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Rory Yake

Wenn man in New York aufgewachsen ist, kennt man die ganze Welt. Das glaubte ich zumindest. Bisher. Inzwischen war ich mir da nicht mehr ganz so sicher. Was mich an dieser Annahme zweifeln ließ, war das, was auf der anderen Seite des Autofensters an mir vorbei zog. Weites, wildes und verlassenes Land. Es war irgendwie eintönig in seiner Abgeschiedenheit und dennoch bot es von Wäldern über Berge, Seen und Felsen, Klippen und Meer eine beeindruckende Abwechslung. Ich war nicht wirklich fasziniert von dem, was ich sah, und konnte trotzdem meinen Blick nicht vom Fenster abwenden. Was gab es auch sonst zu sehen? Neben mir saß Lexa und starrte mich besorgt und mitleidig an. Seit dem Moment, in dem ich sie kennen gelernt hatte, tat sie genau das. Wir befanden uns auf der Rückbank eines Wagens, der uns vom Flughafen in Wick noch weiter raus aufs Land brachte. Von New York aus war es eine weite Reise gewesen und der Inlandsflug in Großbritannien nach Schottland hatte mir den Rest gegeben. Die Sonne ging langsam unter, aber ich hatte jegliches Zeitgefühl schon vor einer ganzen Weile verloren.

 

Irgendwann wurde der Wagen langsamer und bog von der einzigen asphaltierten Straße, die das Land durchzog, auf einen etwas schmaleren Weg ab. Es ging in weiterhin langsamem Tempo einen seichten Hügel hinauf, der zunehmend kahler wurde, bis sich große Weiden erstreckten. „Sind das Kühe oder Pferde?“, fragte Lexa überrascht. Ich war auch überrascht. Darüber, dass sie überhaupt einmal etwas saget. Allerdings fragte ich mich auch, ob sie kurzsichtig oder selten dämlich war. Die Tiere, die auf den Wiesen vor allem mit Grasen beschäftigt waren, konnte jedes Kind eindeutig als Pferde identifizieren. „Pferde?“, hakte sie nach, als ich sie nur skeptisch ansah, und ich nickte wortlos. Einige Gebäude kamen in Sichtweite. Der Wagen hielt vor einem beeindruckenden Herrenhaus aus grauem Stein und Holzelementen. Durch den dichten Efeubewuchs und das Holz wirkte es beinahe wie ein Cottage. Doch die Größe, die hohen Fenster und die beiden eckigen, burgartigen Türme ließen keinen Zweifel an der Ehrwürdigkeit des Gebäudes aufkommen. Es war das Herzstück der Anlage, so viel stand fest. Besonders warm und einladend wirkte es jedoch nicht. Oder lag das daran, dass es dunkel geworden war? Der Fahrer stieg wortlos aus und holte meine Habseligkeiten aus dem Kofferraum. Lexa bezahlte den Mann, wobei sie offensichtlich ihre Schwierigkeiten mit der fremden Währung hatte. Unter ihrem besorgten Blick stieg auch ich endlich betont langsam aus und sah mich um. Etwas abseits lagen Stallungen, Wohnhäuser und weitere Gebäude, doch alles wirkte sehr verlassen. Lexa und ich standen etwas unschlüssig neben unseren Sachen und hofften, dass der jeweils andere die Initiative ergreifen würde. Wir wussten beide nicht so recht, wo wir hin sollten. Lexa sah mich fragend an, doch ich zuckte nur die Schultern. Hinter einem der großen Fenster flackerte kaum merklich ein fahles Licht und ich glaubte, eine Bewegung hinter dem Vorhang er kennen zu können. Endlich tat sich etwas. Die Haustür in der Mitte des Herrenhauses wurde geöffnet und ein warmes Licht erhellte die breiten Stufen, die zum Eingang führten. Ein älterer Herr erschien auf der Schwelle und winkte uns zu sich. Schüchtern nahmen wir unsere Sachen und gingen zu ihm.

