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My Old Kentucky Home

„Kentucky?“, entfuhr es Lina und Nele ziemlich ungläubig. Sie saßen gebannt am Esstisch bei Lina zu Hause, gemeinsam mit ihren Eltern, die dieses Treffen einberufen hatten. Gerade hatten diese ihnen eröffnet, dass sie ein Jobangebot in den USA angenommen hatten. In Kentucky genau genommen. Bisher hatten Linas Eltern und auch die von Nele an einer nahegelegenen Rennbahn mit umliegenden Rennställen gearbeitet. Doch nun sollten sie auf einem der größten Rennställe weltweit arbeiten. „Heißt das, wir ziehen nach Kentucky?“, wollte Lina erstaunt, und für ihre Verhältnisse nicht besonders geistreich, wissen. Ihre Eltern nickten dazu nur. „Aber was wird aus unseren Tieren?“, fragte Nele sofort besorgt. Sie und ihre Freundin besaßen in den Augen einiger Leute einen halben Zoo. Jede von ihnen hatte ein eigenes Pferd- daraus hatte sich ihre Freundschaft ergeben, obwohl sie sich vorher schon gekannt hatten. Dazu hatte Nele noch ein Meerschweinchen und Lina zwei Kaninchen. „Keine Angst, die kommen natürlich alle mit.“, beruhigte Linas Mutter sie mit einem Lächeln. „Wir fliegen ein paar Tage früher, als Lina und ihre Familie. Dann können wir schon mal ein paar Sachen vorbereiten.“, erklärte Neles Vater und Linas Vater ergänzte: „Und wir kümmern uns hier um alles, als Nachhut sozusagen.“ – „Aber wann denn überhaupt?“, stammelte Nele etwas überfordert. „Sobald eure Sommerferien begonnen haben.“ Das war nun wirklich nicht mehr lange hin.

Die Zeit bis zu den Sommerferien verging wie im Fluge und schließlich war es soweit. Nele hatte alle Sachen gepackt und die Sommerferien hatten begonnen. Ihr wäre es lieber gewesen, wenn Lina sofort mitgekommen wäre, aber sie gestand sich ein, dass sie froh sein konnte, dass sie dieses Abenteuer überhaupt zusammen erleben würden. Glücklicherweise verstanden sich ihre Eltern genauso gut, wie sie. Einen Abschied für immer hätten sie sich einfach nicht vorstellen können. Ein paar Tage waren schließlich keine Ewigkeit und vielleicht könnte sie ja tatsächlich schon etwas vorbereiten und Lina helfen, wenn sie ankommen würde. Abgesehen davon hatte sie ja ihre Stute dabei- Angel Charm, eine Rappstute, die von allen nur Angel gerufen wurde.

In Kentucky wurde die Familie mit einem Transporter des Gestütes abgeholt. Die Fahrt führte von Kentuckys Hauptstadt Frankfort bis in die Außenbezirke von Lexington, wo die Zuchtstätte lag. Schließlich fuhren sie die kilometerlange Auffahrt entlang, vorbei an sattgrünen Weiden. Die Wiesen mit dem legendären Bluegrass, dem blau- grün schimmernden Gras, das die Region berühmt gemacht hatte, waren eingefasst von schwarzen, dreireihigen Lattenzäunen. Links und rechts der Auffahrt befanden sich breite Grünstreifen. Dahinter alte, handgemeißelte Steinwälle, die nach irischem Vorbild entstanden waren. Nele war nun froh über ihre gute Englischzensur, denn kaum jemand sprach hier Deutsch. Langsam rollte der Transporter auf den Hof der Alder Farm, die ihr neues Zuhause werden sollte, und kam zum Stehen. Gemeinsam mit ihrem Vater holte Nele ihr Pferd aus dem Transporter. Angel sah sich aufgeregt um und atmete die frische Luft tief ein. Auch Nele blickte sich neugierig um. Sie führte ihre Stute auf dem Hof rum, damit diese nach dem langen Transport etwas Bewegung bekam, und sah sich dabei alles an. Dann brachte sie das Pferd in seine neue Box. Es war eine große Box, mit einem offenen Fenster nach draußen, aus dem die Stute den Kopf stecken konnte. Nele brachte das Namensschild des Tieres an der Boxentür an. „Ajan xx?!“, sagte eine Stimme hinter ihr und deutete auf das Namensschild, auf dem Angels Vorfahren vermerkt waren. Nele drehte sich um. Ajan xx war der Vater ihrer Stute. Vor ihr stand ein älterer Mann, der Angel musterte. „Sie hat Vollblut?“, fragte er. „Ja, fast drei Viertel.“, antwortete das Mädchen mit einer seltsamen Mischung aus Stolz und Unsicherheit. Der Mann nickte und ging davon. Nele fiel ein, dass sie sich in einem Rennstall befand, und war tatsächlich froh über die Abstammung ihrer Stute. Sie gehörte dazu, auch wenn sie kein reines Vollblut war.

