My Old Kentucky Home
„Meine Damen und Herren, herzlich willkommen in Bowling Green!“, tönte es aus den Lautsprechern rund um die Rennbahn. Lina, Nele, Jason und Juan setzten sich auf ihre Plätze in der Tribüne. „Hallo! Ihr seid auch hier?“, fragte jemand hinter ihnen. Sie drehten sich um und sahen Mark und Annabelle an. „Hi!“, riefen sie erfreut, „Wir wussten gar nicht, dass du auch hier bist.“ – „Doch, doch. Das war eine spontane Entscheidung.“, gab Mark zu. „Und wer geht für euch an den Start?“, fragte Nele interessiert. „Oh, kein besonderes Pferd.“, wehrte Mark ab, „Es heißt Queeny Baby. Ist eine sechsjährige Stute.“ – „Wie heißt euer Pferd?“, wollte Annabelle von Jason wissen, als die Tiere zum Aufgalopp gingen. „Unseres? Äh, Cappuccino, ein Hengst.“, antwortete Jason etwas verwundert darüber, von Marks Schwester so direkt angesprochen zu werden. „Wie alt ist er?“, fragte Mark. „Fünf Jahre.“, antwortete diesmal Juan, „Er ist ein kleiner Spätzünder. Er kommt erst jetzt richtig in Fahrt. Aber er zählt zu den Hoffnungsträgern bei uns und scheint wirklich etwas draufzuhaben.“ Mark sah dem Hengst nachdenklich nach und murmelte: „Doch, ja. Sieht ganz gut aus.“ – „Er hat eine tolle Farbe!“, rief Annabelle, „So, wie richtiger Cappuccino.“ Die Anderen grinsten, doch Jason sagte: „Stimmt.“ Und dabei klang er sehr ernst. Verwundert sahen die Mädchen ihn an. Sie setzten sich alle hin, als Mister Moure und das Ehepaar Grisham kamen.
„Na, auf wen setzt ihr?“, fragte Mister Grisham die Kinder. Doch sie drucksten nur herum. Dieses Rennen in Bowling Green war kein besonderes, doch es war auch kein schlecht dotiertes. Die Pferde von der Alder Farm und der Stirrup Farm waren dennoch die berühmtesten Tiere auf der Bahn. Viele der Teilnehmer kamen von kleineren Höfen aus der nahen Umgebung. Und für deren Besitzer hatte es eine große Bedeutung, wie ihre Pferde hier auftraten. Doch auch von Lexington war es nicht sehr weit nach Bowling Green. Es waren nur etwas mehr als einhundert Kilometer südöstlich ihrer Heimatstadt. Deshalb hatten sich die Kinder auch entschieden, zu diesem Rennen mit zu kommen. „Die Pferde sind jetzt alle in den Startboxen.“, verkündete der Sprecher den Zuschauern. Es war ein schöner Tag, obwohl der Sommer gerade erst angefangen hatte. Der Himmel war strahlend blau und es war sehr warm. „Eure letzte Chance, Wetttipps abzugeben.“, witzelte Mister Grisham, während seine Frau vornehm durch ihr kleines Fernglas sah. „Euer Pferd ist ziemlich unruhig.“ stellte sie fest, „Es tritt in der Startbox um sich.“ – „Ja, der ist leider etwas ungestüm.“, seufzte Mister Moure, „Auch ein Grund, weshalb wir ihn auf kleinere Rennen schicken. Er soll Erfahrungen sammeln.“ Mister Grisham nickte verständnisvoll. „Vielleicht wird er ja mit dem Alter etwas ruhiger.“, sagte Misses Grisham. „Ja, hoffen wir es.“, murmelte Mister Moure. Gespannt starrten sie auf die Startmaschine. Diese warf die Türen der Startboxen auf und die Galopper schossen heraus. Cappuccino und Queeny Baby verschwanden im Pulk des Mittelfeldes. Die Tiere schoben sich über die Bahn, doch die meisten von ihnen wurden noch zurückgehalten. So machten es auch Queeny Babys und Cappuccinos Reiter. Doch die Zielgerade kam erschreckend schnell näher, weil das ganze Feld ein ungewöhnlich schnelles Rennen lief. Sie konnten alle sehen, wie Jesse, der sich bereiterklärt hatte, Cappuccino zu reiten, sich nach einer Lücke zum Ausbrechen umsah. Und endlich bot sich eine Gelegenheit dazu. Jesse trieb Cappuccino vorwärts, doch der Hengst kam nicht schnell genug los und die Lücke wurde langsam wieder zugeschoben. Cappuccino kam näher und gelangte mitten in ein Gerangel. Da es nach vorn keinen Weg gab, hielt Jesse das Pferd zurück, um einem ernsten Gedränge zu entgehen. „Was macht er denn da?