 

Endlich zeigte Lexa sich von ihrer professionellen Seite. Sie gab dem Mann die Hand und folgte ihm hinein. Dort versuchte sie, das angespannte Schweigen zu brechen und stellte mich überflüssiger Weise vor. „Rory Yake“, sagte sie und deutete auf mich. „Doch, doch“, murmelte der Mann, „meinen Enkel hätte ich schon noch erkannt.“ Ich wünschte, ich hätte dasselbe über meinen Großvater sagen können. Lexa hatte aufgehört, mich mitleidig anzusehen, als wir das Herrenhaus betreten hatten. Neugierig bestaunte sie die großzügige Eingangshalle. „Rory!“, ertönte eine raue und doch aufgeregte Stimme. Auf der breiten Treppe, die in die erste Etage führte, erschien eine alte Dame. Meine Großmutter, wie ich ganz richtig vermutete. Sie kam auf uns zu und begrüßte mich ebenso distanziert, wie mein Großvater, indem sie mir die Hand schüttelte. Dann wandte sie sich an Lexa und fragte: „Und Sie sind Miss…?“ – „Nennen Sie mich Lexa“, entgegnete sie freundlich und erntete dafür einen abfälligen Blick.

 

Wie herbeigezaubert erschienen zwei Hausmädchen am Rande der seltsamen Begrüßungsszenerie. Lexa starrte sie an, als kämen sie von einem anderen Stern. Meine Großmutter übernahm herrisch das Kommando. Eine der kräftigen Frauen wurde angewiesen, meine Sachen und Lexas spärliches Gepäck nach oben zu bringen. Die andere Matrone in klassischer Uniform führte uns in ein elegantes Esszimmer, das von einem monströsen Holztisch ausgefüllt wurde. „Ihr habt doch sicher Hunger nach der langen Reise“, vermutete mein Großvater, als wir uns zögerlich setzten. Ich musste zugeben, dass er Recht hatte, als mir der Duft von richtigem Essen in die Nase zog. Seit Wochen hatte ich mich nicht mehr vernünftig ernährt. „Das riecht ja wunderbar“, sagte Lexa zu meiner Großmutter, die ganz offensichtlich nicht die Köchin der Köstlichkeiten war. Prompt wurde Lexa mit einem kühlen „danke“ bedacht. Es klang, als sei meine Großmutter von dem Kompliment beleidigt. Als würde es jemals etwas auf diesem Tisch geben, das nicht wunderbar wäre. Da es nur extrem heikle Themen zu besprechen gab, schwiegen wir alle bei Tisch. Mein Großvater lächelte mich an und war offensichtlich froh darüber, dass ich bei ihm angekommen war. Ganz anders dagegen meine Großmutter. Auch, wenn ihre Abneigung momentan hauptsächlich Lexa galt, befürchtete ich, dass sie auch von mir nicht ganz angetan war.

 

Nach dem Essen zeigte uns eines der Hausmädchen unsere Zimmer. Die breite Holztreppe führte in die erste Etage, wo ein Flur sich nach zwei Richtungen erstreckte. Die steinernen Wände waren weitgehend kahl und dunkel. Nur hie und da wurden sie von einer fahlen Lampe erhellt oder von einem Wandteppich geschmückt. Das ganze Herrenhaus entstammte einer völlig anderen Zeit und genau die schien hier stehen geblieben zu sein. Ich war zugegebenermaßen neugierig, wie mein Zimmer wohl aussehen würde. Erst am Ende des Flures deutete das Hausmädchen auf eine schwere Holztür mit edlen Verzierungen. Langsam schob ich sie auf und betrat den dahinter liegenden Raum. Es handelte sich um ein Eckzimmer des Herrenhauses, das vom Hof wegging. Hohe Fenster versprachen viel Licht am Tage. Ich staunte über einen offenen Kamin. Ein echter Kamin in meinem Zimmer?! Vor einem der Fenster stand ein riesiger Schreibtisch aus massivem Holz, der jeden Top-Manager in Neid versetzt hätte. In der Ecke war hinter einem Vorhang verborgen ein Bett, so groß, dass ich problemlos quer darin schlafen könnte. Über dem Bett prangte ein aufwendiges Wappen an der Wand. Vor dem Kamin waren drei Ohrensessel sorgfältig zu einer Sitzgruppe aufgestellt. Ebenfalls aus kräftigem dunklen Holz waren die Truhe am Fußende des Bettes, ein Kleiderschrank, ein Regal und eine Kommode. Obwohl das Zimmer viel größer war, als mein altes in New York, hatte ich das Gefühl, dass ich hier irgendwie weniger Platz haben würde. Eine weniger pompöse Tür führte in ein Bad, das nur für mich allein war. Ich konnte noch immer nicht fassen, wie groß alles war. In der Mitte meines neuen Zimmers stand alles, was ich jetzt noch besaß. Es sah direkt kläglich aus in diesem würdevollen Raum. Lexa warf nur einen flüchtigen Blick in ihr Gästezimmer, dann kam sie zurück zu mir. Worte der Bewunderung sparte sie sich seit den bissigen Antworten meiner Großmutter. Stattdessen beobachtete sie jede meiner Regungen aufmerksam. Manchmal sah sie aus, als wollte sie etwas fragen, verkniff es sich dann aber immer.

