Dieses Buch wurde zum Gedenken aller geschrieben, die von missbrauchten Menschen seelisch vergewaltigt wurden.
Wer glaubt, dass Gewalt erst bei körperlicher Gewalt anfängt, ist dumm. Dumm und borniert.
Wenn Opfer sich weigern, sich mit sich selbst und mit dem, was mit ihnen geschehen ist, auseinanderzusetzen, laufen sie Gefahr, selbst zu Tätern zu werden. Dieses Buch wurde von einem Opfer eines Opfers geschrieben.
Jetzt, wo ich all das Geschehene hier niederschreibe, sind mehr als drei Jahre vergangen, seit die Katastrophe über mich hereinstürzte. Es war ein Sommermärchen, das Ende Juli, Anfang August 2006 begann, nicht ganz zweieinhalb Monate dauerte, durch kräftige Herbstgewitter, die rund sieben Monate donnerten und blitzten, abgelöst wurde, und am Schluss mit heftigen Schneegestöbern endete, die im Grunde bis heute andauern und noch immer durch meinen Kopf fegen.
Nichts ist beendet.
Kann etwas beendet sein, wenn jemand ganz bewusst versucht, ein Ende dadurch zu erreichen, in dem er, oder genauer gesagt sie, mit Absicht einen Streit vom Zaun bricht, sich dann einfach verkrümelt, versteckt, tot stellt, nicht mehr zu fassen ist, und dadurch der Streit eben nicht, wie es sich eigentlich gehört, beendet wird, sondern weiterhin im Raum stehen bleibt? Und das alles nur, um die Beziehung nicht im Guten, also friedlich, mit einer Aussprache beenden zu müssen, sondern in der Hoffnung, diese Aussprache vermeiden zu können, ganz bewusst versucht, da sie nicht gelernt hat, ihre Schwächen einem anderen anzuvertrauen, die Beziehung im Streit zu beenden, damit die Wahrheit nicht ans Licht kommt. Und es ihr dabei völlig egal ist, wie der andere sich dabei fühlt, wie sehr er durch so ein Verhalten verletzt wird.
Oder auch das noch genauer ausgedrückt, man schon vor vielen Jahren der Frau, die feststellt keine Beziehung haben zu können, jegliches Vertrauen, das man braucht, um Schwäche zeigen zu können, was für eine Beziehung, wie auch für deren Beendigung »im Guten«, nötig wäre, ausgetrieben hat. Und sie dadurch eben nicht in der Lage ist, nachdem sie sich schon eingestehen musste, dass sie nicht beziehungsfähig ist, eine Beziehung so zu beenden, wie es zwischen zwei Menschen doch selbstverständlich sein sollte.
Kann etwas beendet sein, wenn ein Mensch bereit ist, mit allen Mitteln zu verhindern, und man könnte dabei dieses »mit allen Mitteln zu verhindern« schon fast wörtlich nehmen, sich mit sich selbst und seiner eigenen existenziellen Wirklichkeit beschäftigen zu müssen, und dafür sogar bereit ist über Leichen, zumindest über seelische Leichen, zu gehen?
Schon bei Rainer Werner Fassbinder heißt es: „Angst essen Seele auf.“ Was macht man mit einer Frau, deren Seele vor Angst so zerfressen ist, dass sie, ohne jegliche Skrupel, obwohl Skrupel der falsche Ausdruck ist, da die Person gar nicht selbst erfassen kann, was sie da anrichtet, auf einer anderen Seele solange mit aller Kraft herumtrampelt, dass auch diese nur noch ein blutiger, klumpiger Haufen ist? Wobei der Täterin, vor vielen Jahren selbst Opfer, jegliche Empathie fehlt. Die hat man ihr nämlich bereits vor langer Zeit herausgestoßen, sodass sie gar nicht in der Lage ist, überhaupt zu kapieren, was sie da anstellt.
Schon Dostojewski hat sinngemäß geschrieben, dass Missverständnisse nur durch Reden beseitigt werden können. Nicht nur eine weise, sondern eine wahre Erkenntnis. Aber was macht man, wenn eine Frau ganz bewusst Missverständnisse in der Hoffnung ausstreut, nicht reden zu müssen, weil sie gar nicht reden kann? Um reden zu können, muss man vertrauen können. Wie soll das gehen, wenn das Vertrauen ihr schon vor vielen Jahren ausgetrieben wurde?
Kann etwas beendet sein, wenn eine Frau, als sie ihre (die erste) Flucht, von ihrem Partner weg, plant, bei einem Ausflug mit Freunden schon den ganzen Tag zu ihrem Partner regelrecht abweisend ist, dann aber plötzlich, als ob sie auf dem weiten Meer völlig alleine am Ertrinken ist, sich auf ihn stürzt und ihn umklammert, als wäre er der einzige Rettungsring auf weiter See? Und als er dann vorsichtig die Arme um sie legt und zärtlich fragt: „Ej, Mädchen, was ist denn los mit dir?“, sie daraufhin erst merkt, was sie da gerade macht, ihn regelrecht, als ob er die Pest und Cholera gleichzeitig hat, weg stößt, „Nichts“ sagt, und abweisend, mit einer steinernen Maske im Gesicht, schweigend, darauf achtend, dass mindestens zwei Meter Abstand zwischen ihr und ihm herrscht, wieder neben ihm hergeht, und er nicht an sie heran kommt, da sie sofort, wenn er sich nähert, ausweicht.
