Captain Kitty zwischen den Welten
Wer schon einmal in Mexiko war, der kennt bestimmt die vielen farbenprächtigen Feiern und Feste, die die Menschen dort veranstalten. Eines davon, das vielleicht nicht allen ganz geheuer sein wird, ist das Fest Dia de los Muertos- also der Tag der Toten. Schon lange bevor die Europäer Südamerika erkundeten, gedachte man dort in verschiedensten Weisen den verstorbenen Ahnen. Bis heute existiert der Glaube, dass die Toten auf vielerlei Arten noch lebendig sind, zum Beispiel in Form von Schutzgeistern. Abhängig davon, wie man gestorben war, gelangte man nach dem alten Glauben in eine der vielen Unterwelten. Der jeweilige Herrscher einer solchen Unterwelt, also einer von mehreren Göttern, erhob damit Anspruch auf die Seele des Verstorbenen. Der Weg in diese Unterwelt jedoch war lang, anstrengend, gefährlich und sehr schwierig.
Captain Kitty war schon lange als eine Katze bekannt, die weder Tod noch Teufel fürchtete. Zahlreiche Abenteuer hatte er erlebt und die Legenden über seine Erlebnisse waren weit verbreitet. Vielen anderen Katzen galt er als furchtloser Held, der vor nichts und niemandem zurückschreckte, der sich gegen Unrecht wehrte und die Schwachen beschützte. Den kleinen Kätzchen erzählte man von Captain Kitty vor dem Kamin, damit sie sich an ihm ein Beispiel nehmen konnten. Und jede der Geschichten ging gut aus, für den bekannten Vierbeiner. Was hingegen nur wenige wussten, war, dass auch ein mutiges Tier wie Captain Kitty nicht immer ganz ungeschoren davon kam, wenn es wieder einmal die Welt- oder zumindest ihre Bewohner- vor großem Unheil gerettet hatte. Es konnte schließlich jedem einmal passieren, in einem Moment der Unachtsamkeit einen unverzeihlichen Fehler zu machen. Dass Captain Kitty trotzdem noch frohen Mutes unterwegs war, lag daran, dass er noch nicht alle seiner Leben aufgebraucht hatte.
Zu Beginn seiner Karriere als Abenteurer hatte Captain Kitty genau genommen nie so richtig nachgezählt. Das kam auch daher, dass man sich nie so richtig darüber einigen konnte, wie viele Leben eine Katze nun eigentlich hat. Manche behaupteten, es seien sieben Leben. Andere wiederum sprachen von ganzen neun Leben. Captain Kitty hatte sich lange damit beruhigt, schon noch genug Leben übrig zu haben. Und so sehr er sich auch bemühte, nachzuzählen, es gelang ihm nicht, zu errechnen, wie viele er schon verbraucht hatte. Darüber wurde ja schließlich nicht Buch geführt. Das hätte er vielleicht aber tun sollen.
Ende Oktober war Captain Kitty schließlich in Südamerika, genau genommen in Mexiko. Eine weltbekannte Katze wie er es war, sollte sich die großen lebendigen Kulturen der Erde einmal angesehen haben, dachte er sich. Und so schlenderte er im goldenen Herbstwetter durch die Straßen einer mexikanischen Stadt und bestaunte die bunten Dekorationen und die vielen Details. Der Tag der Toten wurde so aufwendig gefeiert, dass man meinen konnte, die Toten wären direkt unter den Anwesenden. An jedem Haus hingen gebastelte Skelette, die erschreckend echt wirkten. In den Geschäften gab es das Brot der Toten, das pan de muerto, und an jeder Straßenecke feierte man kleine und große Paraden mit Tanz und Kostümen. Fasziniert schlenderte Captain Kitty durch die Gassen und sah sich die verschiedenen Attraktionen mit großen Augen an. Gerade zog eine große Parade an ihm vorbei. Die Menschen waren in bunte Trachten gekleidet und trugen Puppen mit sich, die an ihre toten Familienmitglieder erinnern sollten.
Captain Kitty zögerte nicht lange, sondern schoss sich spontan dem bunten Zug an. Die Musik war überraschend fröhlich und er bewegte seine Tatzen im Takt dazu. Als er von einem Mädchen eine Blumenkette um den Hals gehangen bekam, fühlte er sich gar nicht mehr wie ein Zuschauer des Rituals, sondern war schon mit Leib und Seele dabei. Der Weg der Prozession führte aus dem Ort heraus, aber Captain Kitty bemerkte das erst, als sie die letzten Häuser hinter sich gelassen hatten. Zwar wunderte er sich ein wenig, doch er beschloss, sich überraschen zu lassen. Nach all seinen haarsträubenden Abenteuern würde ihn eine Totenfeier doch nicht aus der Ruhe bringen- dachte er.