 

Unter anderen Umständen hätte ich das alles vielleicht ja ganz spannend gefunden. Aber als ich am nächsten Morgen in dem ausgekühlten Zimmer hinter dem Vorhang meines neuen Bettes aufwachte, war ich anderer Meinung. Es fühlte sich an, als wäre alles ein seltsamer Traum, ein anderes Leben. Ein Zustand, an den ich mich langsam gewöhnte, denn seit zwei Wochen war mir immer häufiger, als sei ich nur noch stummer Beobachter dessen, was mit und außerhalb von meinem Körper passierte. Daran hatte auch Lexa nichts ändern können. Auf meine innere Uhr war wieder Verlass. Kaum war ich aufgestanden und angezogen, da klopfte es an der massiven Holztür meines Zimmers. Kurz darauf erfüllte Lexa mit ihrem ungeahnten Optimismus den Raum. „Hast du gut geschlafen?“, wollte sie fröhlich wissen, wartete keine Antwort ab und sagte: „Ich habe mich in dem Himmelbett wie eine Prinzessin gefühlt.“ Mit einem Blick aus dem Fenster verkündete sie dann: „Die Sonne scheint! Und ich dachte, Schottland wäre grau und nebelig.“ – „Wer hat Ihnen denn so etwas erzählt?“, wollte eine raue und tiefe Stimme wissen und wir zuckten erschrocken zusammen. Mein Großvater stand lächelnd in der Tür. Wir hatten ihn gar nicht kommen hören. Lexa antwortete nicht auf seine schelmische Frage, daher ergriff er wieder das Wort: „Es gibt Frühstück.“ – „Eine angemessene Zeit“, fand Lexa mit einem Blick auf die Uhr. „Gewöhnt euch nicht daran“, sagte mein Großvater schmunzelnd. „Normalerweise beginnt der Tag hier früher. Aber wir wollen eine Ausnahme machen.“

 

Man sah meiner Großmutter an, dass sie absolut nicht einverstanden war mit dieser Ausnahme. Ihr strenges Gesicht sprach Bände, als wir an dem riesigen Esstisch Platz nahmen. Neben den beiden rundlichen Hausmädchen war eine weitere Frau anwesend. Sie beäugte mich neugierig und hielt es nicht für nötig, sich vorzustellen. Mein Großvater übernahm das für sie: „Das ist Misses McNair. Ihr Mann arbeitet als Ausbilder und Bereiter für mich.“ Ich nickte ihr höflich zu und sie brachte ein gezwungenes Lächeln zustande. Unter den wachsamen Augen der Frauen zu frühstückten war mir so unangenehm, dass ich kaum etwas aß. „Zeigen Sie uns Ihr Anwesen, wenn wir hier fertig sind?“, bat Lexa meinen Großvater und er war begeistert von der Idee. Ich war mir nicht sicher, ob Lexa ehrlich daran interessiert war, oder ob sie uns nur aus der Höhle der Löwinnen lotsen wollte. Letzteres gelang ihr jedenfalls zu meiner Erleichterung. Wir verließen das Herrenhaus und traten auf den sonnenüberfluteten Innenhof der Anlage.

