„Dora!“
Da stand er, in dunkler Hose und weißem Poloshirt, mit einem strahlenden Lächeln. Er sah noch besser aus als in meiner Erinnerung und seine Augen, die mich voller Liebe betrachteten, bekräftigten meine Entscheidung voll und ganz.
„Charles!“
Ich setzte meine Bordtasche und den Koffer achtlos auf dem Boden ab und fiel ihm stürmisch um den Hals. Wie stets roch er trotz der brütenden Hitze draußen kein bisschen nach Schweiß und sein Polohemd saß perfekt knitterfrei.
Er zog mich leicht an sich. Die vertraute Kühle seines Körpers tröstete mich schlagartig. Ich konnte nie erklären, warum seine Gegenwart mir dieses Gefühl gab. Im Allgemeinen war es mir nicht einmal bewusst, einen Trost gebraucht zu haben, bis ich ihn traf. Dann überkam mich dieser Eindruck wie eine plötzlich hereinbrechende Lawine. Jedes Mal, ohne jegliche Vorwarnung. Es glich irgendwie einer Heimkehr, einem Wiedersehen nach langer Trennung, etwas Vertrautem, das verloren gegangen zu sein schien …
„Wie war der Flug?“ Er ließ mich los und schaute mich lächelnd, ebenso besorgt an. „Wir fahren gleich zur Wohnung, damit du dich erst einmal ausruhen kannst.“
„Ach, es war nicht schlimm. Ich habe sogar etwas geschlafen“, beruhigte ich ihn munter.
Seit unserer ersten Begegnung behandelte er mich stets wie ein rohes Ei, als wäre ich in jeder Hinsicht zerbrechlich. Vielleicht lag es daran, dass er mich in, sowohl körperlich als auch seelisch, nicht gerade stabiler Verfassung kennengelernt hatte.
Während wir zum Ausgang liefen, schaute ich mich interessiert um. Der Flughafen erschien mir genauso fremd wie vor zwei Jahren beim Rückflug nach Deutschland. Damals hatte er mich allein hierher begleitet und mir das Versprechen gegeben, mich in Berlin zu besuchen, was er dann tatsächlich gehalten hatte. Er war in den letzten beiden Jahren sogar mehrmals in Berlin gewesen und ich hatte versucht, ihn durch die Stadt zu führen, weshalb er mich seine kleine „German Guide“ nannte.
Nun hatte er mich nach New York eingeladen.
Wie lange meine Aufenthalt hier dauern würde, stand nicht fest. Ich wollte mich erst im Laufe der Zeit entscheiden, so weit die Planung.
Nach meinem Abitur, das ich überraschend exzellent abgeschlossen hatte - wobei Tante Barbara die feste Meinung vertrat, sie hätte ohnehin nichts anderes erwartet –, schwankte ich wie viele andere Abiturienten in der Entscheidung, gleich zu studieren oder lieber ein Jahr im Ausland zu verbringen.
Es war Charles Vorschlag gewesen, zunächst nach New York zu kommen. „Du fliegst einfach hierher und gönnst dir ein paar schöne Wochen. Danach fällt es dir sicher leichter zu entscheiden, ob du weiterbleiben und ein wenig arbeiten willst, um Erfahrung zu sammeln. Du kennst meine Ansicht. So etwas würde ich jedem wärmstens empfehlen. Außerdem käme es mir gerade gelegen, wenn jemand in meinem Appartement wohnen würde, damit es nicht leer steht. Wie du weißt, habe ich vor kurzem ein neues gekauft und wollte das alte meinem Geschäftspartner zur Verfügung stellen. In den Sommermonaten findet eh kein Meeting statt, weshalb du garantiert allein wohnen wirst, und später, falls du dich zu einem längeren Aufenthalt entschließt, ist es sogar besser, wenn du da bist“, versuchte er mich zu überreden, als ich zögerte, sein überaus großzügiges Angebot anzunehmen, und lächelte verschmitzt. „Ehrlich gesagt hoffe ich insgeheim, dass du dich dann ein wenig um meine Gäste kümmern würdest. In dem Fall wüsste ich nicht, wer von uns beiden mehr profitiert. Höchstwahrscheinlich müsste ich dich dafür zusätzlich entlohnen.“
Und genau das war der Grund für mein Zögern. Wenn er es mir nur als Verwandte von Jane und William vorgeschlagen hätte, wäre mir leichter gefallen, sein Angebot anzunehmen.
Damals nach dem Unfall, an den ich keine Erinnerung besaß, verbrachte Charles einige Zeit bei Jane und William, meinen amerikanischen Gasteltern, die nach Kanada in die einsame Wildnis gezogen waren, und half mir über die schwierige Phase hinwegzukommen, in der mein Gedächtnis wie von einer finsteren Nacht ohne einen einzigen Lichtfunken umgeben gewesen war.
Er verhielt sich, seit wir uns kannten, mir gegenüber stets äußerst aufmerksam, was ich etwas naiv als einen Charakterzug von ihm verstanden hatte, bis Mama und Tante Barbara ihn kennenlernten. Ihnen, insbesondere Tante Barbara, genügte ein einziges Treffen, um sein angeblich persönliches Interesse an mir zu erkennen. Anfangs wollte ich es nicht wahrhaben. Es klang einfach absurd. Weshalb sollte ein so überaus erfolgreicher, gut aussehender Mann, der dazu die Aufmerksamkeit von zahlreichen erfahrenen und aufregenden Frauen genoss, sich ausgerechnet in mich verlieben. Ich passte in keiner Weise zu ihm, weder gesellschaftlich noch dem Alter, der Erfahrung oder ganz zu schweigen dem unsicheren Auftreten nach. Nichtsdestotrotz trug Tante Barbaras hartnäckige Behauptung Früchte, so dass ich irgendwann doch begann, seine Gesten und seine Mimik aufmerksamer zu beobachten, ebenso worüber er sprach und wie er mir etwas erzählte. So kam selbst ich zu dem Schluss, dass es mehr als eine flüchtige Zuneigung war, die er für mich empfand. Es kam mir … ja, fast wie Liebe vor, obwohl er weder davon sprach, noch jemals irgendwelche Andeutungen in dieser Hinsicht machte.
Wenn wir zusammen unterwegs waren, achtete er stets darauf, einen gewissen Abstand zwischen uns zu halten, als würde ich zu viel Nähe nicht ertragen. Ich war diejenige gewesen, die ihn als Erste umarmt hatte beim Abschied damals in Amerika. Trotzdem war er der Aufmerksamere von uns beiden und vergaß nie meine Vorlieben oder Gewohnheiten. Selbst die kleinsten Bemerkungen von mir behielt er im Gedächtnis.
Ich hatte ihn sehr gern. Bei ihm fühlte ich mich geborgen wie bei keinem anderen. Nur wusste ich nicht, ob dieses Gefühl schon als Liebe bezeichnet werden konnte. Ob es für eine ernsthafte Beziehung reichte.
Hingegen war sicher, dass er mich tröstete, dass ich mit keinem anderen lieber meine Zeit zusammenverbrachte als mit ihm. Zumal er als einziger schaffte, mich zu spontanem, wirklichem Lachen zu bringen.
Es war mir durchaus bewusst, dass diese Einladung eine Entscheidung verlangte. Letztendlich entschloss ich mich, alles auf mich zukommen zu lassen. Wenn es ihm genügte, was ich ihm gefühlsmäßig entgegenbrachte, dann wollte ich den Schritt wagen und meine Zukunft mit ihm teilen.
Tante Barbara betonte stets, wir müssten uns glücklich schätzen, dass der Unfall insgesamt glimpflich abgelaufen sei. Schließlich hatte ich ihn, abgesehen von dem Verlust meiner Erinnerungen an Daeren, meinen damaligen Freund, ohne bleibende Schäden überstanden und konnte mich an alles andere wieder erinnern.
Der Unfall hatte sich auf einer schnurgeraden Strecke ereignet, auf der außer meinem Wagen nur ein weiteres Auto im Gegenverkehr unterwegs gewesen war. Den Aussagen der Zeugen zufolge hatte ich ohne jeglichen erkennbaren Grund abrupt gebremst, so dass der Wagen sich mehrmals überschlagen hatte.
Als meine Erinnerung an den Unfall und an Daeren nach mehreren Wochen gänzlich ausblieb, dazu noch keine einzige Nachricht oder ein Besuch von ihm folgte, stand die Sachlage für alle anderen fest; er hatte mich verlassen, weshalb ich im Schockzustand den Unfall verursacht hatte.
Jedoch traute sich kaum einer in meiner Gegenwart über ihn zu sprechen, weil ich in der ersten Zeit darauf regelmäßig mit heftigen Weinkrämpfen reagiert hatte. Normalerweise neigte ich nicht zu starken Gefühlsausbrüchen und ertrug alles still vor mich hin, schon als kleines Kind. Umso besorgter bemühten sich die anderen, das Thema Daeren zu meiden, so dass alles, was mit ihm zu tun hatte, unerwähnt blieb. Ich selbst versuchte ebenfalls nicht an ihn zu denken, weil es mir dabei immer schlecht ging. Es schmerzte wie eine offene Wunde, die nie heilen würde.
Merkwürdigerweise existierte kein einziges Foto von ihm, so dass ich nicht einmal wusste, wie er ausgesehen haben mochte. Sicher, die anderen hätten es mir sagen können, wenn ich mich jemals getraut hätte, sie danach zu fragen.
Aber wie hätte ich erklären sollen, dass in meinem Gedächtnis nichts über ihn existierte. Es herrschte absolute Leere. Das einzige, an das ich mich zu entsinnen glaubte, waren seine Augen, wobei die Erinnerung an sie jedoch beinah einem Trauma glich. Denn in meinen Träumen erschienen manchmal schmerzvolle tiefblaue Augen, deren Anblick mir jedes Mal das Herz zerriss. Dann wachte ich schweißgebadet auf und musste den Rest der Nacht grundlos weinen. Hinzu kam, dass die nächsten Tage eine zentnerschwere Last auf meine Brust drückte und ich ständig nach Luft ringen musste, obwohl mein Asthma überraschenderweise als völlig geheilt diagnostiziert wurde, ebenso wie meine Fehlsichtigkeit.
Ich brauchte seit meiner Rückkehr aus Amerika weder eine Sehhilfe noch irgendwelche Medikamente. Laut der einhelligen Meinung der Ärzte hinge all das mit der Pubertät zusammen und mit ein wenig Glück würde dieser Zustand weiterhin bestehen bleiben.
Darüber hinaus galt ich seitdem als eines der bestaussehenden Mädchen in unserer Schule. Dazu hatte sich meine schulische Leistung dermaßen enorm verbessert, dass all meine Lehrer, sogar in Mathe, mir mit größtem Wohlwollen begegneten. Eigentlich hätte mein Leben nicht besser laufen können, wenn bloß diese unerklärliche Leere nicht gewesen wäre...
Sicher, besonders lebhaft war ich nie gewesen, aber selbst meine Freunde - dazu zählten lediglich Lena, Mark und Philip, mit allen anderen war ich oberflächlich befreundet - fanden, dass ich depressiv geworden wäre.
Dennoch kam mir wiederum übertrieben vor, meinen Zustand als depressiv zu bezeichnen. Eigentlich berührten mich nur die meisten Dinge nicht mehr so stark wie früher, das war alles.
Zwar sprach keiner in meiner Gegenwart den Grund laut aus, trotzdem wusste ich, welchen Verdacht sie alle hinsichtlich meiner angeblichen Depression hegten.
Daeren.
Nur war mir mangels Erinnerung unmöglich, mich mit ihm auseinanderzusetzen. Außerdem blieb es letztlich eine Vermutung. Vielleicht bedeutete es nichts weiter als ein vorübergehendes alterstypisches Problem. Zumindest hoffte ich das.
In meinem Inneren empfand ich, als verliefe mein Leben ausschließlich im tristen, grauen Monat November. Weitaus seltsamer aber war, dass mir dieses Gefühl erst in Charles Gegenwart bewusst wurde. Und genau diese Erkenntnis brachte mich dazu, mir Mühe zu geben, so fröhlich wie möglich zu wirken, insbesondere Mama und Tante Barbara gegenüber, die mir seit meiner Rückkehr aus Amerika auffallend vorsichtig begegneten.
Zwischen uns lief es anders als bei anderen Teenagern und ihren Eltern. Mama freute sich, wenn ich am Wochenende ausging und erst spät nach Hause kam. Sie ermunterte mich überhaupt stets, mich mit Freunde zu treffen, obwohl die Betreuung für Dorian des Öfteren Probleme verursachte. Aber sie wollte auf keinen Fall, dass ich auf meine Freiheit verzichten musste, um auf meinen kleinen Bruder aufzupassen. Selbst Tante Barbara fand, dass Mama es in dieser Hinsicht übertreiben würde. Sie betonte, es sei etwas völlig Normales, wenn große Geschwister gelegentlich ihre Freizeit für die jüngeren Geschwister opfern würden.
„Nein, Barbara. Dora hatte ohnehin keine unbeschwerte Kindheit wegen Günthers frühzeitigem Tod. Ich möchte nicht, dass sie wegen Dorian gerade die schönste Zeit ihres Lebens zu Hause verbringt. Sie soll all das machen dürfen, was alle anderen in dem Alter auch tun“, sagte Mama ungewöhnlich bestimmt.
Sie und Tante Barbara saßen auf einer Parkbank vor einer blühenden Forsythie. Neben ihnen stand der Buggy mit einem friedlich schlummernden Dorian. Ich kam von der Schule zeitiger als erwartet zurück und hatte sie zufällig vom Bus aus gesehen. So war ich zwei Busstationen früher ausgestiegen, wollte mich von hinten anschleichen und sie überraschen. Jetzt verharrte ich jedoch hinter dem Busch und hielt den Atem an.
„Ach, Sandra, übertreib mal nicht. Es schadet ihr ja nun wirklich nicht, wenn sie sich ab und zu um Dorian kümmert. Außerdem macht sie es doch gerne“, versuchte Tante Barbara sie zu beschwichtigen.
„Deshalb ja. Sie ist für ihr Alter viel zu vernünftig und verantwortungsvoll“, entgegnete Mama betrübt.
„Wir müssen ihr mehr Zeit lassen“, entgegnete Tante Barbara leise. „Sie wird darüber schon hinwegkommen.“
„Ich zweifele des Öfteren, ob ihr dies jemals gelingen wird. Manchmal habe ich das Gefühl, sie empfindet nichts mehr“, zitterte Mamas Stimme leicht. An ihrer Hand, die den Kinderwagen sanft schaukelte, traten die Knöchel weiß hervor. „Als ob sie ganz allein auf der Welt wäre, ohne jegliche Hoffnung. Es gibt kein Leben in ihr. Sie leidet nicht einmal …“
„Das wird schon. Sie braucht halt länger als andere. Es war nun mal eine außergewöhnliche Beziehung. Ich kann mich nicht erinnern, jemals ein solches Pärchen gesehen zu haben wie Dora und ihn. Umso schwerer fällt es mir zu glauben, dass sie sich tatsächlich getrennt haben. Dass das überhaupt möglich war … Dabei war ich mir so sicher, er …“, brach Tante Barbara bedrückt ab, fuhr nach einer kurzen Pause auffallend lebhaft fort. „Dieser Charles, da bin ich überzeugt. Es ist ihm absolut ernst. Und was noch wichtiger ist, bei ihm lacht sie. Er ist aber auch so charmant!“
„Ja, schon“, murmelte Mama wenig überzeugt. „Aber ich frage mich, warum sie immer so eine unpassende Wahl trifft. Mark zum Beispiel wäre die deutlich passendere Partie.“
„Mark?“, rief Tante Barbara entrüstet. „Nein, der doch nicht! Also als Kumpel ist er sicherlich ganz in Ordnung, aber niemals als Freund! Nein, er passt auf keinen Fall zu unserer Dora. Ich finde Charles genau richtig! Er sieht mindestens genauso gut aus wie sie, ist zwar etwas älter als sie, aber gerade das ist ja das Gute daran! Bekanntlich verwöhnen ältere Männer jüngere Frauen eher und haben mehr Verständnis. Außerdem was heißt hier älter. So alt ist er nun wirklich nicht, gerade mal acht Jahre! Und das Allerwichtigste ist, dass er nur darauf zu warten scheint, sie auf Händen zu tragen.“
„Ich weiß nicht … Er ist für sein Alter zu selbstsicher. Dazu eine eigene Firma …“
„Ach, du hast dauernd irgendwelche Bedenken. Natürlich ist er selbstsicher, hat auch allen Grund dazu, bei dem Erfolg! Überlege mal, sie hatte schon damals Daeren mit ihrer Art für sich gewinnen können und jetzt wo sie eine Schönheit geworden ist, warum sollte sie nicht einem jungen erfolgreichen und gutaussehenden Mann gefallen?“
Ich schlich mich von der Parkbank fort und wählte einen anderen Weg, um sie von vorne zu erreichen. Weiterlauschen wäre nicht gut gewesen. Das, was ich unbeabsichtigt mitgehört hatte, traf mich genug. Ich ahnte zwar, dass Mama sich meinetwegen Sorgen machte, aber wie sehr wurde mir erst jetzt bewusst. Dabei gab ich mir doch gerade in ihrer Gegenwart so viel Mühe …
Es stimmte, alle anderen vertraten die Meinung, ich sei eine Schönheit geworden. Etliche Mädchen meinten, wenn der Aufenthalt in Amerika bei jedem eine solche Verwandlung hervorrufen würde, würden sie auf der Stelle für ein Jahr nach Amerika fahren wollen.
Lena, die stets einen guten Blick für die äußere Erscheinung hatte, setzte sich mit meiner schier an ein Wunder grenzenden Veränderung sachlicher auseinander.
„Weißt du, früher hattest du jede Menge Flecken auf der Haut und dazu war sie ganz rau und trocken. Jetzt ist sie unheimlich ebenmäßig und glatt geworden, was allein bereits schöner macht. Dann hast du mehr Busen bekommen, hängt wahrscheinlich vom Alter ab, und schöne Augen hattest du ja schon immer. Die anderen haben sie wegen deiner dummen Brille nur nicht gesehen. Außerdem tönst du jetzt deine Haare und machst überhaupt mehr aus dir.“
Früher hätte solch eine Aussage mich gefreut, aber ich hatte irgendwie die Fähigkeit verloren, Freude zu empfinden. Im Grunde meines Herzens war es mir gleichgültig wie ich aussah oder was die anderen dachten. Wie Mama treffend bemerkt hatte, fühlte ich fast nichts mehr und gerade deshalb bemühte ich mich besonders, mich anzupassen, und achtete mehr auf mein Äußeres als früher. Dennoch ließ sich eine Mutter wohl niemals täuschen.
Hinzu kam, dass ich überhaupt kein Interesse an Jungs verspürte. Um lästige Annäherungsversuche des anderen Geschlechts abzuwehren, hielt ich sogar oftmals Marks Hand, wenn wir mit Lena und Philipp gemeinsam unterwegs waren. Mark nahm den Platz eines Bruders ein. Bei ihm war ich mir sicher, dass er bloß freundschaftliche Gefühle für mich hegte.
Mit Charles war es anders. Bei ihm fühlte ich mich einfach geborgen. In seiner Gegenwart erschien mir die Welt heller, als blitzten durch die Dämmerung die ersten Sonnenstrahlen. Es war, als lernten meine Augen etwas von der Umgebung zu erkennen, und das Lachen kam manchmal spontan, nicht bewusst gesteuert wie sonst.