Kann etwas beendet sein, wenn dieselbe Frau einen Tag später, immer noch abweisend, auf die Frage, was denn nun mit ihr los wäre, zuerst nicht antwortet, und als man drängelt, auf einmal die Antwort kommt: „Du stellst die falsche Frage.“ Und wenn man auf diese Antwort verstört nachhakt, man immer noch mehrmals: „Du stellst die falsche Frage“, als Antwort erhält, und zum Schluss des Abends, nach ewigem Herumgeeier, schließlich mit Tränen in den Augen und schluchzender Stimme: „Du bist das Beste, was mir je in meinem ganzen Leben passiert ist, aber ich muss über unsere Beziehung nachdenken.“
Was soll man machen, wenn dieselbe Frau einen mitten in der Nacht, nach der ersten Flucht war sie nach einer Woche wieder zurückgekommen, während man nebeneinander im Bett liegt, aufs Schlimmste beleidigt und demütigt, sodass man vor Schock und Irritation völlig sprachlos ist, und einem, wenn auch erst viel später, klar wird, dass sie diese Beleidigungen und Demütigungen eben genau deshalb von sich gegeben hat, um dem Reden zu entgehen, sie das alles nur in der Hoffnung inszeniert hat, damit man voller Wut, denn das hatte sie gewollt, mitten in der Nacht, ohne Aussprache, Tür knallend, das Bett, die Wohnung, die Stadt und na klar auch, um sich nie wieder blicken zu lassen, sie verlässt?
Was soll man machen, wenn dieselbe Frau, da man wider Erwarten nicht einfach die Tür knallend verschwunden ist, als man ihr am Morgen danach doch noch ein Gespräch abgerungen hat, mit versteinertem Gesicht einem sagt, sie möchte auch andere Männer kennenlernen und mit ihnen ins Bett steigen; sie aber ein paar Sekunden später, plötzlich nicht mehr mit versteinerter Miene, sondern im Gegenteil mit Tränen in den Augen, völlig aufgelöst einen regelrecht anschreit, dass sie völlig verzweifelt ist, weil sie nicht weiß, ob man es denn mit ihr wirklich ehrlich und ernst meinen würde, ob man ihr wirklich die Wahrheit erzählt, wenn man ihr sagt, dass man alles in Bewegung gesetzt hat, um beruflich in ihrer Stadt Fuß zu fassen, um mit ihr zusammenzuziehen, zusammen zu sein, zusammenzuleben, dass man für sie das Lebensziel, das man hatte, bevor man sie kennenlernte, wirklich bereit sei zu ändern?
Was soll man machen, wenn dieselbe Frau, sechs Wochen nach der endgültigen Beendigung der Beziehung durch Streit und Missverständnisse, doch noch zu einem Telefongespräch bereit war, aber dieses nur mit versteinerter Miene (die konnte man regelrecht durch das Telefon spüren), und dabei abermals nur Ausflüchte von sich gab, von wegen, „Ich habe dich nie geliebt; ich wusste von Anfang an, dass es mit uns falsch war; alles was ich während der Beziehung gesagt habe, hat keine Bedeutung; das Einzige was zählt, ist, dass ich nicht will.“ Und dann auf einmal mit schluchzender Stimme es regelrecht aus ihr heraus bricht: „Ich werde nie wieder eine enge Beziehung eingehen. Wenn es selbst mit dir nicht geklappt hat, klappt es auch mit keinem anderen.“
Alleine diese Aussage muss man sich einmal in aller Ruhe auf der Zunge zergehen und einwirken lassen: „Wenn es selbst mit dir nicht geklappt hat, klappt es auch mit keinem anderen.“
Was soll man machen, wenn man bei Freunden, wegen des Verlustes einer wirklich tollen Frau, denn das ist sie ohne Zweifel, nach Hilfe sucht, und alles, was man als Antwort und guter Ratschläge bekommt, lautet:
„Die ist nun mal so.“
„Vergiss die Frau, die ist es nicht wert.“
„Solche Schlampen laufen überall herum. Such dir eine Neue, und spiele mit der dann genauso.“
Was soll man machen, wenn man einfach nicht kapiert, was da passiert ist? Wenn man nur das Gefühl hat, mit voller Wucht gegen eine Wand geklatscht zu sein, man aber nicht versteht, warum. Und man auch noch nach mehreren Jahren das Gefühl hat, immer noch an dieser Wand zu kleben, und nicht so richtig weiß, wie man von ihr loskommt.