 

„Kannst du dich an irgendetwas erinnern?“, wollte Lexa von mir wissen, als wir meinem Großvater über den Hof folgten. „Ich war noch zu klein“, gab ich zurück, ohne lange zu überlegen. Sie sah mich mitleidig an, als sei von mir ohnehin keine vernünftige Antwort zu erwarten gewesen. An beiden Seiten des Hofes zogen sich lange Stallgebäude hin, aus deren Fenstern ein paar neugierige Pferde zu uns schauten. Die meisten von ihnen vergnügten sich aber auf den Wiesen, die rund um das Anwesen lagen. Eine Reithalle befand sich am Ende einer Reihe von Stallungen und ein Reitplatz ein Stück weiter daneben. Desinteressiert ging ich mit meinem Großvater und Lexa durch eine der Stallgassen. „Wir züchten hier schon seit Jahrzehnten erfolgreich Hunter, das sind im weitesten Sinne Jagdpferde“, erzählte mein Großvater stolz. „Sie jagen hier noch zu Pferd?“, hakte Lexa skeptisch nach und er antwortete: „Es ist ein sehr beliebter Sport. Dabei wird kein Tier getötet.“ Erleichtert atmete Lexa auf. Am Rande des Reitplatzes waren Häuser zu sehen. Als hätte er meine Gedanken gelesen, sagte mein Großvater: „Da wohnen unsere Angestellten mit ihren Familien.“ Ich nickte und musste an die seltsame Misses McNair vom Frühstück denken. Auf dem Reitplatz ritt ein schlanker Mann ein weißes kräftiges Pferd. Er winkte uns zu und kam schließlich an den Zaun geritten. Von dem großen Pferd sah er zu uns herab. „Das ist Rory, mein Enkelsohn“, sagte mein Großvater voller Stolz und deutete auf mich. Der Blick des Mannes wurde prüfend, dann sagte er: „Bist groß geworden. Wie alt bist du?“ – „15“, gab ich kühl zurück. „Genau wie Allen und Eileen“, sagte mein Großvater. Und genau das schien dem Mann nicht zu gefallen. „Haben sie sich schon kennen gelernt?“, wollte er wissen und mein Großvater schüttelte den Kopf. Der Mann ritt ohne ein weiteres Wort davon. Wäre es mir nicht egal gewesen, hätte ich gesagt, dass die Schotten extrem seltsam waren. Bei uns in New York hätte man ihr abweisendes Verhalten durchweg als grob ungehobelt bezeichnet. Hier schien es normal zu sein. Oder mochte mich nur einfach niemand? Die Leute auf dem Hof warfen mir seltsame Blicke zu. Was hatten sie denn erwartet? Dass ich im Jagddress mit polierten Lederstiefeln über den Hof stolzieren würde? Mein Großvater grüßte und wurde gegrüßt. Aber er stellte mir kaum jemanden vor. Auf dem Hof sprach Misses McNair leise mit einer anderen Frau, die mir auf Anhieb sympathischer erschien, als alle anderen. „Wollen wir dem Getuschel mal gleich ein Ende bereiten“, beschloss mein Großvater und ging auf die beiden Frauen zu.

 

Die freundliche Frau wurde mir als Misses McFarlane vorgestellt. Sie arbeitete als Bürokraft für meinen Großvater und lächelte mich an: „Wie geht es dir denn?“ Eine schwierige Frage für jemanden, dessen gesamtes Leben gerade auf den Kopf gestellt wurde. „Ganz gut“, behauptete ich und Lexa antwortete für mich, als wäre ich ein kleines Kind: „Wir sind gestern erst angekommen. Es ist noch ein bisschen früh, aber bisher sieht es gut aus.“ Misses McFarlane nickte und sagte verständnisvoll: „Es ist sicher nicht einfach. Vielleicht fällt es ja leichter, Anschluss unter Gleichaltrigen zu finden.“ Lexa fand das eine tolle Idee. Ich war mir da noch nicht so sicher. Mein Großvater sah mich fragend an. „Möchtest du Allen und Eileen kennen lernen?“, wollte er wissen. Was sollte ich dazu sagen. Mir blieb wohl langfristig sowieso nichts anderes übrig. Warum also nicht schon jetzt die beiden treffen. Wir verabredeten uns alle zum Teetrinken auf der Terrasse des Herrenhauses und ich dachte mit Grauen daran, wie ein Tier vorgeführt zu werden. Lexa versuchte, mich zu beruhigen, und mit mir zu reden. Etwas, woran sie schon etliche Male gescheitert war. Inzwischen beklagte sie sich wenigstens nicht mehr darüber.