Sein Appartement lag wie erwartet in einem für mich schwindelerregend hohen Wolkenkratzer und bot einen fantastischen Blick auf die New Yorker Skyline sowie eine quirlige Großstadt aus einem Meer von Hochhäusern, wie ich sie mir immer vorgestellt hatte.
Es war sehr geräumig, verfügte über mehrere Zimmer, Bäder und eine Küche, die für einen alleinlebenden Mann, der kaum aß, erstaunlich gut ausgestattet war.
„Möchtest du etwas trinken?“, fragte er, nachdem er meinen Koffer in dem großen hellen Gästezimmer - mit eigenem Bad! - abgestellt hatte, in das ich für die nächsten Wochen oder eventuell gar Jahre einziehen durfte.
„Ja, danke, Wasser. Und bitte ohne Eis.“
Er lächelte wissend. „Daran hast du dich bis zum Schluss nicht gewöhnen können.“ Er holte aus dem Küchenschrank, nicht aus dem Kühlschrank, eine Wasserflasche und goss mir ein Glas ein.
„Du weißt es noch?“, fragte ich überrascht.
Es gab einige Dinge in Amerika, an die ich mich zu gewöhnen bis zum Schluss Probleme hatte, wozu eiskalte Getränke und ebenso die frostigen Raumtemperaturen im Sommer gehörten. Jetzt stellte ich fest, dass es in dem Zimmer deutlich weniger kühl war als in Gebäuden in Amerika üblich.
„Du hast die Klimaanlage wärmer eingestellt“, fügte ich leise hinzu. Er hatte wie stets an alles gedacht. Das hätte ich wissen müssen.
„Mir gefällt es so auch besser. Ich bin selber kühl genug“, antwortete er lapidar.
Das war das Merkwürdige an ihm. Egal wie hoch das Außenthermometer auch kletterte, fühlte er sich stets angenehm kühl an. Und beim letzten Besuch im Sommer in Berlin hatte er gar des Öfteren meine Hand gehalten, um sie mit seiner zu kühlen. Aber in unserer Beziehung hatte es trotzdem keine weitere Entwicklung gegeben. Einerseits sicherlich, weil ich mir über meine eigenen Gefühle im Unklaren war. Andererseits, weil er keinen Schritt in dieser Hinsicht unternommen hatte.
„Ja, im Sommer ersetzt du eine Klimaanlage“, scherzte ich.
Er warf mir einen kurzen Blick zu, der meine Gewissheit verstärkte, dass bald eine Entscheidung anstand. Wenn ihm meine Zuneigung reichte, die ich ihm derzeit entgegenzubringen im Stande war, dann würde ich mich für ihn entscheiden. Schließlich war er der einzige Mensch, der mich wirklich zum Lachen brachte und mir Trost spendete. Auf keinen Fall wollte ich ihn verlieren. Das zumindest wusste ich mit Sicherheit.
„Möchtest du dich ein wenig hinlegen?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich sollte lieber versuchen, möglichst lange wach zu bleiben, um mich schneller an die Zeitumstellung zu gewöhnen.“
„Gut, dann gehen wir jetzt in den Park und danach essen. Wenn du dann immer noch munter bist, schauen wir uns die Stadt an“, schlug er lächelnd vor.
Sobald er mich betrachtete, leuchteten seine dunklen Augen voller Wärme, während gleichzeitig beinah zwangsläufig seine Lippen sich zu einem Lächeln formten.
„Central Park, meinst du?“, fragte ich freudig. Von dem hatte ich oft gehört, für mich war er der Park in New York.
„Sicher, ich weiß ja, dass du gerne dahin wolltest“, bestätigte er; meine Wünsche vergaß er nie. Tante Barbara hatte recht. Ein besserer Mann würde nirgendwo zu finden sein.
Das Wetter war ideal für einen Parkbesuch. Ich trug ein leichtes ärmelloses Sommerkleid. Bis vor ein paar Jahren hätte ich mich wegen meiner Neurodermitis niemals getraut, so etwas anzuziehen. Nun schien die Sonne angenehm warm auf meiner Haut und brannte und juckte nicht mehr wie früher. Überhaupt war meine Haut unvergleichlich widerstandsfähiger und schöner geworden. Damit gehörte ich eindeutig zu den beneidenswerten Mädchen - besser gesagt jungen Frauen, schließlich war ich 19 -, die in der Pubertät von einem hässlichen Entlein zu einem schönen Schwan mutierten.
Ich müsste nur noch schaffen, mehr Freude zu empfinden, dann wäre mein Leben perfekt. Eventuell lag es einfach an Hormonschwankungen. Früher jedenfalls gehörte ich eher zu den Menschen, die sich über alles freuen konnten.
Allmählich stellte ich die Vermutung der anderen infrage, mein Gemütszustand solle etwas mit Daeren zu tun haben. Wenn er mir angeblich wirklich so viel bedeutet hätte, müsste doch zumindest ein wenig Erinnerung vorhanden sein. Aber da war nichts. Und was wichtiger war: Ich fühlte nichts, wenn ich an ihn dachte. Kein bisschen Schmerz, Wehmut oder Herzflattern. Absolut nichts. Einzig die seltenen nächtlichen Träume von seinen schmerzerfüllten Augen machten mir zu schaffen. Und es waren diese Augen, die mich an der Spekulation, er habe sich von mir getrennt, zweifeln ließen. Denn sie waren eindeutig die eines Verlassenen, der weiterliebte.
Andererseits aus welchem Grund hätte ich ihn verlassen sollen? Und warum erinnerte ich mich an nichts? Nein, irgendwie musste es für all das eine andere Erklärung geben. Außerdem kamen die Träume erst seitdem ich wieder in Deutschland war und nicht gleich nach dem Unfall.
Es wurde Zeit, dass ich anfing, mein Leben in die Hand zu nehmen und mir selbst zu meinem Glück zu verhelfen. Deshalb war ich hier. Charles war nicht nur aufmerksam und in jeder Hinsicht verständnisvoll, er war auch erfolgreich und selten gut aussehend. Vor allem war das Allerwichtigste, dass er mich liebte, wie mir in dieser kurzen Zeit unseres Wiedersehens deutlich bewusst wurde. Sein bisheriges Zögern beruhte höchstwahrscheinlich darauf, dass er mir Zeit geben wollte, mir selbst über meine Gefühle klar zu werden. Er war halt erfahrener und rücksichtsvoller als die meisten anderen Menschen.
Da der Park mir gefiel und ich einen starken Bewegungsdrang nach dem langen Sitzen im Flugzeug spürte, verbrachten wir dort eine ziemlich lange Zeit. Wie stets war er ein fürsorglicher, aufmerksamer Begleiter, der nicht nur jede Menge interessante Dinge zeigte und erklärte, sondern ebenso auf meine Bedürfnisse, wie Hunger oder Durst, achtete. Obwohl er selbst selten aß oder trank, vergaß er nie, dass ich ein guter Esser war und welche Speisen zu meinen Lieblingsgerichten zählten. So probierte ich seinem Rat folgend den bestschmeckenden Hot Dog meines Lebens – er war Vegetarier, verhielt sich aber immer tolerant gegenüber meinem Appetit auf Fleisch – und fühlte mich fast glücklich. Ein beinah vergessenes Gefühl.
Als wir wieder loszogen, grinste ich ihn von der Seite an und schob meine Hand in seine.
„Brauchst du eine Klimaanlage?“, fragte er lächelnd und umschloss sanft meine Hand.
„Ich bin froh, dich zu sehen“, antwortete ich einfach.
Das Lächeln breitete sich über sein Gesicht aus. „Ich erst“, flüsterte er, während der Druck seiner Hand zunahm.
Nach der Rückkehr in die Wohnung übermannte mich doch die Müdigkeit.
„Bist du sehr enttäuscht, wenn ich mich jetzt hinlege?“, fragte ich mit einem schlechten Gewissen. An sich stand noch ein Willkommensdiner auf unserem Plan.
„Nein, du hast ohnehin wesentlich länger durchgehalten, als ich vermutet habe“, sagte er verständnisvoll. „Ich weiß ja, wie viel Schlaf du brauchst.“
Er gehörte zu den Menschen, die mit extrem wenig Schlaf zurechtkamen und hatte mich seit Langem wegen meines erhöhten Schlafbedarfs aufgezogen.
„Wie wäre es, wenn du mich nach einer Stunde wecken würdest, dann könnten wir doch noch essen gehen“, schlug ich besorgt vor. Schließlich hatte er bislang nichts zu sich genommen.
„Nein, ich kann hier eine Kleinigkeit essen. Wenn du keinen Hunger hast, gehe lieber richtig ins Bett. Wir haben genug Zeit. Du weißt, ich habe Urlaub.“
„Schade, das wäre echt praktisch, wenn ich genauso wenig Schlaf bräuchte wie du.“
„Es gibt Menschen, die benötigen mehr als du. Außerdem können wir dafür morgen umso früher losgehen, was sowieso zu empfehlen ist, denn die meisten Touristenattraktionen muss man eh zeitig besuchen“, versuchte er mich zu trösten und stand gleich auf, um mir auffordernd seine Hand zu reichen.
Dankbar ergriff ich sie und ließ mich an beiden Händen hochziehen, wobei ich unbeabsichtigt in seine Arme fiel. Er roch so herrlich nach frischem Wind und seine Brust fühlte sich durch das Hemd so angenehm kühlend an, dass ich am liebsten in dieser Position im Stehen eingeschlafen wäre.
Er schob mich sanft von sich und drückte kaum spürbar einen leichten Kuss auf meine Stirn.
„Schlaf schön, Dora.“
Jedes Wort floss in mich wie eine Liebkosung und schickte ein wohliges Kribbeln durch die Adern.
Am nächsten Morgen erwachte ich, wie er prophezeit hatte, bereits beim Morgengrauen. Daher erschien ich frühzeitig fertig gekleidet in der Küche und entdeckte ihn zu meiner Überraschung beim Rühren des Haferbreis.
„Guten Morgen“, begrüßte er mich gut gelaunt. „Dein Essen ist gleich fertig.“
„Guten Morgen, du bist ja schon wach“, grüßte ich ihn verblüfft zurück. „Und machst sogar Essen.“
„Du weißt doch, ich schlafe kaum“, erwiderte er und füllte den Brei in eine kleine Schüssel. „Ich hoffe, er ist so geworden, wie du ihn magst.“
„Bestimmt, du machst doch alles gut“, erwiderte ich spontan.
Er warf mir ein belustigtes Lächeln zu und stellte die Schüssel auf den Tisch. „Seit wann schmeichelst du mir?“
„Ich sage bloß die Wahrheit“, konterte ich ungerührt und nahm Platz.
Er setzte sich mir gegenüber. „Du siehst wunderschön aus“, entschied er mich gefällig musternd.
Ich grinste. „Und seit wann schmeichelst du mir?“
Seine Mundwinkel zogen sich nach oben. „Meinen Mund verlässt ebenfalls ausschließlich die Wahrheit. Ich mag es, wenn du die Haare hochsteckst, dadurch kommt dein Hals besonders schön zur Geltung.“
Wie zur Bekräftigung seiner Aussage glitt sein offener Blick, zu dem eindeutig nur ein hoffnungslos Verliebter fähig war, von meinem Gesicht zu meinem Hals.
„Oh, das wusste ich nicht. Gut, dann werde ich sie in Zukunft immer so tragen“, entgegnete ich etwas verlegen.
Er sah mir in die Augen. „Es freut mich, dass dir meine Meinung wichtig zu sein scheint.“
„Sie ist mir sehr wichtig“, gab ich flüsternd zu. Gleichzeitig wurde mir bewusst, meine Entscheidung soeben laut kundgetan zu haben.
Wir verließen die Wohnung am frühen Morgen. Der Tag versprach genauso warm zu werden wie gestern. Wie Abermillionen vor mir besuchten wir die bekannten New Yorker Sehenswürdigkeiten wie das Empire State Building, das Rockefeller Center und das berühmte Naturkundemuseum.
Er führte mich durch all diese Orte wie ein professioneller Guide, nein, besser, so charmant und fürsorglich war kein Guide der Welt. Er schaffte spielerisch mein Interesse zu wecken, so dass ich ihm die ganze Zeit gebannt zuhörte und vieles wahrnahm, auf das ich allein niemals aufmerksam geworden wäre.
Als wir nach dem üppigen Dinner in einem feinen Restaurant, in dem ich mich anfangs ziemlich unwohl fühlte, aber es durch seine behutsame Hilfe und Gespräche letzten Endes vollauf genießen konnte, zur Wohnung zurückkehrten, war es bereits spät.
Ich stand am Fenster und beobachtete fasziniert die für mich ungewohnte Nachtsilhouette einer Wolkenkratzer-Stadt mit ihren bunten Lichtern.
Er stellte sich dicht hinter mich. „Bist du müde?“, fragte er leise und ließ seine Hände auf meine Schultern sinken. Sie kühlten angenehm meine von der Sonne erhitzte Haut.
„Nein, es war wunderschön“, sagte ich, legte meine Hände auf seine und fügte leise hinzu. „Dank dir.“
Ich spürte seinen kühlen Atem auf meinem Nacken und schloss die Augen. Die Entscheidung war gefallen, ich würde bei ihm bleiben. Bei keinem anderem fühlte ich mich geborgener.
Seine Lippen berührten leicht wie ein Windhauch meinen Nacken, streiften den Hals entlang bis zur Schulter, dann drehte er mich sanft zu sich um. Ich schlang meine Arme um seinen Hals und schaute zu ihm auf. Seine nachtschwarzen Augen erwiderten meinen Blick voller Liebe.
„Hast du überhaupt eine Ahnung, wie sehr ich dich liebe?“, fragte er leise, während er mich vorsichtig in seine Arme schloss, als wäre ich zerbrechlich.
„Nein, sag es mir“, bat ich flüsternd, den Blick fest in seine dunklen, leuchtenden Augen geheftet.
„Ich habe dich seit unserer ersten Begegnung geliebt. Aber ich wusste, dass viel Geduld nötig wäre. Du warst noch so jung“, gestand er endlich und zog mich näher an sich.
„Jetzt musst du nicht mehr geduldig sein“, hauchte ich überzeugt und streckte mein Gesicht zu ihm empor. Meine Augen schlossen sich von selbst erwartungsvoll, als seine Lippen sich sanft auf meine legten.
Im selben Moment blitzten durch meine geschlossenen Lider jene blauen Augen aus meinen Träumen auf. Erschrocken riss ich meine Augen auf. Die riesigen tiefblauen Augen, in denen unvorstellbare Qual lag, füllten den gesamten Raum vor mir. Ein unerträglicher Schmerz durchfuhr meinen Körper. Unwillkürlich aufkeuchend sank ich in die Tiefe.
„Dora, Liebes. Hörst du mich?“, erklang Charles sanfte, aber bestürzte Stimme. Benommen schlug ich meine Augen auf und erblickte sein besorgtes Gesicht dicht vor mir.
„Was … war …“, stieß ich mühsam hervor.
„Du hast plötzlich aufgestöhnt und das Bewusstsein verloren“, sagte er und legte seine Hand auf meine Stirn. „Du bist sehr blass. Hast du irgendwo Schmerzen? Möchtest du etwas trinken?“
„Ja, trinken wäre gut“, krächzte ich durch meine zugeschnürte Kehle.
In Windeseile brachte er ein Glas Wasser, stellte es auf den Tisch und hob vorsichtig meinen Kopf hoch. Erst da merkte ich, dass ich auf der Couch lag und richtete mich mit seiner Hilfe auf. Mein Körper war schwach wie nach einer langen Krankheit. Selbst das Trinken kostete Mühe, so dass ich nach ein paar Schlucken meinen Kopf erschöpft an seine Schulter sinken ließ.
Er stellte das Glas zurück und legte seinen Arm liebevoll um mich. „Wie fühlst du dich?“, fragte er besorgt und strich mir zärtlich meine Haare aus dem Gesicht.
Ich lehnte mich enger an ihn, vergrub mein Gesicht an seiner kühlen Brust. Mein Herz schlug wie wild.
„Diese Augen …“ murmelte ich schwer atmend.
„Welche Augen?“, fragte er irritiert.
„Ich weiß es nicht. Ich träume manchmal von irgendwelchen Augen, die ich nicht kenne. Aber bisher habe ich sie nur im Traum gesehen“, antwortete ich schwach. Ich fühlte mich ganz benommen.
Abrupt ließ er seine Hand sinken, die bislang meinen Rücken sanft gestreichelt hatte.
„Wie … sehen sie aus?“ Seine Stimme klang merkwürdig gepresst.
„Sie sind tiefblau und so … leidend.“ Kaum sprach ich es aus, zog sich mein Herz krampfartig zusammen. Erneut rang ich nach Atem.
Plötzlich spürte ich eine starke Anspannung seines Körpers, hob verwundert meinen Kopf und erschrak. Er war vollkommen blass. Was mich aber zutiefst erschütterte, waren seine dunklen Augen, die mich mit demselben gequälten Ausdruck anblickten wie jene tiefblauen. In ihnen war keine Spur mehr von der Liebe zu finden, die bis vor Kurzem so warm aufblitzte, wenn er mich ansah.
Die Erkenntnis traf mich vollkommen unvorbereitet. Dass es vorbei war. Dass ich ihn verloren hatte. Für immer. Verwirrt von meiner Gewissheit, die durch nichts zu erklären war, starrte ich ihn bloß groß an.
Er schloss kurz seine Augen und als er sie wieder aufschlug, war der schmerzhafte Ausdruck aus ihnen verschwunden. Sie wirkten nun leblos, gänzlich leer.
„Es ist besser, wenn ich jetzt gehe“, sagte er leise.
„Charles“, hauchte ich verzweifelt.
Meine Gefühle überschlugen sich, übernahmen all meine Handlungsfähigkeit und machten mich sprachlos. Mein Verstand begriff nicht, warum er gehen wollte, warum er so reagierte, wenngleich mein Herz irgendwie einsah, dass ihm keine andere Wahl blieb.
„Du hast die Schlüssel und kannst selbstverständlich hier wohnen, solange du möchtest. Jane und William wollten dich morgen oder übermorgen besuchen kommen. Vielleicht schaue ich nach ein paar Tagen vorbei“, sprach er emotionslos wie eine Maschine und stand auf.
Zitternd erhob ich mich. Durch eine dichte Nebelwand beobachtete ich, wie er die Wohnungstür öffnete und hinausging, ohne sich noch einmal umzudrehen. Das Licht aus dem Flur warf hinter ihm einen langen dunklen Schatten, dann fiel die Tür zu.
„Charles, bitte verlasse mich nicht“, flehte meine erstickte Stimme.
Sie hallte in die Dunkelheit des leeren Eingangsbereichs. Wie versteinert stand ich da und starrte auf die Tür. Irgendwann ließ ich mich auf den Boden sinken und begann zu weinen. Soeben erlosch der letzte Hoffnungsschimmer, das letzte Licht in meinem Leben, ohne dass ich hätte erklären können, wie es geschehen war.
Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Es wehte ein leichter Luftzug ins Zimmer und vom Eingang klang leise ein Geräusch, wie beim Schließen einer Tür.
Charles, er ist doch zurückgekehrt, schoss mir durch den Kopf.