“, wollte Mister Moure verärgert wissen, „Er soll zulegen.“ – „Er kommt nicht aus dem Pulk raus.“, stellte Juan besorgt fest. „So ein Mist!“, schimpfte sein Dad wütend, „Der soll Gas machen!“ Doch Jesse konnte kein Gas machen, weil er nicht weiterkommen würde. Cappuccino jedoch wurde unruhig und als es in den letzten Bogen ging, war er von allen Seiten eingekesselt. Vor ihm lief Queeny Baby, neben ihm ein anderes Pferde und schräg hinter ihm noch ein weiteres. Und rechts von ihm verlief der Innenzaun. „Wie soll er denn da rauskommen?!“, fragte Juan sich. Sie waren gespannt, was Jesse nun tun würde. Doch eigentlich gab es im Moment nichts, was er hätte tun können. Er hatte keine Möglichkeit, seine Position zu verlassen. „Ich glaube, Cappuccino wird unruhig.“, murmelte Nele und sah wie gebannt auf die Bahn. Sie hatte Recht. Jetzt erkannten es auch die Anderen. „Das sieht gefährlich aus.“, stellte Misses Grisham fest, die wieder durch ihr Fernglas blickte. Jason lehnte sich nach vorne, um besser sehen zu können. Und plötzlich geriet der unruhige Hengst in Panik. Er versuchte, auszubrechen, doch Jesse hielt ihn fest, so gut es ging. Er wollte nicht, dass Cappuccino nach vorne schoss und eine Karambolage mit den Pferden vor sich hervorrief. Doch auch der Hengst gab nicht auf. Er ließ sich nicht festhalten, sträubte sich gegen die Hand seines Jockeys. „Halt ihn fest! Halt ihn fest!“, rief Mister Moure, auch wenn ihm klar war, dass Jesse ihn nie hören würde, „Lass ihn nicht los!“ Das hatte Jesse auch gar nicht vor. Er gab sich alle Mühe, den Hengst nicht losrennen zu lassen. Aber Cappuccino schlug mit dem Kopf und machte einen kleinen Bocksprung aus vollem Tempo. Und plötzlich strauchelte er und stürzte ungebremst in den Innenzaun der Rennbahn.
Nele entfuhr ein spitzer Schrei, Lina schlug erschrocken eine Hand vor den Mund. Jesse flog in einem Bogen vom Pferd und landete auf der Innenbahn. Cappuccino lag am Boden. „Steh auf!“, hauchte Jason flehend. Mister Moure rannte fluchtartig von der Tribüne. „Los, kommt!“, rief Juan und die Kinder folgten dem Mann so schnell sie konnten. Die anderen Pferde waren längst am Ziel angekommen. Mister Moure lief durch das Tor, das zur Rennbahn führte, überquerte diese und rannte zu dem gestürzten Pferd. Die Kinder hatten gar nicht gewusst, dass der Mann so schnell laufen konnte. Jesse stand schon wieder, aber er hielt sich den Arm. „Bist du okay, Jesse?“, fragte Mister Moure besorgt. „Ich glaube, ich habe mir den Arm gebrochen.“, seufzte der, „Aber ich hatte noch Glück. Wenn ich nicht runtergefallen wäre, hätte es wohl richtig schlecht für mich ausgesehen.“ – „In Ordnung. Geh lieber zu den Sanitätern!“, sagte Mister Moure zu seinem Jockey und schickte ihn zu dem Krankenwagen, der gerade angerollt kam. „Was ist mit Cappuccino?“, fragte Jason. Der Hengst lag noch immer am Boden und hatte nach einigen Versuchen, aufzustehen, aufgegeben. „Cappuccino.“, hauchte Juan. Die Tierärzte, die auch endlich eingetroffen waren, knieten nun um den Hengst herum. „Was ist mit ihm?“, fragte Nele ängstlich und packte Juans Arm. „Wir können nicht mehr viel machen.