Zwischen der Trainingsbahn, den Wiesen, Ställen und Büroräumen lagen die Häuser der Angestellten, sowie die Villa des Gestütsbesitzers und seiner Familie. Mister Moure hieß der Mann, wie Nele von ihren Eltern erfahren hatte. Zwei der Häuser, die genau nebeneinander standen, waren unbewohnt. In eines der beiden zog das Mädchen mit seiner Familie. Und sie wagte es kaum, sich vorzustellen, dass ihre Freundin wohl direkt neben ihr wohnen würde.

Nun schlenderte Nele durch die Stallgassen und weiter zu den großen Hengstställen. Überall standen die hübschen, langbeinigen Tiere in den klaren Farben. In den Jährlingsställen traf sie auf ein besonders schönes Pferd. Es war ein dunkelbrauner Hengst namens Goodbye`s Power. Dann ging sie in Richtung Trainingsbahn. Sie hatte fast normale Rennbahnausmaße, so groß war sie. Ein paar Vollblüter liefen ihre Runden, andere wurden in die Startmaschine gebracht oder am langen Zügel in Richtung Stall geritten, während die Trainer neben den Tieren gingen und den Reitern Anweisungen gaben. Auch am Zaun standen einige Trainer und diskutierten über Pferde und Reiter. Am liebsten wäre sie im Stall geblieben, aber sie musste nach Hause um beim Ausräumen der Sachen zu helfen.

Am nächsten Tag wollte sie mit ihrem Pferd erst mal das schöne Gelände ausprobieren, auf das sie sich besonders gefreut hatte. Bereits sehr früh morgens sattelte sie Angel und verließ wenig später den Hof. Sie ritt zwischen den Wiesen entlang in Richtung Wald. Dort begann sie zu traben. Angel atmete tief die schöne klare Luft ein und schnaubte laut und zufrieden. Es schien ihr zu gefallen. Der Weg, den Nele gewählt hatte, erschien endlos. So war es kein Wunder, dass es sie nicht lange im Trab hielt, sondern sie in einen leichten Galopp verfiel. Das Pferd streckte sich, ohne schneller zu werden. Nach einer Weile im leichten Galopp, ließ Nele ihre Stute wieder traben. Plötzlich hob Angel den Kopf und stellte die Ohren nach vorne. „Was hast du?“, fragte Nele sie und parierte durch. Um die Ecke kamen zwei Jungs auf ihren Pferden, zwei großen Braunen. „Hi!“, riefen sie ihr zu und sie erkannte die beiden. Es waren Juan und Jason, die 13- jährigen Zwillinge des Gestütsbesitzers. Ihre Pferde waren, genau wie Angel, edle Warmblüter. „Hi!“, antwortete nun auch Nele. Sie hatte die beiden am Morgen im Stall getroffen und kurz kennen gelernt. „Wusste gar nicht, dass du auch ins Gelände wolltest.“, sagte Juan, „Du hättest mit uns kommen können.“ Die beiden waren nicht schwer auseinander zu halten. Nele zuckte nur unsicher die Schultern. „Was hältst du von einem Wettrennen?“, fragte Jason ohne große Umschweife. „Gute Idee!“, sagte sie begeistert. Juan gab das Startzeichen und sie schossen los. Die Strecke, die sie gewählt hatten, war nicht besonders lang, doch Nele genoss jeden Galoppsprung. Jason gewann knapp vor Nele und Juan wurde Letzter. „Lislaine ist noch nicht ganz fit!“, meinte Juan, „Sie hat lange gelahmt.“ – „Hast du auch eine Ausrede, warum du nicht gewonnen hast?“, fragte Jason übermütig. „Allerdings!“, sagte Nele, „Angel ist es nicht gewöhnt, auf Sand zu rennen. In Deutschland konnten wir nur auf den Wiesen galoppieren, oder auf den Grünstreifen der Wege zwischen den Wiesen. Die waren auch mit Gras bewachsen. Und die Wege waren betoniert.“ – „So was Blödes!“, fand Juan, „Hier sind die Wege zwischen den Wiesen mit Gras bewachsen.“ – „Hier nutzen ja auch nur Pferde diese Wege und keine Trecker und Land Rover.“, meinte Nele. Sie trabten ein Stück und ritten dann am langen Zügel zum Hof zurück.

