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Ich warf die Tür hinter mir zu und sah über den Hof. Es schien ein warmer und sonniger Frühlingstag zu werden. Einer der Tage, die ich so liebte. Die ersten Sonnenstrahlen krochen gerade über die Hügel, die die Stallungen umgaben. Ich machte mich auf den Weg zu den Ställen. Nebenbei warf ich einen Blick auf die Trainingsbahn. Nebel kroch über das Land und die ersten Lots trieben sich wohl im Gelände rum, denn auf der Bahn waren keine Pferde. Als ich den Stall betrat, stellte ich zufrieden fest, dass Jenna noch nicht da war. Nur ein paar Pferdepfleger arbeiteten schon. Ich trat an die Box meines Hengstes. Er war bereits fünf Jahre alt und stand bei den Rennhengsten, weil ich ihn weder bei den Jährlingen, noch bei den Führpferden stehen haben wollte. „Skywarrior!“, flüsterte ich seinen Namen und schob die Tür zu seiner Box ein Stück auf. Der schwarze Hengst kam zu mir. „Guten Morgen, Sky!“ Ich strich über seine Stirn. Hier war sein einziges weißes Abzeichen. Eine minikleine Flocke, die die Meisten übersahen. Man erkannte sie wirklich nur, wenn man wusste, dass es sie gab. Jetzt zog ich los, um das Putzzeug zu holen. Jenna war noch immer nicht da. Sehr gut- auf die konnte ich verzichten.

Als ich mit dem Sattel aus der Sattelkammer kam, sah ich einen Pfleger an Skys Box. „Was machen Sie da?“, wollte ich wissen. „Oh, guten Morgen! Ich dachte nur, ich könnte ihn für Sie...“ – „Nein, danke! Ich kümmere mich selbst um mein Pferd! Sie können mich außerdem duzen!“ – „In Ordnung!“, sagte der Mann nicht ganz überzeugt und ging davon. Er schien neu hier zu sein. Wie ich es satt hatte! Nur, weil ich der Sohn des Gestütsbesitzers war, mussten mir doch nicht gleich alle den Hut vor mir ziehen! Ich warf Sky den Sattel auf. Mein Geburtstagsgeschenk, ein Kunststoffsattel. Vielseitigkeit mit Schwerpunkt Springen. Aber eigentlich waren wir ein Rennstall. Und zwar ein sehr angesehener. Weltweit waren Galopper in unseren Rennfarben aktiv. Und unsere Zucht war auch nicht zu verachten. Ich legte Sky die Trense an und führte ihn aus seiner Box. Halb sechs und noch immer nichts von Jenna zu sehen. Ich grinste. Das Mädchen konnte mir den Vormittag nicht vermiesen! Das hatte sie in den letzten Tagen aber auch oft genug getan. Genauer gesagt schon seit sie mit ihrer Familie hergezogen war. Und ich hatte auch noch das Pech gehabt, mit ihr in eine Klasse gekommen zu sein. Aber die Meisten hier fanden sie ja so nett und aufgeschlossen. Ich nicht! Ich fand sie eigentlich nur absolut nervig. Zusammen mit den ersten Pflegern tauchte sie bereits vor Sonnenaufgang hier auf, lungerte im Stall oder an der Bahn rum, half Pflegern und Jockeys oder nervte die Trainer. Dann ritt sie meistens ihr Pony. Ein Connemara Pony, das ihr und ihrer Schwester gehörte und das Normen hieß. Er war ein Fuchs mit vielen weißen Abzeichen und eignete sich sowieso nur für niedrige Dressur und Gelände. Na, jedenfalls ritt Jenna ihn fast alleine. Ihre kleine Schwester Brooke war dreizehn Jahre alt und stieg eher selten auf das Pony. Sie brachte auch kaum ein Wort über die Lippen. Ziemlich schüchtern- im Gegensatz zu ihrer großen Schwester Jenna. Die war, genau wie ich, fünfzehn Jahre alt.