Hastig sprang ich auf und eilte stolpernd zur Tür. Der Eingangbereich lag in völliger Dunkelheit. Ich glaubte schemenhaft den Umriss eines Menschen zu erkennen.
„Charles?“, zitterte meine Stimme hoffnungsvoll.
Aber er gab keine Antwort.
Mit einem Mal schlug eisige Kälte auf meine Brust und schnürte mir die Kehle zu. Meine Hand tastete nach dem Lichtschalter. Dann umgab mich die Finsternis.
Nein!
Wenn ich sterbe, dann fängt dein Leben erst an!
Schweißgebadet schreckte ich auf. Die schmerzerfüllte Stimme hallte noch lange in meinen Ohren nach. Es war einmal mehr die Erinnerung, die mich jeden Tag, jede Stunde quälte, die mich in dieser Dunkelheit, in der nichts existierte, gefangen hielt. Dann traf mich aufs Neue die seit jenem Tag stets wiederkehrende Erkenntnis.
Sie ist gegangen.
Für immer.
Mir war von Anfang an klargewesen, dass dieser Tag irgendwann kommen würde, dass mein Glück nicht ewig währen würde. Solche vollkommene Freude, solches unbeschreibliche Empfinden war nicht für die Ewigkeit geschaffen. Das war mir seit Langem bewusst. Genauso gut wusste ich, dass ich ihr niemals das geben konnte, was sie verdient hätte. Ihre letzten Sätze, die sie bis zu jenem Tag nie ausgesprochen hatte, hinterließen eine unheilbare Wunde und hinderten mich, ihre Entscheidung infrage zu stellen.
Zweifellos war sie zu gut für mich und mein Bestreben, sie für mich behalten zu wollen, bedeutete ein unfaires Unterfangen ihr gegenüber.
Sie hatte recht. Ich verlangte ihr ganzes Leben für mich, während ich ihr nur einen Bruchteil meines eigenen gab. Ich verzichtete auf nichts. Selbst in der Zeit, als sie bei mir war, hatte sie keine ausreichende Fürsorge durch mich erfahren. Wie schwer es gewesen sein musste, in der für sie so fremden Welt zurechtzukommen, wie einsam sie sich gefühlt haben musste. Von alldem hatte ich letzten Endes keine Ahnung gehabt.
Jedes Mal, wenn ich die Aufzeichnungen betrachtete, auf denen sie zu sehen war, insbesondere die von dem Willkommensball, zog sich mein Herz erneut schmerzhaft zusammen. Ihr verängstigtes, verlassenes Gesicht, das vor den neugierigen Blicken der anderen hinter Blätterwerk Schutz gesucht hatte und trotzdem jedes Mal aufblühte, wenn sie mich erblickte…
Ich war mir nicht sicher, was mir mehr zu schaffen machte; die Erkenntnis, dass sie mich verlassen hatte, oder meine Unfähigkeit, ihre Bedürfnisse so zeitig zu erkennen, dass noch die Möglichkeit bestanden hätte, auf sie einzugehen.
Sicher war dagegen, dass seitdem die Welt für mich stillstand. Erinnerungen an die ersten Monate danach existierten nicht, auch die darauf folgenden Monate blieben schemenhaft. Ich ging zur Akademie, erledigte meine Aufgaben, traf aber weder Freunde noch suchte ich irgendwelche Beschäftigungen. Ich saß immerzu allein in einem meiner Räume, in dem all ihre Sachen ausgebreitet lagen und ließ ununterbrochen die Aufzeichnungen laufen, die sie zeigten. Sie hatte alles zurückgelassen, selbst ihr Tagebuch, dessen Inhalt ich Zeile für Zeile, Wort für Wort auswendig aufsagen konnte.
Mein Verstand akzeptierte ihren Entschluss und ich strengte mich an, mein Leben weiterzuleben und so gut wie möglich meinen Verpflichtungen nachzukommen.
Nur schien für mich seitdem die Sonne nicht mehr, auch kein Vogel sang oder irgendwelche Blumen dufteten. Weder hörte ich Lachen noch schmeckte etwas. Ich hatte kein Bedürfnis jemanden zu sehen oder zu sprechen. Es war, als hielte mich tiefste Finsternis, in der nichts existierte, gefangen.
Das Einzige, was ich unentwegt empfand, war der Schmerz um das Wissen, dass sie sich nicht mehr an mich erinnern würde, dass ich aus ihrem Gedächtnis gelöscht war. Diese Erkenntnis zerriss mir jeden Tag, jede Stunde aufs Neue das Herz und hinterließ eine unerträgliche Leere.
Plötzlich endete die Aufnahme. Irritiert richtete ich mich in meiner Liege auf, um sie erneut in Gang zu setzen. Erst da entdeckte ich Dania.
„Daeren, ich habe sie ausgeschaltet“, sagte sie leise und lächelte mich traurig an.
Ich muss irgendeine wichtige Verpflichtung versäumt haben, dachte ich dumpf. Sonst gab es keinen Grund für Dania, in meine Räume zu kommen.
„Was habe ich vergessen?“ Fragend erhob ich mich mühsam.
„Nein“, erwiderte sie sanft. „Setz dich. Ich möchte mit dir reden.“
Verwundert schaute ich sie an. Mir war absolut unklar, worüber sie sich mit mir unterhalten wollte.
„Daeren, ich verstehe deinen Schmerz“, begann sie vorsichtig. „Aber irgendwann einmal muss damit Schluss sein. Du kannst nicht dein Leben lang trauern.“
Mir fiel keine Erwiderung ein. Bis zu diesem Moment hatte mich keiner wegen dieses Themas direkt angesprochen. Zumindest erinnerte ich mich nicht daran.
„Weißt du überhaupt, wie es seitdem im Haus aussieht? Es … es gleicht einem Mausoleum. Mutter lacht nicht mehr, nicht einmal der Ansatz eines Lächelns erscheint auf ihrem Gesicht. Selbst Vater hat aufgegeben, sie aufzumuntern, und wir alle sitzen am Tisch seit Jahren schweigend beisammen. Rinna weint immer noch manchmal und glaubt, du wirst ihr niemals vergeben, dass sie damals Dora half.“
Mit gesenktem Kopf hörte ich ihr zu. Alles, was sie erzählte, tat mir leid. Es lag mir fern, andere wegen meines persönlichen Unglücks in Mitleidenschaft zu ziehen. Nur wusste ich nicht, wie das zu ändern war, wie dieser Welt aus Dunkelheit und dumpfem, nie aufhörendem Schmerz zu entkommen war.
„Daeren, ich erwarte nicht, dass du sie vergisst. Dennoch will und muss ich dich daran erinnern, dass du, wie jeder von uns, deiner Familie und deinen Freunden gegenüber gewisse Verpflichtungen hast. Bemühe dich, ein normales Leben zu führen, indem du dich wieder mit Freunden triffst, dich ein wenig an Gesprächen beteiligst. Es muss nicht einmal von Herzen kommen. Tu es einfach für Mutter, für die Familie, so dass wir wieder zu unserem alten Leben zurückkehren können, das Gespräche und auch Lachen beinhaltet. Es ist tragisch genug, wenn du so sehr leidest. Aber lasse es nicht zu, dass alle, die dich lieben, ebenso in dieser nicht enden wollenden Trauer ersticken.“
Es geschah zum ersten Mal, dass Dania mich zurechtwies. Bedingt durch den großen Altersunterschied war sie mir mein Leben lang nachsichtig wie eine Mutter und nicht wie eine Schwester begegnet. Sie hatte mich bislang kein einziges Mal an meine Verpflichtungen erinnert. Umso mehr beschämte mich ihr offener Tadel. Ich war selbstsüchtig, hatte keine Sekunde an die anderen gedacht, wie sie mit meinem Zustand umgingen, was es für Mutter bedeutete, mich tagtäglich so zu erleben.
Es reichte, wenn ich trauerte, wenn mein Leben vorbei war.
„Dania, es tut mir leid“, flüsterte ich. „Ich werde deinen Rat beherzigen.“
Wortlos umarmte sie mich und verließ das Zimmer.
Ich lehnte mich an die Tür und blickte durch den Raum. Von allen Seiten sprangen mir Doras Kleider, ihre Bordtasche, ihre Schuhe, ihr Tagebuch und die Briefe ins Auge. Ich schaltete den Stift für die Aufnahmewiedergabe aus, schaute ein letztes Mal auf all die verstreut liegenden Sachen und holte tief Luft. Dann verließ ich entschlossen den Raum. Meine Hand zitterte, als sie die Tür verriegelte.
Es war so weit, Abschied zu nehmen. Die Zeit mit Dora war endgültig vorbei. Dieser Raum würde für immer verschlossen bleiben.
„Hallo, Daeren“, ertönte Taurus sorgsam kontrollierte, dennoch ungläubige Stimme. „Freut mich wirklich, dass du gekommen bist.“ Er strahlte über das ganze Gesicht.
„Ich hatte es doch versprochen“, erwiderte ich unbeholfen.
Es war eine von Baana und Rinna organisierte kleine Party, zu der ich, zu Taurus Überraschung, Rinna zugesagt hatte zu kommen. Sie begegnete mir anders als früher, unvergleichlich vorsichtiger und nachsichtiger, als wäre sie schuld an meinem Unglück, was mir umso mehr leid tat. Daher war ich bemüht, ihre stets zaghaften Vorschläge, mit Freunden etwas zu unternehmen, möglichst nicht abzulehnen.
Ich hatte nach dem Gespräch mit Dania noch am selben Abend schmerzhaft erkannt, wie stark mein Verhalten die gesamte Familie belastete, welch dunkler Schatten auf Mutters Gesicht lag, und wie schnell dieser Schatten auf ihrem Gesicht sich in ein Lächeln verwandelte, als ich begann, mich mit ihr über belanglose Dinge zu unterhalten.
Die Reaktionen von Tauru und meinen anderen Freunden, vor allem die von Rinna, fielen nicht minder freudig aus, was mich zutiefst beschämte. Dania hatte recht. Es reichte, wenn ich litt, woran nun mal nichts zu ändern war. Aber ich durfte nicht zulassen, dass meine Trauer all die, die mir nahe standen, in mein Leid hineinzog. Das schuldete ich ihnen und ihrer mir entgegengebrachten Liebe.
„Das ist Marscha, meine Cousine. Sie ist neu hier auf JaRen-Stadt, weil ihre Familie bisher im Ranor-System gelebt hat. Ihr Vater ist der Gründer des bekannten Schiffbaukonzerns Dlischan“, stellte mir Baana ein rothaariges Mädchen in ihrem Alter vor. „Sie ist etwas schüchtern, weil sie noch nie mit einem Rensha direkt gesprochen hat.“
Ein Paar meerestiefgrüner Augen blickte mich scheu an.
„Freut mich, Sie kennenzulernen, Marscha Shi“, begrüßte ich sie lächelnd.
„Es ist mir eine Ehre, Euch persönlich begrüßen zu dürfen, Daeren Rensha“, sagte sie fast flüsternd und verneigte sich vor mir.
Ich erstarrte.
Ein Schmerz, aber gleichzeitig eine vergessene Freude durchströmten meinen Körper. Sie schlugen auf die Oberfläche meiner Wunde, verursachten ein Kräuseln. Eine erste Gefühlsregung in dem ewig währenden dumpfen Schmerz. Ich war dermaßen verwirrt, dass ich sie einen Augenblick lang nur anstarrte.
„Seit wann wohnen Sie hier?“, kam die Frage selbstständig über meine Lippen. Erst dann registrierte ich, dass ich es gewesen war, der diese Frage gestellt hatte.
„Nicht lange, erst seit ein paar Tagen“, antwortete sie.
In diesem Moment wurde mir bewusst, weshalb ich wollte, dass sie sprach. Aber ich ignorierte meine Beweggründe und bot ihr meinen Arm an, um sie zum Tanz aufzufordern. Den ganzen Abend wich ich nicht mehr von ihrer Seite. Ich wollte, dass sie weiter mit mir sprach, dass sie nie aufhörte zu reden.
Beim Abschied bat mich Rinna strahlend. „Onkel, komm doch morgen zu unserem gemeinsamen Frühstück mit Baana und Tauru. Marscha wird auch da sein.“
Vielleicht hätte ich über die möglichen Konsequenzen nachdenken sollen. Aber andererseits, was hätte es gebracht?
Seitdem sah ich Marscha jedes Mal, wenn wir uns bei Tauru trafen. Ich fragte sogar nach, ob sie dabei sein würde. Rinna war überglücklich über diese Entwicklung. Baana und meine anderen Freunde zeigten sich ebenfalls erfreut darüber. Nur Tauru äußerte sich seltsamerweise kein einziges Mal und hüllte sich in Schweigen.
Dann kam es, wie es nicht anders zu erwarten war.
Es war spätabends, ich begleitete Marscha zu ihrem Wohnsitz und als ich mich verabschieden wollte, bat sie mich, noch ein wenig zu bleiben.
Ihre Stimme klang angespannt. „Daeren Rensha. Ich … Es fällt mir schwer, über solche Dinge zu reden. Ich habe noch nie von mir aus so etwas gesagt, aber Rinna und Baana meinten, bei Ihnen müsste ein Mädchen den ersten Schritt machen, weil Sie …“ Sie kaute auf ihren Lippen und senkte verlegen die Augen. Flüsternd gestand sie. „Ich glaube, ich bin hoffnungslos in Sie verliebt.“
Es war ein kleiner Schock. Aber irgendwo tief in mir hatte ich bereits längst geahnt, dass mein Verhalten zwangsläufig irgendwann zu solch einer Situation führen würde. Ich hatte unbedacht, nein in Wirklichkeit aus purem Egoismus ihre Nähe gesucht und sie somit glauben lassen, es bestünde meinerseits Interesse.
„Marscha, es tut mir leid“, gestand ich schuldbewusst. „Aber ich kann Ihnen nicht das geben, wonach Sie suchen.“
Sie drehte sich mit gesenktem Kopf um. Ich stand hilflos da und wusste nicht, womit ich sie trösten sollte.
„Verzeihen Sie bitte meine Dummheit“, bat sie mit erstickter Stimme. „Wie hatte ich mir nur einbilden können, dass ein Rensha sich für mich, ein Mädchen aus der Provinz, interessieren würde.“ Ihre Schultern bebten leicht.
„Nein, es ist nicht so, wie Sie denken“, widersprach ich hastig. „Sie sind nicht dumm. Sie sind wundervoll. Es liegt an mir. Ich … Ich verdiene Ihre Liebe nicht.“
„Bemühen Sie sich nicht. Einfältig wie ich war, dachte ich, Sie verbringen Ihre wertvolle Zeit gerne mit mir. Und dass das bloß aus Mitgefühl …“ Sie konnte nicht weitersprechen. Zwischen unterdrückten Schluchzern wisperte sie. „Ich schäme mich so.“
Verzweifelt und von heftigen Gewissensbissen geplagt, lief ich um sie herum. „Nein, das stimmt nicht. Glauben Sie mir. Ich verbringe meine Zeit mit keinem anderen so gerne zusammen wie mit Ihnen“, beteuerte ich.
„Aber ich bin nicht gut genug für einen Rensha“, meinte sie heiser.
„Nein, ich bin nicht gut genug für Sie“, beschwor ich. „Ich … ich hatte … eine Freundin und habe sie verloren, weil ich unfähig war, ihren Kummer zu erkennen …“
Ein Schmerz durchfuhr mich. Es war zum ersten Mal, dass ich den wahren Grund laut aussprach. Unwillkürlich stützte ich mich auf eine Stuhllehne und rang schwer nach Atem. Meine Brust wurde von allen Seiten qualvoll zusammengepresst. Mit aller Macht versuchte ich, den Schmerz zu verdrängen.
„Sie haben sie sehr geliebt“, stellte sie leise fest. Ihre Hand lag auf meinem Arm, während ihr mitfühlender Blick auf mir ruhte. Ich nickte stumm, zu mehr war ich in dem Moment nicht fähig.
„Heißt das, Sie haben nichts gegen mich?“, fragte sie nach einer Weile zögernd.
Eine Träne fiel glitzernd von ihren Wimpern hinab auf die Wange. Ich wünschte, sie würde aufhören zu weinen und ein Lächeln wieder ihr Gesicht erhellen. Keiner sollte meinetwegen leiden. Nie mehr, solange ich die Macht dazu hatte.
„Nein, wie ich bereits beteuerte, bin ich mit keinem so gerne zusammen wie mit Ihnen. Es ist nur, weil ich Ihre Liebe nicht erwidern kann, wie Sie es verdient hätten. Das ist die Wahrheit“, beschwor ich noch einmal.
„Sie meinen, Sie ziehen kein anderes Mädchen mir vor?“; fragte sie. In ihrer Stimme schwang Hoffnung mit.
„Nein, kein anderes. Ich will mit keinem anderen als mit Ihnen meine Zeit verbringen, wenn Sie nichts dagegen haben.“
„Aber mehr verlange ich doch gar nicht!“ Ihre Wimpern waren noch nass, dennoch breitete sich ein bezauberndes Lächeln über ihr Gesicht aus. „Ich will doch nur, dass Sie mir erlauben, an Ihrer Seite zu bleiben.“
Ich begriff, dass einzig und allein an mir lag, ob dieses Lächeln weiterhin auf ihrem Gesicht bleiben würde oder nicht. Wenn ich wollte, dass es nicht verschwand, musste ich mich bloß für sie entscheiden. Wenn sie wirklich in mich verliebt war, wie sie sagte, dann würde meine Zusage sie beglücken. Weshalb sollte ich es nicht tun? Es gab keinen Grund, sie zu verletzen, und noch weniger Veranlassung, auf ihre Gesellschaft zu verzichten. Zumal das, was ich ihr soeben beteuert hatte, voll und ganz der Wahrheit entsprach. Es war tatsächlich mein sehnlichster Wunsch, meine Zeit mit ihr zu verbringen. Ich wollte sie auf keinen Fall verlieren.
„Wenn Ihnen das genügt, was ich Ihnen entgegenzubringen im Stande bin ...“, sagte ich und wischte mit meinen Fingern die Tränen vorsichtig von ihrer Wange.
„Oh, Daeren“, rief sie strahlend und fiel mir um den Hals. „Ich bin das glücklichste Mädchen im ganzen Universum! Meine Liebe genügt für uns beide.“
Schüchtern näherten sich ihre Lippen meinen. Ich schloss die Augen und ließ es geschehen. Es war nicht so schlimm wie befürchtet. Sie fühlten sich weich und warm an.
„Du ziehst in ein eigenes Wohnhaus?“, fragte Tayler überrascht.
„Natürlich zieht er um. Schließlich hat er jetzt eine Freundin“, kam Rinna mir zuvor. „Es ist zwar das alte Gebäude meiner Mama, ist aber gut gepflegt und reicht für die erste Zeit bestimmt. Und falls er doch etwas Neues bauen möchte, kann er es immer noch machen.“
„Und willst du es?“, wollte Merrl wissen.
„Ich weiß nicht. Wenn Marscha es möchte …“, zuckte ich mit den Schultern und schaute sie fragend an.