Ein paar Tage später war Nele im Stall und wartete auf die Ankunft ihrer Freundin. Endlich fuhr der Transporter, mit dem auch Linas Familie abgeholt wurde, auf den Hof vor den Ställen. Stürmisch begrüßten die Mädchen sich und fielen sich um den Hals. Dann führte Lina ihren Wallach herum, wobei Nele ihr alles zeigte. „Gibt es außer uns Beiden noch Andere, die normal englisch reiten?“, wollte sie wissen. „Ja, Juan und Jason, die Zwillinge des Gestütsbesitzers reiten ihre Warmblüter im Vielseitigkeitssattel. Hinter der kleinen Reithalle sind ein Dressur- und ein Springplatz. Und es gibt hier sogar eine Longierhalle, also einen Round Pen, der den Hengsten als Fitnesscenter dient. Natürlich auch einen Longierplatz, aber der wird selten benutzt.“, berichtete Nele, die sich schon ganz gut auskannte. „Wie sind die Söhne von Mister Moure? Sie sind so alt wie wir, oder?“ – „Ja genau. Die sind ganz in Ordnung. Zum Glück nicht besonders eingebildet.“, erklärte sie, verriet jedoch nichts von ihrem Ritt im Wald mit den beiden. Lina brachte Antonov in seine Box, die neben der von Angel lag. Auf der anderen Seite von Angel standen Lislaine und Flashlight, die Pferde der Zwillinge. „Hier, das sind die Tiere von Juan und Jason.“, meinte Nele und zeigte Lina die beiden Braunen. „Weißt du Genaueres über ihre Rassen?“ – „Also Lislaine ist Juans 9-jährige Stute. Und Flashlight gehört Jason und ist ein 10-jähriger Wallach. Sie sind veredelte Warmblüter. Außer diesen vier Pferden hier gibt es nur reine englische Vollblüter hier.“, erzählte sie, was sie wusste. „Also fast ausschließlich deine Lieblingsrasse.“, stellte Lina grinsend fest. „Genau. Hast du Mister Moure schon getroffen?“ – „Nein, wie ist er denn so?“ – „Ganz nett, eigentlich! Aber er tut immer etwas streng.“ – „Und seine Frau?“, fragte Lina weiter, während sie durch die Stallgassen schlenderten. „Keine Ahnung. Von der habe ich noch gar nichts gehört, geschweige denn sie getroffen.“, musste Nele gestehen, „Lassen wir das. Ich muss dir ein echt cooles Pferd zeigen.“ Sie führte ihre Freundin zur Box von Goodbye´s Power. „Cooler Name, was? Guck ihn dir an!”, schwärmte sie. „Hm...er sieht nicht schlecht aus, aber...“, gab Lina zu und Nele wusste, was jetzt kam. „Aber Antonov ist besser, stimmt´s?“, grinste sie. „Genau! Wie hast du das nur erraten?“, fragte Lina lachend. „Das war nicht schwer- Aber Angel ist auch besser!“, meinte Nele überzeugt. „Lass uns gehen! Ich muss noch alles einräumen und mich um meine Kaninchen kümmern.“, meinte Lina schließlich. Sie wusste, dass ihre Mutter nicht besonders begeistert wäre, wenn sie schon am ersten Tag Ewigkeiten im Stall verbringen würde.

Also machten sie sich auf den Weg nach Hause. „Hm... hast du dein Zimmer dort an dem Balkon?“, fragte Lina, als sie ankamen. „Ja, wieso?“ – „Weil es genau gegenüber von meinem Zimmer ist. Und das bringt mich auf eine Idee.“ Neugierig sah Nele ihre Freundin an und forderte: „Welche? Sag schon!“ – „Warte bis morgen! Treffen wir uns um 8 Uhr hier vor den Häusern?“, schlug Lina vor. „Nur, wenn du mir dann deine Idee erklärst.“, meinte Nele. Lina versprach es und die beiden trennten sich.

Am nächsten Morgen stand Lina schon draußen und wartete auf Nele. „Nicht mal hier bist du pünktlich!“, sagte sie gespielt vorwurfsvoll und ihre Freundin fragte neugierig: „Was ist nun mit deiner Idee?“ – „Erzähle ich dir auf dem Weg zu den Ställen.“, erwiderte die und begann dann endlich zu erklären, was sie vorhatte. Sie wollte eine Wäscheleine von einem Zimmer zum anderen spannen, die sie dann hin und her ziehen und damit kommunizieren können sollten. „Die Idee ist gut!“, meinte Nele grinsend und Lina ahnte ganz zu Recht, dass noch ein Spruch folgen würde. „Dann können wir ja endlich die Buschtrommeln weglegen.“ Lachend beschlossen sie, noch eine Runde über das Gestüt zu drehen, bevor sie sich ihren Pferden widmen wollten. „Hi!“, riefen plötzlich zwei Stimmen hinter ihnen, die Nele bekannt vorkamen. Es waren Jason und Juan. Sie begleiteten die Mädchen auf ihrer Tour und stellten ihnen bei der Gelegenheit auch gleich einige der Trainer vor, die auf dem Gestüt arbeiteten. Dann endlich gingen die beiden zu Angel und Antonov. Nele hatte Lina überreden können, ins Gelände zu gehen, um ihr den herrlichen Wald zu zeigen.