Und was soll man machen, wenn man nach vielen Monaten endlich die ganze Tragweite erkennt und dabei dann feststellt, dass man darüber mit niemandem reden kann? Mit Leuten darüber reden, hieße Hilfe suchen, Antworten erwarten. Aber was für Antworten, welche Hilfe sollten sie denn einem geben? „Vergiss die Frau, die ist es nicht wert“, oder „Mein Gott, die war schon immer so; stell dich nicht so an, es gibt andere“, zieht nun überhaupt nicht mehr.
Und wenn man von Freunden doch Hilfe angeboten bekommen würde, was soll man denen sagen, ohne die Frau bloß zu stellen, ohne dass ihre Gefängnismauer, ihre Fassade, unkontrolliert über sie einstürzen, und sie unter der Mauer begraben werden würde?
Was soll man machen?
Oder eine noch viel schwierigere Frage:
Wie soll man damit selber klarkommen – selbst in Frieden weiter leben? Man kann ja auf die Frau nicht einmal sauer sein, sie nicht einmal zum Teufel wünschen. Sie hat ja irgendwie keine Schuld für das, was sie einem angetan hat. Wenn man schmählich verlassen wird, kann man die Trennung auch durch Wut, durch Verfluchen der Person überwinden. Wie soll man sie aber verfluchen können? Sie ist doch nicht die Ursache ihres Verhaltens.
Niemand will jemanden loswerden und klammert sich gleichzeitig an ihm geradezu verzweifelt fest. Niemand will wirklich mit anderen Männern ins Bett und hat gleichzeitig Angst, dass der Partner selbst ein Hallodrijan ist, dem man nicht vertrauen kann. Niemand will wirklich jemanden wegwerfen, wenn man doch der Meinung ist, dass der das Beste sei, was einem im ganzen Leben passiert ist.
Aber alle sagen: „Vergiss die Frau.“
Wie soll das aber gehen?
Auch eine Frage ohne Antwort. Es gab und gibt nur Fragen. Fragen, Fragen, Fragen, aber keine Antworten.
Dafür, dass ich mich letztendlich hingesetzt habe, um das alles niederzuschreiben, trägt mein Anwalt die Hauptschuld. Was man mir vorgeworfen hat und wie man sich mir gegenüber verhalten hat, hielt er, da war er anderer Meinung als die Beraterin der Frauenhilfsorganisation, bei der ich versucht habe, mir Rat zu holen, moralisch verwerflich. Moralisch verwerflich, aber nicht unbedingt strafrelevant. Dazu hatte sie sich bei den Vorwürfen, notgedrungen, da sie absolut aus dem Zusammenhang gerissen und daher konstruiert waren, zu verschwommen ausgedrückt. Aber trotzdem meinte er, gäbe es eine Möglichkeit für einen juristischen Schritt. Nachdem ich aber die ganze Tragweite der Geschehnisse, leider viel zu spät, begriffen hatte, war mir eine friedliche Lösung immer wichtiger geworden. Aber mein Anwalt sagte ganz klar: „Vergessen sie es. Es wird von der Frau kein Einlenken geben, denn dafür ist sie bereits zu weit gegangen. Das mag moralisch verwerflich sein, und eine erwachsene Frau, egal was ihr in ihrer Kindheit passiert ist, sollte sich, erst recht, wenn sie selbst in einem therapeutischen Beruf arbeitet, so weit fangen können, um genug Einsicht zu haben, dass sie Hilfe benötigt, und sich helfen lassen. Aber in diesem Fall wird es nur auf einen »Showdown« vor Gericht hinauslaufen. Wenn sie Skrupel haben, die Frau vor Gericht bloß zu stellen, wenn sie Skrupel haben, die von der Frau selbst gebauten Gefängnismauern, hinter der sie sich verkriecht, vor Gericht in Schutt und Asche zu legen, was für die Frau sicherlich ein »Super-GAU« wäre, verzichten sie auf eine gerichtliche Auseinandersetzung und verarbeiten sie die Sache anders.“
Somit hat mein Anwalt Schuld, wenn ich, statt nachts im Bett schlaflos auf und ab zu gehen, mich an den Computer gesetzt habe, um in die Tasten zu hauen. Das meiste hier ist irgendwann zwischen zwei und sechs Uhr morgens geschrieben worden. Wenn man von einigen späteren Feinarbeiten, Ergänzungen und Streichungen absieht, binnen acht Wochen. Ich wollte das Ergebnis zuerst »Schlaflos in Lübeck« nennen, aber es ist keine Liebesgeschichte, und endet auch nicht Hände haltend auf der Aussichtsplattform eines Wolkenkratzers oder der St. Petrikirche. Daher habe ich mich anders entschieden.
Der Titel – »Du weißt doch, Frauen taugen nichts« – ist keine Provokation, sondern war eine Begründung von ihr, um mir verständlich zu machen, warum die Flucht, von mir weg, geschah.
Aber genau das verstand ich eben nicht.
