gern Schlager zu hören. Aber davon bekam Kora noch stärkere Aggressionen. Während sie vom Parkplatz fuhr, suchte sie verzweifelt nach ihrem Lieblingssender.
„Was haben die wieder mit dir gemach, Mäc?“, murmelte sie vor sich hin, während sie überlegte, das Blaulicht einzuschalten. Abgesehen davon, dass man sie dann endlich vom Parkplatz fahren ließ, machte es ihr ungeheuren Spaß, wie ein Schreihals durch die Straßen zu heizen. Doch sie hielt sich zurück. Sie wollte die Journalisten im Ort nicht gleich aufschrecken. Sobald die irgendwo eine Sirene oder Blaulicht hörten, schossen sie aus ihren Redaktionen auf der Suche nach einer Story. Dabei musste Kora sich eingestehen, dass sie das verstehen konnte. Die zahlreichen Kindergartenfeste auf den Titelseiten wurden nur hin und wieder durch das reißerische Bild eines schlimmen Autounfalls aufgelockert.
Mäc, wie sie den Passat genannt hatte, der ihr liebster Dienstwagen war, schlängelte sich durch die Straßen der Stadt. Es war eigentlich nicht weit von der Polizeidirektion bis zum Krankenhaus. Aber Kora sah sich nicht als Fußsoldat. Sie würde eher jeden Weg mit dem Auto fahren, der länger als das Auto war, als einen Schritt zu viel zu Fuß zu machen. Auch, wenn das bei ihren Kollegen für Belustigung sorgte. Auf dem Dienstparkplatz hatte sie sich den Platz gesichert, der am dichtesten am Eingang lag. Selbst ihr Chef musste weiter laufen. Aber der konnte es mit seiner Wohlstandsplauze auch vertragen.
Wenig später betrat Kora das Robert-Koch-Krankenhaus. Wie so oft sah die Empfangsdame sie mit großen Augen an, als sie sie in der Uniform erspähte.
„Ich gehe nur in die Obduktion“, erklärte Kora im Vorbeigehen und nickte ihr freundlich zu.
Sie redete sich gern ein, eine besonders taffe Vertreterin ihrer Zunft zu sein. Aber wenn sie ganz ehrlich war, wurde ihr immer etwas komisch, wenn sie den Toten gegenüber trat. Allerdings würde sie einen Teufel tun, und das gegenüber den Kollegen eingestehen. Da biss sie lieber alle Zähne zusammen und tat besonders cool. So auch, als sie nun die Treppen hinab stieg, um zur Obduktion zu gelangen. Erwartungsgemäß war nicht besonders viel los. Das war aber auch der einzige Vorteil an dieser Abteilung. Am Ende des Ganges klopfte Kora kurz an eine Tür und wartete. Es dauerte nicht lange, bis ihr geöffnet wurde.
„Schön, dass Sie da sind, Frau Klein“, begrüßte der zuständige Pathologe sie.
„Schade, dass ich hier sein muss“, entgegnete sie zögerlich und trat ein.
Allein der sterile Geruch, der ihr in die Nase zog, hätte ausgereicht, um sie zu vertreiben. Doch sie wollte nicht wie eine Memme da stehen. Der Pathologe führte sie an einen Tisch, auf dem unter einem Tuch offensichtlich die sterblichen Überreste einer Person lagen.
„Es gibt selbst für mich nicht besonders viel zu sehen“, sagte der Pathologe entschuldigend.
„Das glaube ich Ihnen. Die Bilder kenne ich zumindest schon“, erklärte Kora und wartete darauf, dass der Mann das Tuch entfernte. Sie selbst würde es bestimmt nicht anfassen.
„Dann schauen Sie mal“, forderte er sie auf und zeigte ihr, was von der vermissten Frau übrig geblieben war.
Kora musste sich zwingen, hinzuschauen. Tatsächlich war es aber gar nicht so schlimm, wie sie befürchtet hatte. Da die Leiche nur noch aus Knocken und wenigen Hautfetzen bestand, gab es kaum etwas, wovor sie sich hätte ekeln können.
„Gibt es irgendeine Spur?“, fragte sie verzweifelt.
„Worauf?“, fragte der Pathologe zurück.