Jetzt trat ich mit Sky auf den Hof hinaus. Er blähte die Nüstern und schnaubte. „Na, freust du dich auch über den schönen Tag? Keine Angst, du kommst den ganzen Nachmittag auf die Wiese.“, versprach ich leise. Dann stieg ich auf. Ich atmete die klare Luft ein und ritt los. Wir gingen auf die Trainingsbahn. Zuerst trabte ich ein paar Mal hin und her. Sky war etwas aufgedreht. Er hob den Kopf und lauschte in alle Richtungen. „Alles klar, großes Pferd!“, beruhigte ich ihn, „Es geht ja gleich los!“ Mein Hengst konnte es wohl gar nicht mehr abwarten. Er wollte laufen. Ich sah mich um. Die Startmaschine war nicht zu sehen. Vorsichtshalber trabte ich einmal die ganze Bahn entlang. Alles war frei. Die Startmaschine stand wohl an der Grasbahn im Außengelände. Sehr gut! „Dann können wir ja gleich!“, beschloss ich und ließ Sky kantern. Aber er wusste, dass ich ihn gleich laufen lassen würde.

„Na, dann los, Großer!“ Er streckte sich und preschte los. Ich stand in den Steigbügeln, weit vorgebeugt, immer in der Bewegung des Pferdes, die Zügel fest in der Hand. Wow! Vollblut... Geschwindigkeitsrausch! Wäre da nicht das Donnern seiner Hufe gewesen, hätte man meinen können, Sky würde fliegen! Mein Körper schoss vor und zurück- immer im gleichen Rhythmus mit den Bewegungen des Pferdes. Der Hengst nahm mich mit. Es war wie immer ein Wahnsinnsgefühl. Wir rasten die Bahn entlang, immer schneller! „Phil!“ Ich sah kurz an den Außenzaun. Wer rief mich da? Oh nein, es war Jenna! Was wollte die denn? Hatte sie vielleicht ein Problem damit, dass ich heute vor ihr hier gewesen war? Das war ihr Pech! Dieser Morgen gehörte nur Sky und mir! „Phil!“, schrie sie erneut. Sky hörte nicht in ihre Richtung. Seine Ohren waren flach angelegt. Als wir in den Bogen gingen, schossen sie nach vorne. Und da sah ich es auch. Ein Trecker fuhr direkt vor uns quer über die Bahn. Wo kam der denn her? War ja eigentlich auch egal! Zum Stoppen war es zu spät. Ausweichen kam auch nicht in Frage, denn dann wären wir voll in den Innenzaun gerast. Nein, Hilfe! Sky handelte schnell. Er gab noch mehr Gas und sprang. „Nein! Sky!“, schrie ich noch, aber es war zu spät. Wir stürzten zu Boden. Mir tat sofort alles weh. Ich bekam meine Augen ein Stück auf. Sky lag neben mir und versuchte, aufzustehen. „Sky!“ Ich wollte rufen, aber es war nicht mehr, als ein Flüstern. Ich bekam noch mit, wie der Fahrer des Treckers und zwei weitere Männer zu mir kamen. Jenna musste auch da sein, oder hallte ihr Ruf nur noch so durch meinen Kopf? Ich wusste es nicht. Dann hörte ich hektische Stimmen durcheinander reden. „Bring das Pferd hier weg!“ – „Ruf einen Krankenwagen!“ – „Fass ihn nicht an! Damit machst du es vielleicht noch schlimmer!“ – „Lass ihn hier auf keinen Fall allein!“ Ein letztes Mal hörte ich Sky wiehern, dann wurde es um mich dunkel und still.

