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Zurück auf dem Boden

„Ist sie das?“, hakte Luc nach und machte eine verrenkende Halsbewegung. „Natürlich ist sie das. So geht nur Fleur“, gab Vic zurück. Er hatte ihre Freundin sofort erkannt, als sie durch die Halle des Pariser Flughafens auf sie zu stolziert kam. „Ist sie gewachsen?“, wollte Luc weiter wissen. Vic warf ihm einen Blick zu, der ihn zum Schweigen brachte. Fleur erreichte ihre beiden Freunde und fiel ihnen zur Begrüßung überschwänglich um den Hals. „Wie war es in Marseille?“, wollte Vic sofort von ihr wissen und nahm wie selbstverständlich ihren Koffer. „Es war wahnsinnig schön!“, schwärmte Fleur. „Ich durfte für ein paar der ganz großen Designer auf den Laufsteg.“ – „Wo hast du deine Mutter gelassen?“, fragte Luc, während sie zu dritt aus dem Flughafengebäude schlenderten. „Sie bleibt noch für ein paar Tage in Marseille, weil sie dort noch ein Fotoshooting hat“, erklärte Fleur stolz. „Du bist ganz allein geflogen?“, hakte Luc nach. Seine Freundin nickte, als sei das ganz selbstverständlich, doch das fand der Junge gar nicht. Bisher hatte Fleur selten etwas ganz allein auf die Reihe bekommen. Sie konnte also doch, wenn sie wollte. Allerdings wollte sie in der Mehrzahl der Fälle nicht.

 

Vor dem Flughafen versuchten die drei Freunde, ein Taxi zu ergattern, doch das gestaltete sich als schwierig. Es war Sonntagabend und viele Pariser kehrten in die Stadt zurück. „Ich wäre so gerne noch in Marseille geblieben“, seufzte Fleur, während Luc und Vic den Taxifahrern winkten. „Wegen der Modenschau oder wegen Marco?“, zog Luc seine Freundin auf. „Beides“, gab sie knapp zurück. „Hast du ihn getroffen?“, wollte Vic wissen und sie nickte verträumt. Die Jungs beschlossen, nicht weiter nachzuhaken, dachten sich aber ihren Teil. Marco war in ihrem Alter und Fleur hatte ihn kennen gelernt, als sie mit ihrer Mutter auf einer Modenschau gewesen war. Madame Moulin war mit Marcos Mutter, die ebenfalls modelte, gut befreundet. Und auch Marco war genau wie Fleur schon ein paar Mal auf dem Laufsteg unterwegs gewesen. Dennoch hätte es die Jungs durchaus interessiert, wie ernst es wirklich zwischen Fleur und Marco war. Vor ihrem Flug nach Marseille hatte Fleur verdächtig oft von dem Südfranzosen geschwärmt.

 

Es gelang Vic, ein Taxi anzuhalten. „Endlich“, seufzte Fleur und sah Luc erwartungsvoll an. „Die Autotür wirst du ja wohl alleine öffnen können“, sagte der Junge, während Vic Fleurs Gepäck im Kofferraum verstaute. Das Mädchen sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an und sagte: „Natürlich kann ich das, wenn du es nicht nötig hast, charmant zu sein.“ Luc verdrehte genervt die Augen und hielt ihr die Tür auf. „Charmant bedeutet aber nicht, dass ich dein Diener bin“, gab er ihr mit, als sie einstieg. „Hört schon auf zu streiten“, sagte Vic, als auch er auf der Rückbank des Wagens saß. „Wie war es denn in Marseille?“, wollte er dann von Fleur wissen. „Wärmer als hier und wir hatten ein Hotelzimmer mit Blick auf den Strand“, antwortete sie verträumt. „Naja, es ist Herbst“, sagte Luc nur kühl. „Ein Grund mehr, im Süden zu bleiben“, gab Fleur zurück und sah missmutig aus dem Autofenster. Es war schon früh dunkel geworden und jetzt setzte auch noch ein Nieselregen ein. „Ich vermisse Marco, die Sonne und die Modenschau“, murmelte sie vor sich hin. Dann sagte sie lauter: „Diese blöde Schule macht mir mal wieder einen Strich durch die Rechnung.“ Luc grinste und sagte: „Wenn du dich ein bisschen anstrengst, hast du die Schule in ein paar Jahren geschafft.“ Fleur sah Vic fragend an. Kam es ihr nur so vor, oder war Luc schlecht gelaunt?