„Wie findest du Juan und Jason?“, wollte Nele von ihrer Freundin wissen, als sie im Schritt das Gelände des Gestüts verließen. „Ganz Okay. Auf jeden Fall nicht eingebildet oder arrogant. Was ist, wollen wir galoppieren?“, schlug Lina vor. „Jetzt schon?“, hakte Nele nach. Normalerweise war ihre Freundin immer darauf bedacht, zur Aufwärmung mehr Schritt und Trab als nötig zu reiten. „Was ist denn mit dir los? Sonst bist du doch nur auf den Galopp im Gelände scharf!?“, gab Lina nur zurück. „Alles klar!“, rief Nele und sie galoppierten los. Der Weg war breit genug, um nebeneinander zu galoppieren, aber sobald Lina zum Überholen ansetzen wollte, wurde Angel von selbst schneller, so dass Antonov zurückfiel. Aber das war nichts Neues und der Galopp gefiel den Beiden trotzdem. Plötzlich spitzten die Pferde die Ohren und hoben die Köpfe. „Was ist das?“, wollte Lina wissen. „Keine Ahnung, lass uns durchparieren!“, bestimmte Nele und das taten sie.

Auf einem kleinen Trampelpfad aus dem Wald kamen zwei Mädchen auf dunkelbraunen Kleinpferden. Sie grüßten die fremden Mädchen freundlich. „Woher kommt ihr?“, wollte eines von ihnen wissen. Nele und Lina stellten sich kurz vor. „Wir sind Lilli und Vivian. Und das sind unsere Amerikanischen Reitponys Balou und King. Sie stehen in einem kleinen Stall am Ende des Waldes.“, antwortete Lilli. Lina nickte stumm. Dann gab es hier also noch andere Ställe. „Es gibt hier einen kleinen Stall, in dem englisch geritten wird, und einen, in dem Western geritten wird.“, erklärte Vivian, als habe sie Linas Gedanken gekannt. „Cool, vielleicht kommen wir ja mal vorbei!“, meinte Nele. „Ja, etwas Unterricht schadet nie.“, fand auch ihre Freundin. Die beiden versprachen, bald vorbei zu kommen. Lilli und Vivian waren begeistert und sie verabschiedeten sich.

„Ob Juan und Jason auch Unterricht bekommen?“, fragte Lina Nele auf dem Rückweg zum Gestüt. „Ich weiß nicht- Ich glaube, nur selten.“, vermutete die, „Wir fragen sie einfach mal!“ Das machten sie, nachdem sie ihre Pferde versorgt hatten. Sie erfuhren von Juan, dass die beiden einen Trainer hatten, der hin und wieder vorbei kam. „Wir drehen aber viel lieber auf den Vollblütern ein paar Runden.“, gestand Juan. „Genau, denn die meisten der Galopper hier gehören unserem Dad!“, fügte Jason überflüssigerweise hinzu. Er war wie immer stolz darauf, dass es hier so wenig Einstellpferde gab, denn die meisten Leute, die in der Region lebten und mehrere Vollblüter besaßen, legten einen eigenen kleinen Stall an. Für sie lohnte sich das eher. „Sagt mal, habt ihr Lust, nächstes Wochenende mit auf ein Rennen zu kommen?“, wollte Juan dann wissen. „Auf jeden Fall!“, rief Nele begeistert. „Gut, es ist in der Nähe von Frankfort und nur eine kleine Vorbereitung für junge Pferde, die noch nicht oft auf der Bahn waren.“ – „Und ein Stutenderby.“, erinnerte Jason seinen Bruder. „Wir müssen nur noch unsere Eltern fragen, ob wir mit dürfen.“, meinte Lina, die ebenfalls begeistert war. Sie war zwar nicht ganz so rennverrückt, wie ihre Freundin, aber zu Rennen zog es sie immer wieder. „Wir könnten uns morgen um 15 Uhr am Abspritzplatz treffen!?“, schlug Juan vor. Die Mädchen waren einverstanden.