„Auf irgendetwas“, wiederholte sie.
„Nun ja, Sie sehen ja, was wir hier haben…“, begann der Mann stirnrunzelnd.
„Fremdeinwirken?“, fragte Kora. Sie erinnerte sich, dass ihr Chef von Mord gesprochen hatte.
„Schwer zu sagen“, entgegnete er und schien noch nach den richtigen Worten zu suchen.
Kora ging um die aufgebarte Leiche herum und sah sich an, was zu sehen war.
„Was ist das hier?“, wollte sie neugierig wissen, als sie seltsame Strukturen auf den Knochen entdeckte.
„Bissspuren von wilden Tieren“, erklärte der Pathologe.
„Ist das normal?“, hakte Kora nach.
„Zumindest nicht unnormal“, wand sich der Mann. „Die Leiche wird eine Weile im Wald gelegen haben, da kann so etwas vorkommen.“
Kora nickte bedächtig. Mehr fiel ihr beim besten Willen auch nicht auf. Wenn der Pathologe keine Knochenbeschädigungen gefunden hatte, die auf eine Verletzung hinwiesen, durch die die Frau getötet worden sein könnte, dann würde sie wohl auch nichts entdecken.
„Melden Sie sich, wenn Ihnen noch etwas auffällt“, bat sie den Pathologen und gab ihm ihre Visitenkarte mit ihrer Durchwahl. Ansonsten würde sie seinen Bericht abwarten müssen.
„Guten Tag Herr Ebersbacher“, rief Kora erstaunt aus, als sie auf dem Flur im Erdgeschoss des Krankenhauses ihren zukünftigen Schwager traf.
„Hallo Kora, was machst du denn hier?“, wollte der junge Arzt wissen.
„Hallo Sven. Arbeiten, wie du hoffentlich auch“, entgegnete sie lachend.
„Ich gönne mir nur eine kurze Pause“, erklärte er. „Hast du einen spannenden Fall?“
„Ein bisschen zu spannend für meine Verhältnisse“, seufzte Kora. „Ich darf noch nicht darüber sprechen.“
Sven Ebersbacher nickte verständnisvoll und bevor jemand etwas sagen konnte, klingelte Koras Handy. Sie brauchte gar nicht zu gucken, wer es war. Es konnte nur ihre Schwester sein. Ein Blick auf das Telefon bestätigte ihre Vermutung.
„Es ist deine zukünftige Ehefrau“, seufzte sie genervt. „Willst du mit ihr reden?“
„Nicht jetzt“, wehrte Sven ab. „Sonst ist meine Pause gleich vorbei.“
„Tja, ich habe leider gerade keine Pause“, murmelte Kora und wollte das Telefon wieder einstecken. Da nahm Sven es ihr aus der Hand. Überrascht beobachtete sie, wie er das Gespräch doch annahm.
„Hallo Schatz“, flötete er ins Handy und erklärte, warum er dran war.
„Sie will unbedingt mit dir sprechen“, sagte er dann zu Kora und reichte ihr das Handy.
„Danke“, knurrte sie in seine Richtung und er flüsterte ihr zu: „Du weißt nicht, wie Kira ausrastet, wenn man ihre Anrufe ignoriert.“
„Natürlich weiß ich das. Aber in Zukunft wird das dein Problem sein, Herr Ehemann“, spottete Kora und streckte ihm zum Spaß die Zunge raus. Dann nahm sie das Telefon ans Ohr, aus dem ihre Schwester schon lautstark ihren Namen brüllte.
„Kora, endlich! Warum dauert das denn so lange?“, wollte sie wissen.
„Weil ich arbeite“, seufzte sie nur und erwartete kein Verständnis.
„Seit wann arbeitest du im Krankenhaus?“, keifte ihre Schwester weiter.
„Schon mal was von Obduktion gehört?“, meinte Kora.
„Natürlich habe ich das! Tu nicht so, als wäre ich blöd, nur weil ich nicht so karrieregeil bin, wie du“, fauchte ihre Schwester.
