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Die, die aus der Hölle kommen

Prüfend stand ich vor dem Spiegel im Flur und betrachtete mein Gesicht. Meine blauen Augen mochte ich besonders. Und mein Haar, lang und gewellt und brünett. Meine Nase gefiel mir besser, wenn ich meinen Kopf nach links drehte. Aber sonst war ich eigentlich ganz zufrieden. Dennoch konnte ich den letzten Abend nicht so einfach vergessen. Auf der Party war ich gefragt worden, woher ich komme. Und damit war nicht mein Wohnort gemeint. Mit der Antwort „Deutschland“ hatte der Kerl sich nicht zufrieden geben wollen und mir eröffnet, ich sähe russisch aus.

Wie könnte man überhaupt russisch aussehen? Bei einem solchen Vielvölkerstaatwie Russland war das ohnehin keine besonders intelligente Aussage. Waren die eigentlichen Russen als Nachfahren der Wikinger nicht blond und blauäugig? Wie sollte ich dann so aussehen? Hohe Wangenknochen… na gut, ich hatte ich vielleicht. Aber auch wieder nicht sooo ausgeprägt. Nur eben mehr, als andere. Ich drehte mich vor dem Spiegel. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte man mich etwas größer machen können, aber sonst hielt ich mich für einen ganz normalen Westeuropäer.

Zugegebenermaßen war es mir schon ein paar Mal passiert, dass ich auf Russisch angesprochen wurde. Auch einer meiner Dozenten in Osteuropäischer Geschichte hatte mir osteuropäische Wurzeln unterstellt, was ich vehement abgestritten hatte. Nicht, dass ich damit ein ernsthaftes Problem gehabt hätte. Es stimmte meines Wissens nach nur einfach nicht.

Dennoch überlegte ich nun, ob an den Behauptungen der anderen nicht doch ein Funken Wahrheit dran sein könnte. Die Geschichte meiner Familie ist ziemlich verzweigt, doch eigentlich nicht unklar. Ein Teil meiner Vorfahren stammte aus Hamburg und war in die deutschen Ostgebiete abgewandert, um 1945 von dort vertrieben zu werden. Ein anderer Teil war im Dritten Reich als volksdeutsch aus der Ukraine und Lettland nach Westdeutschland gekommen. Ein weiterer Teil wiederum stammte aus dem Herzen des heutigen Niedersachsen. Doch alle, die aus den Ostgebieten gekommen waren, hatten sogenannte Arierausweise erhalten und sahen abgesehen davon auch kein bisschen osteuropäisch aus.

Ich studierte alle alten Unterlagen, die ich nur finden konnte. Von Familienchroniken über Ausweise und Stammbäume bis hin zu den wenigen Fotos, die es gab, suchte ich nach Hinweisen auf mein angeblich russisches Aussehen. Doch es gab keine Hinweise darauf, dass etwas nicht- Deutsches sich in unseren Stammbaum geschlichen hatte.

Wenn es jemanden gab, der mir weiter helfen konnte, dann war es meine Mom. Aus unerklärlichen Gründen wusste sie immer viel über Familiengeschichten, bei denen ich schon nicht mehr durchstieg, und außerdem war ihr Teil der Familie sehr viel undurchsichtiger, als der meines Dads. „Mom, wieso sagen alle, dass ich russisch aussehe?“, wollte ich relativ unverblümt von ihr wissen. „Das sind unsere tartarischen Gene“, grinste sie mich an. „Sehr witzig“, kommentierte ich unbeeindruckt, „Du weißt es also auch nicht.“ – „Genau weiß es keiner“, erklärte sie mir ernsthaft, „Aber es heißt, dass wir tartarische Vorfahren haben.“ – „Echt jetzt?“, mir klappte die Kinnlade runter.

„Erinnerst du dich an deine Uroma, die in München gewohnt hat?“, fragte meine Mom. Ich nickte gedankenversunken. Wir hatten sie mal besucht, aber da war ich noch sehr klein gewesen. „Sie kam auch aus den deutschen Ostgebieten, oder?“, wollte ich wissen. „Ja, das auch“, meinte meine Mom, „Aber weißt du auch noch, wie sie ausgesehen hat?“ Leider wusste ich das nicht mehr. „Sie war relativ klein, hatte dunklere Haut und sehr kleine Augen. Ein bisschen asiatisch sah sie aus, wenn man genau hinsah“, erklärte meine Mom. So hatte ich das als Kind gar nicht wahrgenommen. „Selbst bei ihr hat man das eigentlich kaum noch gesehen“, fuhr meine Mom fort, „Es ist eben ein Gerücht, von dem keiner genau weiß, ob es stimmt.“ Nachdenklich betrachtete ich meine Haut. Sie ist wirklich dunkler, als die der meisten Deutschen. Wenn ich die ersten Sonnenstrahlen abbekomme, sehe ich aus, als hätte ich drei Wochen am Strand verbracht. Sonnenbrand hatte ich trotz allen Leichtsinns noch nie, dabei benutze ich grundsätzlich keine Sonnencreme.
Mein Opa könnte das vielleicht noch wissen, überlegte ich. Bei genauerem Hinsehen hatte auch er ziemlich schmale Augen und die hohen Wangenknochen. Auf meine Frage, ob es stimme, dass wir tartarische Vorfahren haben, sah er nachdenklich aus. Eigentlich war er nicht der ideale Ansprechpartner für ein solches Anliegen, denn er war-vorsichtig gesagt-altmodisch und konservativ und hatte seine jüngste Tochter aus der Familie verbannt, nachdem sie einen farbigen englischen Soldaten geheiratet hatte. Er überlegte lange, bis er antwortete: „Das ist ein Gerücht, ja.“ – „Und stimmt es?“, hakte ich weiter nach. „Das weiß keiner“, behauptete er, „Aber es stimmt, dass sich die Tartaren dort herumgetrieben haben, wo ich herkomme.“

Entweder wusste er es nicht, oder er wollte es mir nicht erzählen. Ich überlegte und fragte dann: „Du sprichst doch auch Russisch, oder?“ – „Ja, aber das habe ich in der Kriegsgefangenschaft gelernt“, wehrte er ab. Ein weiteres Gerücht in unserer Familie besagt, dass es meinem Opa in der sowjetischen Kriegsgefangenschaft gar nicht so übel ergangen ist, wie anderen. Seine Erklärung dafür lautete immer, dass sich besonders die russischen Frauen, mit denen er eine Zeit lang gemeinsam in der Waschküche gearbeitet hatte, gut um ihn gekümmert hatten. Er erschloss sich das damit, dass er noch relativ jung war und sie vielleicht an ihre eigenen Söhne erinnerte. Vielleicht lag es aber auch an seinem Aussehen, das ihm hier einen kleinen Vorteil in der Behandlung verschafft hatte.

Was von diesem Gerücht der tartarischen Abstammung stimmt, weiß ich noch immer nicht. Aber anscheinend sehe ich anders aus, osteuropäisch oder wie auch immer. Eine Freundin aus Turkmenistan meinte kürzlich, dass es stimmen könnte, da ich ihren tartarischen Freunden ähnlich sähe. Wahrscheinlich bleibt es ein ungelüftetes Familiengeheimnis, aber vielleicht erklärt sich dadurch auch die Affinität meiner Familie zu kleinen, schnellen Pferden ;)



Impressum

Texte: Betty J. Viktoria
Bildmaterialien: Betty J. Viktoria
Tag der Veröffentlichung: 02.12.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Denen, die aus der Hölle kamen

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