Die Zwillinge waren dabei, ihre Pferde zu satteln, als Lina und Nele zu ihrer Verabredung kamen. Die Mädchen hatten ihre Eltern gefragt und durften mitfahren. „Ihr müsst aber früh aufstehen. Um fünf Uhr morgens im Stall!“, meinte Jason. „Das schaffen wir! Wenn Nele nicht rumtrödelt!“, grinste Lina. „Okay! Wisst ihr eigentlich schon, wer für uns startet?“, wollte Juan wissen. Die Mädchen schüttelten die Köpfe. „Im Stutenderby starten Miss Chic Olena und Enya Electric. Und im Rennen für junge Pferde laufen Fanky Beat und Goodbye´s Power.“ – „Goodbye´s Power?“, fragte Nele erfreut nach. „Ja, er ist cool, was?“, meinte Juan und sie stimmte ihm zu. „Wir gehen jetzt ins Gelände! Seid ihr schon geritten?“ – „Ja, wir waren auf dem Dressurplatz.“, antwortete Lina. „Und was macht ihr jetzt?“ – „Wir sehen uns ein paar Vollblüter auf der Bahn an.“ – „Aber vorher stellen wir unsere Pferde raus!“, beharrte Nele. „Ach ja, genau. Bis später!“ meinte Lina zu den Jungs und die beiden Mädchen liefen in den Stall, um ihre Pferde rauszuholen. Den Weg zur Wiese ritten sie ohne Sattel. Dann liefen sie zurück und gingen zur Rennbahn.

„Die gehen ab, was?“, staunte Nele, als drei Vollblüter an ihnen vorbeistoben. „Ja, nicht schlecht. Ich freue mich schon total auf das Wochenende!“, sagte Lina. Dem stimmte ihre Freundin zu. „Es wird sicher toll! Ein ganzes Wochenende in einem Hotel an der Rennbahn!“ – „Einfach genial. Am Freitag fahren wir mit den Hengsten los und am Samstag laufen die beiden.“, schwärmte Nele. „Ja, und am Samstagabend kommen Patsy und Gale, zwei Pferdepflegerinnen, und bringen die Stuten mit, die am Sonntag laufen!“, freute sich Lina. „Und Sonntagabend fahren wir alle zusammen zurück.“ – „Hey, ihr zwei!“, eine fröhliche Stimme holte sie aus ihrer Schwärmerei zurück. Es war Patsy, die nach ihnen rief. „Habt ihr nichts Besseres zu tun, als diese schönen Pferde zu bestaunen?“, fragte sie scherzend und kam auf die Mädchen zu. „Sag mir was Besseres!“, forderte Nele. „Gut! Ihr könntet helfen, die restlichen Stuten mit ihren Fohlen rauszustellen.“, konterte Patsy. „Kein Problem!“, lächelte Lina. Das machte ihnen Spaß und war keine Arbeit.

Nachdem das erledig war, statteten sie ihren Pferden, die ja auch noch draußen standen, einen Besuch ab. „Scheint ihnen zu schmecken, das Bluegrass!“, stellte Lina fest. „War zu erwarten!“, fand Nele.
Dann liefen sie nach Hause, um ihr Wäscheleinenprojekt in Angriff zu nehmen. „Bekommt das Ding noch einen Namen?“, fragte Lina, als ihr neues Kommunikationsmittel fertig war. „Wenn uns einer einfällt, warum nicht?!“, meinte Nele, gestand aber, dass sie im Moment keine Ahnung hatte, wie man das Teil nennen könnte. „Kommt schon noch!“ Da waren sie beide zuversichtlich. Bisher war ihnen doch immer etwas eingefallen.

