„Nun mach schon, Fleur!“, maulte Vic mit einem Blick auf die Uhr, „Wir kommen wieder zu spät zur Schule.“ – „Ach was“, entgegnete diese gelassen, „Und wenn, dann ist das allein deine Schuld!“ Verständnislos sah der Junge sie an. „Wenn du nicht so langsam wärest, würden wir den Schulweg auch in weniger als sieben Minuten schaffen“, erklärte sie. „Und wenn du nicht so langsam wärest, bräuchten wir gar nicht zur Schule rennen, sondern könnten in Ruhe gehen“, konterte er. „Stell dich nicht so an! Bewegung schadet nicht!“, sagte Fleur und stellte die Dose mit dem Haarspray weg, „Und dir schadet sie schon gar nicht.“ – „Was soll das wieder heißen?“, wollte Vic gespielt gekränkt wissen. „Nichts. Habt ihr meine Schuhe gesehen?“ – „Ja, hier“, meinte Luc, der sich bisher aus dem Gespräch herausgehalten hatte, und deutete in die Ecke. „Die meine ich nicht! Die passen doch gar nicht zu der Hose“, damit lief Fleur in ihr Zimmer. „Weiber!“, fauchte Vic, der die Hand schon an der Türklinke hatte.
Es war doch jeden Morgen dasselbe. Sie trafen sich bei Fleur, um zusammen zur Schule zu gehen. Und das, obwohl sie alle im gleichen Haus wohnten. Für die beiden Jungs war es unverständlich, wieso sie sich nicht unten an der Haustür treffen konnten, aber Fleur hatte es mal damit begründet, sie wolle nicht wie bestellt und nicht abgeholt im Treppenhaus stehen. Totaler Quatsch, dachte Luc oft genug, denn Fleur war sowieso immer als Letzte fertig.
„Los, gehen wir endlich!“, drängte sie nun. „Hey, wie kommt es, dass du schon fertig bist?“, stichelte Vic. „Haha!“, machte sie verächtlich, „Geh du lieber mal wieder zum Friseur, sonst wirst du bald für ein Mädchen gehalten!“ Damit trampelten sie die Treppe runter und liefen los. „Nur noch drei Minuten“, rief Luc keuchend. „Das kann ja nichts werden“, war Vics Meinung dazu. „Labert nicht so viel, lauft lieber!“, befahl Fleur. „Lauft lieber, sagt sie“, jammerte Luc, „Ich bin das ganze Schuljahr noch nicht einmal zur Schule gegangen.“ Dem konnte Vic nur zustimmen: „Ich frage mich, wieso ich keine Eins in Sport kriege.“ – „Weil du zu viel vor dem Computer sitzt und zu wenig Sport treibst.“ – „Ach, sei still, Fleur! Du klingst schon wie mein Vater!“ – „Recht hat er, dein Vater!“, behauptete das Mädchen und legte sicherheitshalber einen Zahn zu, weil man nie wusste, wie Vic reagieren würde. Sein Vater, ein angesehener Tennislehrer, versuchte schon seit Jahren, seinen Sohn dazu zu bringen, irgendeine Sportart zu treiben- vergeblich. Dabei war Vic vielleicht unsportlich, aber auf keinen Fall dick. „Das dick werden kommt schon noch“, sagte Fleur immer, wenn sie ihn damit aufziehen wollte. „Nur noch eine Minute“, rief Luc. Sie überquerten die Seine. Die ersten Touristen standen auf der Brücke und fotografierten um die Wette. „Nur noch 30 Sekunden“, verkündete Luc. Sie rasten am Invalidendom vorbei und drängelten sich durch die Menschenmassen, die aus den Bussen strömten, die von überall her kamen. „Nur noch 20 Sekunden.“ – „Luc, hör auf die automatische Zeitansage zu spielen!“, rief Fleur. Eine Weile liefen sie schweigend weiter, dann sagte Vic: „Nur noch vier Minuten.“ – „Fang du nicht auch noch damit an!“, fauchte Fleur außer Atem, doch Luc meinte: „Vier Minuten bis was?“ – „Bis zu unserer Hinrichtung.“ – „Hä?“, fragte Fleur verständnislos. „In etwa vier Minuten sind wir an der Schule“, erklärte ihr Vic, als würde er mit einem Kleinkind reden. Er behielt Recht. Rund vier Minuten später hatten sie ihr Ziel erreicht.