Mein Gott, war das ein Sommer. Man könnte meinen, Deutschland hatte in dem Jahr 2006 ein Sonderabkommen mit Petrus abgeschlossen. Oder Petrus war einfach nur ein großer Fußballfan und hatte daher zur Fußball-WM 2006 alle Register gezogen, um zumindest wettertechnisch ein Sommermärchen vom Stapel zu lassen. Auf jeden Fall herrschte ein fantastisches mediterranes Wetter, und die Stimmung im Land war so gut wie schon lange nicht mehr.
Auch mir ging es gut. Ich genoss das tolle Wetter. Mir ging es, da mögen einige verständnislos den Kopf schütteln, eigentlich sogar ziemlich gut.
Vor zehn Monaten war meine Firma den Bach runter gegangen. Die ersten Monate nach der Pleite waren schlimm gewesen, der Schock hatte tief gesessen. Zuerst der langsame finanzielle Untergang, da es einfach zu viele Kunden gab, die zwar Arbeit, aber kein Geld verteilen wollten, und dann noch die absolute Krönung, einem professionellen Betrüger auf dem Leim gegangen zu sein. Das war schon hart.
Da half es auch nicht als Trost, dass außer mir noch viele andere auf diesen Typen hereingefallen waren. Angefangen von den Justizbeamten im Hamburger Vollzug, die einen, wegen professionellen Betrugs Einsitzenden, für sein letztes Jahr im Knast, in den offenen Vollzug gesteckt hatten, damit er von dort aus wieder in seinem Beruf (professioneller Betrüger?) zurückfinden und sich eingliedern konnte; über Beamte in Brüssel, die ihm und seinem Kompagnon, während er sein letztes Jahr im Gefängnis im offenen Vollzug absaß, Subventionen von über einer Million Euro zusagten (für eine Firma, die es gar nicht gab), bis hin zu den Firmenbesitzern, die er mit dem Wisch der Subventionszusage geleimt hat, da er angeblich mit dieser Million deren Firmen aufkaufen und sanieren wollte.
Es war zu spät, als sich herausstellte, dass der Typ sich, als angeblicher Firmensanierer, nur mit uns und anderen Firmen beschäftigt hat, um die letzten Kröten aus den Firmen zu pressen, damit er die Zeit überbrücken konnte, bis die zugesagten Subventionen, die nicht zweckgebunden waren, fließen würden. Und außerdem benötigte er uns na klar auch, um Geschäftsbeziehungen und Investitionsabsichten den Beamten in Brüssel belegen zu können. Sobald das Geld aus Brüssel überwiesen worden war, wollte er sich wohl, nachdem seine Haftstrafe im offenen Vollzug abgelaufen sein würde, während deren er, sozusagen unter der Obhut der deutschen Justiz, mit einem geleasten Porsche durch ganz Deutschland gefahren ist, um seine schmutzigen Geschäfte zu machen, ins Ausland absetzen.
Ich und so manch anderer waren somit nur Kollateralschaden in einem größeren Spiel gewesen.
Und somit war meine Firma im August 2005 pleite. Es dauerte einige Zeit, bis ich den Schock verkraftet hatte. Allerdings ging es mir durch die Insolvenz nicht nur schlechter, sondern es gab auch Dinge dabei, bei denen ich mich eindeutig besser fühlte. Als der Schock über die verlorene Existenzgrundlage erst einmal verflogen war, wie auch die nervlichen Auswirkungen jahrelangen Stresses des Geschäftsführerdaseins, stellte ich fest, dass die Herzstiche, die Magenschmerzen, Kopfschmerzen, schlaflose Nächte und schlechte Träume der letzten Jahre, ganz schnell verschwanden.
Zumindest gesundheitlich ging es mir somit nach der Pleite nun wesentlich besser. Das war nicht zu leugnen. Ich, im Oktober 2005 siebenundvierzig Jahre alt geworden, fühlte mich wieder wie siebenundvierzig, bzw. sogar noch jünger, und nicht wie vor der Pleite, als ich mich oft wie sechzig oder älter gefühlt habe. Als Chef gab es nur alle zwei oder drei Jahre Urlaub, die auch nur mal gerade jeweils zwei Wochen dauerten, eine 6,5 Tage Woche, und das, obwohl 40 Stunden Wochenarbeitszeit wohl schon immer am Donnerstag erreicht worden waren. Mir war eine Last von der Seele und dem Körper gefallen, und wenn man erst einmal ganz unten angekommen ist, wie ich mit der Pleite, hatte es auch den Vorteil, dass es kaum mehr tiefer gehen konnte.
Bereits fünf Jahre vorher war ich, zumindest wohntechnisch gesehen, wieder in meine alte Heimatstadt Lübeck zurückgezogen, nachdem ich acht Jahre zuvor in ein kleines Dorf in Meck-Pomm umgesiedelt war. Aber nach acht Jahren hatte ich die Nase voll von einer Idylle im Nirgendwo, die aus einem Herrenhaus, vier teilweise ungepflasterten Straßen und ca. zwanzig Häusern bestand. Nachts hätte man die Fußwege dort hochgeklappt, wenn es denn welche gegeben hätte. So tot war es dort.