„Wollen wir heute Lilli und Vivian einen Besuch abstatten?“, schlug Lina am nächsten Morgen vor, als sie ihre Pferde draußen putzten. Nele war einverstanden, denn ein Ausritt in den Wald gefiel ihr besonders. Die warme Morgensonne, die grade ihre ersten Strahlen über den Hof warf, lud geradezu zu einem Geländeritt ein. Die ersten Vollblüter kamen bereits von ihrem Training zurück. Von Juan hatten die Mädchen erfahren, dass das erste Lot im Sommer bereits um halb sechs aufbrach. „Wie können die Zwillinge jetzt noch schlafen?“, fragte sich Nele, als sie aufstiegen und losritten. „Keine Ahnung! Wenn die wüssten, was sie verpassen.“, damit schlug Lina den Weg hoch zum Wald ein. „Wenigstens haben wir jetzt ein Ziel und reiten nicht nur so durch die Gegend.“, freute ihre Freundin sich. Kaum hatten sie den Hauptwaldweg erreicht, trabten sie wie auf ein geheimes Zeichen hin an. Sie kannten sich gut genug, um zu wissen, was der andere dachte, so dass sie nicht erst fragen mussten, welche Gangart geritten werden sollte. In den meisten Fällen waren sie sich darüber ohnehin einig. Sie atmeten die klare Luft ein. Es war einfach wunderschön. Nur das leise Aufschlagen der Pferdehufe auf dem Sandboden, war zu hören. Hin und wieder auch ein Vogel, aber sonst war es still. Auch die Mädchen schwiegen- sie wollten diese Ruhe genießen und nicht stören. „Viel schöner kann es im Paradies auch nicht sein!“, behauptete Lina schließlich und parierte durch. „Gibt es im Paradies Pferde?“, fragte sich Nele. „Könnte es sonst ein Paradies sein?“, fragte Lina zurück, zuckte dann aber die Schultern. Sie wusste es auch nicht so genau. „Hier haben wir Lilli und Vivian getroffen!“, stellte sie fest. Eine Zeit lang blieben sie im Schritt, bis sie sicher waren, den richtigen Weg gefunden zu haben. Dann fragte Nele: „Dreitakt?“ Zur Antwort galoppierte Lina aus dem Schritt an. Ihre Freundin folgte ihr. Es dauerte jedoch nicht lange, bis sie wieder an eine kleine Kreuzung kamen. „Hier muss es entlang gehen.“, meinte Lina mit einem Blick auf ein Hinweisschild. Nele nickte zustimmend und ohne dass eine Absprache nötig war, trabten sie an.

„Da ist es!“ Nele hatte es zuerst gesehen. Vor ihnen lag ein kleines grünes Tal und mitten zwischen den großen Wiesen waren die Stallungen angelegt. „Wenn ich das richtig sehe, ist da jemand auf dem Reitplatz!“, meinte Lina. Nele stellte sich in die Steigbügel und hielt die Hand wegen der Sonne vor ihr Gesicht. Dann sagte sie: „Ich glaube, du hast Recht. Lass uns hin reiten!“ Im Schritt gingen sie den Weg entlang und an einer kleinen Reithalle vorbei.
„Hi!“, rief Lilli plötzlich vom Reitplatz. Sie und ihre Freundin arbeiteten gerade mit ihren Ponys und kamen nun auf die beiden zu. „Wir gehen gleich auf den Springplatz. Habt ihr Lust, mitzumachen?“, fragte Vivian. Nele und Lina nickten begeistert. „Wir springen aber nicht besonders hoch- die Ponys können einfach nicht mehr als E.“, erklärte Lilli, als sie auf den Platz kamen. „Ist doch egal. Unsere Pferde sind auch länger nicht gesprungen, da muss es ja nicht gleich so viel sein.“, wehrte Lina ab.