Sie strahlte. „Nein, nicht unbedingt. Obwohl es eine schöne Vorstellung wäre, für dich das Haus einzurichten.“
„Ach, du hast es wirklich gut mit dem Rensha“, seufzte Baana. „Für ihn zählt deine Meinung am meisten. Vor allem vergisst er selbst deine kleinsten Bemerkungen nie und überhäuft dich nicht nur mit Geschenken, sondern macht auch immer wundervolle Komplimente. Ganz anders als Tauru. Er kriegt so etwas nicht einmal mit.“
„Ach, das ist halt ein Charakterzug. Bei Dora war er genauso“, stellte sich Tylor auf Taurus Seite.
„Nein, das stimmt nicht“, widersprach Baana sofort und warf Tylor einen missbilligenden Blick zu. „Ihr hat er nicht jeden Tag Geschenke mitgebracht. Marscha bekommt vom Rensha tagtäglich die schönsten Aufmerksamkeiten.“
„Also, Daeren, hör sofort damit auf“, schlug Merrl grinsend vor. „Sonst kriegen Tauru und Tylor Probleme mit ihren Freundinnen.“
Tauru winkte ab. „Deshalb ist er ein Rensha.“
„Ja, stimmt“, gab Baana widerwillig zu und stand auf. „Also wir gehen dann zu der neuen Modeschau und wie ich euch kenne, wollt ihr sicherlich nicht mitkommen.“
„Nein, es macht auch keinen Spaß, wenn sie dabei sind. Die drängeln nur“, sagte Rinna und fragte Marscha neugierig. „Hat er dir wieder alles versprochen, was du haben möchtest?“
Sie lächelte bloß, woraufhin Baana laut seufzte.
Merrl und Tylor tauschten genervte Blicke aus, während die Mädels das Zimmer verließen. Tauru saß völlig unbeteiligt da und verzog keine Miene, als wäre er mit seinen Gedanken irgendwo anders.
„Dann viel Spaß ihr Frauen“, rief Tylor ihnen laut hinterher und erhob sich ebenfalls. „Merrl und ich müssen noch für die Prüfung lernen.“
„Ja, haben nicht alle so viel Glück und müssen nie lernen wie Tauru und Daeren“, klagte Merrl.
„Stimmt nicht, wir haben schon letzte Woche gelernt“, widersprach Tauru und wandte sich zu mir. „Daeren, hast du Lust zum Fluss zu fahren?“
Irritiert über seinen ungewöhnlich nachdrücklichen Tonfall willigte ich, ohne nach dem Grund zu fragen, ein.
Auf der Wiese am Ufer blieb Tauru stehen und schaute schweigend zum Fluss hinunter. Ich fühlte mich unbehaglich. Dieser Platz erinnerte mich stärker an damals, als mir lieb war. Die Oberfläche meiner Wunde bekam einen Riss.
„Komm, wir gehen wieder.“ Ich drehte mich um und lief ohne zu warten los.
„Daeren, du kannst nicht ewig davonlaufen“, rief Tauru mir leise nach. Seine Stimme klang ernst und traurig.
Abrupt hielt ich an. „Ich weiß nicht, was du meinst“, antwortete ich dann hastig und wollte weiterlaufen.
„Ich weiß, warum du Marscha dauernd Geschenke machst und all ihre Wünsche erfüllst.“
Ich blieb erneut stehen, blickte mich aber nicht um.
„Daeren, du musst kein schlechtes Gewissen haben. Was du für sie empfindest, ist nichts weiter, als das, was die meisten Paare füreinander empfinden. So wie mit Dora wird es nie werden.“
„Tauru, ich möchte nicht darüber reden“, presste ich mühsam hervor. Ich spürte, wie die tief vergrabene Wunde aufzureißen, zu bluten begann.
„Ich habe bisher nie darüber gesprochen“, fuhr Tauru ungeachtet meiner Bitte fort. „Weil du Zeit gebraucht hast. Aber irgendwann musst du es einsehen. Nein, endlich begreifen, dass das, was du mit ihr erlebt hast, etwas Einmaliges, ja, ein Wunder ist. Die Allermeisten erfahren nie im Leben auch nur einen Hauch dessen! Es ist etwas so Einzigartiges, das wahrscheinlich nur alle paar Millionen Jahre vorkommt!“
Plötzlich hörte er auf zu reden. Langsam drehte ich mich zu ihm um. Unendliche Trauer überschattete sein Gesicht.
„Ich habe dich nie beneidet, wie viele andere unserer Freunde. Ich wusste schon immer, welch eine Bürde dein Geburtsrecht ist. Damals, als du zur Erde musstest, habe ich dich zutiefst bedauert. Dann kamst du mit Dora zurück... Als ich euch zum ersten Mal zusammen traf… Ich war erschüttert. Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass jemand so sehr liebt. Wie sie dich angeschaut hat, wie sie aufblühte, wenn sie dich ansah… „
Er pflückte ein paar Blätter von einem Strauch und zupfte sie auseinander, den Blick fest zu Boden gerichtet. Seine Stimme wurde leiser. „Ich begann, dich um ihre Liebe dermaßen zu beneiden, dass es mir gar manches Mal weh tat. Ich habe ein solches Gefühl nie empfunden. Es war zum ersten Mal, dass ich dir oder überhaupt jemandem etwas so sehr missgönnt habe. Und das Allerschlimmste war: Ich konnte dagegen nichts machen. Jedes Mal, wenn ich euch traf, erwachte unweigerlich der schmerzhafte Wunsch, von einem Mädchen genauso geliebt zu werden wie du. Mir hätte ein einziges Mal, ein einziger Tag genügt.“ Er hob seinen Kopf und sah mir ins Gesicht. „Irgendwann merkte ich, dass nicht nur ihre, sondern auch deine Liebe etwas Einzigartiges war. Da begriff ich, warum ich niemals Vergleichbares erfahren würde. Und das ist der wahre Grund, weshalb ich mich nicht von Baana getrennt habe. Ich liebe sie nicht mehr, als sie mich liebt. Mit welchem Recht sollte ich ihr dann vorwerfen, dass ihre Liebe nicht groß genug ist?“ Er sah mir direkt in die Augen. „Daeren, ich will dir hiermit sagen, dass du dankbar sein solltest, überhaupt derart Besonderes erlebt zu haben, und das über ein Jahr lang! Die meisten von uns lernen solch ein Wunder nie in ihrem Leben kennen! Also, was du jetzt für Marscha empfindest, ist etwas völlig Normales. Es ist eine ganz gewöhnliche Beziehung wie sie Millionen andere ebenfalls führen! Oder bist du doch so hochmütig, dass du ständig erwartest, dir stünde mehr als allen anderen zu?“
Sein überraschend offenes Geständnis berührte und beschämte mich zutiefst. Es stimmte, ich war undankbar. Wenn auch meine Wunde niemals heilen würde, war dennoch was ich mit Dora erlebt hatte, ein unvorstellbares, einmalig kostbares Geschenk gewesen. Das hätte ich wesentlich früher erkennen müssen.
„Eins noch, Daeren. Der Beweggrund, aus dem du mit Marscha zusammen bist, ist in meinen Augen nichts, wofür du dich schuldig fühlen musst. Sie hätte sich auch nicht so schnell geschmeichelt gefühlt, wenn du kein Rensha wärest.“
„Du kennst... den Grund?“, fragte ich betroffen.
Er nickte schwach. „Aber ich muss zugeben, ich habe ziemlich lange dafür gebraucht, weil ihre Aussprache selbstverständlich perfekt ist. Anfangs dachte ich, sie hätte äußerlich Ähnlichkeit mit Dora. Danach vermutete ich, es läge an ihrer Art. Aber weder äußerlich noch vom Wesen her glich sie Dora. Erst vor Kurzem fiel mir auf, dass sie manche Vokale, insbesondere wenn a und e zusammen gesprochen werden, ein wenig zu lang zieht, genau wie Dora.“
Ich fühlte mich ertappt. Er traf mit seiner Vermutung ins Schwarze. Damals, als Marscha zum ersten Mal meinen Namen ausgesprochen hatte, war es mir, als umwehte mich ein Hauch von Dora. Dieses Empfinden erweckte in mir ein derartiges unstillbares Verlangen, ihre Stimme noch einmal zu hören, dass ich unfähig war, ihr von der Seite zu weichen. Dies war immer noch der wirkliche Grund, weshalb ich ihre Nähe suchte und sie jeden Tag sehen musste.
„Du bist ein guter Beobachter“, räumte ich unbehaglich ein. „Hoffentlich fällt es nicht noch anderen auf.“
Er schüttelte den Kopf. „Das glaube ich kaum. Selbst ich habe es bloß bemerkt, weil ich dich so gut wie kein anderer kenne und darauf geachtet habe. Ich war mir sicher, dass ein Mädchen deine Aufmerksamkeit nur erringt, wenn sie dich an Dora erinnert.“
„Und trotzdem meinst du, ich brauche kein schlechtes Gewissen zu haben?“, fragte ich verwundert.
„Warum? Muss man sich rechtfertigen, dass man mit jemandem gerne zusammen ist? Sie ist überglücklich, weil sie die Freundin eines Renshas ist und du zu ihr überaus großzügig bist. Dafür tröstet sie dich ein wenig. Also was soll daran falsch sein?“
„Ich habe nicht gewusst, was für ein Pragmatiker du bist.“
Er grinste schwach. „Das habe ich einzig und allein dir zu verdanken.“
Ich sah tiefe Trauer in seinen Augen und senkte meinen Blick. „Tut mir leid.“
Er drückte kurz meinen Arm. „Nein, ich habe durch dich mehr über mich selbst erfahren und bin dadurch realistischer und reifer geworden. Also, Daeren, nun heiße ich dich willkommen in meiner Welt. In der Realität.“
Die sinkende Sonne tauchte alles um uns in rötliches Licht und verwandelte den Fluss in tausend funkelnde Juwelen. Irgendwo in der Nähe begann ein Soudarl zu singen.
Mein Paily meldete sich. Verwundert zog ich ihn aus der Tasche hervor und nahm das Gespräch an. In der nächsten Sekunde durchfuhr ein Schmerz meinen Körper und raubte mir den Atem.
Den Bildschirm füllte ein Paar vor Entsetzen groß aufgerissene Augen. Augen, die ich unter Milliarden, unter Billionen jederzeit wiedererkennen würde.
Dieses einzigartig durchscheinende Hellblau.
Das einem einzigen Wesen gehörte.
Dora …
Das Bild wurde zurückgezoomt. Ihr verängstigtes Gesicht tauchte auf, den Mund leicht offen. Es zog sich weiter zurück bis schließlich der Bildschirm ihren zusammengekauerten Körper auf einer Liege offenbarte.
„Dora“, wollte ich sagen. Der Name, an den bloß zu denken die Oberfläche meiner nie heilenden Wunde aufriss, brannte durch die Kehle. Aber kein Ton entwich meinen Lippen. Wie gelähmt starrte ich den Bildschirm an.
„Daeren Rensha“, ertönte plötzlich eine männliche Stimme. „Wie ich sehe, erkennt Ihr dieses Menschenmädchen wieder. Das ist überaus erfreulich. Denn somit besteht die Hoffnung, dass Euch ihr Leben nicht allzu gleichgültig sein dürfte.“
„Was ist mit ihr? Was fehlt ihr?“ flüsterte ich wie gebannt den Blick auf ihr Gesicht geheftet.
„Oh, nicht der Rede wert. Sie ist nur ein wenig verängstigt, weil sie nicht weiß, wer wir sind und wo sie ist. Aber körperlich ist sie völlig unversehrt. Und das ist der Grund, weshalb ich Euch kontaktiere. Eventuell entspricht es Eurem Interesse, diese Unversehrtheit zu erhalten oder sie gar auf die Erde zurückzuschicken.“
„Was meinen Sie? Natürlich möchte ich, dass es ihr gut geht. Ich verstehe nicht …“, sagte ich verwirrt.
„Das zu hören freut mich außerordentlich“, unterbrach die Stimme mich sanft. Sie klang dunkel und düster, als käme sie aus einem Grab. „Dann sind wir uns einig. Ihr kennt sicherlich die verlassene Schiffswerft im Andorr-System. Ich erwarte Euch in der Haupthalle direkt am Andockbereich. In, sagen wir, sechs JaRen-Stunden.“
„Sie haben sie entführt?“, stellte ich ungläubig fest.
Die Stimme schnalzte leicht missbilligend. „Aber, Daeren Rensha. Was für eine böswillige Unterstellung aus dem Mund des großen Thronanwärters einer so überragenden Rasse wie der Euren. Wir möchten nichts weiter, als dass Ihr Euch Eurer Verantwortung für dieses arme, verwirrte Menschenmädchen bewusst werdet, nicht mehr. Deshalb ist es selbstverständlich unnötig zu erwähnen, dass wir das Leben dieses Mädchens schlecht garantieren können, falls Ihr auf die Idee kommt, nicht alleine zu erscheinen. Ich freue mich, Euch zu begegnen.“
Dann wurde das Bildschirm dunkel.
„Seid Ihr sicher, die ganze Strecke selbst fliegen zu wollen? Mit Verlaub, Ihr kommt mir höchst unausgeglichen vor“, sagte das Schiff.
„Ja, ich muss in sechs Stunden im Andorr-System sein und das wird mit Autopilot kaum möglich sein“, antwortete ich während meine Hand die Routenempfehlung des Computers hinunterscrollte.
„In sechs Stunden?“, rief es erstaunt. „Da habt Ihr recht. Das schafft außer Euch oder Eurem Bruder Douron Rensha keiner.“
Ich achtete nicht weiter auf es und schaltete hastig das Paily ein, das gerade begonnen hatte zu vibrieren. Auf dem Bildschirm erschien erneut Doras verängstigtes Gesicht.
„Daeren Rensha“, ertönte die bekannte Stimme aus dem Hintergrund. „Da ich dachte, dass sechs Stunden eventuell zu einsam werden könnten, wo Ihr mutterseelenallein unterwegs seid, habe ich beschlossen, Euch gelegentlich das Bild von dem Mädchen zu schicken. Schließlich liegt ihr Wohl uns beiden gleichermaßen am Herzen.“
Eine Warnung, auf eine höchst wirksame Art. Wer auch ihr Entführer war, er wusste genau, wie ich auf ihr Bild reagieren würde. Niemals würde ich jemanden in die Sache einweihen, solange dadurch ihre Sicherheit gefährdet wäre.
„Was wollen Sie von mir?“, fragte Dora zitternd.
Ihre lange Zeit entbehrte Stimme stürzte über mich wie eine heiße Flutwelle. Sie brach die tief unterdrückte Sehnsucht in mir mit aller Macht auf, die es nicht im Geringsten scherte, dass dafür die derzeitige Situation unpassender nicht hätte sein können.
„Von dir nichts“, sagte die Stimme barsch.
„Warum halten Sie mich dann hier fest?“, wollte sie verständnislos wissen.
Sie erhielt keine Antwort, stattdessen wurde das Licht ausgeschaltet.
„Bitte, lassen Sie das Licht an“, rief sie ängstlich.
Die dunklen Pupillen ihrer hellblauen Augen weiteten sich entsetzt, während ihre Hände begannen, hilflos an ihrer Liege entlang zu tasten.
„Dora.“
Das Wort lief brennend durch meine Kehle und hallte wie ein Donnerschlag in meinen Ohren. Dann verschwand ihr Bild. Von der Oberfläche des Pailys schimmerte mir nur matte Dunkelheit entgegen.
Während des gesamten Fluges bekam ich in regelmäßigen Abständen jeweils für ein paar Augenblicke Dora zu sehen. Meine Verzweifelung trieb das Schiff zu ungekannter Geschwindigkeit, so dass die Landung auf der verlassenen Andockstelle eine halbe Stunde früher erfolgte als gedacht.
Gespenstische Stille umhüllte die riesige Ankunftshalle, die einst das Tor zu einer der größten Raumschiffwerften gebildet und über eine halbe Million Arbeiter und Besucher beherbergt hatte.
Meine Füße verursachten ein unnatürlich lautes Geräusch, als sie den Boden berührten. Die nackte Metallkonstruktion, längst ihrer schützenden Ummantelung beraubt, ächzte bedrohlich nach langen Jahren der Verwitterung unter meinem Gewicht. Zögernd steuerte ich auf die Haupthalle zu. Über den Boden verstreut lagen dunkle Metallteile.
„Ich bin beeindruckt! Euer Ruf, ein außergewöhnlicher Pilot zu sein, war sogar untertrieben“, tönte die bekannte Stimme durch die Ankunftshalle.
„Wo ist Dora?“, fragte ich um mich schauend.
Nirgends war jemand zu sehen. Meine Stimme hallte in dem geisterhaft leeren Hafen wider.
„Keine Sorge. Ihr werdet sie bald zu sehen bekommen. Das verspreche ich Euch. Vorher bitte ich Euch, Euch in die Haupthalle zu begeben und in dem eigens für Euch markierten Bereich zu warten.“
„Für mich markierten Bereich?“, fragte ich irritiert.
Es blieb still, keine Antwort folgte mehr.
Ich begann zu rennen, erreichte nach kurzer Zeit den imposanten Bau der Haupthalle, dessen Tor geräuschlos zur Seite glitt.
Der prunkvolle Saal blitzte vor Sauberkeit. Nirgends lagen Staub oder wie draußen gar irgendwelche Teile schutzlos herum. Alles wirkte bis in den letzten Winkel gepflegt und befand sich an seinem Platz. Anders als der Andockbereich schien dieser Raum noch voll funktionstüchtig zu sein.
Auf einmal leuchteten unter meinen Füßen zwei strahlend weiße Linien, die geradewegs zur Mitte der Halle führten. Ich folgte ihnen, blieb nach ein paar Schritten abrupt stehen. Vor mir auf dem Boden, umgeben von einer tiefblauen Umrandung, leuchtete ein blendend weißer Kreis, in dem eine goldene Kugel über zwei sich überlappenden weißblauen Planeten glänzte. Das Symbol meines Hauses, des Hauses Danun.
Nun verstand ich die Andeutung der Stimme und trat ohne zu zögern in den Kreis. Kaum berührten meine Füße das Symbol, schossen aus den umliegenden Bereichen senkrecht hohe gläserne Wände, die sekundenschnell bis zur Decke hinaufwuchsen. Kurze Zeit später befand ich mich in einer Art gläsernem Käfig.
„Nein, das habe ich doch nicht gewagt zu glauben“, rief die bekannte Stimme erregt. „Er geht tatsächlich freiwillig ins Gefängnis, ohne mit der Wimper zu zucken. Welch ein Narr!“
Die Decke über mir öffnete sich einen Spalt. Zu meinem Entsetzen krochen wenige Augenblicke später einige Panuhwürmer durch den Spalt hinunter. Die einzigen Parasiten gegen die wir HanJin machtlos waren. Von denen wir geglaubt hatten, sie für immer ausgemerzt zu haben. Jene Würmer, die auf der Erde Raul befallen hatten.
Hastig betastete ich die Scheibe meines Gefängnisses. Die eisige Dunstwolke, die sich sofort an meiner Handfläche bildete, verriet, dass diese aus unzerstörbarem Maatglas bestand, einem Material, das durch nichts zerschlagen werden konnte und deshalb bei der in flüssiger Form erfolgenden Herstellung ausschließlich exakt passend gegossen wurde.
„Wo ist Dora? Sie haben mir versprochen, sie mir zu zeigen und nach Hause zu schicken“, sprach ich laut, bemüht meine Panik unter Kontrolle zu halten.