 

Die Terrasse war beinahe festlich geschmückt, als wir zum Tee zusammen kamen. Lexa hatte auf Kaffee bestanden und dafür einmal mehr die Rolle der Geächteten übernommen. Wir saßen steif zusammen, bis die Hausmädchen eine dreiköpfige Familie zu uns führten. Es war der Mann vom Reitplatz, seine Frau vom Frühstück und ein Junge in meinem Alter, der mir als Allen vorgestellt wurde. Viel geredet wurde noch immer nicht und dann tauchte die sympathische Misses McFarlane mit ihrem Mann, ebenfalls ein Trainer der Pferde meines Großvaters, und ihrer Tochter auf. Sie hieß Eileen und war auf den ersten Blick genauso nett wie ihre Mom. Dennoch kamen wir nicht wirklich ins Gespräch. Irgendwann wurde es meinem Großvater zu dumm und er ergriff das Wort: „Wir wollen Rory ganz herzlich bei uns willkommen heißen! Auch, wenn es keine schönen Umstände sind, die uns wieder zusammen geführt haben, sind wir doch froh, dass Rory bei uns ist.“ Diese Meinung teilten am Tisch nicht alle. Um das peinliche Schweigen zu brechen, beschloss Lexa, eine peinliche Ansage zu machen: „Ich bin Lexa, arbeite für das Jugendamt in New York und kümmere mich um Rory, seit seine Mom vor zwei Wochen gestorben ist. Wenn hier alles gut läuft, sind Sie mich in ein paar Tagen wieder los.“ Wenigstens schaffte sie es so, den steifen Schotten ein paar Lacher abzugewinnen. „Ihr könnt euch vielleicht nicht daran erinnern, aber ihr habt als Kinder schon zusammen gespielt, wenn Rory zu Besuch mit seinen Eltern hier war“, berichtete Misses McFarlane. Daran konnten wir uns wirklich nicht mehr erinnern. Schottland war für mich immer sehr weit weg gewesen. Mom hatte nie viel darüber geredet und seit Dad uns verlassen hatte, waren wir auch nicht wieder dort gewesen. Das war schon unendlich lange her. „Kannst du reiten?“, wollte Eileen wissen und sah mich herausfordernd an. „Ein bisschen vielleicht“, murmelte ich. Die Frage war, wollte ich reiten? Aber was sollte man hier sonst tun? Lexa warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu, als wollte sie sagen: „Eileen versucht, mit dir zu reden. Sei kein Idiot, lass sie nicht abblitzen!“ Also gut, probieren konnte ich es ja mal. „Ich saß schon ein paar Mal auf dem Pferd, als ich noch kleiner war“, erklärte ich dem Mädchen. „Dann kommst du bestimmt schnell wieder rein“, glaubte mein Großvater. „Wenn du möchtest, suchen wir dir ein super Pferd aus.“ – „Ja, mal gucken“, murmelte ich. Eines nach dem anderen. Eileen lächelte mich an und fragte: „Weißt du schon, in welche Kurse du kommst?“ – „Ehrlich gesagt weiß ich noch nicht einmal, auf welche Schule ich gehen werde“, gab ich zurück. „Wick High School“, antwortete überraschenderweise meine Großmutter. „Du wirst morgen angemeldet.“ Das war sowohl mir, als auch Lexa neu, und sie war nicht begeistert davon, dass sie in eine solche Entscheidung nicht einbezogen worden war. „Es ist eine von nur zwei Secondary Schools in der Grafschaft Caithness“, fügte meine Großmutter hinzu, bevor Lexa sich auflehnen konnte. Dann kam wohl keine andere in Frage.