 

„Ich freue mich einfach nur auf unseren Zusatzkurs am Dienstag“, seufzte Luc sarkastisch. Er hatte nicht vergessen, dass er es Fleur verdankte, dass er nun im Politikkurs sitzen musste. „Wir müssen ja nicht hingehen“, sagte das Mädchen schulterzuckend. „Ich denke schon, dass wir das müssen“, gab Luc streng zurück. „Abgesehen davon können wir es uns nicht leisten, unangenehm aufzufallen. Und du wirst auch mitkommen.“ – „Du klingst schon wieder wie dein Vater“, zog Fleur ihren Freund auf und streckte ihm kurz die Zunge raus. „Das nenne ich Wiedersehensfreude“, seufzte Vic, als das Taxi vor ihrem Haus zum Stehen kam. Bevor die Beiden sich wieder streiten konnten, fügte er hinzu: „Ob es euch gefällt, oder nicht, wir sitzen in diesem Politikkurs bis zu den Halbjahreszeugnissen. Also ziehen wir das gemeinsam durch.“ Fleur verdrehte die Augen beim Aussteigen ein weiteres Mal und sagte nichts mehr. Vic bezahlte den Taxifahrer und stieg als Letzter aus. Mit verschränkten Armen stand Fleur vor dem Heck des Autos. „Kann ich dir helfen?“, fragte Luc grinsend. Doch Vic kam ihm zuvor und hob den Koffer des Mädchens aus dem Kofferraum. „Du verwöhnst sie zu sehr“, warf Luc seinem Kumpel vor, als der das Gepäck für Fleur zur Haustür trug und diese aufschloss. „Also mir gefällt es“, sagte das Mädchen lächelnd, als Vic den Koffer auch die Treppen hinauf schleppte. „Das glaube ich dir sofort. Aber gewöhn dich nicht zu sehr daran. Du bist jetzt wieder in deinem richtigen Leben angekommen“, meinte Luc, bevor er in der Wohnung seiner Eltern verschwand.

„Darf Luc nicht länger aufbleiben?“, fragte Fleur spöttisch, als sie ihre Wohnungstür aufschloss. „Wer weiß? Morgen ist schließlich Schule“, sagte Vic grinsend. Lucs Vater war zwar oft auf Dienstreisen, doch wenn er zu Hause war, erlaubte er seinem Sohn kaum etwas. „Ist dein Vater auch noch auf der Arbeit?“, wollte Vic von seiner Freundin wissen, als sie die Wohnung betraten. Sie nickte und erklärte: „Er tanzt noch in der Spätvorstellung.“ Gemeinsam zogen sie Fleurs Koffer in ihr Zimmer. Während sie damit begann, ihre Sachen auszupacken, machte Vic es sich auf ihrem Bett gemütlich. „Es war so wunderschön“, seufzte Fleur. „Dieser Moment, in dem man den Laufsteg betritt, und alle Augen auf mich gerichtet sind. Ich liebe es.“ – „Hattest du sehr seltsame Kleider an?“, fragte Vic. Er kannte die ausgefallenen Kollektionen, die Fleur ihm manchmal zeigt, und die kaum noch als Kleidung zu erkennen waren. „Nein, das war alles ganz schön“, sagte Fleur und hob ein goldenes Cocktailkleid aus ihrem Koffer. „Ich durfte ein paar Sachen behalten“, freute sie sich. „Das Meiste ist allerdings nicht besonders alltagstauglich“, fügte sie hinzu und hing ein wallendes Kleid auf einen Kleiderbügel.

 