Als ich das nächste Mal aufwachte, wusste ich nicht, wo ich war. Und mir tat immer noch alles weh. Allerdings nicht mehr ganz so schlimm, wie direkt nach dem Sturz. Ich nahm an, dass ich mich im Krankenhaus befand. Weiß... alles war so schrecklich weiß! Ich versuchte, mich aufzurichten, aber es ging nicht. Meine Kraft reichte nicht. Also versuchte ich mich so umzusehen. Dabei entdeckte ich etwas. In meinem rechten Arm steckte eine Nadel. Ich hasste einfach alles, was stach und piekste. Bevor ich mich weiter unter die Lupe nehmen konnte, wurde die Tür geöffnet und ein weiß gekleideter Mann kam herein. „Philipp Fire, fünfzehn Jahre, Reitunfall...“, las er gedankenversunken von seinem Zettel und stellte dann fest, dass ich wach war. „Guten Morgen!“ Ich erwiderte den Gruß krächzend. „Wie geht es dir? Endlich ausgeschlafen?“, erkundigte er sich freundlich. Ich sah auf die Uhr an der Wand. Täuschte ich mich, oder war es wirklich erst sieben Uhr morgens? Was faselte er da von „ausgeschlafen“? Anscheinend war der Mann meinem Blick gefolgt.
Nachdem er sich als Doktor Keeley vorgestellt hatte, fragte er mich, ob ich wüsste, welches Datum wir hätten. Ich hatte keine Ahnung und er erklärte, ich hätte zwei Tage geschlafen, das heißt, ich war mehr oder weniger bewusstlos gewesen. „Deine Eltern werden sich freuen. Ich rufe sie gleich an!“, meinte Doktor Keeley, bremste sich dann aber und fragte: „Kannst du dich eigentlich an alles erinnern? Hast du Gedächtnislücken? Du hattest nämlich eine Gehirnerschütterung. Also, wie heißt du?“ Was für ein albernes Spiel! Das hatte er mir doch alles selbst gesagt, als er reingekommen war. Abgesehen davon wusste ich, wer ich war. Aber gut: „Philipp Fire! Ich werde Phil genannt!“ – „Wo wohnst du?“ – „Auf dem Old Oaks Stud!“ Ich musste ihm noch eine Menge anderer dummer Fragen beantworten, bis er mich endlich in Ruhe ließ um meine Eltern anzurufen. Dabei hatte ich eigentlich vorgehabt, ihn zu fragen, was ich hatte- außer der Gehirnerschütterung. Na gut, dann eben nicht. Ich versuchte aus dem Fenster zu sehen.
Es war schönes Wetter. Die Sonne schien. Ich wollte hier raus. Als ich mich auf die Seite drehte, spürte ich plötzlich einen wahnsinnigen Schmerz im rechten Bein. Ich musste mich stark zusammenreißen, um nicht loszuschreien. Verzweifelt versuchte ich mich wieder auf den Rücken zu legen, aber als ich meinen Arm unter meinen Oberkörper schob, taten meine Rippen höllisch weh. Wimmernd sackte ich in mich zusammen. Jetzt konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten.

So fand mich wenig später Doktor Keeley und half mir, mich wieder auf den Rücken zu legen. „Nicht so wild. Bleibt ganz ruhig liegen!“, meinte er und drückte mir meinen Teddy in den Arm, der neben dem Kopfkissen gelegen hatte, während er an meinem Bein herumtastete. Ich kam mir zwar wie ein Kleinkind vor, war aber trotzdem glücklich, den Teddy im Arm halten zu können. „Weiß ja keiner!“, beruhigte ich mich in Gedanken. „Deine Eltern kommen auch gleich!“, erklärte er mir, bevor er ging. Ich wischte mir die Tränen aus den Augen und dem Gesicht. Und kurz bevor die Tür erneut geöffnet wurde, warf ich den Teddy aus dem Bett. Keine Sekunde zu früh, denn es waren tatsächlich meine Eltern, die hereinkamen. Aber sie waren nicht allein. Gleich hinter ihnen kam Aletta rein. Sie war meine große Schwester, siebzehn Jahre alt und behandelte mich noch immer gern wie ein kleines Kind. Jetzt hob sie den Teddy auf und gab ihn mir mit den Worten: „Hier, Kleiner! Dein armer Teddy!