Tatsächlich endete die Parade auf dem Friedhof, der etwas abseits der Stadt lag. Captain Kitty stellte langsam fest, dass er nicht ganz so tabulos mit dem Tod und den Toten umgehen konnte, wie die Menschen es auf den Feiern zum Dia de los Muertos taten. Aber er wollte auch nicht als eine verweichlichte Katze dastehen oder sich gar davonschleichen.
Auf dem Friedhof stand ein mit Blumen verzierter Altar, an dem die Menschen Kerzen anzündeten und ihre Gebete sprachen. Dennoch war die Stimmung gar nicht traurig oder niedergeschlagen, sondern immernoch feierlich. Die Leute wollten sich im Guten an ihre Vorfahren erinnern, ihnen gedenken und ihnen einen Festtag widmen. Captain Kitty war tief beeindruckt und zog sich ein wenig an den Rand der Veranstaltung zurück, so dass er alles genau beobachten konnte, ohne jemanden zu stören. Als der Strom der ankommenden Menschen immer stärker wurde, wich Captain Kitty langsam nach hinten aus. Er war noch immer wie gebannt von den Eindrücken, die sich ihm boten. So achtete er nicht genau darauf, wo er hin trat. Während er immer weiter rückwärtsging, näherte er sich einem tiefen Loch, ohne es zu bemerken.
Mit einem fauchenden Schrei fiel Captain Kitty einige Meter tief in das Loch, das sich hinter ihm aufgetan hatte. Es war zu spät, um sich irgendwo festzuhalten. Katzen landen immer auf den Pfoten? Das hatte Captain Kitty auch gedacht, und es gelang ihm auch normalerweise ohne größere Schwierigkeiten. Aber dieses Mal war er so überrascht, dass er wie ein Sack Katzenfutter hinunter plumpste. Er sah gerade noch, wie sich der Himmel immer weiter von ihm entfernte und stattdessen Dunkelheit um ihn herum erschien.
Schließlich landete er ziemlich unsanft auf dem Hintern. Nicht gerade elegant für eine Katze, aber zum Glück hatte es ja niemand gesehen. Im ersten Moment war Captain Kitty etwas benommen und wusste nicht so recht, wie ihm geschehen war. Aber dann erinnerte er sich wieder daran, dass er eigentlich auf einem Friedhof unterwegs gewesen war. Das bedeutete wohl, dass er in ein Grab gefallen war. Glücklich und beruhigt stellte er fest, dass das Grab noch leer war. Langsam stand Captain Kitty auf und versuchte, sich ein genaueres Bild seiner seltsamen Lage zu machen. Die Wände des Erdloches waren gerade und glatt, also nichts, woran eine Katze hätte hinauf klettern können. Wie sollte er hier wieder heraus kommen?
Noch während Captain Kitty überlegte, was er tun konnte, um sich zu retten, wurde ihm plötzlich ganz unwohl. Vielleicht hatte ihn der Sturz in das Grab doch mehr mitgenommen, als er zunächst gedacht hatte. Oder woher sollte das komische Gefühl sonst kommen? Er hatte sich noch nie zuvor so leicht und schwer zugleich gefühlt. Als sich im nächsten Moment ein Loch in der erdigen Wand des Grabes auftat, wusste Captain Kitty nicht, ob er sich nicht doch ziemlich schlimm den Kopf gestoßen hatte. Aber eigentlich kam ihm alles, was er sah und fühlte, sehr real vor. Aus dem Loch in der Wand, das wie ein Eingang wirkte, schimmerte ein sanftes Licht, das direkt einladend schien. Captain Kitty näherte sich dem vermeintlichen Durchgang vorsichtig und versuchte, einen Blick hinein zu werfen, ohne selbst zu nahe zu treten.
…
Doch auf diese Art konnte Captain Kitty nichts erkennen. Seine Neugierde war nun geweckt und er wollte wirklich gern wissen, was ihn hinter diesem schimmernd leuchtenden Durchgang erwartete. Wie in Trance trat er immer näher und näher, wobei er langsam eine Pfote vor die andere setzte. Als er den Übergang erreicht hatte, zögerte er einen kurzen Moment und machte dann einen großen Schritt hindurch. Urplötzlich schloss sich das Loch in der Erde wieder und Captain Kitty rutschte einen kleinen Hügel hinunter. An dessen Ende angekommen putzte er sich nachdenklich die Pfötchen ab und sah sich suchend um. Da war er doch tatsächlich noch tiefer gefallen, als ohnehin schon durch seinen Sturz in das Grab.