„Ist ja gut, was gibt es denn?“
Kora war auf dem Weg zu Mäc und machte sich Gedanken um eine Frau, die vielleicht ermordet worden war. Sie wollte das Gespräch so kurz wie möglich halten. Warum ausgerechnet sie für die Hochzeitsvorbereitungen so wichtig war, verstand sie ohnehin nicht. Sie hatte weder Ahnung davon, noch Lust darauf, und machte daraus auch eigentlich kein Geheimnis.
„Du darfst auf gar keinen Fall dunkle Schuhe zu deinem Kleid kaufen“, verkündete Kira gerade und sprach in einem Tonfall, als würde sie eine Friedenskonferenz einleiten.
„Danke, werde ich nicht machen“, murmelte Kora und stieg in Mäc ein.
Wie so oft lag unter dem Fahrersitz die Verpackung eines Hamburgers, dem der Wagen seinen Namen verdankte. Kora ließ sie liegen. Es störte sie nicht und jemand würde sich schon darum kümmern. Es gab da einen speziellen Kollegen, der jedes Staubkorn entfernte, das ihm begegnete.
„Ich meine es ernst, das sieht furchtbar aus“, betonte Kira gerade ihr Anliegen. „Katja hat das gemacht und es ist unfassbar.“
Katja war eine der Brautjungfern, zu denen auch Kora gehörte. Und Katja tat ihr jetzt schon leid.
„Hörst du mir überhaupt zu?“, wollte Kira von ihrer Schwester wissen.
„Ja, ich habe verstanden. Keine dunklen Schuhe kaufen. Wichtig“, knurrte Kora. Als ob sie keine anderen Sorgen hatte, als die Farbe ihrer Schuhe.
„Gut, wir sehen uns bei der Anprobe“, erinnerte Kira sie noch einmal.
„Wann war die noch mal?“, fragte Kora, um sie zu ärgern.
„Sei pünktlich!“, forderte Kira sie nur auf und damit war das Gespräch beendet.
Das waren Probleme, dachte Kora und ließ den Motor an. Sie war einmal von einem Kollegen mit Handy am Steuer erwischt worden. Seit dem versuchte sie, es zu vermeiden. Sie fuhr mit Mäc zurück zur Polizeistation und betrat bald darauf das Gebäude. In der Etage, in der sie arbeitete, begegnete sie ihrem Chef, umringt von einigen aufgeregten Leuten. Neugierig drückte sie sich an der Wand entlang und versuchte, herauszufinden, worum es ging. Doch offenbar verabschiedete Helmut Pfeffermann sie gerade.
„Waren das die Angehörigen?“, hakte Kora nach, als die Leute gegangen waren.
„Ja, zum Kotzen“, seufzte ihr Chef und verzog im nächsten Moment das Gesicht.
„Fragen Sie mich mal, ich war in der Obduktion“, entgegnete Kora grinsend. Dann fragte sie ernst: „Worüber regen sie sich auf?“
„Ganz unterschiedlich“, murmelte Helmut Pfeffermann. „Die einen wollen nicht glauben, dass es die junge Frau ist, die sie vermissen. Die anderen werfen uns schlampige Arbeit vor. Wieder andere haben einfach keine Lust auf einen DNA-Abgleich.“
„Anders lässt sich die Identität aber leider nicht klären“, seufzte Kora und berichtete von ihrem Besuch in der Obduktion.
„Schreiben Sie das schon mal auf und legen es zu den Unterlagen“, ordnete ihr Chef an und sie machte sich an die Arbeit.
In ihrem Büro nahm Kora sich die Unterlagen zum Mordfall der jungen Frau erstmals genauer vor. Das hätte sie schon längst tun sollen, doch sie hatte bis zuletzt gewettet, dass sie einfach wieder auftauchen würde. Jetzt war sie eines Besseren belehrt worden. Natürlich hatten sie auch nach der Frau gesucht. Und zwar unter Einsatz aller Kräfte. Und eigentlich waren sie dabei auch im Waldstück namens Schötener Grund gewesen. Sie hätten die Leiche also finden müssen, wenn sie dort schon länger gelegen hatte. Das nahm Kora gleich mit in ihren Bericht auf. Einer ihrer Kollegen hatte nämlich das Protokoll der Vernehmung der Finderin zu den Unterlagen gelegt. Dabei war auch eine Karte von der Umgebung, in der die Leiche gefunden worden war. Kora entdeckte ein Bild der jungen Frau, als sie noch gelebt hatte. Claudia Brauer war ihr Name gewesen, sie war 25 Jahre alt geworden und sie stammte aus Apolda. Vor knapp einer Woche war sie scheinbar spurlos verschwunden und als vermisst gemeldet worden. Es hatte nirgendwo Hinweise auf ein Gewaltverbrechen gegeben. Ihre Wohnung war ordentlich hinterlassen, das Auto auf dem Parkplatz aufgefunden worden. Falls sie beim Verlassen des Hauses etwas mitgenommen hatte, so war es noch nicht gefunden worden. Kora las noch einmal genau, was die Finderin der Leiche zu Protokoll gegeben hatte. Dann ließ sie ihre Gedanken schweifen.