“, sagte einer der Tierärzte leise zu Mister Moure. Doch die Kinder hatten es trotzdem gehört. „Können Sie ihn nicht noch hier wegholen?“, wollte der Gestütsbesitzer wissen. „Wir können es versuchen.“, sagte der Tierarzt, „Aber das wird nicht einfach. Wollen Sie das dem Tier antun?“ – „Ja, ich will nicht, dass es hier vor allen Leuten passiert.“ – „In Ordnung.“ – „Wenn Sie es für total unsinnig halten, lassen Sie es, aber ich würde mich schon freuen, wenn er es in eine Box schaffen würde.“ – „Geht klar!“ Mister Moure sah die Kinder an und sagte: „Ihr geht lieber!“ Juan wollte sich noch einmal umdrehen, als sie gingen, doch Nele hinderte ihn daran, da sie sowieso noch seinen Arm umklammert hatte. „Lass es lieber!“, flüsterte sie und er nickte.
Vor dem Parkplatz der Pferdetransporter blieben sie stehen. Keiner wusste, was er sagen sollte. Deshalb war es ihnen ganz recht, dass Mark zu ihnen kam. „Wie geht es Cappuccino?“, fragte er vorsichtig. Jason schüttelte langsam den Kopf. „Und Jesse? Ist er schwer verletzt?“, hakte Mark weiter nach. „Nein, zum Glück nicht. Er hat sich wahrscheinlich den Arm gebrochen.“ – „Das geht ja.“ Wieder standen sie eine Weile schweigend da und sahen zu Boden. Dann deutete Jason hinter seinen Bruder und stammelte: „Da ist Cappuccino.“ Sie drehten sich alle um und sahen, wie der Hengst sich vorwärts schleppte. „Das kann man ja nicht mit ansehen.“, seufzte Jason und steuerte das Pferd an. Vorsichtig folgten die Anderen ihm. „Das schafft er nie bis in den Stall.“, prophezeite Juan leise. Einer der Tierärzte kam zu den Kindern und sprach Jason an: „Gehört der Hengst deinem Vater?“ – „Ja! Wo ist der eigentlich?“ – „Ich weiß es leider nicht, aber wir kriegen das Pferd nicht mehr in den Stall.“ – „Das sehen wir auch. Aber was tun wir jetzt?“, murmelte Juan, während Cappuccino sich fallen ließ und wieder am Boden lag. „Wir können ihn hier einschläfern!?“, sagte einer der Tierärzte und sah Jason an, als ob er auf seine Zustimmung wartete. Der Junge zuckte zusammen. Sollte er das jetzt etwa entscheiden? Sah ja ganz danach aus. Hilfesuchend blickte er sich nach seinem Bruder um, doch Mark hatte Juan weggeführt, weil er den Anblick wohl nicht mehr ertragen hatte. Das war ja mal wieder typisch. „Er quält sich doch nur noch.“, stellte Lina fest und sah Jason an. Der Junge nickte und sagte dann sehr langsam: „In Ordnung, dann tun Sie, was Sie tun müssen!“ – „Eine gute Entscheidung.“, seufzte einer der Tierärzte. Da war Jason sich gar nicht so sicher, denn schließlich hatte er gerade über Cappuccinos Tod entschieden. „Können wir vielleicht noch irgendetwas für ihn tun?“, wollte Nele wissen. „Ihr könntet ihn streicheln und etwas beruhigen.“ Das ließen sie sich nicht zweimal sagen. Jason kniete sich hin und nahm den Kopf des Hengstes auf seine Beine. Die Mädchen kamen zu ihm und streichelten das Pferd. Dabei beruhigten sie auch sich selbst, denn sie alle kämpften hartnäckig gegen die Tränen. Bald darauf schloss Cappuccino die Augen und lag regungslos am Boden. Jason drückte sein Gesicht an den Hals des Pferdes. Er wollte nicht, dass die Anderen ihn weinen sahen. Doch Lina und Nele ging es nicht anders als ihm. Auch sie konnten die Tränen nicht mehr zurückhalten und standen auf. Nun kam auch Mister Moure angestiefelt. „Was ist los?“, fragte er Juan. Der erklärte es seinem Dad. Mister Moure warf einen Blick auf Jason, dann auf die Mädchen und dann auf Cappuccino. „Eine gute Entscheidung!