“ Ich sah sie an, als hätte sie nicht mehr alle Tassen im Schrank. Dann erkannte ich, wer noch da war und schob das Kuscheltier schnell unter die Decke. Jenna stand etwas unschlüssig in der Tür. Als nun Doktor Keeley kam, schob er sie sanft aber bestimmt in den Raum und schloss die Tür von ihnen. Mom kam zu mir und wollte mich gleich umarmen. „Vorsichtig!“, mahnte der Arzt. „Mom, warum ist Jenna hier?“, fragte ich. „Na, weil sie gesehen hat, was passiert ist! Vielleicht interessiert es dich ja!?“ Ich warf dem Mädchen einen zweifelnden Blick zu. Wollte ich überhaupt wissen, was passiert war? Plötzlich fiel mir brennend heiß etwas ein: „Dad! Was ist mit Skywarrior?“ – „Es geht ihm einigermaßen gut.“ – „Wirklich?“ – „Ja, keine Panik.“, bruhigte Dad mich. „Was hat er? Ist er schwer verletzt?“ Doktor Keeley unterbrach mich: „Junger Mann, du weißt ja nicht mal, was du selbst hast!“ Irgendwie hatte er ja Recht, aber im Moment war mir das herzlich egal. Ich wollte wissen, wie es meinem Pferd ging. Und zwar sofort!
„Ich sehe, es interessiert dich.“, meinte Dad, „Jenna! Würdest du ihm sagen, was genau passiert ist?!“ Sie nickte. So ruhig und schüchtern kannte ich sie nun gar nicht. Das lag bestimmt an Aletta. Sie mochte Jenna nicht besonders und ließ sie das offen und bei jeder Gelegenheit spüren. „Phil! Willst du es jetzt wissen, oder nicht?“, fragte meine Schwester. „Ja, okay.“, seufzte ich. Alle richteten ihre Augen auf Jenna. „Also, als Sky den Trecker gesehen hat, hat er versucht, noch etwas an Tempo zuzulegen und über den Kühler des Treckers zu springen. Dabei hat er sich aber die Brust aufgerissen und ihr seid gestürzt.“, erzählte sie. „Und was ist jetzt mit Sky?“ – „Seine Brust wurde genäht. Das wird schon wieder. Er hat auf jeden Fall keinen bleibenden Schaden davongetragen.“, sagte Dad, „Bald kann er wieder geritten werden.“ Toll, dachte ich, aber dann fiel mir der beunruhigte Blick meiner Mom auf. Ich sprach sie lieber nicht darauf an, auch wenn ich gern gewusst hätte, was sie dachte. Lange blieb mein Besuch nicht, denn Doktor Keeley meinte, dass ich Ruhe bräuchte.
Und dann sollte ich untersucht werden. Darauf war ich nun nicht besonders scharf, aber andererseits könnte ich die Gelegenheit nutzen um herauszufinden, was ich wirklich hatte. Denn das hatte ich bisher noch nicht hingekriegt. Dabei war klar, dass es mich interessierte. Aber vor den Anderen hatte ich das nicht fragen wollen. Jenna zum Beispiel ging es ja auch gar nichts an. Ich wollte nicht, dass sie es so erfahren hätte. Früher oder später würde sie es schon mitbekommen- woher auch immer. Zur Untersuchung wurde ich in einen anderen Raum gebracht. Und endlich wurde mir die Nadel aus dem Arm gezogen. Sehr schön. Das tat gut. Doktor Keeley half mir, mich hinzusetzen, was ich noch nicht allein schaffte. An der Wand hing ein Spiegel. Oh, nein! Wie sah ich denn aus!? Meine Haare! So ein Müll! Ohne Haargel und auch morgens nach dem Aufstehen sahen sie immer total zerzaust aus. Aber so schlimm wie heute war es noch nie gewesen! Außerdem war die Haut unter meinem linken Auge aufgeschürft. Doktor Keeley tastete meinen Oberkörper ab. Manchmal fragte er, ob es wehtat. Mein fragender Blick war dem Arzt wohl aufgefallen, denn er erklärte: „Du hast drei gebrochene Rippen!