Um Captain Kitty herum schimmerte noch immer das fahle Licht, das nun gar nicht mehr einladend wirkte, sondern zunehmend bedrohlich. Große nahezu schwarze Bäume, die an riesige Mammutbäume erinnerten, standen eng beieinander, doch sie trugen keine Blätter. Dazwischen spannten sich Spinnenweben, deren Größe eindeutig überdimensional war. Captain Kitty hatte kein Interesse, deren Bewohner zu treffen. Ein schmaler Pfad wand sich zwischen den merkwürdigen Gebilden entlang, als gäbe es keinen anderen.
„Hallo!?“, hörte Captain Kitty plötzlich eine Stimme in seiner Nähe. Er blickte um sich und konnte doch nichts erkennen. „Hallo?!“, fragte er dann neugierig zurück und wartete ab, was passieren würde. „Wieso hast du dein Fell noch und ich nicht?“, wollte die Stimme wissen, die sich nicht weiter zu erkennen gab. Captain Kitty sah an sich herunter. Was für eine alberne Frage? Warum sollte er sein Fell denn nicht haben? Das war schließlich nichts, wovon man sich unbedingt trennen sollte. „Wo bist du?“, fragte Captain Kitty in die vermeintliche Ruhe hinein, „Zeig dich mal!“ – „Aber du darfst nicht lachen!“, rief die Stimme zurück. Captain Kitty versprach es hoch und heilig und dann kam ein kleines Tier hinter einem der schwarzen Baumstämme hervorgeschlichen. Es sah ziemlich geknickt aus.
Captain Kitty konnte auf den ersten Blick überhaupt nicht sagen, um was für ein Tier es sich handelte, denn es hatte in der Tat sein Fell nicht mehr, sondern bestand eigentlich nur noch aus seinem knöchrigen Gerippe. Abgesehen davon wirkte es aber noch ziemlich lebendig. „Ich bin Don.“, stellte das Tier sich vor. Auch Captain Kitty verriet seinen Namen und streckte ihm dann zur Begrüßung seine Pfote entgegen. „Was bist du denn für ein Tier?“, wollte er dann neugierig wissen. Don seufzte leise und sagte dann: „Ich war einmal ein Tier. Jetzt bin ich offensichtlich tot. Aber bevor ich in den Gully gefallen bin, war ich eine stolze Ratte.“ – „Bin ich auch tot?“, überlegte Captain Kitty. Don zuckte seine knöchrigen Schultern. Sie konnten es sich beide nicht erklären, warum Captain Kitty sein Fell noch besaß und dennoch an einem Ort war, der das Jenseits oder eine Unterwelt zu sein schien.
„Wollen wir uns auf den Weg machen?“, schlug Don schließlich vor. „Wohin denn eigentlich?“, fragte Captain Kitty zurück. Ihm kam der schmale Pfad nicht gerade vertrauenserweckend vor. „In die richtige Unterwelt.“, erklärte Don, der sich offenbar etwas besser auskannte. Während sie sich gemeinsam auf den Weg machten, erzählte Don Captain Kitty alles, was er wusste. „Wir müssen versuchen, durch die Zwischenwelten in die für uns vorgesehene Unterwelt zu gelangen.“, sagte er nun, und machte sich auch in dem schwarzen Wald kaum Sorgen um unheimliche Kreaturen, die Captain Kitty hinter jedem Baum befürchtete. „Ich bin ja schon tot.“, seufzte Don immer, wenn Captain Kitty sich achtsam umschaute und in den Wald lauschte.
Gemeinsam schafften Don und Captain Kitty es, durch den unheimlichen Wald zu gelangen, ohne dass ihnen etwas noch Unheimlicheres begegnet war. Captain Kitty kam es so vor, als wären mögliche tote oder untote Kreaturen aufgrund des Dia de los Muertos einfach nur gerade nicht zu Hause gewesen. Das war auch keine besonders tröstliche Erklärung, aber er musste gestehen, dass es ihm so durchaus lieber war. Langsam lichtete sich der schwarze Wald und sie hörten ein seichtes Plätschern, das zunehmend lauter wurde. „Das muss der Fluss sein.“, vermutete Don. Als Captain Kitty ihn nur etwas erstaunt ansah, erklärte die Ratte: „So etwas kennt doch jeder. Der Fluss, den man überqueren muss, um ins Jenseits zu gelangen.“ Doch, davon hatte er schon einmal gehört. Aber eigentlich kannte er sich mit den Legenden, die sich um die Welten nach dem Tod rankten, nicht besonders gut aus.
