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Eine Frage der Einrichtung

Als wir es über uns krachen hörten, ahnte ich schon, dass irgendetwas ganz grandios schief gegangen war. Aber mit einer solchen Katastrophe hatte ich dann doch wieder nicht gerechnet. Eigentlich hatte alles ganz harmlos angefangen. Wir waren mit unserer kleinen Familie gerade damit beschäftigt, unsere neue Eishöhle einzurichten. Ich kann gar nicht sagen, wie lange meine Frau mich schon genervt hatte, dass wir unbedingt umziehen müssten. Irgendwann habe ich dann nachgegeben und so standen wir schließlich in unserem neuen Heim. Hier hätten wir – zwei ausgewachsene Belugas – und unsere beiden Kleinen genug Platz.
Doch während ich es mir auf meinem Lieblingseisblock gemütlich gemacht hatte, gab meine Liebste keine Ruhe. Mich hatte der Umzug schon genug geschafft, doch sie war noch lange nicht zufrieden. Die ganze Zeit wuselte sie herum und machte unsere Höhle etwas „wohnlicher“, wie sie es nannte. Mal ehrlich, wie wohnlich kann man eine Unterwasserhöhle aus Eis schon machen? Selbst die beiden kleinen Belugas waren schon entnervt zu mir gekommen und beobachteten nun ihre Mutter, die sie mit ihrem Gewusel immer wieder beim Spielen gestört hatte.
„Hendrik!“, rief sie dann irgendwann in einem Ton, der mich keine Sekunde zögern ließ. Ich sprang wie von der Seeschlange gebissen auf und rauschte zu ihr. Sie war selbst ein wenig erschrocken, wie schnell ich reagiert hatte, und sah mich misstrauisch an. „Da bin ich.“, seufzte ich, „Was gibt es?“ – „Dieses Eis nervt!“, sagte sie entschieden und deutete auf das untere Ende eines riesigen Eisberges. Im ersten Moment dachte ich, sie würde mich verarschen. Aber leider meinte sie es ganz ernst und fügte noch hinzu, ich solle es wegmachen. Was das wieder hieß… wegmachen. Wahrscheinlich war es wieder allein meine Angelegenheit, wie ich das anstellen sollte.
„Wie stellst du dir das denn vor, Schatz?“, fragte ich niedergeschlagen, „Ich bin doch nicht Super- Wal.“ – „Ist mir eigentlich egal, wie du das machst.“, meinte sie nur. Ich hatte es ja geahnt. „Kannst du das nicht einfach wegschieben?“, schlug sie nun vor. Anscheinend konnte es wieder einmal gar nicht schnell genug gehen. „Ich kann doch keinen Eisberg verschieben.“, protestierte ich entschieden. Als ich ihren wütenden Blick sah, sagte ich schnell: „Ich könnte Jan fragen, ob er mir hilft.“ Jan war ein Freund von mir und nebenbei ein Schwertfisch. Unzufrieden schüttelte sie den Kopf und maulte: „Kannst du es nicht wenigstens mal versuchen?!“ Hatte sie nicht zugehört? Ich konnte unmöglich einen riesigen Eisberg verschieben, nur weil er nicht in ihr Bild von einer perfekten Wohnhöhle passte. Es war einer der Momente, in denen der Klügere nachgibt.
„Natürlich probiere ich es mal.“, sagte ich etwas zu nett. Dann schwamm ich neben das untere Ende des Eisberges und drückte mit aller Kraft dagegen. „Siehst du, Ella.“, stöhnte ich nach ein paar Versuchen erschöpft, „Da tut sich gar nichts.“ – „Du musst es eben noch mehr versuchen.“, sagte sie eiskalt. Aber gerne doch, wenn es sonst nichts ist. Sogar die kleinen Belugas waren dazu gekommen, um zu sehen, wie ihr Papa sich zum Buckelwal machte. „Man kann doch keine Eisberge verschieben.“, lachte einer von ihnen ohne Hemmungen. Sie machten sich über mich lustig? Dabei war es ja gar nicht meine Idee gewesen. Ich beschloss, die Wahrheit zu sagen und verteidigte mich: „Das müsst ihr mal eurer Mama erklären!“
Das Chaos war perfekt. Ella wusste nicht mehr, auf wen sie nun am meisten wütend sein sollte. Auf meine Unverschämtheiten, meinen kläglichen Versuch oder auf die kleinen Bengel. Doch als wir das Krachen hörten, waren wir auf einmal alle ganz still. „Vielleicht hast du es ja doch geschafft.“, sagte Ella plötzlich und ich hörte den Sarkasmus genau heraus, im Gegensatz zu den Kleinen. „Können wir nachsehen, was es war?“, wollten sie aufgeregt wissen. „Warum eigentlich nicht.“, nickte ich und wir schwammen alle gemeinsam an die Wasseroberfläche. Wir waren doch sehr neugierig, woher das unglaublich laute Geräusch gekommen war.