„In Marseille gab es immer leckeres Essen nach der Modenschau“, erzählte Fleur wenig später, als sie in der Küche saß. Vic stand am Herd und kochte, während seine Freundin von ihrem Wochenende in Südfrankreich schwärmte. Zwar konnte auch er sich Schöneres vorstellen, als am Sonntagabend für Fleur den Kochlöffel zu schwingen, doch er brachte es nicht fertig, sie allein zu lassen. Abgesehen davon waren seine Eltern auch noch nicht Zuhause. Da konnte er den Abend genauso gut mit Fleur verbringen. Heimlich hoffte er außerdem, dass sie ein bisschen mehr von sich und Marco erzählen würde. Manchmal hatte Vic das Gefühl, dass Luc ein bisschen eifersüchtig darauf reagierte. Deshalb wollte er mit Fleur über Marco reden, wenn Luc nicht dabei war. Als er das Essen auf den Tisch stellte, sah er ihr tief in die Augen und fragte: „Was lief denn nun mit Marco?“ Sie seufzte traurig und antwortete: „Wir haben uns leider nur ein paar Mal nach der Modenschau gesehen und unsere Mütter waren jedes Mal dabei.“ Das klang nicht nach dem, was Fleur sich vielleicht erhofft hatte. Doch sie schien es erstaunlicherweise mit Fassung zu tragen. „Es ist besser, als gar nichts. Wenigstens habe ich ihn gesehen“, murmelte sie und spielte mit ihren Nudeln, statt sie zu essen.

 

„So willst du zur Schule gehen?“, hakte Luc am nächsten Morgen nach, als er Fleur zusammen mit Vic abholte. „Wieso? Fehlt etwas?“, fragte sie und sah sich ihr Spiegelbild kritisch an. „Sind die Schuhe nicht etwas gewagt?“, half Luc ihr auf die Sprünge. „Finde ich nicht“, gab Fleur zurück. „Ein Outfit ist nur so gut, wie seine Schuhe.“ – „Dir ist klar, dass du in Paris bist und nicht in Marseille?“, wollte Luc weiter wissen. „Und das bedeutet, dass ich mich hässlich kleiden muss?“, fragte das Mädchen hochnäsig. „Passend wäre ein Anfang. Oder auch angemessen“, hielt Luc dagegen. „Es ist doch nicht mein Problem, dass die anderen Mädchen in meinem Alter sich noch anziehen, wie die Grundschüler“, sagte Fleur pampig und stolzierte auf ihren Pumps zur Tür. „Verzichtest du zugunsten deines Stylings auch schon auf deine Schulsachen?“, zog Luc sie auf, doch sie deutete nur vielsagend auf ihre große Designerhandtasche, in der sie die wichtigsten Dinge untergebracht hatte. Momentan trug jedoch Vic die Tasche für sie. Luc ahnte langsam, dass er in dieser Diskussion nur verlieren konnte. Doch er nahm sich vor, mal ein ernstes Wort mit Vic zu reden. Er ließ sich ja von Fleur behandeln, wie ein Leibeigener. Wenigstens waren sie heute rechtzeitig losgegangen. Meist trödelte Fleur so lange herum, bis sie keine Zeit mehr hatten, und zur Schule laufen mussten. Und selbst dann kamen sie oft noch zu spät. Auf ihren hohen Absätzen hätte Fleur jedoch unmöglich laufen können oder wollen. Wahrscheinlich hätte sie sich dann von Vic tragen lassen. „Warum grinst du denn so?“, wollte Fleur von Luc wissen und riss ihn aus seinen Gedanken, als sie die Seine überquerten. „Ach, nur so“, wehrte er schnell ab. Sie beließ es dabei, sah ihn aber prüfend an.

 

„Wir haben Mathe“, sagte Vic, als sie die Schule erreicht hatten. Normalerweise fragte Fleur jeden Montag wieder, mit welchem Fach die Woche und der Tag startete. Diesmal war Vic ihr mit seiner Antwort zuvor gekommen. Dann übergab er die Designerhandtasche an Fleur, die zielstrebig vor ihnen her stolzierte. An ihrem Schließfach blieb sie noch einmal stehen, um einen Blick in den Spiegel zu werfen, den sie an der Innenseite der Tür angebracht hatte. Ein ungewöhnlicher Tag, dachte Luc. Denn noch immer bestand kein Grund zur Eile und das kam wirklich selten vor. Wie ein Hund trottete er hinter seinen beiden Freunden her, die den Unterrichtsraum ansteuerten. Dass Vic für Fleur die Tür aufhielt, damit sie eintreten konnte, überraschte Luc schon nicht mehr. Der Effekt gelang dem Mädchen gut. Alle Augen ihrer Mitschüler waren auf sie gerichtet, als sie herein stolzierte und sich an ihren Platz setzte, gefolgt von Luc und Vic, die hingegen keinerlei Aufmerksamkeit erregten. Empört drehte sich Elise zu den drei Freunden um. Offenbar hatte Fleur ihr gerade die Schau gestohlen. „Wie ich gerade schon erzählt habe, war ich am Wochenende mit meinen Eltern in London“, verkündete Elise in Fleurs Richtung. Sie prahlte nach jeden Ferien damit, in welchem Land sie Urlaub gemacht hatte. Da sie die Herbstferien genau wie Luc, Fleur und Vic mit den Proben für das Schulmusical verbracht hatte, hatten ihre Eltern den Urlaub wohl in Form eines Kurztrips nachgeholt. Normalerweise versetzten ihre Erzählungen Fleur einen kleinen Stich, doch diesmal gab sie kühl zurück: „Und was hast du in London so gemacht?“ Einen Moment lang war Elise irritiert, dann entgegnete sie zickig: „Urlaub eben. Was denn sonst? Aber davon verstehst du ja nichts. Oder wann hast du Paris das letzte Mal verlassen?“ – „Am letzten Wochenende“, antwortete Fleur. Fragend sah Elise Luc und Vic an, die zur Bestätigung nickten. „Wo warst du denn?“, wollte Julie, Elise´s Freundin und Anhängsel, wissen. „Ich bin in Marseille auf der Modenschau gelaufen“, sagte Fleur stolz und genoss die staunenden und bewundernden Reaktionen ihrer Klassenkameraden. Selbst Elise fiel dazu vorerst nichts Gemeines ein.