Don hatte Recht und sie kamen an einen reißenden Fluss, dessen andere Seite man nicht erkennen konnte, weil dichter Nebel über dem Wasser stand. „Wie soll man denn da rüber kommen?“, seufzte Don enttäuscht. Captain Kitty war sich gar nicht sicher, ob er überhaupt so gern auf die andere Seite des Flusses kommen wollte. Eine Weile standen sie nebeneinander und starrten wie gebannt auf das dunkle Wasser des Flusses. Dann tauchte plötzlich ein Boot im Nebel auf, das eindeutig schon bessere Tage gesehen hatte. Am Steuer des Bootes stand ein großes, man könnte sagen fettes, Wesen. Es war im Gegensatz zu Don nicht skelettiert und Captain Kitty fragte sich, was das zu bedeuten hatte.
„Guten Abend, ihr Unglücklichen!“, brüllte das große Wesen, dessen Schnauze an die eines Hundes erinnerte, während der restliche Körper mit seinen Schuppen und Zacken etwas Drachenähnliches hatte. Don und Captain Kitty erwiderten den Gruß schüchtern und warteten, bis das Wesen mit dem Boot angelegt hatte. „Ich bin Mayo, ein Dämon.“, stellte es sich vor, als es die verdutzten Blicke der Ratte und der Katze sah. Als die Beiden nur stumm nickten, sprach er weiter: „Wollt ihr auf die andere Seite des Flusses?“ – „Ich glaube schon.“, murmelte Don unsicher, „Ich bin doch tot, oder?“ – „Ja, es sieht ganz danach aus!“, lachte Mayo hemmungslos. Dann wurde er neugierig und sah Captain l Kitty an, als er fragte: „Was ist mit dir passiert?“ – „Das wüsste ich auch gern.“, gab die Katze ehrlich zurück. Mayo kratzte sich nachdenklich am Kinn, fand aber wohl keine Antwort und wandte sich dann wieder Don zu: „Du bist eine Ratte? Bist du Don?“ Die kleine Ratte nickte langsam. Mayo holte ein Klemmbrett hervor und kritzelte darauf herum. Dann sagte er feierlich: „Deine Familie hat ganz schön viel Zeug in dein Grab gelegt. Davon kannst du deine Überfahrt problemlos bezahlen. Komm an Bord!“ Don zögerte noch und fragte: „Was ist mit Captain Kitty?“ Wieder sah Mayo überfordert aus, suchte auf den Zetteln seines Klemmbrettes und sagte dann: „Das weiß ich auch nicht. Jedenfalls wurde er nicht begraben und hat demnach keine Grabbeilagen, die ihm die Überfahrt ermöglichen könnten.“ – „Er muss also hier bleiben? Aber wie lange denn?“, wollte Don wissen. „Vielleicht für immer, wie wir alle!?“, brüllte Mayo vor Lachen.
Langsam kletterte Don auf das Boot. „Tut mir wirklich leid, Captain Kitty!“, rief er der Katze zu, „Aber ich möchte ungern länger als nötig in diesen Zwischenwelten hängen bleiben. Und für mich gibt es obeffenbar kein Zurück mehr.“ – „Mach es gut, Don!“, antwortete Captain Kitty ein wenig traurig. „Viel Glück, Captain Kitty! Und wenn du hier wieder raus kommst, kannst du meiner Familie sagen, dass es mir gut geht!?“, bat Don ihn und winkte von Deck des Bootes. „Das werde ich machen!“, versprach Captain Kitty. Das Boot legte ab und verschwand langsam im Nebel. Auch Mayo winkte Captain Kitty zu und freute sich wohl, hier einen dauerhaften Freund gefunden zu haben, der wie er in der Zwischenwelt gefangen war.