„So ein Mist! Was haben wir denn jetzt?“, war die erste Frage, als sie den Schulhof betraten. „Fleur, seit fast einem Jahr haben wir jeden Donnerstag in der ersten Stunde Mathe“, sagte Vic im gleichen Ton. „Gut zu wissen, du superlahmes Superhirn“, zischte sie, „Dann los! Worauf warten wir?“ Kopfschüttelnd folgten die Jungs ihr. Sie hechteten durch die Gänge. „Moulin! Deval! Calvet!“, rief eine dunkle, tiefe Stimme plötzlich. Die Drei blieben stehen. Nur eine Person nannte sie immer beim Nachnamen und das war unglücklicherweise der Schuldirektor. Entschuldigend verzog Fleur das Gesicht, als ihre Freunde sie vorwurfsvoll ansahen. Dann setzte sie ihr bestes Lächeln auf und drehte sich um. „Monsieur!?“ Der kleine, pummelige Mann kam auf sie zu und machte dabei so große Schritte, dass es schon wieder lächerlich aussah. Aber nach Lachen war den Dreien wirklich nicht zumute. „Seit wann wird im Schulgebäude gerannt?“, fragte er sie. Sie hielten es für besser, zu schweigen. „Und wieso seid ihr nicht im Unterricht?“ Die Stimme des Direktors wurde noch tiefer, wie immer, wenn er kurz davor war, einen Wutanfall zu kriegen. „Sagt jetzt nicht, dass ihr schon wieder zu spät gekommen seid“, meinte er, nachdem er festgestellt hatte, dass die drei ihre Rucksäcke aufhatten. Sie blieben weiterhin lieber still. „Ihr seid zu spät?!“, wiederholte der Mann. „Ja, leider“, antwortete Luc halblaut. „Das darf ja wohl nicht wahr sein!“, polterte der Direktor los, „Schon wieder. Aber dieses Mal kommt ihr mir nicht so einfach davon. Ihr bekommt einen Eintrag in eure Schulakten und in der Mittagspause helft ihr zur Strafe Madame Cojean in der Bücherei. Verstanden?“ Sie nickten stumm. „Gut! Und jetzt sofort in eure Klasse!“ Damit waren sie entlassen.
„Seht es doch mal positiv“, meinte Fleur, „So haben wir einen Großteil der Mathestunde verpasst.“ – „Wenn es wenigstens Englisch gewesen wäre...“, maulte Luc leise, als sie ihre Schließfächer öffneten um ihre Mathesachen rauszuholen. „Fleur, beeil dich!“, forderte Vic seine Freundin auf. Sie hatte festgestellt, dass das Bild, das an der Innenseite ihrer Schließfachtür hing, sich wieder einmal gelöst hatte. Und nun befestigte sie es mühsam wieder an seinem alten Platz. „Diese Stars werden bestimmt nicht sterben, weil du ihr Bild nicht mehr an der Tür hast“, meinte nun auch Luc. „Genau“, stimmte sein Kumpel ihm zu, „Aber wir werden sterben, wenn wir nicht gleich im Unterricht sind.“ – „Ihr würdet euch nicht so anstellen, wenn das Bild von euch heruntergefallen wäre“, behauptete Fleur, die nun endlich fertig war und sich mit ihnen auf den Weg zur Klasse machte. „Du hast da doch nicht ernsthaft ein Bild von uns drin, oder?“, wollte Luc wissen. „Doch, ein Kleinkinderfoto“, grinste sie. „Das meinst du nicht ernst“, sagte Vic und sie versprach: „Ich zeige es euch bei Gelegenheit.“ – „Fleur, darf ich nachher ein Foto von dir machen?“, fragte Luc. „Wieso denn?“ – „Na ich will auch ein Kleinkinderfoto von dir haben.“ Vic musste mit seinem Kumpel lachen. Er hatte seine gute Laune wieder- bis sie an den Toiletten vorbei kamen. „Einen Moment“, säuselte Fleur und verschwand auf dem Mädchenklo. „Ich will nur einen Blick in den Spiegel werfen“, rief sie von drinnen. „Chat dreht uns den Hals um, darauf kannst du dich verlassen“, versprach Luc. „Und wenn schon“, schulterzuckend und überraschend schnell kam Fleur wieder. Anscheinend war sie mit ihrem Erscheinungsbild zufrieden. Chat war ihr Mathelehrer und hieß eigentlich Monsieur Lechat. Aber da Fleur fand, dass er sie an eine Katze erinnerte, nannten sie ihn nur noch Chat. Zumindest, wenn sie unter sich waren. Zu ihrem Pech wohnte Chat im gleichen Haus wie sie. Aber immerhin drehte er ihnen nicht den Hals um. Und da es der vorletzte Tag vor den großen Sommerferien war, verkniff er sich sogar die Strafarbeit.
