Mein zweites Zuhause ist nicht besonders weit weg von meinem richtigen Zuhause. Eigentlich nur die Straße herunter und schon bin ich da- im Stall. Man kann das Gefühl von „zuhause“ aber nicht nur an diesem Ort festmachen, sondern es ist vielmehr jede Sekunde, die ich mit meinen Pferden verbringe- ob im Stall, auf dem Reitplatz oder im Gelände. Jeder einzelne Moment beschert mir ein Glücksgefühl, ein Gefühl der Geborgenheit und Stärke zugleich, wie man es sich von seinem Zuhause nur vorstellen kann. Es ist die Empfindung, angenommen zu werden, so wie man ist, die ein wohliges Kribbeln hervorruft.
Hier, in meinem zweiten Zuhause, ist es egal, wie ich aussehe. Ich kann die ausgelatschten Turnschuhe zur kaputten Jeans und dem albernen T-Shirt tragen. Ich muss mich nicht schminken, ich muss meine Haare nicht perfekt machen und ich muss mich nicht verstecken. Ich kann einfach ich selbst sein. Meinen Pferden ist es egal, solange ich da bin und mich mit ihnen beschäftige. Was hingegen ihre Pflege, Fütterung und Ausrüstung angeht, bin ich pingelig. Nur das Beste vom Besten kommt an meine Pferde, sie werden grundsätzlich mit Samthandschuhen behandelt. Spezielle Futterzusätze für meine ältere Stute, Spezialbeschlag gegen ihren Spat, die besten Stallungen (jedes Pferd hat drei Fenster), Gelenkschoner, Lammfellpolsterungen, Gamaschen und ein spezieller Boden in meinem Pferdeanhänger sollen für Sicherheit und Wohlbefinden sorgen. Dazu bekommen sie natürlich so viel Bewegung wie möglich.
Was mein zweites Zuhause ausmacht, ist die Freiheit, die ich hier erlebe, und zwar in jeder Hinsicht. Grundsätzlich nehme ich mein Handy nicht mit in den Stall. Es ist, als würde ich eine Auszeit nehmen vom Leben, von Allem. Ich bin einfach nicht erreichbar, da kann es noch so wichtig sein. Genauso verhält es sich auch mit der Zeit. Ich bin eben bei meinen Pferden, bis ich wieder da bin. Zeitdruck lasse ich mir nicht auferlegen. Verabredungen plane ich mit reichlich zeitlichem Spielraum ein, damit ich in Ruhe mit den Tieren arbeiten kann. Mit der Uhr im Nacken lässt sich keine anständige Dressur und keine gute Springstunde reiten. Man kann Tiere eben nicht genau einplanen. Gerade, wenn es gut läuft, oder man im Gelände unterwegs ist, vergisst man schnell auch mal, wie lange man schon da ist. Meine Mutter hat sich schon öfters ernste Sorgen gemacht, wo ich bleibe. Dabei ist sie – selbst Reiterin - kein ängstlicher Typ.
Allein die unbändige Kraft meiner Sportpferde gibt mir das Gefühl, unbesiegbar zu sein. Wenn ich einen so kräftigen Freund habe, wenn 600 Kilo Lebendgewicht mit mir kooperieren, dann kann mir doch nichts auf der Welt passieren. Es ist, als würde ihre Kraft auf mich übergehen und mir Mut und Selbstbewusstsein geben. Diese Wildheit des Tieres, die ich nur bedingt zähmen kann, die immer bleiben wird, fasziniert mich. Ungebunden zu sein, jederzeit losreiten zu können, jederzeit das Glück der Erde auf den Rücken meiner Pferde (oder auch nur in ihrer Nähe) zu finden, ist ein Gefühl von Freiheit, wie ich es sonst nicht kenne. Aber das Beste ist eindeutig die Geschwindigkeit. Wenn man in einem atemberaubenden Tempo über die Wiesen galoppiert, dem Pferd ausgeliefert, ohne Kontrolle, mit dem Wind im Gesicht- dann erinnert einen nur noch das Donnern der Hufe daran, dass man nicht fliegt, sondern noch am Boden ist.
Warum ich den ganzen Tag und die halbe Nacht hier verbringen kann? Das liegt auch daran, dass meine besten Freundinnen ebenfalls immer da sind. Wir sind drei Mädchen und alle unsere Privatpferde stehen in einem eigenen Stalltrakt zusammen. Besser hätte es kein Pferdebuchautor der Welt erfinden können. Jede von uns hat eine ganz besondere Beziehung zu ihren Pferden. Unsere Pferde passen zu uns, wie die Faust aufs Auge, ganz egal, ob wild, zickig, ruhig oder albern. Was wir den ganzen Tag lang zusammen machen, ohne uns gegenseitig auf die Nerven zu gehen? Jeden Tag, einfach alles. Wir reiten unsere Pferde, gehen ins Gelände, putzen unser Sattelzeug und quatschen, quatschen, quatschen. Wir verbringen bis zu vier Stunden am Tag zusammen draußen bei den Tieren und können uns kaum voneinander lösen.