Captain Kitty setzte sich an das Ufer des dunklen Flusses und überlegte. Er war also nicht begraben worden. Vielleicht war er dann auch gar nicht richtig tot. Aber was war er dann? Ein knackendes Geräusch im Geäst ließ ihn aufhorchen. Als er nach oben sah, konnte er etwas Flatterndes erkennen. Hier lebten also doch noch andere Wesen, überlegte er. „Hallo?“, rief er nach einer Weile, nachdem er seinen ganzen Mut zusammen genommen hatte. Urplötzlich verstummten die Geräusche über ihm. Alarmiert stand Captain Kitty auf und rechnete mit einem Angriff, aber der kam nicht. Stattdessen flatterten aus den kahlen Ästen des schwarzen Baumes viele kleine Kreaturen. Die Katze zuckte zusammen, fing sich dann aber wieder, als sie sah, wie unglaublich klein die Wesen waren. Neugierig hüpften sie auf dem Boden um ihn herum und piepsten dabei wild durcheinander. „Hallo.“, probierte Captain Kitty es noch einmal. Wieder wurden sie ganz still und sahen ihn an. Jetzt, wo sie ruhig waren, konnte auch er sie genauer betrachten. Die kleinen Kreaturen waren skelettiert, so wie Don. Aber zusätzlich besaßen sie Flügel. „Ich bin Captain Kitty.“, sagte er ruhig, um sie nicht zu erschrecken. Auf einmal piepsten sie wieder alle durcheinander. Captain Kitty verstand kein Wort. „Der Reihe nach.“, bat er sie verzweifelt und deutete auf einen von ihnen: „Du fängst an!“ Das kleine skelettierte Wesen sprang etwas aus der Gruppe heraus und verkündete: „Wir sind Angelitos!“ – „Was ist das?“, wollte Captain Kitty wissen und wünschte sich, dass Don noch da wäre. „Das bedeutet so viel wie „kleine Engel“. Wir sind tote Tierkinder.“, sagte das Kleine. Captain Kitty sah noch genauer hin und erkannte tatsächlich verschiedene Tierarten in den skelettierten Wesen. „Und ihr habt Flügel?“, hakte die Katze nach. Sie nickten alle brav. Das war ja auch das Mindeste, wenn man schon so früh starb. „Lebt ihr hier?“, wollte Captain Kitty wissen und einer von ihnen sagte: „Nein, wir machen nur eine Pause. Wir kommen vom Dia de los Muertos und haben unsere Familien besucht.“
Während sie noch so zusammen saßen kam Captain Kitty plötzlich eine Idee. Die Angelitos waren zwar klein, aber wenn mehrere zusammen arbeiteten, könnten sie ihm vielleicht helfen, über den Fluss zu gelangen. Einen Versuch war es wert, wie er fand, und so fragte er schließlich: „Könnt ihr über den Fluss fliegen?“ Sie nickten wieder alle. „Und was ist auf der anderen Seite?“, hakte er weiter nach. „Ich weiß nicht, ob wir das verraten dürfen.“, meinte einer der Angelitos leise. Erneut piepsten die kleinen Wesen durcheinander und stritten sich darüber, ob man Captain Kitty etwas anvertrauen sollte, oder lieber nicht. „Wie wäre es mit einer anderen Frage?“, schlug die Katze vor, weil es ihr zu unübersichtlich wurde. Augenblicklich sahen sie ihn wieder neugierig an und Captain Kitty fragte: „Glaubt ihr, dass ihr mich auf die andere Seite bringen könnt?“ Er hätte wissen müssen, dass das Geschnatter damit nur noch schlimmer wurde. Aber noch während er verzweifelt die Pfote an den Kopf legte, wurden die Angelitos wieder ruhig und einer von ihnen verkündete: „Das können wir. Wir sind ziemlich stark für unsere Größe.“ – „Und würdet ihr das auch tun?“, hakte Captain Kitty weiter nach. Die kleinen Wesen nickten aufgeregt.
Kurz darauf segelte Captain Kitty durch die Luft. Mit seinen Krallen hielt er sich an einem Seil fest, das auf der anderen Seite von einigen Angelitos gehalten wurde, die über den Fluss flatterten. Der dichte Nebel umhüllte ihn und er kniff die Augen zusammen, um überhaupt etwas erkennen zu können. Langsam näherten sie sich dem gegenüber liegenden Ufer und Captain Kitty konnte die Konturen einer Stadt erkennen. „Das ist El Copol, die Stadt der Götter des Jenseits.“, piepste ein Angelito, der einmal ein kleiner Vogel gewesen war. „Das sieht ja gigantisch aus.“, fand Captain Kitty tief beeindruckt, als er die pompösen Gebäudekomplexe besser erkennen konnte. „Heute ist hier besonders viel los.“, verriet ein anderer Angelito, der das Skelett eines kleinen Fuchses hatte, „Es ist schließlich Dia de los Muertos, da feiern auch die Größen der Unterwelten.“ Nun fiel es auch Captain Kitty auf, dass die Stadt El Copol festlich geschmückt war. Beinahe so, wie er es auch in dem Mexiko des Diesseits kennen gelernt hatte. Anscheinend feierten die Götter sich selbst ein bisschen. „Von hier aus entscheiden die Götter der Unterwelten, welcher Tote in welche Welt kommt. Es hängt davon ab, wie man gestorben ist, welcher Gott Anspruch auf deine Seele hat.“, sagte ein Angelito, der wie das Skelett eines Hundes aussah.
Am Rande der Stadt landeten die Angelitos mit ihrem Passagier und Captain Kitty bedankte sich bei ihnen für die Hilfe, bevor sie davon flatterten. Wieder überkam ihn dabei ein trauriges Gefühl. Auch, wenn das Leben nach dem Tod anscheinend weiterging, fühlte er sich noch nicht bereit dafür. All diese anderen Tiere hier taten ihm sehr leid. Er verdrängte den Gedanken an die niederschmetternden Unterwelten und machte sich auf den Weg durch die Stadt. Insgeheim hoffte er, Don hier irgendwo zu treffen, aber der war vermutlich schon in einer der Unterwelten verschwunden. Die Gebäude von El Copol waren aus der Nähe noch viel größer, als sie aus der Luft gewirkt hatten. Es reihte sich ein luxuriöser Palast an den nächsten. Alles war eine Nummer zu groß, um real zu sein und Captain Kitty fühlte sich so klein, wie schon lange nicht mehr. Was ihm auch seltsam vorkam war, dass die Straßen der Stadt wie ausgestorben da lagen, aber das war wohl im Jenseits auch kein Wunder. Dennoch waren ihm bisher erstaunlich viele Gestalten begegnet und nun war er ganz allein unterwegs auf den Straßen von El Copol.