„Das war ich nicht!“, sagte ich ganz entschieden, als ich die Katastrophe sah. Ein riesiges Passagierschiff, das die Aufschrift „Titanic“ trug, war auf den Eisberg geknallt, der meinen Schatz so erzürnt hatte. „Du hast ein Schiff erlegt.“, sagte einer der kleinen Belugas ehrfürchtig. „So ein Quatsch, das war nicht euer Papa.“, widersprach Ella nun, „Der ist nicht so stark.“ Sie hatte es also auch endlich eingesehen. Das war ein kleiner Trost. „Meinst du, die Menschen kommen klar?“, fragte plötzlich eine Stimme neben mir. Es war Jan, der Schwertisch, der neugierig dazu gekommen war. Überhaupt hatte das Spektakel einige Tiere angelockt. „Sieht nicht so aus, als würden sie klar kommen.“, antwortete ich nun, „Wenn einer ins Wasser fällt, taucht er meistens nicht mehr auf.“ – „Und glaubst du, dass wir Hilfe holen sollten?“, überlegte Jan weiter. Wie er immer auf solche Ideen kam. Den Menschen helfen… na klar. Dafür hatten wir in den letzten Jahrzehnten einfach zu viele schlechte Erfahrungen mit ihnen gemacht. Nicht umsonst waren wir in eine Höhle gezogen, die so weit draußen und nahe der für Schiffe gefährlichen Eisberge lag. „Ich helfe hier niemandem!“, sagte Ella entschieden. Ihr schien das Ganze sogar ein kleines Vergnügen zu bereiten. Das verstand ich schon irgendwie, denn sie hatte ihre Eltern an sogenannte Walfänger verloren.
Jan sah die Situation jedoch etwas anders. „Wir könnten es doch wenigstens versuchen.“, warf er ein. „Wie willst du das denn anstellen?“, wollte ich nun wissen und sah ihn neugierig an. „Wie wäre es, wenn wir andere Menschen zu Hilfe holen?“, schlug er vor. „Du meinst, wir sollten ein Schiff suchen und es dann hier her locken?“, hakte ich nach und er nickte eifrig. Die Rolle des helfenden Helden gefiel ihm wohl ganz gut. „Das werdet ihr schön lassen!“, entschied Ella nun. „Aber Schatz, die werden sonst vielleicht alle sterben.“, versuchte ich es ihr zu erklären. „Das ist mir herzlich egal. Wir haben den Kleinen so oft verboten, sich den Schiffen zu nähern und jetzt wollt ihr losschwimmen und eines suchen.“, tobte sie. „Wir werden gut aufpassen.“, versprach Jan ihr, „Und du kannst dich und die Kleinen in eurer neuen Höhle in Sicherheit bringen.“ Ich sah Ella an, dass sie mit sich selbst rang. Eigentlich wäre sie am Liebsten von diesem großen Schiff davongeschwommen und hätte sich irgendwo verkrochen. Und dann musste sie die ganze Zeit mit einem inneren Drang kämpfen, der sie beinahe dazu brachte, die Rettungsboote umzukippen, um sich an den Menschen zu rächen.
Ich wusste selbst noch nicht genau, ob es eine gute Idee war, den Menschen zu helfen. Aber Jan hatte mich irgendwie davon überzeugt, dass es auch gemein wäre, tatenlos zu warten, bis einer nach dem anderen blubbernd abgetaucht wäre. Ella gefiel die Sache natürlich gar nicht. Ich versprach ihr mehrfach hoch und heilig, dass wir aufpassen würden, und irgendwann hatte sie keine Lust mehr auf die Diskussion. Außerdem waren ihr die vielen kleinen Rettungsboote mit der Zeit nicht mehr geheuer und sie beschloss, mit den Kleinen zusammen in die sichere Höhle zu verschwinden.