Die Tür ging auf und ihr Kollege Alexander Lowe betrat das gemeinsame Büro. Mit seinem typischen Blick voller Missachtung kommentierte er wortlos das Chaos auf ihrem Schreibtisch.
„Was denn? Ich arbeite eben so“, knurrte sie ihn an.
Doch eigentlich mochte sie ihn. Er war knapp zehn Jahre älter als sie und half ihr oft mit seiner Erfahrung weiter. Sie hätte wesentlich mehr Pech haben können mit ihrem Zimmergenossen. Nur leider kollidierten ihre Vorstellungen von Ordnung gelegentlich.
„Die Leiche von heute Morgen?“, hakte er nach und sie nickte.
„Ich glaube nicht, dass sie dort gestorben ist, wo sie gefunden wurde“, überlegte Kora.
Diesmal war es Alexander, der nickte.
„Das glaube ich auch. Und ich glaube nicht an einen Unfall“, fügte er hinzu.
Damit vermutete er genau wie Helmut Pfeffermann einen Mord.
„Wieso denkst du, dass sie ermordet wurde?“, wollte Kora wissen.
„Zum einen, weil die Leiche nicht dort auftauchte, wo Claudia umgebracht wurde. Jemand muss sie dort platziert habe, sonst hätten wir sie bei der Suche nach der Frau gefunden“, erklärte Alexander.
Genau das hatte Kora sich auch gedacht. Wenn ein Dackel einer Spaziergängerin die Leiche am Waldrand finden konnte, dann wäre sie einem Suchtrupp von hunderten Polizisten auch aufgefallen.
„Und außerdem wundert mich der Zustand der Leiche“, sprach Alexander sorgfältig weiter.
„Dass nicht mehr viel übrig ist?“, hakte Kora nach.
„Ja, genau. Ich habe hier zum Glück noch nicht viele Leichen sehen müssen, aber dass sie fast völlig skelettiert ist, habe ich noch nie gesehen. Und das nach nur einer Woche“, erklärte Alexander.
Darüber hatte Kora sich auch schon Gedanken gemacht. Sie nahm sich vor, noch einmal nachzuforschen. Was sollten das für Tiere gewesen sein? Und war so etwas nicht eher selten? Sie wusste nur noch nicht genau, wen sie fragen sollte.
Es klopfte an der Tür und kurz darauf trat ihr Chef ein. Hinter ihm drückte sich eine ihr nur zu gut bekannte Person herum.
„Stefan Herzog, richtig?“, fragte sie ihren Chef genervt.
„Er hat nicht ganz Unrecht. Wir sollten die Bürger warnen“, murmelte Helmut Pfeffermann.
„Wir wissen doch noch gar nichts“, entgegnete Kora empört.
„Alles, was wir haben, ist eine Leiche“, bestätigte Alexander peinlich genau.
„Und woher weiß er das schon wieder?“, wollte Kora wissen und deutete auf den Mann hinter ihrem Chef.
„Was denn, Sie haben wirklich eine Leiche und sagen mir nicht Bescheid?“, feuerte der zurück.
„Sie hätten es schon früh genug erfahren“, seufzte Kora.
„Vom Timing einer Veröffentlichung verstehen Sie nichts“, behauptete der Mann.
„Und Sie verstehen nichts von Polizeiarbeit“, verteidigte sie sich.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 24.02.2016
ISBN: 978-3-7396-3918-5
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Joyce