Als Captain Kitty hinter sich ein tappelndes Geräusch hörte, glaubte er zunächst, seine etwas überspannten Nerven würden ihm einen Streich spielen. Doch dann entdeckte er hinter einem Hauseingang tatsächlich einen Schatten. Dort musste doch jemand sein. Captain Kitty schlich sich an der Hauswand entlang bis zum Eingang und lauschte dem Gespräch. „Hast du einen Tipp für mich?“, fragte gerade eine Stimme. Eine andere antwortete leise: „Ja, die Rennen sind sowieso manipuliert.“ Captain Kitty lauschte weiter. Das versprach ein sehr informatives Gespräch zu werden. Doch plötzlich stand jemand neben ihm und fragte: „Kann ich dir helfen?“ Erschrocken zuckte Captain Kitty zusammen und fuhr blitzschnell herum. Vor ihm stand eine skelettierte Katze und sie schien einmal eine Katzendame gewesen zu sein. Bevor er etwas sagen konnte, packte die Katze ihn an der Pfote und zog ihn mit sich durch einen Nebeneingang in das große Gebäude. „Hier sind wir ungestört.“, sagte sie zu Captain Kitty, als sie in einem kleinen Garderobenraum standen.
Misstrauisch beäugte Captain Kitty die Katzendame. Aber sie sah nicht besonders bedrohlich aus, wenn man davon absah, dass sie nur noch ein Gerippe war. „Ich bin Missy.“, sagte die Katze freundlich und versuchte wohl ein Lächeln. Captain Kitty stellte sich ebenfalls vor. „Wieso hast du noch Fell?“, wollte Missy dann neugierig und ohne Umschweife wissen. Captain Kitty zuckte die Schultern. Er wusste es ja selbst nicht. „Und was macht ihr hier?“, wollte er dann von Missy wissen. Ihm war noch nicht ganz klar, wo er eigentlich gelandet war. „Das hier ist eine Dämonenrennbahn.“, verriet Missy, „Die Rennen dienen der Unterhaltung der Götter der Unterwelten.“ – „Und die Rennen sind manipuliert?“, hakte Captain Kitty nach. „Ja, das stimmt. Manche der Götter sind ziemlich jähzornig. Damit alle mal gewinnen, gucken wir uns ihre Wetttipps an und sehen zu, dass jeder mal gewinnt und keiner sich zu sehr ärgert.“, erklärte die Katze. „Das heißt, ihr bestimmt hier unten die Ergebnisse…“, überlegte Captain Kitty. Missy nickte und sagte: „Wir sagen den Dämonen dann, wer gewinnen soll. Die Götter haben keine Ahnung.“
Captain Kitty überlegte einen Moment lang. Das musste ihm doch einen Vorteil verschaffen können. „Könntest du mir sagen, wer von den Göttern für einen seltsamen Fall wie mich zuständig ist?“, fragte er Missy und sie meinte: „Das weiß ich nicht, aber im Moment sind sie ohnehin alle zusammen in ihrer Lounge und warten auf den Beginn der Dämonenrennen.“ – „Und da kann ich sie einfach stören?“, hakte Captain Kitty misstrauisch nach. „Ich glaube, die freuen sich sogar über jede Abwechslung.“, seufzte Missy. Einen Augenblick lang standen sie still beieinander und sahen sich an. Missy hatte schon ewig keine richtige lebendige Katze mehr gesehen. Und Captain Kitty war immer noch erstaunt über die skelettierten Gestalten, die hier halbwegs normal lebten. „Du könntest einen kleinen Joker gebrauchen, wenn du dich zu den Göttern des Jenseits wagst.“, entschied Missy plötzlich. Captain Kitty wusste nicht genau, was sie damit sagen wollte, doch sie erklärte: „Ich verrate dir, wer im großen Dämonenrennen gewinnen wird.“ – „Aber hängt das nicht davon ab, wie die Götter wetten?“, hakte Captain Kitty nach. „Normalerweise schon, aber ich mache eine Ausnahme.“, sagte Missy und blätterte in ihren Unterlagen herum. „Sagen wir mal, es gewinnt die Nummer vier.“, beschloss sie dann, „Merk dir das gut. Die Götter sind Spieler. Wenn du etwas von ihnen willst, spiel mit ihnen darum. Am besten mit einer Wette im Rennen.“
Mit sehr gemischten Gefühlen machte sich Captain Kitty auf den Weg zu den Göttern. Er wollte doch endlich herausfinden, was mit ihm los war und warum er überhaupt in dieser Zwischenwelt gelandet war. Den Weg dorthin hatte er sich nach allem, was er erlebt hatte schwieriger vorgestellt. Ohne Probleme ließ man ihn in den riesigen Palast, von dessen Lounge aus man einen direkten Blick auf die Rennbahn der Dämonen hatte. Als er den Raum betrat, in dem die Götter saßen, war er noch erstaunter. Sie lümmelten sich ganz gemütlich auf großen Sofas herum und schienen sich wirklich ein bisschen zu langweilen. Als Captain Kitty die Tür hinter sich schloss, drehten sie sich neugierig zu ihm um.