„Mir wäre eine Strafarbeit ehrlich gesagt lieber gewesen, als Sozialarbeiten bei dieser Hexe Cojean“, meckerte Luc, als sie sich in der großen Pause auf den Weg zur Bücherei machten. Sie waren alle drei keine großen Freunde von Büchern und ihre Bibliothekarin war eine furchtbar schlecht gelaunte Frau. Bei ihr in den Pausen zu helfen, war tatsächlich eine Strafe, darin waren sich die meisten Schüler der Schule einig. „Ich hoffe nur, dass Chat das nicht unseren Eltern erzählt“, seufzte Fleur. „Wenn nicht er, dann der Direktor“, maulte Luc. Er hatte sich so auf das Fußballspielen in der großen Pause gefreut und jetzt konnte er bei strahlendem Sonnenschein in der Bücherei vergammeln. „Seid doch lieber froh, dass wir keinen Eintrag ins Zeugnis bekommen können, denn die sind ja schon geschrieben“, versuchte Vic die beiden aufzuheitern. Jedoch erfolglos. „Dafür steht es in den Schulakten.“ – „Ja, Fleur hat Recht. Und das kriegen unsere Eltern sicher auch noch raus“, fand Luc missmutig.
Schlecht gelaunt betraten sie die Bücherei. Madame Cojean schien schon auf sie gewartet zu haben. „Da seid ihr ja endlich! Ich hoffe, ihr habt eure Schultaschen in den Schließfächern gelassen. Ich will nicht, dass sie hier rumliegen“, empfing sie die Drei, die nur nickten und sich ihrem Schicksal ergaben. „Da drüben liegen ein paar Bücher, die ihr jetzt einsortieren werdet!“ – „Ein paar?“, jammerte Fleur, „Die spinnt doch! Wenn das ein paar sind, dann will ich lieber gar nicht erst wissen, was bei der eine Menge ist.“ Dem konnten die Jungs nur zustimmen. „Wer ist bitte so verrückt und leiht sich solche Bücher aus?“, fragte Vic nach einiger Zeit und hielt „Die große Enzyklopädie der Menschheit“ hoch. Seine Freunde schüttelten kichernd die Köpfe, wofür es gleich eine Verwarnung gab- in der Bücherei sollten sie ruhig sein. Fleur fragte sich, ob sie eine Verwarnung für zu lautes Atmen bekommen könnte. „Größere Regale gab es wohl nicht?“, maulte Luc und stellte sich auf das zweite Brett um an die oberen Etagen zu kommen. Ihm war schleierhaft, wie sie überhaupt an die Bücher in den höheren Regalen herankommen sollten. „Was machst du denn da?“, kreischte Madame Cojean in einer so hohen Tonlage, dass Luc prompt erschrocken das Gleichgewicht verlor und rückwärts herunterfiel.
Fleur, die mit Vic sofort um die Ecke gerannt kam, als sie das dumpfe Geräusch gehört hatte, sah ihre Chance. Sie lief zu Luc, kniete sich neben ihn und zischte ihm zu: „Los, tu so, als würdest du heulen!“ – „Wieso?“ – „Mach schon, spiel mit!“, forderte sie ihn auf. Mit einem großen Fragezeichen auf der Stirn versuchte der Junge, ein paar Tränen hervor zu quetschen, während Fleur aufgeregt rief: „Oh nein! Sein Arm ist bestimmt gebrochen! Tut das weh, Luc?“ Dabei zerquetschte sie seinen Arm fast. „Äh ja, das tut weh. Der ist ganz sicher gebrochen“, stammelte Luc wenig überzeugend. Er hatte nicht damit gerechnet, dass das Mädchen so fest zudrücken würde. Ein großer Schauspieler war er außerdem nicht. „Wir müssen sofort ins Krankenzimmer mit ihm!“, meinte Vic, der nun auch verstanden hatte, was gespielt wurde. „Ja, los!“, drängte Fleur und sie halfen Luc hoch. Sie beachteten Madame Cojean nicht, und die schien so geschockt zu sein, dass die gar nichts tat und einfach nur dastand.