“ Er tippte vorsichtig an die Stellen, um sie mir zu zeigen. Da es wehtat, glaubte ich es ihm einfach mal. Wir alberten etwas rum. Der Typ war echt okay- dafür, dass er Arzt war. Aber dann machte er ein besorgtes Gesicht und schlug vor, dass ich mich lieber wieder hinlegen sollte. Eigentlich passte mir das gar nicht in den Kram, denn ich wollte sehen, was er da machte. Verzweifelt versuchte ich, mich wieder aufzurichten, aber es ging nicht. Nach ein paar Versuchen gelang es mir zur Hälfte. „Hey, bleib lieber liegen! Was hast du denn?“ Doktor Keeley drückte mich wieder runter. „Ich, ich will sehen, was Sie da machen!“, stammelte ich. „Aber es ist besser, wenn du liegen bleibst! Du hast Prellungen am Rücken!“ – „Ich...“ – „Du wirst es früh genug sehen, glaub mir!“ Ich gab auf und hoffte, dass er dieses Versprechen halten würde. Doktor Keeley tastete mein Bein ab. Es tat weh, aber ich biss die Zähne zusammen.
Und so lag ich wenig später wieder allein in meinem Krankenzimmer. Es war todlangweilig. Hin und wieder kam eine Krankenschwester, um nach mir zu sehen oder mir ein Schmerzmittel zu geben. Ansonsten versuchte ich, die Zeit mit Fernsehen totzuschlagen. Alles andere als einfach für jemanden, der sonst den ganzen Tag auf den Beinen ist.

Am Abend stattete mir Doktor Keeley noch einen Besuch ab. Das kam mir sehr gelegen, denn ich hatte noch ein paar wichtige Fragen, die ich ihm stellen wollte. Ich konnte nur hoffen, dass er sie mir auch beantworten würde. Ohnehin verstand ich nicht, wieso er ein solches Geheimnis daraus machte, was mir fehlte. Es war doch schließlich mein gutes Recht, zu erfahren, welche Verletzungen ich mir am Bein zugezogen hatte, oder? Ob meine Eltern es wussten? Wenn ja, dann hätten sie es mir ja ruhig mal sagen können. „Na, wie geht es dir?“ Der Arzt kam herein. „Es geht so. Kann ich Sie etwas fragen?“ Er sah mich zweifelnd an. Vielleicht konnte er sich denken, was ich wissen wollte. War ja auch nicht schwer zu erraten. „Na ja, fragen kannst du schon!“, erklärte er lächelnd. „Können Sie mir sagen, wann ich nach Hause darf?“ – „Das würde ich gerne, aber das steht noch nicht fest!“ – „Nur ungefähr! Bitte!“, quengelte ich weiter. Es musste doch etwas aus ihm rauszukriegen sein! „Das ist nicht so einfach...“ – „Ich habe doch gesagt, ich will es nur ungefähr wissen!“ – „Ich kann es dir aber noch nicht sagen!“ Damit wollte ich mich nicht zufrieden geben. „Und warum nicht? Ich will es wissen!“ – „Das kommt darauf an, wie die Operation verläuft!“ – „Welche Operation?“ Doktor Keeley sah aus, als bereue er, das gesagt zu haben. Aber es war zu spät. „Welche Operation?“, wiederholte ich meine Frage. „Also gut. Deine Eltern wollten eigentlich nicht, dass du es schon erfährst, aber da ich mich verplappert habe, wäre es unfair, es dir jetzt nicht zu sagen.“ Das sah ich allerdings genauso. „Tja, du hast einen Unterschenkelsplitterbruch. Wahrscheinlich ist dein Pferd auf dem Bein gelandet, oder hat dich mit dem Huf erwischt, als es versucht hat, aufzustehen.“ Ich schluckte. Das konnte sein, denn Sky hatte sich nach dem Sturz im Zügel verhangen und war in Panik geraten. Er hatte vermutlich so lange gezappelt und um sich geschlagen, bis der Zügel gerissen war und er aufstehen konnte.