Das Springen gefiel Reitern und Pferden gleichermaßen. Sie nahmen kleine In-Outs, Kreuze und niedrige Steilsprünge. Und sie genossen jeden Sprung. „Wisst ihr gar nicht, dass es hier draußen auch Geländesprünge gibt?“, wunderte sich Lilli, als sie nach dem Springen noch mit in den Wald kamen. „Ach ja“, fiel es auch Vivian ein, „die gehören der Alder Farm!“ Lina sah Nele fragend an. „Doch. Das wissen wir, aber wir sind erst ein paar Mal im Gelände über feste Hindernisse gegangen.“, erklärte Nele. „Ja, und die waren viel niedriger. Unseren Pferden macht die Höhe zwar nichts, aber wir sind noch nicht so weit.“, meinte Lina. „Ach so. Na gut, Geländesprünge sind ja auch gefährlich.“, stimmte Lilli ihnen zu. „Aber ihr habt wenigstens die Pferde dazu. Mit unseren Ponys können wir das vergessen.“, grinste Vivian und klopfte King den Hals. „Aber ich würde mich da sowieso nicht rüber trauen- egal mit welchem Pferd!“, fügte sie lachend hinzu. Die anderen stimmten ein. „Was haltet ihr eigentlich von Juan und Jason? Die müssen euch doch bestimmt auch schon über den Weg gelaufen sein, oder?“, fragte Lilli. „Ja, klar. Lässt sich wohl schlecht vermeiden.“, meinte Nele grinsend, „Ich finde, sie sind ganz nett.“ – „Na jedenfalls nicht besonders arrogant oder eingebildet.“, fand auch Lina. „Aber sie sind ziemlich von sich überzeugt.“, sagte Vivian entschlossen. „Jason vielleicht manchmal, aber Juan ist echt in Ordnung.“, bekräftigte Nele. Jedenfalls war das bisher ihr Eindruck. „Warten wir ab, wie das Rennen wird.“, meinte ihre Freundin diplomatisch. „Welches Rennen?“, wollte Vivian wissen. „Wir fahren am Wochenende mit den Zwillingen auf die Rennbahn. Irgendwo in der Nähe von Frankfort.“, meinte Lina. „Das klingt doch cool.“, fand Vivian. „Weniger cool ist, dass am Mittwoch danach die Schule wieder anfängt.“, erinnerte Lilli, „Auf welche Schule geht ihr denn eigentlich?“ – „Ich glaube sie heißt Kennedy Academy.“, sagte Nele, „Und ihr? Geht ihr da auch hin?“ Die beiden Mädchen lachten los. „Bestimmt nicht!“, kicherte Vivian, „Hältst du unsere Eltern für Millionäre?“ – „Wieso?“, weder Lina, noch Nele verstanden, was gemeint war. „Na ja, das ist die teuerste Privatschule in Lexington. Da ist Disziplin angesagt.“, meinte Lilli und Vivian ergänzte: „Da sind nur die arroganten Schnösel. Die Kinder von Rennstall- und Rennpferdebesitzern.“ – „Na vielen Dank!“, meinte Lina gespielt beleidigt, „Immerhin sollen wir da auch hin.“ – „Ihr wart natürlich nicht gemeint! Aber die meisten Leute auf der Schule sind echt so.“ – „Ich wusste gar nicht, was das für eine Schule ist.“, gab Nele zu. „Kein Problem, jetzt wisst ihr es. Meint ihr, wir sehen uns vor dem Wochenende noch mal?“, wollte Lilli wissen. „Ich glaube nicht. Sind ja nur noch zwei Tage.“, sagte Lina. „Gut, dann wünschen wir euch schon mal viel Spaß beim Rennen!“, sagte Vivian lächelnd. „Danke. Ciao!“, riefen Nele und Lina im Chor. Sie winkten sich zu und trennten sich dann. Während Lilli und Vivian zurück ritten, schlugen Nele und Lina einen kleinen Umweg ein, bevor sie zum Gestüt ritten.

Als sie dort ankamen, war die Hölle los. In aller Eile raste ein Land Rover mit Hänger auf den Hof. Jason führte in schnellem Schritt einen mächtigen Fuchs über den Hof. Die Ladeklappe des Pferdeanhängers wurde herunter gelassen und zwei Pfleger rissen ruckartig die Trennwand des Doppelhängers zur Seite. „Was ist denn hier los?“, fragte Lina überfordert, doch sie bekam keine Antwort. Jason führte das Pferd in den Hänger, die Klappe wurde hektisch geschlossen und er, sein Dad und die zwei Pfleger sprangen in das Auto vor dem Hänger. Dann raste es mit durchdrehenden Reifen davon. „Was ist los?“, fragte Nele Juan, der an der Wand des Stallgebäudes gestanden hatte und nun gehen wollte. „Dollarkurs, einer unserer besten Deckhengste und Jasons absoluter Liebling nach Flashlight hat eine Kolik. Er wird in die Klinik gebracht.“, damit verschwand Juan. Auch ihm hatte offensichtlich etwas an dem Pferd gelegen.

Während die Mädchen ihren Tieren die Beine abspritzten, meinte Lina: „Seltsam, dass die beiden sich so um Dollarkurs sorgen. Er ist doch für sie nur ein Tophengst unter vielen, oder?“ – „Ich hab dir doch gesagt, dass die Zwillinge nicht so sind, wie man es von ihnen erwarten könnte.“, erinnerte Nele ihre Freundin. „Ja, stimmt. Hoffentlich geht mit dem Hengst alles gut.“, murmelte Lina. „Ja, hoffentlich. Stellen wir gleich unsere Pferde raus?“ – „Ich würde sagen ja!“ – „Dann los! Das Sattelzeug bringen wir danach weg!“, entschied Nele und damit schwangen sie sich auf die Rücken ihrer Pferde. Es hatte ewig gedauert, bis sie das draufhatten, denn die Tiere waren sehr groß. Nun aber, wo sie es konnten, ritten sie ohne Sattel, wo es nur ging. Sehr zum Unwillen ihrer Eltern, die sich oft genug Sorgen machten.

„Was machen wir jetzt?“, fragte Lina, nachdem ihre Pferde draußen auf der Weide standen. „Ich muss nach Hause- leider! Meine Mutter erwartet, dass ich ihr zu Hause bei irgendwas helfe. Außerdem muss ich mich auch noch um mein Meerschweinchen kümmern.“, gestand Nele etwas unmotiviert. „Okay, dann sehen wir uns beim Reinholen!“, meinte Lina und sie verabschiedeten sich.