Das war nun alles vorbei. – Und es war Sommer.
Immer wenn die deutsche Fußballmannschaft spielte, gab es vor dem griechischen Restaurant, das direkt neben meiner Wohnung liegt, auf dem Fußweg und der dortigen Straßenkreuzung eine Menschenansammlung. Der Wirt hatte vor dem Restaurant einen Großfernseher aufgestellt, damit seine Gäste, die dort auf der Terrasse saßen, und andere Vorbeilaufende, sich die WM dort ansehen konnten. Spielte die deutsche Mannschaft, und sie spielte ja sogar erfolgreich, war bis zum frühen Morgen des nächsten Tages vor meiner Wohnung die Hölle los.
In oder vor fast jeder Gaststätte hatten deren Wirte Fernseher aufgestellt, um die Anwohner der Umgebung von der heimischen Bildröhre wegzulocken. Bei einem Spaziergang durch die Stadt kam ich an der Kneipe »Carrickfergus« vorbei. Deren Wirt hatte ein Schild ans Fenster geklebt: »Hier WM-freie Zone«. Typisch Horst, dachte ich damals. Während die anderen mit der WM-Werbung machten, bot er Obdach für WM-Flüchtlinge.
Als das Achtelfinale für die deutsche Mannschaft losgehen sollte, floh ich aus meiner Wohnung. Es war mir klar, sollte die deutsche Mannschaft gewinnen, würde vor meiner Wohnung, bis zum nächsten Morgen, jubelnder Lärm herrschen, und Autokorsos, Fahnen schwenkend, laut hupend, durch die Straßen fahren. Nicht nur das Wetter hatte diesen Sommer mediterrane Auswüchse. Auch die Norddeutschen zeigten, während dieser Fußball-WM, ein für sie ungewohntes Temperament. Da ich somit, zumindest wenn die deutsche Mannschaft gewinnen würde, sowieso nicht in Ruhe hätte schlafen können, war ein Besuch in der „WM-freien Zone“ doch nur sinnvoll.
Früher, vor meiner Zeit in Meck-Pomm, war das „Carrickfergus “, meine Stammkneipe gewesen. Als ich aus Lübeck weggezogen war, verlor es sich damit, bis ich wieder Ende 1999 nach Lübeck zurückkam. Damals fing ich erneut an, mich dort wohlzufühlen, zumindest bis das, kurz nach dem ich wieder in Lübeck und im „Carrickfergus“ heimisch geworden war, mit Carola passierte. Carola war damals neu in der Kneipe, zumindest kannte ich sie nicht von früher. Lange Haare und, na ja, irgendwie nett. Sie bediente dort, wenn der Wirt selbst keine Lust hatte, hinter dem Tresen zu stehen. Man plauderte, dazu ist eine Kneipe schließlich da, am Tresen locker miteinander, und lernte sich so flüchtig kennen.
Irgendwann damals, es war gerade Frühling im Jahr 2000, hatte ich von Carola dann eine E-Mail bekommen. Die E-Mail ging nicht direkt an mich, da ich damals privat keine E-Mail-Adresse besaß, sondern an die E-Mail-Adresse meiner Firma. Carola wollte mich näher kennenlernen.
Damals waren E-Mails noch selten. Von Kunden bekam ich, wenn es hoch kam, vielleicht ein oder zwei Mails die Woche. Aber Sex-Mails kamen, damals gab es noch keine Spamfilter, zwanzig bis dreißig Stück jeden Tag. Es waren die plumpsten Anmach-E-Mails dabei, um einen auf irgendwelche kostenpflichtige Seiten zu lotsen, was bei mir des Öfteren die Frage aufkommen ließ, was würde passieren, wenn so eine E-Mail, an irgendeinen Ehemann adressiert, zufällig von dessen Frau geöffnet und gelesen werden würde? »Hallo Liebster, endlich sind die Nacktfotos fertig, die du von mir unbedingt haben wolltest, klicke hier, und du kannst mich in meiner ganzen, von dir so geliebten Schönheit bewundern.«
Da kommt der Ehemann nichts ahnend nach Hause, schließt die Wohnungstür auf, bekommt, ehe er sich versieht, die gute alte gusseiserne Bratpfanne links und rechts um die Ohren geknallt, ohne dass er überhaupt weiß, was los ist. Und nachdem er sich, geschlagen am Boden kriechend, ins Wohnzimmer gerettet hat, sieht er dort bereits den Scheidungsanwalt seiner Ehefrau auf dem Sofa sitzen.