“, seufzte auch er, „Ging wohl nicht anders. Holt Jason mal da weg und sagt ihm, dass die Entscheidung richtig war!“ Lina und Nele sahen sich an, wischten ihre Tränen weg und gingen zu Jason, der fest in Cappuccinos Mähne gegriffen hatte. „Hey, komm schon!“, sagte Lina leise und Nele murmelte: „Jason, komm hier weg!“ Er schüttelte den Kopf. „Doch. Komm, wir gehen zum Transporter!“, sagte Nele und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Widerwillig drehte Jason sich um und von Cappuccino weg. Dabei wischte er sich schnell durchs Gesicht. „Ist doch nicht schlimm, wenn du weinst!“, versuchte Lina ihm klarzumachen, doch Jason sah sie trotzig an, ohne etwas zu sagen. Dann ließ der Junge sich von ihnen in Richtung Transporter führen.
Als sie auf den Parkplatz gingen, kam Annabelle angelaufen. Als sie Jason sah, blieb sie stehen und blickte ihn verwundert an. „Warum hast du geweint?“ – „Habe ich doch gar nicht.“, log der Junge. „Du siehst aber so aus!“, sagte Marks kleine Schwester hartnäckig. Bevor die Beiden sich in die Haare kriegen konnten, sagte Mark zu Annabelle: „Wo willst du eigentlich hin? Du solltest doch beim Transporter bleiben!“ – „Da ist es aber so langweilig. Ich suche Mom und Dad.“ – „Aber du sollst hier nicht alleine rumlaufen!“, schimpfte Mark. „Jason kann mir doch beim Suchen helfen.“, rief Annabelle. Etwas erschrocken sahen sie Jason an. Der jedoch brachte ein schwaches Grinsen zustande und meinte: „Ja, kann ich machen.“ – „Aber... Jason?!“, stammelte Juan besorgt, doch sein Bruder sagte: „Mister und Misses Grisham werden bei der Siegerehrung sein.“ – „Okay, dann treffen wir uns nachher beim Transporter.“, bestimmte Nele und sie trennten sich. Während Jason und Annabelle den Siegerring ansteuerten, gingen Lina, Nele, Juan und Mark weiter über den Parkplatz zu den Transportern, in denen die Pferde der Stirrup Farm und der Alder Farm angereist waren. Dort blieben sie stehen und sahen schweigend zu Boden. Dann ergriff Nele das Wort und sagte leise: „Es tut mir echt Leid!“ Lina nickte mit den Worten: „Ja, mir auch.“ – „Als ob es für euch weniger schlimm wäre.“, gab Juan zurück. „Na ja, es war ein Pferd deines Vaters.“, sagte Mark, doch Juan schüttelte den Kopf und meinte: „Da spielen die Besitzverhältnisse gar keine Rolle. Das tut jedem Pferdeliebhaber weh.“ Da gaben die Anderen ihm zwar Recht, aber sie waren der Meinung, dass es wohl einen- wenn auch kleinen- Unterschied gab, was die Besitzverhältnisse anging. Auch wenn sie dabei weniger an den persönlichen Besitzanspruch dachten, sondern mehr an das daraus entstehende Verhältnis zu dem Pferd. „Ich wollte vorhin nicht weggehen.“, murmelte Juan nun, dem es jetzt peinlich war, dass er seinen Bruder in der Situation und Entscheidung allein bei dem sterbenden Pferd gelassen hatte. „Ist schon okay.“, wollte Lina ihn beruhigen, doch das war gar nicht so einfach, denn Juan hatte echte Schulgefühle. Die Anderen jedoch konnten das kaum nachvollziehen. Ihnen war es schließlich auch nicht leicht gefallen und sie konnten verstehen, dass es Juan zu viel geworden war. Deshalb war niemand böse auf ihn oder enttäuscht von ihm. Und irgendwie fühlte Juan sich trotzdem mies. Eine ganze Weile warteten sie so auf dem Parkplatz, ohne genau zu wissen, worauf eigentlich, und hingen ihren Gedanken nach. Irgendwie hatten sie sich dieses Rennwochenende schöner vorgestellt. Schließlich kam Jason zurück. „Wo ist Annabelle?