Fleur und Vic zerrten Luc mit sich ins Schulgebäude. Dort ließen sie ihn endlich los. „Das wäre geschafft“, seufzte Fleur erleichtert. „Du bist echt genial“, sagte Luc und Vic nickte: „Nicht schlecht, Fleur.“ – „Vielen Dank!“, meinte sie grinsend, „Immerhin habe ich uns auch in diese dumme Lage gebracht. Aber glaubt ihr nicht, dass Madame Cojean nachforschen wird, ob wir wirklich im Krankenzimmer waren?“ – „Das macht sie bestimmt nicht!“, vermutete Vic. „Vielleicht ja doch. Wir sollten wenigstens mal hingehen und etwas zum Kühlen holen“, schlug Luc vor und sie machten sich auf den Weg in Richtung Krankenzimmer. Die Schulkrankenschwester gab ihnen einen Eisbeutel ohne weiter zu fragen, was passiert war. Sie hatte sich um ein paar schwierigere Fälle zu kümmern. Offensichtlich hatte es einen größeren Streit zwischen einigen jüngeren Schülern gegeben.
„Wisst ihr, was wir jetzt machen?“, wollte Vic wissen, nachdem sie wieder in den Gängen des Schulgebäudes herumstrichen. „Nein, was?“ – „Wir gehen in die Schulkantine. Ich habe Kohldampf.“ – „Wie kannst du bei der Hitze Hunger haben?“, fragte Luc ungläubig. „Also echt, ich verstehe das auch nicht“, meinte Fleur. „Kommt ihr trotzdem mit?“, wollte Vic wissen. „Dumme Frage, natürlich kommen wir mit“, drängte Fleur plötzlich, „Wir sollten uns lieber beeilen!“ Damit rannte sie los. „Wo will die denn auf einmal hin? Das ist doch die falsche Richtung“, wunderte sich Luc. „Ja, und wieso hat die es so eilig?“, fragte sich auch Vic. Das Tempo seiner Freundin stresste ihn. Er musste jedoch gar nicht erst auf eine Antwort warten. Der Schuldirektor und Chat kamen die Treppe rauf. „Los, nichts wie weg!“, rief Luc halblaut und sie sprinteten in die Richtung, in die auch Fleur gelaufen war. Wenig später saßen sie in der Schulkantine. „Jetzt haben wir nur noch Kunst“, bemerkte Vic kauend. „Ja, leider“, seufzte Fleur, „Ich hasse Kunst!“ Luc nickte zustimmend und hielt weiter Ausschau nach Chat oder dem Direktor. Hoffentlich liefen sie den Beiden nicht noch einmal über den Weg.
„Oh Mann!“, knurrte Fleur, als sie sich endlich auf den Weg nach Hause machten, „Kunst sollte echt verboten werden.“ – „Schlag das doch mal dem Direktor vor“, meinte Luc. „Hör mir auf. Ich bin froh, wenn ich den nicht sehe.“ – „Ich erwarte, dass ihr euch diese wundervollen Kunstwerke anseht!“, äffte Vic seinen Kunstlehrer nach. Er war ziemlich gut darin, andere Leute nachzumachen. Seine Freunde amüsierten sich bei seinen Vorstellungen immer. „Meint der denn, wir haben in den Sommerferien nichts Besseres zu tun, als uns eine Sonderausstellung im Louvre anzusehen?“, fragte sich Fleur genervt von der Aufgabe, die ihr Kunstlehrer ihnen in der letzten Stunde aufgetragen hatte. „Und dabei sind die Bilder gar nicht so wertvoll. Irgend so ein Maler, den sowieso keiner kennt“, ergänzte Luc. „Aber seine Bilder sind sooo toll!“, sagte Vic mit der Stimme seines Lehrers. „Als ob es uns interessieren würde“, maulte Luc, „Aber einen Aufsatz darüber zu schreiben, was uns die
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Betty J. Viktoria
Bildmaterialien: Betty J. Viktoria
Tag der Veröffentlichung: 25.08.2013
ISBN: 978-3-7309-4612-1
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