 

Mister McNair beschloss, das Thema zu wechseln, und die Stimmung endgültig zu killen: „Wo wurde deine Mom beerdigt, Rory?“ Lexa schien einschreiten zu wollen, entschied sich aber dagegen, als ich ganz ruhig antwortete: „In einem anonymen Grab in New York.“ – „Warum nicht hier?“, fragte er weiter. „Sie wollte es so, sie liebte New York“, sagte ich tapfer. „Kam sie deshalb nie zurück?“, setzte Mister McNair noch einen drauf. „Wie meinen Sie das?“, fragte ich etwas verwirrt zurück. „Sie hätte sich verabschieden können, als sie ihre Diagnose bekam. Wir dachten, nachdem dein Vater sie verlassen hatte, würde sie zurückkommen“, erklärte der Mann. Meine Großmutter sah mich beinahe böse an, als sie meinte: „Dein Vater hat sie mit nach New York genommen und ab da waren wir ihr alle nicht mehr wichtig.“ Ich hätte ihr gern widersprochen, aber ich wusste, dass Mom sowohl meinen Dad, als auch New York mehr geliebt hatte, als ihre schottische Heimat. Was nicht hieß, dass sie ihre Eltern nicht geliebt hatte. Meine vorwurfsvolle Großmutter lieb zu haben, war allerdings schon eine Herausforderung. Ich ahnte, was sie mir sagen wollte: Jahrelang ließ sich meine Mutter nicht blicken und besaß die Frechheit, allein in New York zu sterben. Und jetzt lieferte sie ihren Sohn hier ab. Daher die Abneigung. Mir wurde Einiges klar. Das Schweigen am Tisch wurde unerträglich, aber ich traute mich auch nicht, etwas zu sagen oder einfach aufzustehen.

 

„Kann ich wieder nach New York?“, fragte ich Lexa verzweifelt, als wir am Abend in meinem Zimmer vor dem kalten Kamin saßen. „Meinst du, es ist so schlimm hier?“, gab sie zurück und ich nickte wortlos. Aber im Grunde wusste ich, dass es keine Alternative gab. Mein Dad war verschwunden, seit er uns eines Tages einfach verlassen hatte. Wir hatten nie wieder etwas von ihm gehört. Er war nicht einmal zu Moms Beerdigung gekommen. Wahrscheinlich hatte er gar nicht mitbekommen, dass sie gestorben war. Moms Freunde hatten ihre Hilfe angeboten und waren für mich da gewesen, bis Mom gestorben war. Aber ich wollte mich dort nicht länger einnisten. Abgesehen davon war es Moms Wunsch gewesen, dass ich bei ihren Eltern leben würde. Wenn ich bloß wüsste, wie sie auf diese Idee gekommen war. Jedenfalls hatte ich ihr das versprochen. Was hätte ich auch sonst tun sollen?

 

Es klopfte an der Tür und mein Großvater kam herein. Hinter ihm trug eines der Hausmädchen ein Tablett mit leckeren Kleinigkeiten herein. Sie stellte es auf ein Tischchen neben dem Kamin und ging wieder. „Darf ich mich zu euch setzen?“, fragte mein Großvater und wir nickten. Er nahm langsam auf dem dritten Sessel Platz und sah mich eindringlich an. „Ich hatte befürchtet, dass deine Großmutter so reagiert“, sagte er entschuldigend. „Aber ich dachte, die anderen wären rücksichtsvoller.“ – „Sie hassen mich und Mom“, sagte ich leise und er wehrte ab: „Nein, gar nicht!“ Fragend sah ich ihn an und er erklärte: „Sie alle kannten deine Mom schon seit ihrer Kindheit und hatten sie gern. Deshalb waren sie so traurig, als sie mit deinem Dad nach New York ging. Wir dachten alle, deine Mom würde zurückkommen, als dein Dad sie verließ. Aber wir haben sie nie wieder gesehen und jetzt ist sie tot.“ – „Hat sie sich wirklich nicht von euch verabschiedet?“, wollte ich ungläubig wissen. „Von mir schon, aber von allen anderen nicht. Sie wusste, dass sie ihr sowieso nie verziehen hatten, dass sie nach New York gegangen war. Du hast es ja gerade selbst erlebt. Darauf hatte sie keine Lust. Ich habe niemandem verraten, dass ich ein paar Mal mit ihr telefoniert habe. Aber ich habe deiner Mom versprochen, mich gut um dich zu kümmern“, erklärte mein Großvater mit Tränen in den Augen. „Dann war es deine Idee, dass ich hier her kommen sollte?“, hakte ich nach und er nickte: „Ja, du bist alles, was wir noch von deiner Mom haben, und wir sind das, was von deiner Familie übrig geblieben ist.“ Da hatte er wohl Recht. „Deine Großmutter sieht in dir vor allem deinen Dad, der ihr ihre Tochter weggenommen hat. Sie braucht noch Zeit, um das alles zu verarbeiten“, entschuldigte er sich für seine Frau. Dann sprach er etwas leiser weiter: „Ich sehe in dir viel mehr deine Mom und ich würde mich freuen, wenn du hierbleiben würdest.“  Was sollte ich sagen, ich hatte es Mom versprochen und meinen Großvater mochte ich schon jetzt. Im Grunde erinnerte er mich genauso an Mom, wie ich ihn auch. Wir lächelten uns an und mussten nichts mehr sagen. Wir würden es versuchen, ich würde bleiben.