„Was ist das für eine Operation?“, fragte ich mit zitternder Stimme. „Wir müssen das Bein öffnen, die Teile der Knochen aus dem Gewebe nehmen und eine Schiene einsetzen, damit sie wieder zusammenwachsen.“ Ich bekam eine Gänsehaut. Das klang ja wirklich nicht gut! „Wann wollen Sie operieren?“ – „Ende der Woche. Wahrscheinlich am Freitag!“ Oh nein! Ich schloss die Augen. Wieso musste ausgerechnet mir so was passieren? Ich wollte es nicht glauben! Das war der pure Horror! Als ich die Augen wieder öffnete, stand Doktor Keeley immer noch neben meinem Bett. „Wann kann ich wieder reiten?“, fragte ich. „Das wird lange dauern.“, antwortete er und fügte nach einigem Zögern hinzu: „Vielleicht kannst du nie wieder reiten.“ – „Nein!“, entfuhr es mir spontan. Das konnte doch nicht wahr sein! Ich und nicht mehr reiten? Da konnte ich mir ja gleich die Kugel geben! Ich wollte Jockey werden! „Phil! Phil?“ Der Arzt holte mich aus meinen Gedanken zurück in die Wirklichkeit. Aber ich wollte nicht in die Wirklichkeit. Hier war es blöd. Ich beschloss, zu schlafen. Vielleicht hatte ich das alles ja nur geträumt!? Wohl kaum, denn so real waren meine Träume sonst nicht!

Ein paar Tage später bekam ich wieder Besuch. Aletta betrat mein Zimmer am frühen Nachmittag. Wie sie sich wieder aufgedonnert hatte! „Sind Mom und Dad auch da?“, fragte ich. „Ja, aber sie unterhalten sich noch mit Doktor Keeley. Ich habe dafür gesorgt, dass die kleine Schreckschraube heute nicht dabei ist!“ – „Meinst du Jenna?“ – „Genau! Ich weiß gar nicht, wieso Dad sie letztes Mal mitgeschleppt hat- er weiß doch, was du von ihr hältst!“, philosophierte sie. Da musste ich ihr Recht geben. Allerdings war Dad mit Jennas Vater befreundet. Er war mehr als nur einer unserer Angestellten und die Beiden bezeichneten sich als gute Freunde. Trotzdem war bekannt, dass Aletta und ich seine Töchter Jenna und Brooke nicht besonders mochten. „Wie geht es John?“, fragte ich jetzt und wechselte so das Thema. „Gut! Statt Lasgo nimmt er neuerdings oft Cola mit auf seine Spaziergänge.“ John war mein Großvater. Aber weil er fand, dass „Großvater“ so alt klingt, sollten wir ihn John nennen. Er lebte in einem Holzhaus am Rande des Old Oaks Stud direkt am Wald. Dort hielt er eine kleine Herde von Shetland Ponys, zu denen auch Cola gehörte. Cola war mein erstes eigenes Pony gewesen. Auf ihr hatte ich das Reiten gelernt. Inzwischen war die gescheckte Stute schon zwanzig Jahre alt. Lasgo war ein wunderschöner Schäferhund, der John gehörte. Er war unheimlich klug, aber auch schon sehr alt. Während er sonst John auf seinen täglichen Spaziergängen durch den Wald begleitet hatte, bewegte er sich nun so wenig wie möglich. Am Liebsten lag er vor dem Haus in der Sonne und schlief oder beobachtete von dort aus die Ponys.