“, fragte Mark, bevor jemand etwas sagen konnte. „Ich habe sie bei deinen Eltern abgeliefert.“, antwortete Jason und fügte hinzu: „Dad fragt, ob wir mit dem Transporter zurückfahren wollen, oder mit ihm in der Limousine mitkommen. Was wollt ihr?“ Nachdenklich sahen sie sich an. Sie hatten es toll gefunden, zusammen mit den Pferdepflegern und dem Jockey anzureisen, doch bei dem Gedanken, zurückfahren zu müssen, ohne den vertrauten Geräuschen eines Pferdes aus dem hinteren Teil des Transporters, drehte sich ihnen der Magen um. „Also, ich würde, ehrlich gesagt, lieber mit deinem Dad mitfahren.“, gab Nele halblaut zu. Sie brauchte keine Begründung geben, denn die Anderen konnten das nachvollziehen und waren derselben Meinung. „Dad braucht noch etwas Zeit, um gewisse Sachen zu klären... ihr wisst schon, wegen Cappuccino...“, erklärte Jason, „Aber wir können uns schon zu Dave in die Limousine setzen.“ Sein Bruder und die Mädchen nickten und so machten sie sich auf den Weg zu dem großen, luxuriösen Auto. Mark begleitete sie und sagte: „Denkt nicht mehr darüber nach! Macht etwas Schönes, wenn ihr zu Hause seid. Genießt das Wetter mit euren Pferden im Gelände, oder so etwas.“ – „Ja, danke Mark.“, meinte Lina, „Wir versuchen es.“ Mark grinste leicht und verabschiedete sich dann von ihnen, um zu seinen Eltern zu gehen. „Wir sehen uns Montag in der Schule!“, rief er seinen Freunden noch nach. Die winkten nur dazu.
Wenig später stiegen sie in die Limousine. Es dauerte gar nicht lange, bis Mister Moure ebenfalls kam, einstieg und sich seufzend setzte. Dave, der ihm die Tür aufgehalten hatte, setzte sich hinter das Steuer und fragte, ob er losfahren sollte. Mister Moure gab sein Okay. Das Fahrzeug rollte langsam vom Parkplatz und dann gab Dave Gas, um sie schnell nach Hause zu bringen. Natürlich war die Stimmung richtig mies. Sie sprachen kaum ein Wort und starrten nur vor sich hin. Lina und Nele sahen die meiste Zeit aus dem Fenster, die Jungs betrachteten nachdenklich ihre Schuhe und den Fahrzeugfußboden. Irgendwann jedoch machte Mister Moure den Anfang und sprach die Kinder an: „Tut mir Leid, dass es so schlecht gelaufen ist. Ihr hattet euch das sicher schöner vorgestellt, was?“ – „Ja, ehrlich gesagt schon.“, gab Nele zu. „So etwas passiert nun einmal hin und wieder...“, murmelte der Gestütsbesitzer, „Auch dieser Sport hat etwas Gefährliches.“ – „Dad!“, unterbrach Jason den Mann, „Können wir nicht das Thema wechseln!?“ – „Wieso? Du hast das doch ganz gut gemacht.“, sagte sein Dad verständnislos. Jason seufzte tief, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Na gut, dann sprich von etwas Anderem!“, forderte Mister Moure, der das langweilige Schweigen satt hatte. Weil Jason nichts einfiel, sagte Lina etwas: „Wie wäre es, wenn wir nachher wirklich ins Gelände gingen?“ Die Zwillinge gaben unsicher ein paar zögernde Laute von sich, doch Nele meinte: „Eine gute Idee. Das bringt uns bestimmt auf andere Gedanken.“ – „Also, ich gehe auch gleich zu Relic.“, verkündete Mister Moure, womit er wohl sagen wollte, dass auch er die Idee gut fand. „Na ja, wenn ihr meint...“, murmelte Juan schließlich, „Dann komme ich auch mit.“ Jason nickte kaum merklich. „Schön.“, sagte Lina zufrieden, sah aus dem Fenster und stellte fest, dass sie schon auf der Zufahrt der Alder Farm waren. Das beruhigte sie, denn so war die Anspannung der Fahrt endlich vorbei.