 

„Die Schule geht nächste Woche wieder los, also wird es höchste Zeit, dass du angemeldet wirst“, fand mein Großvater. Seit unserem Gespräch am Vorabend war er noch aufgeregter, als zuvor. Er bestand sogar darauf, dass Lexa und ich ihn Rowan nennen sollten. Diese amerikanische Sitte, wie sie es nannte, trug nicht gerade dazu bei, die Stimmung meiner Großmutter zu heben, aber das war ihm egal. Er freute sich einfach, dass ich da war-der einzige Sohn seiner einzigen Tochter. „Männer sind sooo simpel“, hatte Lexa gesagt. Rowan, also mein Großvater, bestand außerdem darauf, Lexa und mich nach Wick zu fahren. „In der ganzen Grafschaft gibt es nur zwei Secondary Schools“, wiederholte er unterwegs, was meine Großmutter schon erwähnt hatte. Wick High School bestand aus mehreren Gebäudeteilen, die unterschiedlichen Zeiten entstammten. Rowan zeigte uns einen steinernen Bau und erklärte: „Das ist ein Teil der Schule aus ihrem Gründungsjahr 1910. Darin finden bis heute Kurse statt.“ Ich sah nur kurz hin, denn etwas völlig anderes hatte meine Aufmerksamkeit erregt. Vor der Schule stand eine schwarze Limousine mit verdunkelten Scheiben und glänzte in der Sonne. Bisher hatte ich hier im Norden Schottlands fast nur Geländewagen gesehen.

 

Wir parkten etwas entfernt von dem protzigen Wagen und betraten mit Rowan die Schule. Ich sah mich um und staunte über die traditionellen und beinahe ehrwürdigen Gänge. „Das Schulmaskottchen ist der Rabe“, erklärte Rowan ein riesiges Bild an der Wand. Noch fiel es mir schwer vorzustellen, wie das Gebäude an einem normalen Schultag aussehen würde. Gerne hätte ich einen Blick in einen der Klassenräume geworfen, aber die waren natürlich noch verschlossen. Es war einer der wenigen Tage, an denen ungeplante Neuzugänge wie ich angemeldet werden konnten, da die Schulverwaltung ohnehin schon arbeitete, bevor der Unterricht begann. Schließlich hatten wir das Büro des Schulleiters erreicht. Rowan klopfte an und warf dann einen vorsichtigen Blick durch den Türspalt. Dann öffnete er sie ganz und wir sahen in das Büro. Vor dem Schreibtisch des Direktors standen ein eleganter Mann und ein Mädchen in meinem Alter. „Kommt rein, wir sind soweit fertig“, sagte der Mann freundlich. Rowan und er begrüßten sich wie alte Freunde. Lexa, das Mädchen und ich standen etwas überflüssig herum und wussten nicht genau, wie wir uns verhalten sollten. Diese Sorge nahm uns der elegante Herr schließlich ab und schickte das Mädchen und mich raus, damit die Erwachsenen sich in Ruhe unterhalten konnten. Lexa durfte gnädigerweise bleiben. Ich vermutete, dass sie es mir ersparen wollten,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 28.02.2014
ISBN: 978-3-7368-1538-4

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Anton, der mich zu Red King inspirierte

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