„Aber es geht Lasgo gut, oder?“, wollte ich wissen. „Na ja, er hinkt etwas, aber sonst... er frisst gut!“ Das beruhigte mich etwas. „Phil! Der Hund ist elf Jahre alt. Für einen Schäferhund ist das schon sehr viel!“, erinnerte sie mich, ganz die große Schwester. Ich nickte nur. Mir war ja klar, dass er uns irgendwann verlassen würde- aber davon wollte ich noch nichts wissen. „Und was ist mit Skywarrior?“ – „Ja, er wird versorgt. Bald kann er wieder geritten werden.“ Toll, dachte ich, und von wem? Von mir jedenfalls nicht! „Du wirst nicht glauben, wer sich jetzt, wo du hier bist, noch toller fühlt!?“, behauptete Aletta. „Wen meinst du?“ Ich wusste nicht, wie sie darauf kam und hatte keine Ahnung, worauf sie hinaus wollte. „Na, wen wohl? Jenna! Gestern war sie mit ihrem komischen Gaul auf der Trainingsbahn!“ – „Was? Mit Normen? Echt?“, ich wollte es nicht glauben. „Ja, wenn das dieser kleine, braune...“ – „Ein Fuchs?“ – „Fuchs? Also, das Fell war braun und der Schweif und die Mähne auch!“, überlegte Aletta. „Ja, dann wird es Normen gewesen sein!“ Ich musste laut lachen. Mit dem lahmen Klepper auf der Bahn?! Das konnte doch nicht sein. War das Mädchen echt so verrückt? Normen war ein zuverlässiges Kinderreitpony mit ruhigem, gemütlichem Charakter. Er war extrem gutmütig und lieb, aber absolut nicht für die Bahn geeignet! „Warum lachst du dich denn darüber fast tot?“, wollte Aletta wissen. Ich erklärte es ihr. Sie war kein Pferdefan. Noch nie gewesen. Stattdessen interessierte sie sich für Mode und Schmuck, hatte so gut wie jeden Tag eine neue Frisur und ging abends gern weg. Es wunderte mich sowieso, dass sie mir so viel über die Neuigkeiten aus den Ställen erzählen konnte, denn die betrat sie sonst so nur was von selten, dass man es sich rot im Kalender anstreichen konnte, wenn man sie dort traf.
Nun kamen Mom und Dad herein. Sie blieben noch eine Weile und versprachen, mir das nächste Mal einen DVD Player und ein paar DVDs mitzubringen. Ich hoffte, dass sie das nicht vergessen würden, denn im Fernsehen lief nur Schrott!

„Guten Morgen, Phil!“ Na, ob dieser Morgen gut war, wusste ich nicht. Aber ich wagte es ernsthaft zu bezweifeln. Schließlich war heute Freitag. Ja, richtig. Der Tag, an dem Doktor Keeley mein Bein wieder zusammenflicken wollte- mit einer Schiene. Na, wenigstens sollte ich eine ordentliche Narkose bekommen. Eine Vollnarkose. Ich würde also nichts spüren, aber ich hatte trotzdem Angst. Davor, dass ich gar nicht mehr aufwachen würde. Oder sogar zu früh! Ein letztes Mal wurde durchgecheckt, ob ich fit für die Operation war. Eine Tauglichkeitsuntersuchung sozusagen. „Wir wollen ja nicht, dass etwas passiert!“, erklärte mir Doktor Keeley. Ja, macht mir ruhig noch mehr Angst!, dachte ich und bekam eine Gänsehaut. Ich hoffte natürlich, durch den Tauglichkeitstest zu fallen und nicht operiert werden zu können. Aber das war leider nicht der Fall. Im Gegenteil! Doktor Keeley machte ein sehr zufriedenes Gesicht. „Gut, dann kann es ja losgehen!“ Ich wurde in einen Raum vor dem OP- Saal gebracht. Hier roch es noch schrecklicher, als im Rest des Krankenhauses. Ich sah mich ängstlich um. „Keine Angst!“, meinte Doktor Keeley, als er meine Narkosespritze vorbereitete. Aber ich hatte trotzdem Angst! Wenn das mal gut ging... Vergeblich versuchte ich, mich gegen das gespritzte Mittel zu wehren. Aber innerhalb weniger Sekunden war ich total weggetreten. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so schnell wirken würde.