Ich hatte keine Lust, mich mit so einem Mist zu beschäftigen, und hatte daher meiner damaligen Sekretärin die Anweisung gegeben, die Anmach-Mails auszusortieren und mir nur die relevanten E-Mails unserer Kunden vorzulegen. Die Sex-Mails sollte sie einfach löschen. So bekam ich die E-Mail von Carola, da meine Sekretärin diese als „Anmach-Mail“, auch wenn es dabei keinen Link zu irgendwelchen Nacktfotos gab, in den Papierkorb schob, damals nicht zu Gesicht.
Eine Äußerung meinerseits an eine Freundin von Carola, am darauf folgenden Wochenende, die nichts mit der E-Mail zu tun hatte, sondern mit einem angetrunkenen Pärchen, das mich direkt davor in einer anderen Kneipe genervt hatte, wurde von dieser Freundin, die von der E-Mail an mich wusste, falsch verstanden, und mit der Vermutung, dass meine Bemerkung sich auf die E-Mail von Carola bezog, dieser kurzfristig brühwarm unterbreitet.
Daraufhin bekam ich ein paar Tage später, abermals an meine Firmenadresse, eine wütende, ja geradezu beleidigende E-Mail von Carola. Meiner Sekretärin hatte ich in der Zwischenzeit mangels Geldmasse kündigen müssen, sodass ich alle Mails nun selbst lesen musste. Und so bekam ich diese E-Mail von Carola, im Unterschied zur Ersten, zu lesen.
Es stand dort irgendetwas von: »Kannst du dich nicht wie ein Erwachsener benehmen, du bis doch kein kleines Kind mehr. Wenn du mich nicht näher kennenlernen willst, kannst du mir das doch direkt sagen, und nicht hinten herum eine dumme Bemerkung über mich machen. Ich hab ja wohl ein Recht auf eine ehrliche Aussprache, wenn ich dir eine Mail schicke, und dir dabei mein Herz öffne.«
Wow. Was war das denn? Ich verstand die Welt nicht. Was wollte die Frau von mir? Was habe ich getan? Von welcher Mail schrieb sie hier?
Ich hatte keine Ahnung.
Auch ich hatte mich damals etwas in Carola verliebt, hatte das Gefühl aber wegen Problemen in der Firma beiseite geschoben. Kunden eierten mal wieder mit der Zahlung herum, sodass ich für beziehungstechnische Dinge nicht den Kopf frei hatte. Und nun schickte Carola mir auch noch eine E-Mail, die ich überhaupt nicht einordnen konnte. Eine Liebeserklärung war diese Mail auf jeden Fall nicht, und mir war auch nicht bewusst, dass sie mir gegenüber ihr Herz geöffnet hatte, und ich ihr im Gegenzug irgendwie und irgendetwas vor den Kopf geworfen habe, was beleidigend gewesen wäre.
Ein paar Tage später, es war noch in der gleichen Woche, ohne dass ich zwischenzeitlich Carola im „Carrickfergus “ getroffen hatte, räumte ich den E-Mail-Papierkorb, den meine ehemalige Sekretärin mir in dem Computer voll hinterlassen hatte, auf. Da fand ich die erste Mail von Carola, und verstand. Sie hatte in der Mail, wie schon erwähnt, geschrieben, dass sie mich näher kennenlernen möchte. Sie hatte unser letztes gemeinsames Gespräch in der Kneipe sehr genossen. Angeblich soll ich dabei von meinen blühenden Apfelbäumen, die auf meinem Grundstück in Meck-Pomm standen, das noch nicht verkauft war, geschwärmt haben, was sie wohl toll gefunden hat. Und sie wollte mich daher nun auch außerhalb ihrer Kneipendienstzeit näher kennenlernen.
An das Gespräch über meine Apfelbäume konnte ich mich nicht mehr erinnern. Das war wohl etwas später an einem Abend, nach mehreren Guinness gewesen, sodass die Erinnerung darüber gleich weggespült worden war.
Aber wieso knallte sie mir mit der zweiten E-Mail gleich so wilde Beleidigungen um die Ohren? Auch wenn ich wirklich nicht wusste, was ich falsch gemacht haben soll, sollte zumindest sie, wenn sie doch anscheinend Wert darauf legt, dass man sich ihr gegenüber ehrlich, aufrichtig, und vor allem erwachsen benimmt, wenigstens mit gutem Beispiel vorangehen. Nach irgendwelchen Beschuldigungen von anderen Leuten, ohne mir die Möglichkeit zu geben, mich zu verteidigen und Stellung dazu zu nehmen, mich so in einer E-Mail herunterzuputzen, zeugte selbst nicht gerade von einem ausreichenden Maß an »erwachsen sein«, wie ich es mir zumindest, und anscheinend ja auch sie, vorstellte.
Ich schickte ihr als Antwort eine Mail, entschuldigte mich darin für das Missverständnis und erklärte ihr, warum ich die erste E-Mail von ihr erst jetzt gelesen habe. Ich schrieb allerdings auch, dass ihre Verurteilung, ohne mich zu fragen, was das denn nun alles sollte, auch nicht gerade von einem Benehmen einer Erwachsenen zeugte, und man sollte doch nicht unbedingt mit Steinen werfen, wenn man anscheinend selbst im Glashaus sitzt. Erst recht nicht, wenn man seine Informationen nur aus zweiter Hand erhalten hat.