„Hier ist eine Katze, glaube ich.“, sagte der Sonnengott, der einen riesigen goldenen Reif über dem Kopf trug, „Eine richtige Katze mit Fell.“ – „Ja, auf die habe ich schon gewartet.“, sagte ein anderer Gott, der wesentlich düsterer aussah. Captain Kitty zuckte zusammen, als er das hörte. Er wurde erwartet? Vielleicht hatten sie dann eine einfache Erklärung und eine ebenso schnelle Lösung für einen unglücklichen Ausflug in ihr Reich. „Wie viele Leben hat die Katze denn nun?“, fragte ein Wassergott von seinem Sofa aus und betrachtete Captain Kitty leicht amüsiert. Die Katze musste unwillkürlich an die Angelitos denken, denn die Götter redeten genauso wirr durcheinander. „Warum bin ich denn nun hier?“, wollte Captain Kitty wissen, bevor er in dem ganzen Chaos komplett untergehen konnte. „Du hast alle deine Leben aufgebraucht.“, sagte der dunkel dreinblickende Gott streng, „Alle sieben sind verbraucht. Und dein letztes hast du bei dem Sturz in das Grab verloren.“ So schnell konnte man also ein Leben verlieren, überlegte Captain Kitty. Ihm war gar nicht bewusst gewesen, dass das so schnell gehen konnte. „Aber ich dachte immer, Katzen haben neun Leben!?“, warf der Sonnengott nun ein. „Ich sehe schon, das ist nicht so einfach.“, sagte eine ernste Stimme, die aus einiger Entfernung kam. Aus dem Dunkeln trat eine beeindruckende Gestalt, vor der sogar die anderen Götter Respekt hatten. „Das ist der Boss.“, raunte der Sonnengott Captain Kitty zu, „Sozusagen der Ober- Gott von uns allen. Sein Name ist Ehecat.“
Ehecat war in der Tat eine respekteinflößende Erscheinung, wie Captain Kitty feststellte. Er war unglaublich groß und hatte dunkelgrüne Haut, auf der sich schwarze Muster abzeichneten. Allerdings wirkte er keinesfalls böse. „Es gab ein paar Unstimmigkeiten über deinen Tod.“, sagte er nun zu Captain Kitty, als sei das ein kleiner Fehler, der jedem einmal passieren könnte. „Das habe ich bemerkt.“, seufzte die Katze. Er hatte nun schon so viel mitbekommen, dass die Götter sich ebenfalls uneins darüber waren, wie viele Leben ihm zustanden, bevor er seinen Weg ins Jenseits antreten musste. „Ich muss gestehen, dass wir uns auch noch nicht darüber einig werden konnten, was wir nun mit dir machen. Daher bist du momentan in der Zwischenwelt gefangen, bis wir eine Entscheidung getroffen haben.“, sagte Ehecat langsam. Captain Kitty nahm all seinen Mut zusammen und sagte bestimmt: „Es wäre mir aber wesentlich lieber, wenn wir das jetzt gleich klären könnten. Ich möchte nämlich ungern in der Zwischenwelt herum hängen.“ Er hatte das Gefühl, dass die Götter andere zeitliche Dimensionen hatten, als die Normalsterblichen. Und es war gar nicht in seinem Sinne, die nächsten einhundert Jahre vergeblich auf eine Entscheidung zu warten. Außerdem wollte er gern wieder zurück in die Welt, aus der er gekommen war.