„Keine Bange. Ihr werdet ihr sogleich begegnen. Nicht nur das. Ihr werdet sie sogar anfassen dürfen“, antwortete sie mit kaum unterdrückter Erregung. „Allerdings bezweifle ich, dass dies tatsächlich Eurem Wunsch entspricht.“
Leise plätschernd prallte der erste Wurm auf den Boden. Unwillkürlich wich ich einen Schritt zurück und warf einen Blick zur Decke. Meine Augen weiteten sich. Über die Hälfte der Decke klebten dicht gedrängt ihre Artgenossen und bewegten sich auf die Wand zu. Einige fielen senkrecht hinunter und wanden sich auf dem Boden. Allmählich trübte sich mein Blick. Ihre sich windenden und zuckenden weißen Körper verschwammen zusehends stärker vor meinen Augen, während mein Kopf merklich schwerer wurde. Angestrengt starrte ich durch die Scheibe, die jetzt vor mir wie eine riesige Wand milchig trüb waberte. Schritte dröhnten schmerzhaft in meinen Ohren. Aus dichtem Nebel tauchten mehrere Humanoiden auf, in ihrer Mitte ein Mädchen mit sich führend. Sie blieben ein paar Schritte vor mir stehen. Das Gesicht des Mädchens kam mir irgendwie bekannt vor. Ich torkelte näher an die blubbernde Scheibe. Meine Beine zogen schwerfällig nach, als lastete ein bleiernes Gewicht auf ihnen. Keuchend kam ich vor der zwischen uns befindlichen trüb wabernden Barriere zu stehen.
Mit einem durchdringenden Pfiff in meinen Ohren sackte das Mädchen auf den Boden und verwandelte sich vor meinen Augen in einen riesigen Panuhwurm. Aus seinem weit aufgerissenen Maul schoss laut zischend eine rosafarbene gespaltene Zunge hinaus. Fassungslos schwankte ich einen Schritt zurück.
„Vernichte sie“, befahl jemand. „Sonst wird sie Dora auffressen!“.
„Dora?“, echote meine Stimme verwirrt.
Wer war Dora. Irgendwoher kannte ich den Namen. Sein Klang zerrte merkwürdig an meinem Herzen. Hilflos um mich blickend, mühte ich mich ab, zu erinnern, was dieser Name bedeutete.
„Vernichte sie!“, wisperte es plötzlich aus allen Richtungen. „Sie ist eine tödliche Gefahr für Dora. Vernichte sie.“
„Sie ist eine Gefahr für Dora“, wiederholte meine Stimme monoton.
„Dora … Dora!“
Die Erkenntnis entlud sich als ein gigantisches Bild vor mir. Das Gesicht eines lachenden Mädchens, des zauberhaftesten Wesens des Universums. Meine Dora ...
Nein!
Ich durfte nicht zulassen, dass etwas ihr wehtat! Jede Gefahr musste umgehend beseitigt werden.
„Lass mich hier raus!“, schrie ich. „Ich muss sie retten!“
Meine Fäuste hämmerten geräuschlos gegen das Glas. Der Riesenwurm hinter ihm kam wankend näher.
„Ja, gleich bekommst du ein Messer, mit dem du ihn niederstrecken kannst“, wisperte es wieder aus allen Richtungen.
In der nächsten Sekunde sauste zischend von der Decke ein langes Messer hinunter, dessen Spitze sich unmittelbar neben meinen Füßen tief in den Boden bohrte. Mit bebenden Händen zog ich es hastig heraus.
Der Parasit stand dicht vor mir. Uns trennte nur eine dünne Scheibe. Auf einmal entstanden aus seiner Mitte Augen, die sich rasend schnell vergrößerten und wenige Momente später den gesamten Körper verdeckten. Nun schwebten vor mir in überdimensionaler Größe weit aufgerissene hellblaue Augen, in denen schlagartig Erkenntnis erwachte. Dann wuchsen aus ihnen Arme und Beine hervor, die heftig um sich schlagend auf den Boden krachten.
Ich starrte durch eine dichte Nebelwand, beobachtete wie die Humanoiden sich langsam um das eigenartige Gebilde aus hellblauen Augen und wild zuckenden Armen und Beinen versammelten. Das helle Blau schrumpfte in sich zusammen und ließ eine blasse Wange erscheinen, auf der etwas Rotes hinunterfloss.
Im Zeitlupentempo näherten sich ihr die Gestalten, die aufrechten Körper tief gebückt. Blitzartig tauchte vor mir ein Bild auf: Verzückte Gesichter von Joyce, ihrer Mutter und Jonathan, die sich wie hypnotisiert an einen tiefroten, glänzenden Tropfen herandrängten.
Doras Blut.
„Nein!“
Ein panischer Schrei stieß brennend durch meine Kehle. Gleichzeitig schlug mir ein Schwert das Messer aus der Hand. Blind griff ich mit beiden Händen danach. Surrend schoss es durch die Luft nach vorne. Meine Hände folgten ihm willig und schwangen das Schwert mit aller Kraft gegen das unzerstörbare Maatglas, welches mit einem ohrenbetäubenden Knall in tausend Splitter zerbarst.
Überrascht drehten sich die Versammelten zu mir um.
Geradewegs raste ich in ihre Mitte, das Schwert über dem Kopf schwingend. Erschrocken sprangen sie zur Seite. Mit einem Arm hob ich den zuckenden Körper vom Boden hoch, legte ihn auf meine Schulter und rannte aus der Halle, während hinter mir wildes Geschrei erwachte.
Meine Füße flogen über den ächzenden Boden des Andockbereichs. Ein Metallträger kippte direkt auf mich zu. Ich versuchte ihm auszuweichen. In dem Moment sprangen sämtliche Träger in der Nähe aus den Ankern. Der Boden unter mir begann vibrierend zu schaukeln. Ich gab meinem Schiff einen mentalen Befehl mir entgegenzufliegen und hechtete in seine Richtung.
Auf einmal verloren meine Füße den Halt. Alles um mich herum stürzte in eine bodenlose Leere. Ich sah das Schiff etwa drei Sprünge von mir entfernt. Instinktiv schwang ich mit aller Macht das Schwert, welches mich mit einem starken Schub nach vorne katapultierte. Dann schlüpfte mein Körper durch die schützende Schiffshülle.
Der Innenraum blinkte blau. Ich hastete zu dem Kontrollball, um mich mit dem Schiff zu verbinden. Wir mussten so schnell wie möglich aus der Gefahrenzone. Zahlreiche mächtige Metallsäulen regneten auf uns herab. Einige kollidierten direkt mit der vom Schiff automatisch aktivierten Schutzblase und rutschten dunklen Rauch ausstoßend seitlich hinunter. Die Anzeige der Energieversorgung stand bereits auf Reserve. Mit höchster Konzentration steuerte ich das Schiff senkrecht in die Höhe. Zur rettenden Sonne. Die Anzeige sackte auf null. Abrupt verlor das Schiff Geschwindigkeit und begann zu trudeln.
Wild schaute ich mich um. Mein Blick traf auf das leuchtende Schwert in meiner rechten Hand. Einer plötzlichen Eingebung folgend, stieß ich es tief in das Schaltpult hinein. Blaue Blitze durchzuckten das Bedienfeld, dann sprang die Energieanzeige auf voll.
„Der Flug bis zur nächsten Werft beträgt zwei JaRen-Stunden“, ertönte die leicht verwirrte Stimme des Schiffes. „Was ist das für ein Energieschub, den Sie mir eben verpasst haben?“
„Nein, suche sofort die nächste medizinische Einrichtung auf, die über Kenntnisse der menschlichen Anatomie verfügt“, rief ich, nahm den regungslosen Körper von meiner Schulter auf die Arme und brachte ihn eilig zur Erste-Hilfe-Röhre.
Kaum hineingelegt, begannen die Scanner über die durchsichtige Hülle zu gleiten. Schwer atmend stand ich davor und betrachtete unverwandt das mit Blut verschmierte Gesicht. Das Gesicht, das mich Tag und Nacht vor Sehnsucht vergehen ließ.
„Außer einer von der Stirn bis zur linken Wange reichenden mittelschweren Schnittwunde sind keine weiteren Verletzungen vorhanden. Atmung, Herzfrequenz, Gehirnströmung, alles intakt. Unklar, weshalb sie sich im Koma befindet. Empfehle möglichst baldige Verlegung auf speziell für Menschen geeignete medizinische Einrichtung“, erklang der Abschlussbefund des Erste-Hilfe-Programms.
Die obere Hälfte der Röhre fuhr zurück. Die Augen konzentriert auf ihre blassen Züge gerichtet, ließ ich mich benommen vor ihr auf die Knie fallen.
„Dora“, flüsterte meine Stimme angestrengt.
Es kostete mich enorme Überwindung, ihren Namen auszusprechen. Kaum jedoch verließ er meinen Mund, brachen unzählige Wahrnehmungen auf meine Sinne ein. Es war, als wäre eine feste Hülle von mir gefallen, die mich in einem Vakuum gefangen gehalten hatte. Ich sah, wie ein Blinder, dem das Augenlicht wiedergegeben worden war, die Staubpartikel um mich tanzen, roch den unwiderstehlichen Duft von Dora. Mit einem Male erwachten all meine Gefühlsregungen. Euphorie, Trauer, Schock, Angst, Schmerz … Sie alle stürzten wie eine gigantische Flutwelle auf mich ein und rissen mich in die Tiefe.
Meine Hand näherte sich zitternd ihrer Wange. Mein Verstand rief sie zurück, ermahnte, dass sie kein Recht mehr besaß, sie zu berühren. Diese Erkenntnis bohrte sich tief wie ein Speer in mein Herz, welches dennoch gleichzeitig vor Freude jubilierte. Lieber wollte ich tausendfachen Schmerz in ihrer Gegenwart spüren, als diese dumpfe, nie enden wollende Nebelhülle um mich herum zu ertragen.
„Willkommen, Daeren Rensha, hier auf der Forschungsstation Anun null-neun-sechs“, ertönte es aus der Sprechanlage. „Wir fühlen uns geehrt durch Ihren Besuch.“
Ich sprang auf und rannte an das Steuerpult zurück. Die Null-Reihe der Anun-Forschungsstationen verfügte über die idealen Voraussetzungen für Doras Behandlung. Sie gehörten zu den wenigen Einrichtungen, die die medizinischen Erkenntnisse über Menschen vollständig in ihrem Computer beherbergten.
„Danke für die Begrüßung“, erwiderte ich eilig. „Es ist ein Notfall. Bereiten Sie bitte eine Erste-Hilfe-Maßnahme für menschliche Verletzte vor.“
„Mensch, sagten Sie?“, wiederholte die Stimme überrascht.
„Ja, eine junge menschliche Frau. Das Schiffsprogramm ist nicht in der Lage, sie aus dem Koma zu wecken“, erwiderte ich betont langsam, bemüht mein Ungeduld zu zügeln. „Übermitteln Sie nun bitte die Koordinaten für die Landung.“
„Ja, selbstverständlich, verzeihen Sie die Verzögerung“, folgte hastig die Antwort.
Nachdem das Schiff in die Landeposition gebracht worden war, betrachtete ich unschlüssig das tief in dem Schaltpult steckende Schwert. Die matte Oberfläche des Griffes, den verschiedene Ornamente zierten, schimmerte leicht bläulich. Vorsichtig zog ich die geschwungene Linie eines Musters nach. Das Material selbst ließ sich schwer bestimmen. Weder Edelstein, Metall, Glas oder etwas Biologisches. Nach kurzer Überlegung zog ich es mit einem Ruck aus dem Bedienfeld heraus. Zu meiner Überraschung befand sich in meiner Hand nur der Griff. Von der Klinge keine Spur. Auch das Schaltpult wies nicht den geringsten Riss auf, als sei nie eine Schwertklinge dort hineingesteckt gewesen. Einen kurzen Moment wog ich den Griff unentschlossen in meiner Hand. Er fühlte sich auf eigenartige Weise vertraut an. Ich ließ ihn in die Tunikatasche gleiten und eilte zu Dora.
Unmittelbar unter dem Schiff wartete bereits die medizinische Einheit mit der offenen Kapsel. Nach einer knappen Begrüßung, die der nötigsten Höflichkeit genügte, legte ich vorsichtig den bewusstlosen Körper Doras in die Kapsel hinein, die sich sofort verschloss.
Ich wandte mich an die Leiterin der Einheit: „Ich werde Sie umgehend aufsuchen, sobald das Gespräch mit dem Dekan des Instituts erfolgt ist.“
Am liebsten wäre ich ihr gleich gefolgt, aber es hatte höchste Priorität, den Dekan und insbesondere meinen Vater über das Geschehen zu informieren. Ohnehin hätte ich mich längst, bereits vom Schiff aus, mit ihm in Verbindung setzen müssen. Dieser unfassbare Angriff galt mir, einem Rensha des Hauses Danun. Daher war es eine äußerst ernst zu nehmende Angelegenheit, die keinen weiteren Aufschub mehr duldete.
Der Direktor dieser Forschungseinheit war ein älterer Herr namens Gortens, der auf meine Aufforderung, sofort die Verbindung zu meinem Vater unter Einhaltung der höchsten Sicherheitsstufe herzustellen, mit dem hilflosen Gemüt eines Kindes reagierte. Einem zivilen Forscher, der bislang ausschließlich das beschauliche Leben seines Forschungsinstituts kannte, musste diese Aufforderung wie eine Katastrophe vorkommen. Dabei war dies erst der harmlose Auftakt eines weitaus folgenschwereren Geschehnisses. Ich mochte mir nicht ausmalen, wie erst seine Reaktion auf meinen Bericht ausfallen würde.
Nachdem er seinen Schock überwunden hatte, begann er fahrig den geheimen Code in seinen Computer einzugeben. Seine Aufregung war so groß - eine direkte Verbindung zu dem DaRensha persönlich! Derartiges passierte nur in den seltensten dringenden Fällen –, dass es ihm erst beim dritten Versuch gelang, das komplette Prozedere der Hochsicherheitsstufe fehlerfrei zu übermitteln. Mit einem nervösen Lächeln entschuldigte er sich mehrmals und stierte angespannt auf das Podest vor uns.
Das Antlitz meines Vaters erschien punktgenau über dem Podest. Trotz der schwerwiegenden Bedeutung einer Kontaktaufnahme über diesen Verbindungskanal tauschte er mit dem Direktor zunächst das vollständige Begrüßungsritual aus, bevor er sich mit ernstem Gesicht mir zuwandte.
Ich fasste den Hergang des Geschehens möglichst kurz zusammen. Die Miene meines Vaters blieb unverändert, während Gortens laut nach Luft schnappte und am ganzen Körper zitternd uns entsetzte Blicke zuwarf.
Als mein Bericht endete, sah mein Vater mir schweigend in die Augen. Ich war auf den schlimmsten Tadel meines Lebens gefasst. Als Rensha allein einer Erpressung nachzugehen, statt sie unverzüglich an die Sicherheitsabteilung weiterzuleiten, war bereits ein grober Verstoß gegen geltende Regeln. Sich darüber hinaus aber nach dem geglückten Entkommen erst Stunden später zu melden, war unentschuldbar. Die Schwere meines Vergehens war mir mehr als bewusst. Persönliche Gründe durften niemals über die Geburtspflicht gestellt werden. Mit dieser Missachtung meiner Pflicht als Rensha wurde den Sicherheitsorganen die Ermittlung der kriminellen Elemente erheblich erschwert.
Anders als ich befürchtet hatte, lag in den Augen meines Vaters jedoch bloß große Erleichterung. Nicht einmal der Ansatz eines Tadels war zu erkennen, was mich im ersten Moment stark irritierte. Dann traf mich die Erkenntnis: Ihm war meine Unversehrtheit wichtiger als alles andere! Selbst die ungeheuerliche Tatsache eines offenen Attentats auf einen Rensha, somit auf das Reich JaRen, rückte im Angesicht seiner Liebe zu mir für einen Augenblick in den Hintergrund. Eine Woge der Wärme umhüllte mich.
„Du darfst jetzt zur Krankenstation und dich nach Isadoras Zustand erkundigen. Indessen werde ich das Nötige veranlassen“, sagte er anschließend in seinem gewohnten unerschütterlichen Tonfall und entließ mich somit.
„Danke, Vater“, sagte ich zutiefst berührt.
Denn dass er mich in dieser Situation, statt mich der militärischen Einheit zuzuweisen, zu Dora schickte, offenbarte, wie groß sein Mitgefühl für mich war, wie sehr er mich verstand, mehr als mir jemals bewusst gewesen war.
Die Wissenschaftlerin im hellgrünen Arbeitskittel, mit dem Namen Jaminah, begrüßte mich zaghaft. Mein Blick schweifte zu der Untersuchungsröhre, in der Dora lag. Sie befand sich weiterhin im Koma.
„Warum wird sie nicht wach?“, fragte ich besorgt.
Sie räusperte sich. „Es ist uns auch ein Rätsel. Ihre Körperfunktionen arbeiten für ihre Spezies in bester Form. Demzufolge können wir eine physische Ursache ziemlich sicher ausschließen, weshalb ihr derzeitiger Zustand umso schwieriger zu erklären ist …“ Sie unterbrach sich und warf mir einen unsicheren Blick zu, bevor sie vorsichtig fortfuhr. Auf dem Bildschirm wechselte die grafische Darstellung zwischen den einzelnen Bereichen von Doras Hirnregionen.
„Wie ich herausgefunden habe, wurde bei ihr eine Gedächtnislöschung vorgenommen …“
„Das ist richtig“, antwortete ich gepresst.
Die sorgfältig verschlossene Wunde in mir brach mit einem Ruck auf. Heftiger Schmerz durchfuhr meinen Körper. Er verbannte endgültig die dumpfe Lähmung, die mich bislang gefangen gehalten hatte und erweckte meine Sinne zum Leben. In ein Leben, wo selbst der schlimmste Schmerz willkommen war.
„War es ihr … so steht es zumindest im Bericht, der von höchster Stelle beglaubigt ist, dass es ihr freier Wille war, dies vorzunehmen.“ Hastig fügte sie hinzu. „Was ich selbstverständlich niemals anzweifeln würde. Für mich stellt sich bloß die Frage, was der freie Wille in dem Zeitpunkt bedeutet haben mag …. Ich meine, wie sorgfältig geprüft wurde, ob die Entscheidung tatsächlich im vollen Bewusstsein …“ Sie zögerte weiterzusprechen.
Ich stand wie vom Donner gerührt da. In meinem Ohr wiederholte sich dröhnend ihr ungeheuerlicher Verdacht. Ein Gedanke, der mir niemals in den Sinn gekommen war, weil es nicht sein konnte. Aber ...
„Was wollen Sie damit andeuten. Gibt es etwa einen konkreten Anhaltspunkt für Zweifel?“, fragte ich flüsternd. Meine Kehle war wie ausgetrocknet.
Sie schaute nachdenklich durch die Scheibe. Jetzt lag die obere Hälfte der Untersuchungsröhre aufgeklappt und entblößte das blasse Profil Doras. Mit aller Macht unterdrückte ich meinen kaum zu bändigenden Drang, zu ihr zu rennen.