Am nächsten Tag gingen die Mädchen vor dem Reiten noch zur Trainingsbahn, um die Vollblüter etwas zu beobachten. „Hey, ist das nicht Goodbye´s Power?“, fragte Nele, als der Dunkelbraune an ihnen vorbeischoss. „Das ist er! Den erkenne ich auf 1000 Meilen Entfernung.“, sagte Juan, der plötzlich neben ihnen stand. „Wie geht´s Dollarkurs?“, fragte Lina. „Keine Ahnung, Dad und Jason waren die ganze Nacht in der Klinik. Sie sind dort immer noch und haben sich noch nicht gemeldet.“, sagte Juan. „Hoffentlich geht es ihm gut. Bist du schon geritten?“, wollte Nele wissen. „Ich gehe gleich mit Star Regent auf die Bahn!“, erklärte Juan nicht ohne Stolz. „Hast du es gut!“, seufzte das Mädchen auch sofort. „Wieso kommt ihr nicht mit? Wir gehen mit Lislaine und Flashlight auch manchmal auf die Trainingsbahn. Sie müssen ja nicht gleich alles geben. Nur so zum Spaß!“, meinte Juan. „Hast du eine Ahnung! In Deutschland konnten wir ja nur auf den freien Wiesen galoppieren, da sind sie uns regelmäßig abgegangen. Auf der Bahn können wir die sowieso nicht halten.“, erklärte Lina. „Und wenn schon- es kann doch nicht viel passieren, solange sie nur galoppieren.“, wehrte Juan ab. „Ich bin dabei!“, rief Nele begeistert. Lina jedoch wollte lieber Dressur auf dem Platz reiten. Und auch Juan und Nele arbeiteten eine Weile auf dem Dressurplatz, bevor sie auf die Bahn gingen.

Wie eine Eins ging Angel, Neles Stute, in die Startbox, nachdem Star Regent in der daneben liegenden verschwunden war. Während Juan im Rennsattel kauerte, hatte Angel ihren Vielseitigkeitssattel auf dem Rücken. Nele hatte ihre Steigbügel ins letzte mögliche Loch geschnallt. Dann öffneten sich die Startboxen und die Pferde schossen heraus. Sie streckten sich in schnellen und weiten Galoppsprüngen und gaben in den Kurven noch extra Gas. Wie erwartet ging Angel sofort durch. Nele saß nur noch auf der Stute und versuchte, sie irgendwie zu dirigieren. Star Regent war natürlich als Erster im fiktiven Ziel, aber er befand sich schließlich auch im Training. Trotzdem hatte sich Angel wacker geschlagen und war nur wenige Längen hinter dem Hengst angekommen. „Hey, nicht schlecht!“, rief Chuck, einer der Trainer. Nele dachte, er meinte Juan, aber dann kam der Mann plötzlich auf sie und ihr Pferd zu. Stolz klopfte sie den Hals des Tieres. „Hat sie Vollblut?“, wollte Chuck wissen. „Ja, etwas mehr als 50%.“, antwortete Nele. „Aha!“, murmelte er und ging prüfend um die Stute rum, um sie sich genauer anzusehen. „Hatte sie mal ein Fohlen?“ – „Ja, bei ihren Vorbesitzern.“, mehr wusste Nele leider nicht. Irgendetwas vor sich hin murmelnd verschwand der Trainer im Stall.

Am Abend saßen Nele und Lina auf ihren Putzkisten in der Stallgasse vor den Boxen ihrer Pferde. Etwas weiter weg wurde der große Fuchshengst Washington Boy für sein Training fertig gemacht. Da es so lange hell blieb, gingen viele Tiere erst spät auf die Bahn, wenn es schon etwas kühler war. Eine trächtige Stute wurde umhergeführt und schnaubte zufrieden. Zwei mächtige Rappen kamen aus dem Gelände zurück. Die Vögel zwitscherten, sonst war es recht ruhig. Es war diese wunderbare, ruhige abendliche Stallstimmung, die die Mädchen über alles liebten. „Angel soll von einem Vollbluthengst gedeckt werden.“, eröffnete Nele plötzlich ganz nebenbei. „Und wann das?“, wollte Lina erstaunt wissen. Ihre Freundin hatte schon einige Male davon geredet, die Stute decken zu lassen, aber dass sie das nun wirklich tun wollte, überraschte sie doch etwas- vor allem, da der Vater ein Vollblüter sein sollte. „Wenn sie das nächste Mal rossig ist, falls bis dahin der

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Betty J. Viktoria
Bildmaterialien: Betty J. Viktoria
Tag der Veröffentlichung: 16.06.2012
ISBN: 978-3-86479-868-9

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Anna und Anton :)

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