„Ich wüsste nicht, wie man dieses Problem schnell aus der Welt schaffen sollte.“, seufzte Ehecat ohne Eile. Ihm war die Angelegenheit insgesamt wohl relativ egal. „Wie wäre es mit einer Wette?“, schlug der Sonnengott vor, noch ehe Captain Kitty den Vorschlag machen konnte. „Gar keine schlechte Idee!“, fand Ehecat, „Du sollst eine Chance haben, kleine Katze. Such dir einen Dämon aus dem Hauptrennen aus, auf den du setzt. Wenn dein Tipp gewinnt, lasse ich dich in deine Welt zurückkehren. Wenn nicht, gehört deine Seele uns.“ Captain Kitty fand das keinen besonders reizenden Einsatz, aber ihm blieb nichts anderes übrig, als einzuwilligen. Gemeinsam mit den Göttern nahm er vor der Glasfront Platz und sah auf die Rennbahn hinunter. „Nenne mir eine Zahl zwischen eins und zwölf!“, forderte Ehecat ihn auf und Captain Kitty hoffte, mir seiner Wahl richtig zu liegen. „Vier.“, sagte er halblaut und mit zitternder Stimme. Wenn Missy doch nur Recht behielt und das Rennen wirklich manipulieren könnte.
„Da kommen die Dämonen!“, rief der Sonnengott, als die riesenhaften Wesen auf die Bahn kamen. Viele von ihnen sahen aus wie surreale Mischungen großer Säugetiere in bunten Farben. Die Nummer vier kam Captain Kitty jedoch nicht besonders dominant vor. Sie war eher schmächtig im Vergleich zu den anderen Dämonen, die sich nun alle an einer Linie aufreihten. Captain Kitty hatte natürlich keinen Schimmer, wie ein solches Rennen ablaufen sollte. Als der Startschuss ertönte, schossen die Kreaturen los, doch es blieb keineswegs bei einem einfachen Wettlauf. Mit aufgerissenen Augen beobachtete Captain Kitty ungläubig die Ereignisse auf der Rennbahn. Gerade spie die Nummer sechs einen Feuerball in Richtung seiner Konkurrenten. „Keine Sorge, Dämonen sind unsterblich.“, erklärte der Wassergott mit finsterer Miene. Das beruhigte Captain Kitty nur wenig. Er ließ seine Nummer vier keine Sekunde lang aus den Augen und hoffte weiter, dass er sich auf Missy verlassen konnte. Während die Nummern neun und zwölf am Rand der Bahn eine Rauferei austrugen, wuselte dich die Vier zwischen den anderen hindurch und schaffte es schließlich wie vorhergesagt als erste ins Ziel.
Ehecat sah alles andere als begeistert aus und nun konnte sich Captain Kitty auch vorstellen, warum Missy und ihre Freunde immer darauf achteten, keinen der Götter ernsthaft zu verärgern. „Nun gut, kleine Katze, ich werde mein Wort halten.“, seufzte er missmutig, „Du sollst deine neun Leben haben und kannst in deine Welt zurückkehren.“ – „Danke.“, stammelte Captain Kitty wenig heldenhaft und freute sich doch innerlich sehr. „Kann ich eines meiner Leben nicht jemandem geben, der es auch gut gebrauchen könnte?“, platzte es dann aus ihm heraus. „Du solltest zufrieden sein, dass du selbst nicht hier bleiben musst.“, erinnerte ihn der Wassergott streng. Captain Kitty deutete diese Ansage als ein klares Nein und traute sich auch nicht, weiter nachzufragen. „Wer einmal bei uns ist, kann nicht wieder zurück. Du hast Glück im Unglück gehabt, dass wir uns uneinig waren. Aber bei allen anderen ist der Fall klar.“, erklärte der Sonnengott. Captain Kitty nickte und wusste auch, dass er Recht hatte. Dennoch hätte er gern noch jemand anderes wieder zurück genommen. Don zum Beispiel. Oder auch Missy, die ihm geholfen hatte. „Pass in Zukunft besser auf dich auf!“, rief der Sonnengott ihm noch zu und Captain Kitty nickte wortlos. Das würde er tatsächlich.
Als Captain Kitty das nächste Mal die Augen öffnete, stand er wieder auf dem Friedhof. Die Feierlichkeiten neigten sich offenbar dem Ende. Nur noch wenige Menschen waren unterwegs und die Musik war aus. Captain Kitty zweifelte keine Sekunde daran, dass seine Erlebnisse in der Zwischenwelt real gewesen waren. In Mexiko verschwimmen die Grenzen zwischen dem Leben und dem Tod und hier ist man der Meinung, dass das Leben ein Traum ist, aus dem man im Tod erwacht. Captain Kitty seufzte und blieb noch einen Moment lang stehen, um die Erleichterung zu genießen, wieder in seiner Welt zu sein. Dann machte er sich auf den Weg. Er musste eine Rattenfamilie suchen und von Don berichten.
Texte: Betty J. Viktoria
Tag der Veröffentlichung: 18.05.2012
Alle Rechte vorbehalten