„Zufälligerweise arbeite ich in der Gedächtnisforschung, weshalb ich überhaupt darauf kam, einen etwaigen Zusammenhang zu untersuchen“, begann sie entschlossen. „Obwohl Gedächtnislöschungen seit Längerem regelmäßig praktiziert werden, ist es ein wenig erforschtes Gebiet. Dementsprechend existieren kaum brauchbare Untersuchungsberichte. Dennoch fand ich eine sehr interessante Fallbeschreibung, in der von einer Person berichtet wird, bei der gegen ihren starken Widerstand die Löschung zwangsweise durchgeführt wurde. Diese jedenfalls fiel später ins Koma, als sie denselben Personen, an die sie eigentlich keine Erinnerung mehr hätte haben dürfen, erneut begegnete. Es ist leider alles nicht wissenschaftlich bewiesen, aber die Vermutung liegt nahe, dass eine Löschung, die gegen den Willen des Betroffenen geschieht, insbesondere dann nicht einwandfrei zu funktionieren scheint, wenn der Widerstand auffallend stark ausgeprägt war. Wahrscheinlich bleibt eine minimale Spur der Erinnerung zurück, die bei einer erneuten Konfrontation - in dem Fall das Wiedersehen mit der letztlich doch bekannten Person, an die sie sich nicht mehr erinnern dürfte - eine derart starke Verwirrung verursacht, dass das Gehirn als Selbstschutz gewisse Funktionen blockiert. Zumindest ist das meine Annahme.“
Sie schwieg einen Moment, betrachtete den Befund in ihrem Handgerät.
„Dennoch hätte ich diese Art von Zweifel nicht geäußert, wenn nicht das Untersuchungsergebnis eine etwas zu hohe Konzentration des Beruhigungsmittels Tschenmtyl Ag-4 ergeben hätte. Denn ausgerechnet dieses Mittel verursacht starke Nebenwirkungen bei Menschen. Ich will hiermit keinesfalls irgendjemanden beschuldigen, seine Arbeit nicht gewissenhaft genug erledigt zu haben. Anders als bei Menschen ist dieses Mittel bei uns HanJin völlig nebenwirkungsfrei. Nur wer sich speziell mit menschlicher Anatomie beschäftigt hat, weiß die Bedeutung dieses erhöhten Wertes einzuschätzen und ist somit in der Lage, eventuell daraus eine Schlussfolgerung zu ziehen.“
Meine Gefühle stürzten in ein Chaos, während meine Gedanken wild durcheinander rasten, um nach einer Erklärung zu suchen. Der Verdacht schlug wie ein Blitz ein, fraß sich wie ein Inferno durch meinen Körper und raubte mir den Atem.
„Verbinden Sie mich mit dem gelöschten Teil ihres Gedächtnisses“, verlangte ich mit zitternder Stimme.
Es wurde zwar im Allgemeinen von einer Löschung gesprochen, aber in Wirklichkeit wurde bloß ein bestimmter Teil der Erinnerung abgeklemmt, so dass dieser die Verbindung zum Bewusstsein verlor. Der Vorgang vollzog sich dermaßen perfekt und schonend, dass selbst im Traum nicht einmal ein Bruchstück des abgeklemmten Teils erschien. Dennoch konnte er jederzeit ohne irgendeinen Verlust komplett wieder an das Bewusstsein angekoppelt werden.
Ihre Augen weiteten sich ungläubig. Im nächsten Moment wurde ihre Miene ausdruckslos, unnahbar.
„Wie Sie es wünschen. Es ist schließlich Ihr Privileg“, sagte sie höflich und verbeugte sich kurz. Jedoch drückte der äußerst distanzierte Tonfall mehr als alles andere ihr Missfallen aus.
„Hören Sie“, presste ich angestrengt hervor. Meine Stimme bebte vor Aufregung, vor Angst. „Es ist mir durchaus bewusst, welches ethische Problem damit verbunden ist. Ich würde niemals solch einen Wunsch äußern, wenn es mir nicht so wichtig wäre, die Wahrheit zu erfahren. Ich … ich habe ihre Entscheidung nie angezweifelt, weil ich gar nicht auf den Gedanken kam, sie infrage zu stellen. Aber wenn Sie recht hätten mit ihrer Vermutung, dann besteht vielleicht ... Wissen Sie, sie ist …“ Völlig hilflos brach ich ab. Meine Gefühle überschlugen sich und lähmten meine Gedanken. Ich starrte schweigend in Doras Gesicht und konnte weder weitersprechen noch meinen Blick von ihr abwenden.
„Ich bitte um Vergebung“, erklang neben mir eine weiche Stimme. „Es war ungehörig von mir, eine derart voreilige Schlussfolgerung zu ziehen. Zudem steht es mir nicht zu, Ihre Beweggründe anzuzweifeln.“
Überrascht wandte ich ihr meinen Blick zu. Ich wusste nicht, was sie in mir gesehen hatte. In ihren Augen lag jedenfalls großes Mitgefühl, keine Spur mehr von der soeben still ausgedrückten Ablehnung.
„Mit welchem konkreten Abschnitt wünschen Sie verbunden zu werden?“, fragte sie in sachlichem Ton. „Der einzige Anhaltspunkt, der uns zur Verfügung steht, ist die Strömungskurve ihres Gemütszustandes, da nun mal eine temporäre Einteilung nicht möglich ist.“
„Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wäre es, weil das Gedächtnis sich nicht in unserem Sinne in bestimmte Zeitabschnitte einteilen lässt, also ratsam, den Abschnitt zu wählen, in dem sie emotional am stärksten reagiert hat?“, fragte ich dankbar.
Sie lächelte. „Verzeihen Sie, wenn man ständig mit Kollegen seines Fachs zu tun hat, vergisst man leider zu schnell, dass vieles für andere nicht ganz verständlich ist. Aber Sie haben erstaunlich schnell erfasst, was ich damit ausdrücken wollte. Ja, da unser Verdacht auf eine stark emotional bedingte, überstürzte Handlung gerichtet ist, wäre es am einfachsten, uns eine von diesen Stellen anzusehen.“
„Gut, wann können wir anfangen?“
„Jederzeit. Wann Sie es wünschen.“
„Dann beginnen Sie bitte sofort“, bat ich und presste meine Hand gegen mein Herz, das wie wild schlug.
Es war eher einem Zufall zu verdanken gewesen, dass ich von der Möglichkeit des Einblicks in ein fremdes Gedächtnis erfahren gehabt hatte. Damals war mir allein der Gedanke daran ungeheuerlich vorgekommen. Derart in die intime Privatsphäre eines anderen einzudringen, die zu Recht vor jedem Fremden geschützt werden musste, war mir wie ein Verbrechen erschienen.
„Deshalb wird es nur in äußerst seltenen Fällen überhaupt genehmigt und das Verfahren ist auch höchst kompliziert. Es ist eines der wenigen Privilegien, die uns aus dem Hause Danun zustehen, ohne Nennung von Gründen oder eine weitere Zustimmung. Jeder andere muss mindestens von drei verschiedenen, voneinander unabhängigen Stellen Bewilligungen vorweisen“, erklärte Douron, als ich mich ungläubig über diese Möglichkeit erkundigt hatte.
„Wozu denn das?“, rief ich verständnislos. „Wer will in einem fremden Gedächtnis wühlen. Das geht erstens keinen was an und zweitens interessiert einen eh nicht, was in dem Kopf eines anderen vor sich geht.“
Das allzu bekannte besser wissende Lächeln umspielte seinen Mund. „Du hast noch zu wenig Ahnung vom Leben. Nicht jeder ist an fremden Geheimnissen desinteressiert. Weißt du, Wissen, insbesondere geheimes Wissen, ist Macht und kann deinen Ambitionen in jeder Hinsicht dienlich sein.“
„Dann verstehe ich erst recht nicht, warum ausgerechnet uns dieses Privileg zusteht“, warf ich ein. „Ich glaube kaum, dass jemand aus unserem Hause nötig hat, solches Wissen für seine persönlichen Interessen zu missbrauchen.“
„Na, eben. Die Antwort hast du doch selbst geliefert. Dennoch ergeben sich manchmal Situationen, in denen der Einblick in die Gedanken eines anderen äußerst hilfreich sein kann. Was aber nicht heißt, dass es oft geschieht. In Wirklichkeit hat kaum jemand bislang davon Gebrauch gemacht. Das Verfahren ist ohnehin eher für den Notfall gedacht.“
„Also ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, jemals den Wunsch zu verspüren, in ein fremdes Gedächtnis reinzuschauen“, entschied ich überzeugt.
„Du bist noch jung“, lautete seine etwas herablassend klingende Antwort.
Es war mir durchaus bewusst, dass Dora gegenüber unfair war, was ich jetzt vorhatte. Mit diesem Schritt missachtete ich ihr Recht auf Gedankenfreiheit, das jedem denkenden Lebewesen selbstverständlich zustand. Dieses Vorhaben bedeutete nichts weiter als einen Machtmissbrauch und das schamlose Ausnutzen meines Geburtsrechts. Aber der Wunsch, die Wahrheit zu erfahren oder auf etwas hoffen zu dürfen, war zu mächtig, als dass ich hätte widerstehen können. Dafür war ich bereit, jede Buße zu akzeptieren. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte ich gar mein Leben dafür gegeben. Umso mehr überraschte mich die verständnisvolle Reaktion der Wissenschaftlerin. Was sie auch dazu bewogen haben mochte, ihr schnelles Einverständnis erleichterte wesentlich die Umsetzung meines Vorhabens. Dabei wäre sie durchaus in der Lage gewesen, es mir zu erschweren, in dem sie meine Minderjährigkeit als Vorwand für ihre Ablehnung genutzt hätte.
Ich legte mich in eine identische mit Nährflüssigkeit gefüllte Röhre neben der, in der sich Dora befand. Mehrere Leitungen verbanden die beiden Röhren mit dem speziellen Computer des medizinischen Forschungssektors.
„Ich verbinde Sie mit ihrer höchsten Emotionskurve und da wir nicht wissen, was dieser Teil beinhaltet, warne ich Sie vorsorglich. Denn Sie werden mit ihr so stark verbunden sein, dass ihr Empfinden eins zu eins auf Sie übertragen werden wird, sowohl auf der psychischen als auch auf der physischen Ebene. Das heißt, wenn sie unter körperlichem Schmerz leidet, was gerade an diesem Punkt der Fall sein kann, werden Sie ihn in derselben Intensität wie sie spüren. Falls Ihre physische Befindlichkeit zu stark beeinträchtigt werden sollte, werden wir die Verbindung unterbrechen.“
„Was sie erträgt, werde ich wohl auch schaffen“, antwortete ich überrascht, zugleich betroffen.
Vor meinen Augen erschien ihr zerfetzter Rücken. Schaudernd ballte ich meine Fäuste zusammen. Wie sehr hatte ich mir gewünscht, ihr diese Qual, überhaupt alles Leid, das sie erdulden musste, ersparen zu können. Mit meinem jetzigen Entschluss bestand wenigstens die Aussicht, sie mit ihr teilen zu dürfen.
„Es ist einer der wenigen Bereiche, wo die Menschen uns weitaus überlegen sind. Wahrscheinlich, weil ihnen keine andere Option bleibt, als die Schmerzen zu ertragen.“
Was für eine Vorstellung, dachte ich bedrückt und schloss meine Augen.
Unter meinen geschlossenen Lidern erschien mein eigenes Gesicht, unbeschreiblich glücklich strahlend.
Es näherte sich leuchtend, wunderschön. „Ich darf dich zu mir mitnehmen. Möchtest du mich begleiten?“, fragte ich mit vor Freude vibrierender Stimme. Meine Worte drangen sanft streichelnd an ihr Ohr und breiteten sich als wohlige Wärme in jeder Faser ihres Körpers aus.
Dann wurde sie jedoch unsicher und erstaunt hauchte ihre Stimme. „Ich dachte, kein Mensch darf das.“
„Kein Mensch, außer dir“, antwortete ich mit einem strahlenden Lächeln. Augenblicklich wurde das Leuchten, das mich umgab, noch eine Spur intensiver. Mein Gesicht kam näher, mein Atem liebkoste ihre Haut, benebelte ihre Sinne. Nun berührte mein Finger ihre Wange. Jede ihrer Poren öffnete sich sehnsüchtig und ihr Herz begann aufgeregt zu hüpfen. Sie starrte verwirrt in das tiefe Leuchten meiner blauen Augen.
„Dora, ich liebe dich“, gestand ich.
Es traf sie wie ein Blitzschlag, nahm ihr gänzlich die Luft, während ihr Herz in eine unermessliche Höhe schoss, dann im nächsten Augenblick in die Tiefe stürzte. Es verursachte Schmerzen in meinem eigenen Herzen, das ebenfalls wie wild schlug.
Ich muss noch träumen, dachte sie erschrocken und senkte ihre Lider.
Meine Stimme liebkoste ihr Ohr. „Ich dachte, diese Tatsache würde dir gefallen.“
Ihre Augen öffneten sich selbständig und versanken augenblicklich in dem tiefen Blau dicht über ihr.
„Ich habe bislang meine Gefühle verheimlicht, weil ich dich habe verlassen müssen“, erzählte meine Stimme leise. Über mein Antlitz fiel ein Schatten, der sogleich einem entzückten Lächeln wich. „Aber durch deine Rettungsaktion ist es nun möglich geworden, dich mitzunehmen. Nicht nur das. Ich darf bei dir bleiben, solange du möchtest.“
Meine verzückte Stimme umhüllte sie vollkommen. Ihr Verstand ließ sie im Stich, war wie benebelt. Schwerfällig richtete sie sich auf. Meine Arme halfen ihr sanft und umschlossen sie behutsam. Mit all ihren Sinnen spürte sie meine Wärme, nahm meinen Geruch wie einen kostbaren Duft auf.
Ungläubig wanderte ihr Blick zu mir hinauf, überzeugt, alles bloß zu erträumen. Meine Miene erwiderte sie voller Entzücken. Im Schockzustand starrte sie mich wortlos an. Sie war zu keiner Regung fähig.
„Möchtest du, dass ich bei dir bleibe?“, fragte ich und zog sie dichter zu mir.
Die Wärme meines Körpers weckte sie aus ihrer Erstarrung.
„Solange ich möchte? Für immer?“, flüsterte sie kaum hörbar. Sie wagte nicht zu glauben, was sie gerade sagte. Unsagbare Angst lähmte sie.
Mein Lächeln überstrahlte alles um sie herum. „Das hoffe ich doch.“
In ihr stiegen unaufhaltsam Tränen empor. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, wie sehr sie bislang ihr einziges Begehr unterdrückt hatte.
„Aber, Dora, warum weinst du?“, fragte meine warme Stimme irritiert.
„Weil ich … so … glücklich bin“, antwortete sie.
All ihre Ängste und die mit letzter Kraft verdrängte Sehnsucht brachen sich Bahn und ließen sie heftig schluchzen. Behutsam hob meine Hand ihr Kinn hoch, mein Gesicht senkte sich auf ihres. Sie schloss die Augen, spürte meine Lippen auf ihrer Stirn.
Nun mischte sich meine Erinnerung mit ihrem Empfinden. Ihre zarte Haut betörte mich mit ihrem Duft, schmeckte nach nie gekannter Süße, benebelte meine Sinne vollends. Jeder Zentimeter ihres Gesichts erwachte unter meiner Berührung zu neuem Leben, wie eine aufblühende Blume durch lang ersehnte Sonnenstrahlen. Eine, die so wunderschön blühte, wie keine andere. Kein Wort, kein Ausdruck der Welten würde genügen, sie zu beschreiben. Allesamt wären zum Scheitern verurteilt. Meine Lippen erkundeten selbstständig ihre warme, von Tränen nasse Haut, während meine Nase begierig ihren einzigartigen Duft einsog. Ihren gesamten Körper durchzuckten winzige elektrische Stöße, die sich auf mich übertrugen. Das Blut rauschte in ihren und meinen Ohren. Meine Sinne öffneten sich ihr mit einer nie gekannten Intensität. Als mein Mund ihre weichen Lippen traf, hörte schlagartig alles andere um mich herum auf zu existieren. Mich durchströmte eine unglaubliche Verzückung, die mich in eine fremde Dimension katapultierte, deren Existenz ich nicht einmal erahnt hatte.
Ein Himmelreich ohnegleichen.
Mit einem langgezogenen entzückten Seufzer wachte ich auf.
Die Stimme Jaminah Shis holte mich unbarmherzig in die Realität zurück. „Es muss etwas außergewöhnlich Schönes gewesen sein. Ihr Wert für bestimmte Neurotransmitter lag extrem hoch. Es hat mir beinah leid getan, Sie aufzuwecken.“
„Ja, etwas Wundervolleres hätte mir nicht passieren können“, sagte ich noch ziemlich benommen. Am liebsten wäre ich auf der Stelle zurückgekehrt und nie wieder wach geworden.
„Es war interessant zu erfahren, dass das schöne Erlebnis bei ihr am stärksten ausgeprägt war. Das gewährt einen tiefen Einblick in ihre Seele. Ich denke, so jemandem zu begegnen, geschieht äußerst selten.“
Das soeben Erlebte war unvergleichlich gewesen. Umso mehr hatte es mir vor Augen geführt, was ich verloren hatte. Das schönste Geschenk des Himmels. Das einzige Geschöpf, das fähig war, mir mit jedem Atemzug die pure Glücksseligkeit zu schenken.
„Nicht selten. Es gibt keine wie sie. Sie ist einmalig“, widersprach ich im Stillen und zwang mich, an Taurus Ermahnung zu denken. So etwas Kostbares noch einmal erleben zu dürfen. Allein dafür musste ich unendlich dankbar sein. Dennoch bohrte sich der Schmerz des Verlustes tief in die offene Wunde.
Schwer nach Atem ringend konzentrierte ich mich auf den Hoffnungsschimmer, einen Anhaltspunkt zu finden, der ihren Entschluss infrage stellen konnte. Dazu war mir jedes Mittel recht. Hauptsache, es gab etwas. Etwas, das mir die Möglichkeit oder den Vorwand lieferte, sie zu überreden, ihre Entscheidung zumindest zu überdenken.
„Wünschen Sie gleich mit dem nächsten Abschnitt zu beginnen?“, unterbrach sie meine Gedanken.
„Ja, und ist es möglich, nicht sofort an dem höchsten Punkt zu beginnen, sondern etwas davor? Käme mir sinnvoller vor“, schlug ich vor.
Falls ihr Entschluss tatsächlich von dem Mittel beeinflusst worden war, dann wäre es wichtig zu erfahren, was davor geschehen war. Weshalb sie überhaupt solch eine hohe Dosis gebraucht hatte.
„Sie meinen zeitlich … Hm …“, überlegte sie einen Moment und fuhr mit ihrem Finger nachdenklich die Kurve entlang. „Wenn ich unmittelbar vor dem Ansteigen ansetze, müsste es funktionieren. Aber ganz sicher bin ich mir nicht. Es gibt zu wenig Erfahrungen in diesem Bereich.“
„Probieren wir es einfach“, sagte ich und schloss die Augen. Angst und Hoffnung hielten sich die Waage. Welches Erlebnis erwartete mich dieses Mal.