Als sie ausgestiegen waren, sagte Nele: „Treffen wir uns gleich im Stall?“ – „Gleich?“, hakte Juan nach. „Ja, wir gehen uns nur schnell umziehen. Dann holen wir die Pferde rein und dann gehen wir ins Gelände.“, bekräftigte das Mädchen. Die Anderen waren einverstanden. Und so hatten sie bald ihre Pferde draußen angebunden und putzten sie. Doch besonders viel Mühe gaben sie sich diesmal nicht dabei, denn es zog sie ins Gelände. Schnell sattelten sie und stiegen auf. Als sie über den Hof ritten, trafen sie Bruce, der mit einer richtig miesen Laune auf das Handy starrte, das er in seiner Hand hielt. „Hey, Bruce!“, rief Nele ihm zu, „Was ist denn los?“ – „Ich habe gerade mit Jesse telefoniert und er hat mir erzählt, was in Bowling Green passiert ist.“, antwortete der Mann. „Ach so. Ja, Cappuccino. Das ist...“, begann Lina, doch der Trainer unterbrach sie: „Was? Cappuccino, der dumme Gaul!? Jesse ist verletzt. Er sollte nächste Woche ein wichtiges Rennen reiten. Jetzt hat er sich bei einem so unwichtigen Rennen verletzt, dieser Dummkopf! Ich habe ihm gleich gesagt, er soll das Rennen nicht reiten, aber auf mich hört er ja nicht!“ – „Nenn nie wieder eines unserer Pferde einen dummen Gaul!“, fauchte Jason böse. Die Mädchen konnten in diesem Moment nicht sagen, wer von den Beiden wütender war. Jason oder Bruce!? Doch anscheinend hatte der Trainer jetzt keine Lust, sich mit dem Sohn seines Arbeitgebers zu streiten, denn er sagte nur betont kühl: „Jason, du musst noch viel lernen.“ – „Na, bestimmt nicht von dir.“, gab der Junge pampig zurück und ritt an. Seine Freunde folgten ihm und sie ließen ihre Pferde am langen Zügel den Weg in Richtung Wald entlang bummeln.
„So ein Vollidiot!“, brummelte Jason, „Was weiß der schon? Als ob Cappuccino Schuld daran hätte!?“ – „Ärgerlich ist es doch aber schon.“, fand Juan, „Jetzt muss ein anderer Jockey Jesses Job bei dem Rennen übernehmen. Und der ist vielleicht nicht so gut, wie Jesse.“ – „Vielleicht ist er aber auch besser als Jesse. Mal daran gedacht?“, gab Jason zurück, „Außerdem muss ich nicht viel lernen, wie Bruce behauptet. Er soll endlich aufhören, uns zu behandeln, als wären wir kleine Kinder.“
Sie hatten den Wald erreicht und trabten an. Im Leichttraben ritten sie den Sandweg entlang und tiefer in den Wald hinein. „Es war echt eine gute Idee, auszureiten.“, gab Juan schon bald zu und atmete die frische, klare Luft tief ein. „Dahinten rechts herum!“, rief Jason plötzlich, der sich mit Mecano an die Spitze der kleinen Gruppe gesetzt hatte. „Warum?“, fragte Lina misstrauisch. „Da gibt es eine neue Strecke mit Geländesprüngen.“, rief der Junge, dessen Laune sich wieder gebessert hatte. „Geländesprünge?“, hakte Juan nach. „Ja! Hast du etwa keine Lust?“ – „Doch, klar!“, sagte sein Bruder und auch den Mädchen gefiel dieser Vorschlag. Ihnen allen war mehr nach Galopp zumute, doch noch mussten sie ein wenig traben. Schließlich sagte Jason: „Es ist nicht mehr weit bis zu den Geländesprüngen. Lasst uns noch einmal kurz angaloppieren!“ – „Okay, aber nur lockerer Kanter.“, beharrte Lina streng. Die Anderen stimmten ihr vernünftigerweise zu. Und so kanterten sie relativ ruhig den Weg entlang. Im leichten Sitz genossen sie den Ausritt noch mehr, als zuvor. Auch ihren Pferden gefiel es, denn sie traten kräftig durch und spitzten aufmerksam die Ohren. „Wie weit ist es denn noch?