Nicht ganz abwegig ist vielleicht der Vorwurf, wir würden uns ein bisschen aus unserem Leben zurückziehen, in eine andere Welt, in der es wesentlich schöner ist und im Vergleich zu alltäglichen Problemen auch viel einfacher. Die Arbeit mit unseren Pferden lenkt ab von unseren bisweilen stressigen Familien. Wenn ich Ärger mit meiner kleinen Schwester habe, tröstet mich die Gegenwart meiner Pferde. Wenn meine Eltern meinen, den ganzen Tag streiten zu müssen, finde ich Ruhe im sanften Blick meiner alten schwarzen Stute, die die Weisheit der Welt zwischen ihren dunklen großen Augen trägt. Egal, ob Stress in der Uni oder Zukunftsängste, ob Liebeskummer oder Selbstzweifel- die Tiere zeigen mir wieder, worauf es im Leben ankommt und was wirklich wichtig ist.
Direkt vor unserem Stall- oder dahinter, je nachdem- liegt der See. Unser See, wie wir sagen. Im Sommer unser ganz privater Badeort, wo wir uns sonnen können und im Gras liegen, bis wir es nicht mehr aushalten. Im See schwimmen ist nicht unbedingt empfehlenswert, denn die Legenden darüber, was hier schon alles versenkt wurde, sind abenteuerlich. Diverse Mofas und tote Katzen, aber auch die ebenfalls badenden Rinder, sind da noch die harmlosen Gegenstände. Unseren Pferden ist das jedoch egal und solange sie uns auf ihren Rücken tragen, dürfen sie im seichten Uferwasser plantschen. Nicht immer steht ihnen der Sinn danach. An manchen Tagen wollen sie nicht ins Wasser, sondern fressen lieber das saftige Gras am Rande des Sees. Aber wenn sie in den See gehen, holen sie mit ihren Vorderhufen aus und schlagen damit auf die Wasseroberfläche, dass wir von oben bis unten nass werden. An der tiefsten Stelle ist der See ganze sieben Meter tief, Seerosen blühen hier, und wenn wir mit dem Paddelboot unter den ins Wasser hängenden Ästen der alten Weiden hindurch gleiten, fühlen wir uns wie in einer anderen, verzauberten Welt.
Es ist erst offiziell Winter, wenn der See zugefroren ist. Hier können wir Schlittschuhlaufen, ganz allein. Nur selten verirren sich Spaziergänger an unseren See. Nur die Menschen von den anderen Höfen kommen hier her. Wir machen Mutproben, wer sich zuerst traut, den See zu überqueren. Oder wir treiben unsere Hunde in den Wahnsinn, indem wir sie auf dem Eis Stöckchen holen lassen, so dass sie auf der glatten Oberfläche immer auf der Stelle laufen, bevor sie loskommen.
Ein Ritt ins Gelände ist die Erfüllung. Die klassische Runde geht „einmal um den See“, obwohl man genau genommen nur am See entlang reitet und nicht einmal herum. Wir kennen Wege im Gelände, die sonst niemand kennt. Wir wissen genau, wo wir welche Tiere finden können. Eine Herde Rehe lebt genau zwischen den vier Wiesen, über die wir immer reiten, entlang des nahen Flusses. Mit der Zeit sind die Rehe gar nicht mehr ängstlich und kommen unseren Pferden relativ nahe. Die jedoch sind nicht immer begeistert davon. Ebenso wenig mögen die meisten unserer Pferde die Rinder, die bei uns überall stehen. Viele von ihnen haben Angst davor, aber irgendwie kommen wir schon vorbei. Bei jedem unserer Ritte sehen wir Greifvögel, Eichhörnchen, Hasen und andere wilde Tiere. Das klingt nicht gerade aufregend, aber in freier Wildbahn sind sie spannend zu beobachten und immer etwas Besonderes.
Ein Nachmittag im Stall ist für mich entspannender und auftankender, als jeder Urlaub- hier ist es wunderschön, hier sind meine Freunde, hier sind meine Pferde und hier fühle ich mich wohl und bin mit der Welt im Reinen. Es ist mein zweites Zuhause.
Texte: Betty J. Viktoria
Bildmaterialien: Betty J. Viktoria
Tag der Veröffentlichung: 07.04.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Adele und Cita- Contess
und natürlich den Enten, den besten Freundinnen der Welt