Sie stand halbnackt vor dem Spiegel neben der Kleiderpuppe. Verlegen versuchte ich meinen Blick von ihr abzuwenden, was nicht möglich war; schließlich befand ich mich in ihrem Gedächtnis. Sie verschwendete keinen Gedanken daran, was sie anziehen sollte. Eher mechanisch wählte sie ein Kleid aus und zog es an, während ihre Gedanken allein mir galten. Sie vermisste mich schrecklich, so sehr, dass es ihr beinah körperlichen Schmerz bereitete. Seufzend ermahnte sie sich: Eigentlich ist es besser, dass er noch nicht da ist. Wenn er mich in dieser Nacht erlebt hätte … Nein. Das wäre keinesfalls gut gewesen …
Mein Herz zog sich unbehaglich zusammen. Was war in der Nacht geschehen, was wollte sie mir so sehr verheimlichen …
Eine undefinierbare Beklemmung stieg in ihr auf. Sie nahm das Beruhigungsmittel in die Hand und atmete tief ein. Sie fühlte sich etwas besser. Ein derartiger Vorfall wie in dieser Nacht darf nie wieder vorkommen, sagte sie sich entschlossen und verließ ihr Gemach.
Douron wartete im Speisesalon auf sie. Sein Gesicht kam mir ungewöhnlich angespannt vor, was sie wiederum als distanziert empfand. Als er ihr eröffnete, er habe etwas mit ihr zu besprechen, befiel sie trotz des Beruhigungsmittels eine ungute Ahnung. Beunruhigt bat sie ihn, gleich zur Sache zu kommen.
Sein Blick schweifte wie gewohnt an ihr vorbei, was ihr Unbehagen verstärkte. Merkwürdig, ging mir spontan durch den Kopf, sie müsste sich daran gewöhnt haben, denn er hatte ihr von Anfang an nie in die Augen gesehen. Sein seltsames Verhalten hatte mich so verwundert, dass ich ihn eines Tages offen darauf angesprochen hatte.
Er hatte gemeint, das sei nichts weiter als sein Bemühen, meine Freundin nicht zu betören. Schließlich hätte er mir ein Versprechen gegeben. Im ersten Moment war ich über seine Antwort ziemlich belustigt gewesen. Es bestand absolut kein Grund, Doras Gefühle für mich anzuzweifeln. Dessen war ich dermaßen sicher, dass mir sein Verhalten völlig übertrieben erschienen war. Sie würde niemals einen anderen lieben, hatte ich damals überzeugt gedacht. Dennoch war ich wegen seiner Rücksichtnahme auf meine Gefühle etwas gerührt gewesen, weshalb ich auf einen weiteren Kommentar dazu verzichtet hatte.
„Dora, ich muss für längere Zeit weg“, sagte Douron mit merkwürdig abweisender Stimme. „Deshalb sollst du nach dem Frühstück in den Gästetrakt ziehen. Ich habe Rinna gebeten …“
Der Rest kam bei ihr nicht mehr richtig an. Sie reagierte bestürzt auf seine plötzlich kalte, ablehnende Haltung ihr gegenüber und glaubte fest überzeugt, einen grundlegenden Fehler begangen zu haben. Anders konnte sie sich nicht erklären, dass er sie aus heiterem Himmel von sich stieß. Es lag auf einmal eine tiefe Kluft zwischen ihnen. Schmerzlich wurde ihr bewusst, wie wichtig er für sie war, welche große Angst sie hatte, seine Zuneigung zu verlieren.
Auch mich überraschte seine veränderte Haltung zutiefst. Diese gefühllose, abweisende Ausstrahlung war mir fremd. Ich hätte mir nicht einmal vorstellen können, ihn jemals so zu erleben. Dabei musste er doch wissen, wie sehr er sie damit verunsicherte, ja, gar ängstigte. Welcher Anlass trieb ihn bloß dazu, sie derart abzuweisen?
Sie stand schwankend auf, lief ein paar Schritte auf ihn zu. Die Tränen trübten ihren Blick. „Douron, es tut mir leid, wenn ich etwas falsch gemacht habe. Ich kenne halt nicht alle Regeln …“ Ihre Stimme versagte.
Mein Herz blutete, sie dermaßen leiden zu sehen. Sah er nicht, wie sie litt? Was war bloß in ihn gefahren?
Mit blassem Gesicht erhob er sich.
„Bitte, ich wollte dich bestimmt nicht … enttäuschen“, beschwor sie. Ihre Lippen bebten.
„Dora.“ Flüsternd kam er ihr entgegen. Seine Stimme klang eigenartig gepresst.
Ihre Hände tasteten beinah wie die einer Ertrinkenden nach ihm.
„Habe ich etwas so Schlimmes getan, dass du mir nicht verzeihen kannst?“, fragte sie verzweifelt.
Mein Herz zerriss beinah. Am liebsten hätte ich sie in die Arme genommen und getröstet.
„Nein!“, stieß er heiser hervor. „Es hat …“
„Ich habe dich doch lieb“, hauchte sie. Die Tränen flossen ihre Wangen entlang und benetzten ihre Lippen.
Er stöhnte.
Plötzlich drang ein unwiderstehlich betörender Duft durch ihre Nase, durchströmte ihren Körper. Jede Pore ihrer Haut prickelte, wachte wohlig schaudernd auf. Ihre Lippen schmeckten etwas unvergleichlich Süßes. Von einem unbändigen Verlangen erfüllt, kostete ihre Zunge begierig, nahm seinen Geschmack hastig auf, während sie tief in dem verzückten Rausch einer unbekannten Dimension versank.
Mir war schwindelig. Ihr Rauschzustand erschien mir falsch und beängstigend. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.
„Onkel Douron!“, holte Rinnas erschütterte Stimme sie abrupt aus ihrer Ekstase.
Noch ziemlich benebelt stellte ihr Verstand dumpf fest, dass sie mit Douron in leidenschaftlicher Umarmung stand und ihre Hände durch seine Haare fuhren. Der Schock überrollte sie und mich gleichzeitig. Sie zog Ihre Hände zurück, als hätte sie sich verbrannt und stolperte einen Schritt zurück.
„Was tue ich hier!“, schrie sie fassungslos innerlich auf.
Ihr Blick streifte von Dourons bleichem Gesicht zu Rinna. Seine dunklen Augen glänzten voller Schmerz, einem Schmerz, den ich mir bei ihm niemals hätte vorstellen können.
„Wie kannst du …“, setzte Rinna Dora anklagend an.
Die weiteren Worte drangen nicht mehr zu ihr durch. Schwankend verließ sie den Raum. Ihre Sinne nahmen nichts mehr wahr. Der Schock lähmte sie. Irgendwann kehrten ihr Verstand und die unerträglich schmerzende Erkenntnis zurück. Dennoch weigerte sie sich mit aller Macht zu glauben, was soeben geschehen war. Allein dass Douron sie geküsst hatte, kam ihr schon unmöglich vor, aber dass sie seinen Kuss erwidert hatte … Nein, das konnte nicht sein! Wie sollte so etwas möglich sein. Sie liebte mich. Ich war ihr Ein und Alles, ihr Leben, der Grund ihres Daseins.
„Aber es ist geschehen“, erinnerte ihre innere Stimme sie schonungslos.
„Nein!“ Verzweifelt schrie sie auf und blickte wild um sich.
Das behagliche, Licht durchflutete Zimmer erschien ihr unwirklich. Sie kniff sich in die Hand, spürte nichts. In ihr erwachte die schwache Hoffnung, bloß in einem bösen Traum gefangen zu sein.
Dann trat Rinna durch die Tür. Die offene Abscheu auf ihrem Gesicht vernichtete Doras kümmerliche Hoffnung vollends und brachte sie erbarmungslos in die Realität zurück. Von Scham überwältigt senkte sie ihren Blick zu Boden.
„Ich bin hier, weil Onkel Douron sich deinetwegen Sorgen macht und ich ihm versprochen habe, bei dir zu bleiben, damit du nicht auf dumme Gedanken kommst“, begann Rinna mit verächtlichem Tonfall. „Mir ist egal, was du dir antust, aber dann würde Onkel Daeren sehr darunter leiden und … er darf niemals erfahren, was eben passiert ist.“
Ein unerträglicher Schmerz durchfuhr Dora. Dann wurde es schwarz um mich.
„Daeren Rensha. Hören Sie mich?“, weckte mich die besorgte Stimme der Jaminah Shi aus meiner Dämmerung.
„Warum ist die …“, stöhnte ich am ganzen Körper zitternd auf. Es fühlte sich an, als würde er in tausend Stücke gerissen.
„Ich musste die Verbindung abbrechen, weil Sie das Bewusstsein verloren haben“, antwortete sie, während ihre Finger eilig über das Gerät huschten. „Gleich wird es Ihnen besser gehen. Das Mittel müsste jeden Moment wirken.“
„Was ist geschehen?“, krächzte ich erleichtert aufatmend, denn das Zittern ließ deutlich nach.
„Sie muss einen starken Schmerz empfunden haben, der leider in der gleichen Intensität auf Sie übertragen wurde. Wie ich bereits sagte, ertragen wir HanJin ein solches Maß an Schmerzen nicht.“
„Verbinden Sie mich sofort wieder mit ihrem Gedächtnis!“, verlangte ich ungeduldig.
Ich musste unbedingt erfahren, ob meine Vermutung stimmte.
Sie seufzte. „Dann werde ich die Dosis des Schmerzmittels erhöhen müssen. Sonst werden Sie erneut ihr Bewusstsein verlieren.“
„Tun Sie was nötig ist, aber unterbrechen Sie bitte nicht mehr vorzeitig“, bat ich betroffen. Dora ertrug trotz ihres zarten Körpers solche Qualen bei vollem Bewusstsein, während ich ihnen nicht einmal ohne Medikamente standhielt. Wie beschämend war diese Erkenntnis.
Sie dachte an mich, an meine Liebe zu ihr und fühlte sich unbeschreiblich beschmutzt, glaubte mich nie mehr umarmen zu können. Wie gern hätte ich sie jetzt in die Arme genommen und beteuert, dass es nicht stimmte, dass sie völlig unschuldig war, dass kein Wesen dieser Versuchung widerstehen konnte.
„Ich teile seine Meinung, dass er nichts erfahren sollte“, sprach Rinna in vorwurfsvollem Ton weiter. „Er liebt Onkel Douron und du wirst ihre Beziehung nicht zerstören!“. Erregt stand sie auf, lief unruhig hin und her. „Du passt sowieso nicht zu ihm. Er ist tausendmal besser als du und das ist dein Dank!“
Jedes Wort traf wie ein scharfer Messerstich in Doras Herz und ließ sie sich vor Schmerz krümmen.
Ich schrie auf. „Hör auf, Rinna! Du weißt nicht, wovon du redest.“
„Was willst du jetzt machen. Willst du etwa so tun, als ob nichts passiert wäre?“, verlangte Rinna zu wissen, wie ein erbarmungsloser Richter von einem Schwerverbrecher.
„Nein“, antwortete sie kaum hörbar.
„Was dann?“, drängte Rinna hartherzig weiter.
Schlagartig wurde ihr klar, welche Entscheidung sie treffen musste. Diese Erkenntnis versetzte sie in völlige Lähmung, sie brachte kein Wort hervor.
Rinna setzte sich zu Dora. „So wie es scheint, liebst du ihn doch nicht genug. Vielleicht kannst du nichts dafür. Du bist schließlich nur ein Mensch. Sie sind nun mal unfähig dazu …“
Dora stimmte ihr ohne den geringsten Widerstand zu. Sie war überzeugt, dass ihre Liebe zu schwach und meiner unwürdig war. Es brach mir beinah das Herz, mit ansehen zu müssen, wie wehrlos sie all die Anschuldigungen über sich ergehen ließ, vor allem wie sie all dem Glauben schenkte.
„Isadora … wie wäre es, wenn du ihn verlassen würdest“, schlug Rinna anmaßend vor. „Schau, wie es aussieht, liebst du ihn doch nicht genug, weshalb die Trennung für dich nicht allzu schlimm sein dürfte. Wenn du etwas Gewissen hättest, wüsstest du selbst, dass das der einzig richtige Weg ist. Ehrlich gesagt tust du ihm ohnehin nicht gut. Er ist mit dir nicht wirklich glücklich. Das weiß ich, weil ich ihn von klein auf kenne. Er ist ganz anders als früher.“
Jedes ihrer Worte, die falsch und verkehrt waren, vergiftete Doras Wahrnehmung. Sie glaubte fest, dass sie der Wahrheit entsprachen, dass es egoistisch war, mich halten zu wollen
Es war erschütternd, wie kritiklos sie all diesem Unsinn Glauben schenkte und selbst felsenfest davon überzeugt war. Sie fasste einen Entschluss. Dieser jedoch bereitete ihr unerträglichen Schmerz. Mit zitternden Händen holte sie das Beruhigungsspray hervor und atmete es gierig ein. Das Mittel wirkte. Ihre Qual fühlte sich dumpfer an. Dafür stürzte ihr Verstand umso tiefer in einen dichten Nebel, so dass sie widerstandslos der Suggestion erlag, ich würde in unserer Beziehung ohnehin zu viel leiden, weshalb sie mir gar schuldete, mich aufzugeben.
„Ich werde ihn verlassen“, sagte sie flüsternd. Das Sprechen fiel ihr schwer. Ihre Kehle brannte.
„Wirklich?“ Rinna klang erfreut
Am liebsten hätte ich sie auf der Stelle hinausgeworfen.
„Wie willst du dich trennen? Er wird dich nicht ohne Weiteres gehen lassen“, wollte sie besorgt wissen.
Sie gab sich enorme Mühe, uns zu trennen. Warum nur war Dora ihr so ein Dorn im Auge? Sie hatte ihr doch nichts getan.
„Wenn ich sage, dass ich hier unglücklich bin, wird er es akzeptieren“, sagte Dora.
Sie kannte mich besser als jeder andere. Sie wusste genau, wie sehr ich auf ihr Glück bedacht und bereit war, dafür auf alles zu verzichten.
„Mag sein, aber er ist manchmal extrem unnachgiebig. Außerdem wird er lange darunter leiden …“, wandte Rinna zum ersten Mal betrübt ein.
Diese Aussage traf Dora hart. Schlimmer als die Peitschenhiebe, die sie gepeinigt hatten.
Was für Peitschenhiebe, fragte ich mich verständnislos. Kurz schoss mir durch den Kopf, dass sie etwas unbedingt vor mir verbergen wollte. Ich musste herausfinden, was es damit auf sich hatte. In dem Moment überrollte mich eine weitere Schmerzwelle und ich versank erneut in ihren Gedanken.
Sie überwand die unsagbare Qual, indem sie sich ausschließlich darauf konzentrierte, eine Lösung zu finden, die mich so wenig wie möglich leiden lassen würde. Dabei litt sie doch selbst unvorstellbar! Das fühlte ich deutlich trotz des Medikaments, das mir wahrscheinlich jetzt ununterbrochen in hoher Dosis verabreicht wurde.
„Er muss glauben, dass du nie wiederkommst, dass du ihn für immer vergessen wirst“, betonte Rinna langsam.
Mit einem Schlag fiel ihr eine Lösung ein, die zu akzeptieren sie sich zunächst heftig wehrte. Jede Faser ihres Körpers bäumte sich auf, flehte, wand und stemmte sich dagegen. Selbst der Tod kam ihr tröstlicher vor. Diese Versuchung war so übermächtig, dass mir vor Angst beinah die Sinne schwanden.
Dann meldete sich ihre Liebe zu mir. Ihre unvergleichlich selbstlose, tiefe Liebe, deren sie sich nicht im Geringsten bewusst war. Einzig und allein das Bestreben, mich davor zu bewahren, ihretwegen mein Leben lang zu trauern, veranlasste sie, von diesem fürchterlichen Gedanken Abstand zu nehmen.
Nichtsdestotrotz war ihr Verstand durch das Beruhigungsmittel dermaßen getrübt, dass sie mit absolut unsinnigen Argumentationen ihr Vorhaben rechtfertigte, ausschließlich mir zu Liebe gar auf das Kostbarste in ihrem Leben zu verzichten: Ihre Erinnerung!
Diesen Entschluss in die Tat umzusetzen, fiel ihr dennoch so schwer, dass sie erneut die Hilfe des betäubenden Mittels benötigte. Bei solch einer überhöhten Dosis konnte man schwerlich noch von einem freien Willen sprechen.
„Ich werde mein Gedächtnis löschen lassen.“
Als dieser Satz ausgesprochen war, gefror die Welt um sie augenblicklich zu Eis.
„Ja“, rief Rinna überrascht, „Bei den Menschen, die wir entdeckt haben, wird auch das Gedächtnis gelöscht!“
„Sie werden bald auf die Erde zurückgeschickt“ hauchte ihre Stimme. „Ich werde mit ihnen gehen.“
Im selben Moment brach Dunkelheit über sie herein. Mit dieser Entscheidung begann das Lebenslicht in ihr zu erlöschen. Eine einzige noch zu erfüllende Aufgabe bewahrte es davor, nicht völlig auszugehen. Danach würde alles, was kommen würde, für sie keine Bedeutung mehr haben.
Angestrengt richtete sie sich auf. „Du musst mir helfen. Ich weiß nicht, wo und wie ich mein Gedächtnis löschen lassen kann.“
Rinna erhob sich ebenfalls. „Das ist kein Problem und …“ Sie zögerte kurz. „Ich danke dir. Es hätte sowieso keinen Sinn gehabt“, sagte sie leise.
„Ja, ich muss nur noch mit Daeren sprechen“, entgegnete sie mechanisch, ohne irgendetwas zu fühlen. In ihr herrschte vollkommene Leere.
Durch einen dichten Nebel flog Rinna irgendwohin, führte sie durch Gänge und Gebäude und ließ Dora gegenüber verantwortlichen Leuten beschwören, dass es ihre eigene freie Entscheidung war, das Gedächtnis löschen zu lassen.
Unbeteiligt wie eine Maschine lief und saß sie neben Rinna, die alles regelte. In ihrem Geist wiederholte sie ununterbrochen die letzten Sätze, die alles zerstört hatten.
Fassungslos weilte ich in ihren Gedanken und fragte mich, wie ich all dem ohne den geringsten Zweifel so blind hatte Glauben schenken können.
Rinna schüttelte sie heftig. „Es ist Onkel Daeren. Isadora, reiß dich zusammen!“ Eindringlich ermahnend drückte sie ihr das Beruhigungsmittel in die Hand.
Artig sog sie es tief ein, bevor Rinna ihr das Paily übergab.
Auf dem Bildschirm tauchte mein blasses Gesicht auf.
„Dora, was ist passiert? Rinna meint, du willst zurück zur Erde?“, versuchte ich, meine Stimme ruhig klingen zu lassen, dennoch schwang Angst in ihr mit.
Trotz des soeben eingeatmeten Mittels spürte sie, wie sich ihr Herz schmerzhaft zusammenzog, als träfen es tausend Messerstiche. Es ist für ihn, rief sie sich in Erinnerung. Das ist mein letztes Geschenk an ihn.
Ich stöhnte reuevoll auf. Was für ein Narr war ich nur.
„Daeren, es tut mir leid. Es ist etwas passiert. Ich habe Menschen entdeckt, die von Vampiren entführt und wie Tiere gehalten wurden …“, begann sie mit schwerer Zunge.
Meine Augen weiteten sich. „Das tut mir … sehr leid“, kam die überraschte Antwort leise.
Er hat keine Ahnung, weil ich es so wollte, fiel ihr dumpf ein.
Was meinte sie damit? Was war noch geschehen?
„Aber was hat das mit deiner Entscheidung zu tun?“, fragte meine Stimme nach einer Weile vorsichtig.