“, fragte Nele, die neben Jason gekommen war und es nicht mehr abwarten konnte, zur Springstrecke zu kommen. „Nicht mehr sehr weit.“, gab er grinsend zurück, „Nur noch ein kleines Stück.“ Das freute sie. Und der Junge behielt Recht. Schon bald hob er die Hand zum Zeichen, anzuhalten. „Da sind wir!“, verkündete er. Seine Freunde sahen auf den frischen Weg, der in den Wald führte. „Wie hoch sind die Hindernisse?“, fragte Lina vorsichtshalber, „Höher als E oder A?“ Jason lachte und erklärte: „Nur A- Höhe. Das ist zu schaffen.“ – „Klar!“, sagte Nele, der sein herausfordernder Tonfall aufgefallen war, „Warum auch nicht?!“ Bevor sie sich streiten konnten, drehte Lina sich um, weil sie Pferde gehört hatte. Hinter ihnen tauchten Lilli und Vivian auf.
„Oh, Hallo!“, rief Juan. “Hi! Gibt es hier etwas umsonst?“, kicherte Lilli, „Oder warum steht ihr hier so rum?“ – „Wir wollen die neue Geländespringstrecke ausprobieren.“, erklärte Nele. „Ach so, cool!“, sagte Vivian. Jason setzte eine arrogante Miene auf, als er den beiden Mädchen vorschlug: „Wieso kommt ihr nicht einfach mit? Die Strecke soll ganz toll sein.“ – „Nein danke!“, wehrte Lilli ab, „Das Hindernis da drüben sieht zumindest ziemlich hoch aus.“ – „Das ist nur A.“, grinste Jason. „Ja, klar... aber wir reiten nur Kleinpferde.“, gab Vivian zu bedenken, „Und wir sind auch nicht solche Geländespringfans.“ – „Zu schade.“, fand Jason. Dann wandte er sich an seine Freunde: „Geht es los?“ – „Okay, los!“, stimmte Juan ihm zu. „Darf ich anfangen?“, wollte Jason wissen und sie ließen ihn den Anfang machen. Doch als Jason angaloppiert war und im Wald verschwand, folgten seine Freunde ihm nicht sofort. Nele wandte sich entschuldigend an Lilli und Vivian: „Er hat es bestimmt nicht so gemeint.“ – „Was? Ich habe ihn schon eingebildeter erlebt, aber das ist lange her. Ich dachte, er hätte sich geändert.“, sagte Vivian ein wenig sauer, „Schließlich war er in letzter Zeit eigentlich immer ganz nett.“ – „Deshalb sagt Nele es ja.“, beruhigte Juan sie, „Er hat es sicher nicht so gemeint. Er hat nur einen richtig miesen Tag hinter sich.“ – „Und nicht nur er.“, fügte Lina hinzu, „Es war für uns alle nicht schön.“ – „Das tut mir Leid.“, meinte Lilli ehrlich, „Was ist denn passiert?“ – „Reitet ihr schon mal los! Sonst wundert Jason sich noch. Ich komme auch gleich.“, sagte Lina zu Juan und Nele. Ihre Freundin nickt und trieb ihre Rappstute in den Galopp. Wenig später sahen sie, wie Angel elegant über das erste Hindernis setzte. Nele gab sich alle Mühe, ihr Pferd ruhig zu halten, schließlich kannten sie die Strecke nicht. Doch das war gar nicht so einfach. Während dessen erzählte Lina Lilli und Vivian von dem Rennen in Bowling Green. Schließlich ritt auch Juan an und folgte Jason und Nele. Er hatte mehr Erfolg damit, sein Pferd ruhig zu halten. Lislaine ließ sich leichter kontrollieren. Nachdem Lina Lilli und Vivian alles erzählt hatte, ritt auch sie den ersten Sprung an und folgte ihren Freunden. Lilli und Vivian hatten verstanden, wie es Jason gehen musste. Da verziehen sie ihm den kleinen Anflug von Arroganz.