Jan und ich schwammen so schnell wir konnten los, auf der Suche nach einem anderen Schiff. Aber es war einfach keine Saison für Schiffe. Es war schon dunkel und wir waren wirklich weit draußen. Irgendwie hatten wir auch keine Ahnung, wo genau wir suchen sollten. Ich folgte Jan einfach und hoffte, dass er wusste, was er tat. Es sah zunächst leider gar nicht danach aus. Im Gegenteil, ich hatte eher das Gefühl, dass wir uns in Gegenden aufhielten, in denen ich noch nie zuvor ein Schiff gesehen hatte. Doch er gab nicht auf und war außerdem viel besser in Form, als ich. „Wo bleibst du denn?“, rief er mir irgendwann zu, als zwischen uns schon ein beachtlicher Abstand gewachsen war. „Ich bin halt nicht so schnell.“, seufzte ich, „Außerdem hat Ella mich heute schon zum Eisbergerücken verdonnert.“ Seinen fragenden Blick ignorierte ich, wenigstens wurde er langsamer, so dass ich aufschließen konnte.
„Da ist ein Schiff!“, rief Jan plötzlich ganz aus dem Häuschen. Er hatte Recht, direkt über uns trieb ein solches Gefährt auf dem Wasser. „Dann los, wir müssen es dazu bringen, dass es uns folgt.“, sagte Jan voller Tatendrang. „Wie stellen wir das denn wieder an?“, wollte ich wissen. Er antwortete nicht, ja er wartete nicht einmal. Stattdessen tauchte er auf und versuchte, sich bemerkbar zu machen. Aber als Fisch hatte er es da nicht so leicht. Ich beschloss, ihm zu helfen. Gemeinsam umkreisten wir das Schiff und als das nicht half, schubste ich es leicht an. Das wirkte. Leider war das, was dann kam, gar nicht in meinem Sinne. Als plötzlich eine große Harpune auf mich gerichtet war, bemerkte ich erst, dass wir es mit einem Walfänger zu tun hatten. Das war ja wieder typisch! Da will man den Trotteln helfen, und denen fällt nichts Besseres ein, als auf mich zu schießen. Langsam verstand ich Ella. Apropos, ich hatte ihr versprochen, aufzupassen.
Ohne auch noch eine Sekunde länger zu zögern, schoss ich unter Wasser davon. Erst einmal direkt unter dem Schiff entlang und dann in die gefährlichsten Gegenden der Eisberge, in der Hoffnung, dass man mir hier nicht folgen würde. „Was machst du denn?“, rief Jan irgendwann, als er wieder neben mir schwamm. Dieses Mal war er es, der kaum mithalten konnte. „Wonach sieht es denn aus? Ich rette meinen Hintern vor diesen Wahnsinnigen!“, antwortete ich knapp und wich den Kanten der Eisberge aus. „Aber du schwimmst in die falsche Richtung!“, protestierte Jan. „Das ist eine Frage der Perspektive.“, brummte ich, „Mein Leben ist mir gerade wichtiger, als das dieser Schwachköpfe auf dem großen Boot.“ – „Zu schade, dass du kein Delfin bist.“, seufzte Jan, „Denen folgen die Menschen immer, ohne sie abzuschießen.“ Als ob das mein Problem wäre. Ich wollte nur möglichst schnell aus dem Blickfeld dieser Jäger kommen, ohne sie dabei zu anderen Walen zu führen.
„So, das wäre geschafft.“, seufzte ich völlig außer Atem, als wir dem Schiff entkommen waren. Ich lehnte erschöpft an einem Eisberg und beschloss, mich nie wieder auf die Suche nach Menschen zu machen. Was hatte ich mir dabei eigentlich gedacht? Helfen… die wollten sich doch gar nicht helfen lassen. Es war nicht so, dass ich es nicht versucht hatte. „Du bist einfach in die falsche Richtung geschwommen. Du hättest sie doch zu dem gekenterten Schiff bringen können.“, meinte Jan etwas enttäuscht. „Natürlich, damit sie meine Familie und unsere ganzen Freunde finden!?“, hakte ich nach, „Das wäre das Dümmste gewesen.“ Nun seufzte Jan, als wir uns langsam auf den Weg zurück machten: „Wenn sie diese Titanic gesehen hätten, hätten sie euch schon in Ruhe gelassen.“ – „Da bin ich mir gar nicht so sicher.“, entgegnete ich.
Als wir zu Hause ankamen, war Ella genauso erleichtert, wie ich. „Habt ihr es geschafft?“, wollte sie ohne großes Interesse an unserer Aktion wissen. Ich schüttelte den Kopf und bevor ich etwas sagen konnte, meinte Jan: „Wir haben kein Schiff gefunden.“ Verwirrt sah ich ihn an, doch als ich bemerkte, wie froh Ella war, nickte ich zustimmend. „Das Schiff sinkt nun aber.“, sagte Ella schließlich. Jan und ich wussten nicht genau, was sie damit ausdrücken wollte, und so erklärte sie: „Das wäre doch auch ein schöner Ort zum Wohnen. In einem untergegangenen Schiff.“ – „Oh nein, wir ziehen nicht schon wieder um.“, protestierte ich und merkte dann erst, dass sie einen Witz gemacht hatte.

Impressum

Texte: Betty J. Viktoria
Tag der Veröffentlichung: 16.04.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Den Opfern des Unglücks gewidmet - auch wenn das in der Geschichte vielleicht nicht so rüberkommt.

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