Ihre Augen sahen wie durch einen dichten Schleier und ihr Mund brannte, als lodere Feuer in ihm. Sie kämpfte mit aller Macht gegen den drohenden Zusammenbruch ihres Körpers.
Hilflos ballte ich meine Hände zu Fäusten zusammen. Auch wenn ich wusste, was dann geschehen war, war es in ihrem Gedächtnis um ein Vielfaches schwerer zu ertragen als in meiner eigenen Erinnerung. Warum bloß war mir kein einziges Mal der Gedanke gekommen, dass ihr Leid größer sein könnte als mein eigenes.
„Ich habe erkannt, dass ich niemals zu euch gehören werde. Ich bin ein Mensch und werde immer einer bleiben. Deshalb möchte ich zurück und wieder mit meiner Rasse leben“, sagte sie die zuvor hunderttausendmal vor sich hin gemurmelten Sätze auf.
„Das wollten wir doch sowieso. Wir kehren bald zurück. Das weißt du“, beschwor ich. Meine Stimme schwankte zwischen Unverständnis und Unbehagen.
Ihr Herz blutete.
Unrechtmäßig, meinte sie. Denn sie hatte die Berechtigung, mich zu trösten, verloren. Für immer.
„Ich möchte aber allein zurück. Ich will ein normales Menschenleben führen mit meinesgleichen. Ich will nicht mehr ständig das Gefühl haben, minderwertig zu sein“, sprach sie mechanisch weiter.
„Aber du bist nicht minderwertig und wir kehren sobald wie möglich zurück und wenn du nicht willst, müssen wir nie wieder nach JaRen“, versprach ich hastig, jetzt voller Furcht.
Meine angstvolle Stimme ergoss sich wie sengendes Feuer über sie. Wie eine alles verschlingende Glut breitete es sich ebenfalls in mir aus.
„Nein, ich will nicht mit dir zurück“, kam es schneidend aus ihrem Mund.
Jedes Wort, das sie wie tödliches Gift hinausschleuderte, floss wie ätzende Säure durch ihre und meine Adern. „DU erinnerst mich ständig, wie minderwertig ich bin.“
„Dora, das ist …
„Nein!“, schrie sie auf. „Wenn ich sterbe, dann fängt dein Leben erst an! Du wirst eine andere Frau heiraten. Du wirst eine Familie gründen und du wirst mich für immer vergessen.“
Das war die Aussage, die mich Tag und Nacht gequält hatte, die mich davon abgehalten hatte, ihren Entschluss infrage zu stellen. Dabei war sie nie wahr gewesen. Ich hätte wissen müssen, dass das niemals der Wahrheit entsprochen hatte. Ich kannte sie doch. Ihre Entscheidungen, ihr gesamtes Handeln waren stets einzig und allein auf mein vermeintliches Wohl gerichtet. Wie konnte ich das nur vergessen …
Sie wünschte mir tatsächlich aus ganzem Herzen eine andere, mit der ich glücklich werden sollte. Warum, warum nur wusste sie nicht, dass dies unmöglich war. Dass allein sie die Fähigkeit dazu hatte, mir dieses unbeschreibliche Glücksgefühl zu bescheren?
Mein Gesicht fror im Schmerz ein.
„Ich möchte, dass wir beide diese Chance bekommen. Daeren, es ist besser für uns. Lass mich ein normales Menschenleben führen. Als Mensch bin ich wenigstens Durchschnitt und da habe ich wie du eine Chance zu heiraten und Kinder zu bekommen“, verlangte sie. Das einzige, was sie mit Sicherheit wusste, war, dass ihr Wunsch mir wichtiger als alles andere war. Mit letzter Kraft fügte sie hinzu. „Deshalb werde ich mein Gedächtnis löschen lassen. Ich möchte dich und all das hier vergessen.“
Ihre Hand schaltete das Paily aus. Das Letzte, das sie von mir sah, waren meine in Schmerz gefrorenen tiefblauen Augen. Sie drangen so qualvoll bis ins tiefste Innere ihrer Seele hinein, dass ich trotz der Medikamente fast die Besinnung verlor. In ihrem leeren Inneren flackerte flüchtig die verständnislose Frage auf, weshalb sie nicht auf der Stelle gestorben war. Dann akzeptierte sie dies gleichmütig als verdiente lebenslange Strafe. In ihr brannte kein Lebensgeist mehr. Nicht einmal der kleinste Funke. Vollkommene Finsternis nahm von ihr Besitz.
Plötzlich zuckten durch die Dunkelheit unzählige blaue Lichter, die auf ihren Kopf einprasselten. Die Bilder ihrer Erinnerungen tauchten auf und begannen zu schwinden, bekamen Streifen, verschwammen hinter dichtem Schneefall wie auf einem antiken Film. Mein lachendes Gesicht blitzte ein letztes Mal kurz und scharf auf, wurde blendend hell, um im nächsten Moment zu verblassen und endgültig zu verschwinden.
Jede Faser ihres Körpers erwachte entsetzt. Ihre Seele, ihr ganzes Ich bäumte sich auf und schrie.
Ich will nicht vergessen!
„Geben Sie ihr das Gedächtnis zurück!“ Hektisch richtete ich mich auf. Im nächsten Augenblick drohte mein Körper nach hinten zu kippen, aber zwei Arme hielten mich. Zitternd schob ich sie beiseite und rief heiser: „Haben Sie mich verstanden. Sie soll sofort ihr Gedächtnis zurückbekommen!“ Tief Luft holend fügte ich etwas ruhiger hinzu. „Der Entschluss entsprang keinesfalls ihrem freien Willen.“
Nein, hier ging es nicht darum, ob ich eine Chance bekam, sie zurückzugewinnen. Hier ging es einzig und allein darum, dass sie ihre Entscheidung gegen sich selbst getroffen hatte.
Ausschließlich mir zu Liebe.
Sie hatte diesen Schritt geschafft, weil sie es für mich tat. Sonst wäre sie niemals in der Lage gewesen, die nötige Energie aufzubringen. Dafür war sie zu zart. Hinzu kam, dass sie keine Kämpfernatur war und nie in ihrem eigenen Interesse handelte. Ihr einziges Augenmerk galt dem Wohl anderer, in dem Fall meinem …
Das wusste ich doch seit Langem. Was hatte mich bloß dermaßen blind werden lassen. Das Gefühl des Unverständnisses und der Reue übermannte mich. Ich hatte sie verloren, weil meine Schuldgefühle mich geblendet hatten. Ich litt seit Anbeginn unserer Beziehung darunter, sie eines Tages zu verlieren, was sie fatalerweise vollkommen falsch gedeutet hatte. Ich war mit ihr niemals unglücklich. Ich litt, weil ich zu glücklich war, weil das Gefühl bei ihr zu sein, zu überwältigend, zu bezaubernd war. Derartig Wundervolles, Zauberhaftes konnte keinen dauerhaften Bestand haben.
Vielleicht war ich mir zu sehr der Besonderheit unserer Beziehung bewusst. Aber ebenso könnte ich, wie Tauru mir einst unterstellte, einfach undankbar oder zu gierig gewesen sein.
„Es gibt aber keine Garantie, dass diese Maßnahme sie tatsächlich aus dem Koma wecken wird“, wies Jaminah Shi vorsichtig auf Bedenken hin.
„Das ist mir bewusst“, antwortete ich gefasst und sprang aus der Röhre. Diese kleine Bewegung kostete mich unerwartete Mühe. Meine Beine fühlten sich noch so schwach an, dass ich vorsichtshalber an der Wand Halt suchte. „Sie soll ihr Gedächtnis zurückbekommen, weil es ihrem Wunsch entspricht. Ich hoffe zwar, dass sie dadurch aus dem Koma erwacht, aber das allein ist nicht entscheidend. Falls der Erfolg ausbleiben sollte, müssen wir uns nach einer anderen Möglichkeit umsehen.“
Sie nickte zustimmend. „Gut, dann beginne ich am besten sofort damit. Es wird ohnehin einige Zeit in Anspruch nehmen. Wir haben zwar einige Erfahrung mit dem Löschen des Gedächtnisses von Menschen, unsere Erfahrungen mit dem Wiederherstellen sind jedoch weitaus geringer.“ Sie sah mich fragend an.
„Ich habe über zwei Jahre gewartet, da kommt es auf ein paar Tage mehr oder weniger auch nicht an. Ich vertraue Ihnen.“
Die Tür glitt zur Seite. Ein junger Mann in einem ähnlichen Kittel wie Jaminah Shi trat ein und verbeugte sich unbeholfen vor mir.
„Daeren Rensha. Es ist mir eine Ehre, Sie begrüßen zu dürfen. Ich bin Ruukur aus der Abteilung Zellbiologie. Ich überbringe Ihnen eine Nachricht.“
Ich nickte ihm höflich zu. „Freut mich Ihre Bekanntschaft zu machen. Schickt Sie Direktor Gortens zu mir?“
„Ja“, antwortete er eifrig. „Ihre Mutter DaReinna wünscht Sie zu sprechen. Der Direktor hat einen Raum für Sie herrichten lassen, damit Sie sich ungestört mit ihr in Verbindung setzen und eventuell ausruhen können. Wenn Sie hier fertig sind, führe ich Sie gerne dorthin.“
Ich hätte mich längst bei ihr melden müssen, fiel mir mit einem schlechten Gewissen ein. Sie wartete sicherlich voller Sorge auf meine Nachricht.
„Ja, das wäre äußerst zuvorkommend“, entgegnete ich daher sogleich und wandte mich an Jaminah Shi. „Informieren Sie mich bitte, sobald sich etwas Neues gibt.“
„Selbstverständlich werde ich Sie von jeder noch so kleinen Veränderung umgehend benachrichtigen. Aber mit Sicherheit wird es ein paar Tagen dauern, bis wir das Ergebnis zu sehen bekommen“, antwortete sie und blickte in Doras regloses Gesicht. „Und ich verspreche Ihnen, mein Bestes zu tun, um sie ins Leben zurückzuholen.“ In ihrer Stimme lag die Entschlossenheit einer Forscherin, die sich mit Leib und Seele ihrem Beruf widmete.
Auf dem Weg kündigte Ruukur Gan etwas völlig Unerwartetes an: „Übrigens wird das Schiff Ihres Bruders Captain Douron Rensha bald zu uns stoßen. Sobald es hier ankommt, wird Ihr Bruder höchstpersönlich zu uns übersetzen. Ich bin sehr aufgeregt ihn persönlich kennenzulernen. Er genießt bei uns einen legendären Ruf, seit er damals, als die verheerende Seuche auf der Schiffswerft wütete, sein Leben einsetzte, um einige von uns zu retten.“
Douron!
Der erste Impuls auf die Nennung seines Namens war tiefe Enttäuschung. Zum ersten Mal in meinem Leben empfand ich keine Freude über seine Ankunft. Im Gegenteil. Am liebsten wäre ich ihm aus dem Weg gegangen.
„Ich danke Ihnen“, sagte ich kurz angebunden, als wir den für mich hergerichteten Raum erreicht hatten und bedeutete ihm unmissverständlich, allein sein zu wollen. „Ich werde mich gleich mit meiner Mutter in Verbindung setzen.“
Das entsprach nicht unbedingt der gebotenen Höflichkeit, aber ich brauchte dringend Abgeschiedenheit, um mich in Ruhe mit meinen Gefühlen auseinanderzusetzen.
Kaum war Ruukur Gan gegangen, ließ ich mich auf einen Sessel fallen und schloss die Augen. Die Erlebnisse der letzten Tage kamen mir unwirklich vor. Innerhalb kürzester Zeit waren so viele unvorstellbare Dinge geschehen. Ich musste mir bewusst langsam verdeutlichen, welche Tragweite diese Ereignisse hatten.
Vampire hatten Dora entführt, um mich, einen Rensha, mental zu beherrschen. Hierfür war eine lange als ausgestorben geltende Parasitensorte ausfindig gemacht und genetisch für ihre Zwecke verändert worden, was eine sorgfältige, langwierige Planung voraussetzte. Die These, bei dem Vorfall auf der Erde habe es sich um einen Anschlagsversuch gehandelt, hatte sich damit bestätigt.
Dieser Versuch war damals ausschließlich wegen Doras Selbstlosigkeit gescheitert und diesmal einzig Dank des mystischen Schwertes, das auf der Erde bereits einmal ihr Leben gerettet hatte. Ohne es wäre ich hilflos in der Falle gefangen gewesen und hätte erst Dora nicht befreien können.
Dann die erschütternde Feststellung von Doras wahrem Grund, mich zu verlassen. Ich musste gestehen, dass diese von all den unfassbaren Erlebnissen mich am meisten schockiert hatte. Ihr Entschluss beruhte auf einem Verrat, der von meinem eigenen Bruder begangen worden war, und zwar ausgerechnet von meinem Lieblingsbruder, dem ich größte Zuneigung entgegenbrachte und von Kindesbeinen an grenzenloses Vertrauen schenkte.
Als ich beschlossen hatte, in Doras Gedächtnis einzudringen, war ich auf Überraschendes oder gar Unangenehmes gefasst gewesen. Aber solch einen Verrat hatte ich nicht im Geringsten erwartet. Ich wusste beim besten Willen nicht, wie ich ihm begegnen sollte. Anders als bei Dora fühlte ich mich von ihm zutiefst betrogen.
Ich hatte sie ohne jegliche Bedenken in seine Obhut gegeben, weil mein Vertrauen zu ihm unerschütterlich war. Das hatte er auf schändlichste Weise missbraucht. Seine Macht über Frauen kannte ich von klein auf. Wie stark sie jedoch tatsächlich wirkte, hatte ich erst in Doras Gedächtnis erlebt. Dieser Art von Versuchung erlag jede Frau. Sie wirkte wie eine starke Droge, die den Verstand der betroffenen Person komplett außer Gefecht setzte. Da gab es kein Entrinnen, für niemanden. Nicht einmal für Dora, trotz ihrer einzigartigen Liebe zu mir. Allein Douron war in der Lage seine Macht zu kontrollieren. Er konnte jede Frau haben. Sie alle beteten ihn an und lagen ihm zu Füßen. Warum musste er mir ausgerechnet das einzige Mädchen, das mir am Herzen lag, entreißen. Dabei hatte er von sich aus versprochen, meine Freundin sei tabu für ihn?
Aus diesen Gedanken riss mich das Aufleuchten des Monitors. Das besorgte Antlitz meiner Mutter erschien.
„Mutter, es tut mir leid, dass …“, begann ich.
„Nein, ich hätte mich gedulden sollen, bis du anrufst, aber ich hielt es nicht mehr aus“, unterbrach sie meine Entschuldigung sanft und lächelte. „Ich muss mich mit eigenen Augen vergewissern, dass du tatsächlich unversehrt bist.“
„Wie Ihr seht, geht es mir gut“, entgegnete ich und versuchte zurückzulächeln.
„Nein, es geht dir schon seit Langem nicht gut“, widersprach sie leise. „Aber dennoch ist Leben in dich zurückgekehrt, was mich auf eine Besserung hoffen lässt.“
Ich zuckte leicht zusammen. Bislang hatte sie nie so offen mit mir gesprochen. Ihre Hand fuhr zärtlich durch die Luft. Sie schien mein Abbild zu berühren.
„Meinst du, du wärest in der Verfassung, ausführlicher zu berichten, was geschehen ist?“, fragte sie vorsichtig. „Aber sei aufrichtig. Ich kann auch warten. Immerhin habe ich mich davon überzeugt, dass du körperlich unversehrt und ansprechbar bist.“
„Ich möchte es Euch jetzt erzählen“, sagte ich entschlossen und begann sogleich mit dem Anruf des Unbekannten. Sie hatte lange genug gewartet.
Sie unterbrach meinen Bericht kein einziges Mal. Nur ihre Augen, die ihre Größe und Farbe stark änderten, verrieten wie schockiert sie über diesen Vorfall war.
Nachdem ich die Schilderung beendet hatte, herrschte einige Zeit Stille.
„Weshalb bist du so sicher, dass die Entführer Vampire waren?“, wollte sie anschließend wissen. „So wie du es erläutert hast, warst du nicht in der rechten Verfassung, das ohne Weiteres zu erkennen.“ Ihre Stimme klang anders als sonst etwas heiser.
„Weil sie auf Doras Blut genauso reagiert haben wie die anderen Vampire“, antwortete ich überzeugt. „Es war dieses Bild, das mich überhaupt von der Beeinflussung durch die Parasiten befreite. Ich weiß nicht, was sonst passiert wäre.“
Schaudernd erinnerte ich mich, wie sehr am Anfang meine Sinne benebelt gewesen waren, dass ich selbst Dora nicht erkannt hatte. Meine Dora, die mir wichtiger war als alles andere im Leben.
„Aber du warst stark genug, dich ihrem Einfluss zu entziehen“, betonte sie mit dem stolzen Lächeln, das ich mein Leben lang gewohnt war und das dennoch nur Teil einer weit zurückliegenden verklärten Kindheitserinnerung zu sein schien, einer unbeschwerten, heilen Welt, die mir auf einmal irreal vorkam. Hatte sie einst tatsächlich existiert?
Als würde sie ebenso empfinden, huschte ein leichter Schatten über ihr Gesicht. „Du warst das Einzige meiner Kinder, bei dem ich durchgesetzt habe, dass es möglichst wenig Pflichten eines Renshas auferlegt bekommt und weitestgehend von der Öffentlichkeit abgeschirmt in einer bürgerlichen Umgebung aufwächst. Leider scheint deine Bestimmung etwas anderes für dich vorgesehen zu haben, als ich mir gewünscht habe.“ Ihre Hand zeichnete sanft den Umriss meines Kopfes nach. „Befindet sich Dora weiterhin im Koma?“
Ich nickte schweigend. Weitere Erklärungen waren überflüssig. Sie verstand mich besser, als ich es je auszudrücken vermocht hätte. Auf einmal wurde mir die Bedeutung dieser einzigartigen, allzeit sicheren elterlichen Liebe, die niemals eine Gegenleistung verlangte, richtig bewusst. Wärme und Dankbarkeit durchströmten mich und linderten den Schmerz der Wunde, die Douron hinterlassen hatte.
„Wir holen sie zu uns zurück“, versprach sie mit der unerschütterlichen Zuversicht, die mich meine gesamte Kindheit begleitet hatte und auf die immer Verlass gewesen war. „Aber diesmal verlange ich von dir, dass du dein Bestes gibst, um sie zu halten.“
Überrascht blickte ich ihr in die Augen.
„Kein Mädchen wird sie jemals ersetzen können“, sagte sie überzeugt. „Also nutze deine Chance.“
Hier gab es keinen Raum für Zweifel, nur absolutes Zutrauen.
„Danke, Mutter“, hauchte ich gerührt.
„Nimm etwas zu dir und ruh dich ein wenig aus. Wenn Douron kommt, wirst du kaum Zeit finden, dich hinzulegen“, empfahl sie verschwörerisch lächelnd.
Plötzlich stutzte sie.
„Ja, ich habe sowieso Hunger“, versuchte ich hastig meine Miene unter Kontrolle zu bringen.
Bedauerlicherweise musste sie dem aufmerksamen Blick meiner Mutter nicht standgehalten haben. Kurz schweifte er an mir vorbei. Dann sah sie mir
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 29.01.2014
ISBN: 978-3-7438-7732-0
Alle Rechte vorbehalten