„Mann, ihr habt euch ja echt Zeit gelassen.“, sagte Jason misstrauisch, als sie schließlich alle am anderen Ende der Springstrecke angekommen waren. „Wir kannten die Strecke ja schließlich nicht.“, redete Nele sich raus. Lina und Juan nickten und Jason glaubte es ihnen. „Dann lasst uns weiterreiten!“, schlug er wesentlich gelassener vor. Seine Freunde nickten und sie machten noch eine relativ große Runde, bevor sie endlich wieder die Alder Farm ansteuerten. „Ich habe ja so keine Lust, morgen zur Schule zu gehen.“, maulte Jason, als sie am langen Zügel im Schritt die Wege zwischen den Alder Farm-Wiesen entlang ritten. Nele stimmte ihm zu, während Lina kritisch sagte: „Stellt euch nicht so an! Es sind ja nur noch ein paar Wochen.“ – „Ja, aber in denen gibt es die volle Ladung.“, beschwerte Nele sich, „Die Lehrer stecken alle Arbeiten in diese letzten Wochen.“ Da gaben die Anderen ihr Recht. Doch in diesem Jahr gab es bisher nicht einmal etwas worauf sie sich in den Sommerferien freuen konnten. Sie hatten nichts geplant. Im Moment sah es so aus, als würden sie hin und wieder zu einem Rennen fahren und sich mit Alex und Mark treffen, oder mit Lilli und Vivian. Aber sonst ließ eigentlich nichts auf einen besonders spannenden Sommer hoffen. Noch jedoch machten sie sich deswegen nicht allzu viele Gedanken, schließlich gab es noch viel zu tun für die bevorstehenden Arbeiten.
Ziemlich mies gelaunt stieg Jason am nächsten Morgen in die Limousine, mit der Dave sie wie immer zur Schule brachte. In der Hand hielt er seine Geschichtsmappe, in die er während der ganzen Fahrt seine Nase steckte. „Dir fällt es ja echt früh ein, zu lernen.“, kritisierte Lina ihn mit hochgezogenen Augenbrauen. Da Jasons Augen schon böse funkelten, antwortete Juan schnell für ihn: „Er hatte eigentlich gar nicht vor, heute zur Schule zu gehen.“ – „Du wolltest schwänzen?“, hakte Lina nach. „Na und?“, fauchte Jason, „Es hätte auch geklappt, wenn Juan mich nicht an Mary verpetzt hätte.“ – „Was?“, war alles, was Lina dazu einfiel. „Ja, sie hätte mir geglaubt, dass ich krank bin! Aber nein, Juan hat mich schön verpetzt.“, meinte Jason wütend. „Meinst du, ich lasse zu, dass du diese Geschichtsarbeit verpasst?! Du hättest ohnehin nachschreiben müssen.“, verteidigte Juan sich. Jason hatte inzwischen auch das Geschichtsbuch aus seinem Rucksack gezogen. „Meinst du, das bringt jetzt noch etwas?“, fragte Lina Jason, der die Augen geschlossen hatte und kaum hörbar ein paar historische Geschichtsdaten runterratterte. Nun öffnete er die Augen wieder, sah sie immer noch sauer an und bemerkte spitz: „Du hast Recht, so wird
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Betty J. Viktoria
Bildmaterialien: Betty J. Viktoria
Tag der Veröffentlichung: 10.01.2013
ISBN: 978-3-7309-1929-3
Alle Rechte vorbehalten
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Für Samson :)