 

„Ich störe nur ungern, aber ich störe“, verkündete ihr Mathelehrer Monsieur Lechat, als der Unterricht begann. Genervt schlugen seine Schüler die Mathebücher auf. „Wie angekündigt werde  ich heute eure Hausaufgaben einsammeln und benoten. Einige von euch können das als kleine Verbesserung der Gesamtnote gut gebrauchen“, erklärte Monsieur Lechat und begann, durch die Reihen zu gehen. „Wann hat er das denn angekündigt?“, wollte Fleur mit leichter Panik in der Stimme wissen. „In der letzten Stunde“, antwortete Luc nüchtern. „Kann mich nicht erinnern“, murmelte sie nachdenklich. Doch vermutlich hätte sie die Mathehausaufgaben auch dann nicht gemacht, wenn sie etwas davon mitbekommen hätte. „Du hast es nicht einmal versucht?“, wollte Luc empört von seiner Freundin wissen. „Ich war in Marseille und hatte Besseres zu tun, als dämliche Matheaufgaben“, gab Fleur pikiert zurück und strich sich mit den Fingern durchs Haar. „Meinst du nicht, dass die Schule im Moment wichtiger ist, als das Modeln?“, fragte Luc sie streng. Bevor Fleur antworten konnte, schob Vic ihr wortlos drei zusammen getackerte Zettel vor die Nase. „Was ist das?“, wollte sie genervt wissen und er antwortete leise: „Deine Mathehausaufgaben.“

 

Fleur und Luc sahen Vic fragend und überrascht an, als Monsieur Lechat an ihrem Tisch auftauchte. Er wohnte im selben Haus, wie die drei Freunde und kannte sie daher etwas besser. Entsprechend verwundert war er, dass sie ihn so schüchtern anlächelten. Fast schon unschuldig. Genau genommen eine Spur zu unschuldig. Doch eigentlich wollte er gar nicht wissen, was die Drei schon wieder ausheckten. Und so nahm er ihre Hausaufgaben entgegen. Als er Fleurs Papiere in den Händen hielt, wurde sein Blick streng. „Ihr sollt doch nicht mit bunten Farben schreiben“, sagte er. „Schon gar nicht in pink.“ Fleur tat, als wäre es ihr unangenehm, während Luc ein Grinsen unterdrückte. „Ein guter Schachzug“, sagte er anerkennend zu Vic, als Monsieur Lechat weiter gegangen war. So war ihr Lehrer von der aufdringlichen Farbe abgelenkt und würde nicht bemerken, dass es nicht wirklich Fleur gewesen war, die sich an den Hausaufgaben versucht hatte. „Danke, Vic“, sagte Luc deutlich zu Fleur, als wäre sie ein kleines Kind. „Ja, danke“, meinte sie artig in Vics Richtung. Der zuckte jedoch nur die Schultern, als wäre nichts dabei.

 

„Das sieht ja ausnahmsweise mal nicht aus, als wäre es schon einmal gegessen worden“, stellte Luc in der Mittagspause zufrieden

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 25.06.2014
ISBN: 978-3-7368-3212-1

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