Carola reagierte nicht auf die E-Mail. Nun, dann eben nicht. Ich konnte ja nun wirklich nichts dafür, dass ich die erste E-Mail nicht, bzw. erst Tage später, gelesen hatte. Wer schickt auch eine Liebes-E-Mail an eine Firmenadresse, bei der man nicht einmal weiß, wer die E-Mail alles liest, bevor die richtige Person, wenn denn überhaupt, sie erhält?
Irgendwie war ich davon überzeugt, dass es wohl ganz gut war, dass wir nicht zusammengekommen waren. Wer so beleidigend reagiert, ohne sich zu erkundigen, ob die dazugehörige Nachricht überhaupt angekommen ist, wer einem nicht einmal die Chance für eine Stellungnahme gibt, war nichts für meine, sowieso schon gestressten Nerven. Mit so etwas versuchen, eine Beziehung aufzubauen? – Nein danke! Somit hatte sich mein »etwas verliebt sein« auch erledigt.
Als ich das nächste Mal in der Kneipe war, bediente Carola nicht. Somit konnte ich ihr meine Meinung nicht noch einmal persönlich an den Kopf werfen. Ich wechselte daraufhin die Kneipe, verbrachte meine freien Abende im »Zolln«, in dem ich auch schon viele Abende meines Lebens verbracht habe, und in dem jetzt im Sommer, im Gegensatz zum »Carrickfergus«, sogar noch der Vorteil vorherrschte, dass man draußen, auf der Terrasse und dem Bürgersteig, sitzen oder stehen konnte. Nicht dass ich damals Angst gehabt hätte, Carola zu treffen, aber wenn man über sechs Tage in der Woche arbeitet, will man in der Kneipe in Ruhe sein Bier trinken, und nicht noch keifend angemacht werden. Eine Kneipe, in der man sich mit dem Wirt, bzw. der Bedienung, gegenseitig angiftet, verliert die Funktion, die sie ausüben soll. Um mich zu streiten, hatte ich damals bereits meine Kunden gehabt. Da wollte ich nicht für so etwas auch noch in einer Kneipe Geld hinlegen müssen.
So vergingen, Carola war quasi »Geschichte«, die Jahre, bis zur Fußball-WM 2006.
Ich fragte mich, auf meiner Flucht vor dem Achtelfinale fiel mir die Sache mit Carola wieder ein, ob sie immer noch im »Carrickfergus« bedienen würde. Ich ließ mich überraschen, stellte aber bei meiner Ankunft fest, dass nicht Carola, sondern Horst selbst hinter dem Tresen stand. So richtig wusste ich nicht, ob ich darüber enttäuscht sein sollte, oder, nach den früheren Geschehnissen, doch eher erleichtert. Ich fragte nicht nach Carola, genoss die altbekannte ruhige Atmosphäre der Kneipe, ging an den folgenden Abenden, während der nächsten WM Spiele, auch dort hin, und gewöhnte mich langsam wieder an sie.
Es war der vorletzte Freitag im Juli. Die WM war vorbei. Deutschland hatte sich, wenn es auch letztendlich nicht für den Titel gereicht hat, wacker geschlagen, und das normale Leben kehrte, wenn man einmal von den immer noch mediterranen Wetterverhältnissen absah, wieder in den Kneipen ein. An diesem Abend wollte ich eigentlich gar nicht ins »Carrickfergus«, aber bei genauer Kontrolle meines Fernsehers musste ich feststellen, dass dessen Programme alle direkt ans Klo angeschlossen waren. Es gab nur Mist. Also schaute ich ins Portemonnaie und entschied, dass es für zwei Bier reichen würde.
Im »Carrickfergus« angekommen musste ich kurz schlucken, als ich völlig unerwartet Carola an einem der Tische sitzen sah. Ich ließ mir aber nichts anmerken, nahm einen alten Spiegel aus einem Regal, setzte mich an den Tresen und blätterte in dem Nachrichtenmagazin, um nachzulesen, was vor einigen Monaten in der Welt so alles passiert war. Mit halbem Ohr hörte ich zu, wie Horst, während er die Biere zapfte, Carola zurechtstutzte, weil er, seit er sie vor Jahren kennengelernt hatte, des Öfteren miterleben musste, dass sie, ohne irgendwelche Rücksichten zu nehmen, reihenweise Männerherzen brechen würde, und nie eine ernste Beziehung eingegangen ist. Ich wusste nicht, wie es zu dieser Auseinandersetzung gekommen war, hielt mich da raus, lauschte aber neugierig mit halbem Ohr weiter, während ich weiter in dem »Spiegel« blätterte. Mir entging nicht, dass die Auseinandersetzung mit der Zeit ziemlich heftig wurde, und sogar das normale Stimmengewirr der Kneipe übertönte. Horst ereiferte sich regelrecht darüber, dass Carola angeblich sehr egoistisch mit Männern umging, diese ständig wechselte, öfters als andere ihre Unterhosen, Gefühle vorspielte, die anscheinend nicht wirklich vorhanden waren, und dass Carola sich wohl auch beim Abschütteln ihrer Liebhaber relativ unmöglich, sprich herzlos benahm.