Als ich wieder aufwachte, hatte ich keine Ahnung, wo ich war. Mein Krankenzimmer kam mir total verdreht vor. Ich wollte mich mit den Armen hochstemmen, sackte aber sofort wieder weg. „Phil!“ Neben dem Bett saß John. Ich wollte etwas sagen, aber ich brachte keinen Ton raus. „Ganz ruhig! Bleib einfach liegen!“ Ich wollte mich umsehen, ob noch jemand da war, aber er sagte streng, dass ich still liegen bleiben solle. Ja, er sagte das so einfach! Für mich war es die Hölle! Ich kam mir so hilflos vor und ausgeliefert! Zum Glück hatte John Recht und schließlich konnte ich mich wenigstens etwas bewegen. Mein rechtes Bein spürte ich allerdings noch nicht. Aber darauf war ich auch gar nicht so scharf, wenn ich mir vorstellte, was damit gemacht worden war. Außer John war niemand da. Wir unterhielten uns nicht lange, denn er wollte Lasgo nicht zu lange allein lassen und Doktor Keeley meinte, dass ich mich ausruhen sollte. Das war gar keine schlechte Idee, auch wenn ich noch nichts von dem Schock ahnte, den ich am nächsten Tag kriegen sollte.

Dad und Aletta kamen am frühen Nachmittag zu mir. Es wunderte mich, dass meine Schwester so oft hier war. Normalerweise hatte sie doch Besseres zu tun, als sich bei ihrem kleinen Bruder aufzuhalten. Ach ja, Ken war ja im Urlaub! Ken Maher war ihr Freund. Sein Dad hatte in der Stadt ein Hotel eröffnet. Ken fühlte sich super cool und hatte vor Aletta immer wieder mit seinem Geld und seinem silber- blauen Bugatti B3 angegeben, bis er herausgefunden hatte, dass er sie damit nicht sonderlich beeindrucken konnte. Sie war von Dad größeres gewohnt. Jetzt fand ich ihn ganz in Ordnung. Eigentlich sogar richtig nett. Na ja, wie gesagt, Ken befand sich grade im Urlaub. Aletta hatte er nicht mitnehmen können, weil sie noch zur Schule ging und keine Ferien hatte. Anscheinend hatte sie heute eher Schulschluss gehabt. „Wie geht es dir?“ – „Haha!“, lautete meine Antwort. Wie sollte es mir schon gehen? Mies natürlich. „Wie geht es Sky?“ – „Na, du hast Sorgen! Deinem Pferd geht es gut! Alle machen sich Sorgen um dich und du denkst nur an Sky!“ – „Wer reitet ihn?“, fragte ich, ohne auf ihre Vorwürfe einzugehen. „Ich glaube, das solltest du lieber Dad fragen! Für Einzelheiten ist er zuständig!“, wehrte sie ab und betrachtete sich im Spiegel. Ich sah Dad fragend an, doch er sagte nichts.
„Hey! Was ist jetzt mit Sky? Wer reitet ihn? Er wird doch wieder geritten, oder?“ – „Ja... natürlich erst ein Bisschen, also...“ – „Ich weiß, dass man nach einer Verletzung erst langsam anfangen muss! Wer reitet ihn?“ Langsam wurde ich wütend! Wer zum Teufel ritt meinen Hengst? Das konnte ja wohl nicht so schwer sein! „Dad!“, mischte sich Aletta ein, „Wieso sagst du es ihm nicht einfach?“ Ken war wirklich ein guter Umgang für sie. Seit sie mit ihm zusammen war, war sie so freundlich zu mir. Wenigstens zu mir. Allen Anderen gegenüber war sie weiterhin die reiche, arrogante Tochter des Gestütsbesitzers. Na, was interessierten die mich? Dad stotterte vor sich hin. Aletta stemmte

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Betty J. Viktoria
Tag der Veröffentlichung: 06.04.2012
ISBN: 978-3-86479-516-9

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle Galopprennpferde:)

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