Von Carola, die mit Peter, der als Stammgast dieser Kneipe quasi schon seit vielen Jahren zum Inventar gehörte, am Tisch neben der Eingangstür saß, kam bald kaum noch eine Entgegnung. Nur einmal konnte ich deutlich: „Bis jetzt hat es eben nie den Richtigen gegeben“, verstehen. Ansonsten waren ihre Erwiderungen inzwischen so leise, wie eingeschüchtert, dass sie fast im Kneipenlärm untergingen.
Irgendwann stellte sich Carola, Peter war inzwischen gegangen, seitlich an den Kneipentresen und quatschte mit irgendwelchen Leuten über irgendwelche Themen, die nichts mit ihren Männergeschichten zu tun hatten. Ich hatte währenddessen zwei Bier getrunken, damit mein finanzielles Limit erreicht, und wollte zahlen. Ich erhob mich von meinem Barhocker, legte den »Spiegel« in das Regal über der Heizung und gab dem Wirt, mit dem Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, das entsprechende »will zahlen« Zeichen, und stellte mich, ohne Carola bewusst zur registrieren, neben ihr an den Tresen, damit Horst mein Geld entgegennehmen konnte.
„Kommst du auch morgen zu Peters Geburtstagsfeier“, kam es da von der Seite. Erst als ich mich umdrehte, stellte ich fest, dass es Carola war, die mich angesprochen hatte.
„Nein, wieso, hat er Geburtstag?“
Mit Sicherheit machte ich ein ziemlich dummes Gesicht bei meiner Antwort. Weniger wegen Peters Geburtstag, sondern weil Carola mich angesprochen hatte.
„Ja, und er würde sich sicher freuen, wenn du kommst.“
Peter und ich hatten früher viel zusammen gemacht. Wandern in Schweden, Billard spielen, und in den verschiedensten Kneipen für das Auskommen der Wirte mit beigetragen. Aber das war schon einige Jahre her.
„Weiß nicht.“
„Stell dich nicht so an. Los komm. Er würde sich sicher freuen.“
Ich muss zugeben, dass ich überrumpelt war. Sie tat so, als ob wir bei unserem letzten Treffen, das ja nur per E-Mail stattgefunden hatte, nicht im Bösen auseinander gegangen waren. Ich wollte nicht zu der Geburtstagsfeier. Ich hatte schon lange keinen Kontakt mehr zu Peter, und eigentlich wollte ich auch keinen Kontakt mit Carola. Mir fiel wieder der Inhalt ihrer E-Mail ein, in der sie mich in einer Art und Weise beleidigt hatte, wie es mir selten untergekommen war.
„Nein, ich werde nicht kommen.“
Ich zahlte, steckte das Portemonnaie wieder ein, und wollte gehen.
„Wie wäre es, wenn wir uns morgen mal treffen?“
„Wieso das? Ich denke, du feierst morgen Peters Geburtstag.“
„Wir haben uns seit Jahren nicht gesehen, und wir können uns doch vor der Feier treffen“, kam es von ihr lächelnd.
Wieso lächelte sie? Das Letzte, was sie mir vor Jahren an den Kopf geworfen hatte, waren ziemlich deftige Beleidigungen gewesen.
Ich war wirklich nicht begeistert, aber ich willigte, warum auch immer, ein. Die Geburtstagsfeier sollte gegen 16:00 Uhr losgehen. Wir verabredeten uns für 14:00 Uhr im »Sachers«, einem Kneipencafé, das direkt am Elbe-Lübeck-Kanal seinen Sitz hat, und wo man direkt am Wasser, draußen im Freien, auf einer Terrasse sitzend, den Binnenschiffen und den Ruderern des Ruderklubs, der am gegenüberliegenden Ufer seinen Platz hat, zuschauen konnte, während man aß und trank.
An nächsten Morgen, als ich in meinem Bett aufwachte, war ich auf mich selbst sauer. Wieso hatte ich dem Treffen zugestimmt? Das war doch absoluter Käse. Eine Zeit lang war ich unschlüssig, aber entschied mich dann trotzdem, zum vereinbarten Zeitpunkt im »Sachers« aufzutauchen. Carola musste ja sowieso zur Geburtstagsfeier von Peter, somit war die Zeit, die das Treffen dauern konnte, ja durchaus überschaubar.
Warum tat ich das? Ich habe keine Ahnung. Vielleicht weil ich, trotz ihrer bösen E-Mail sechs Jahren vorher, ein Kribbeln im Bauch spürte. Man konnte eigentlich nicht einmal sagen, dass Carola im klassischen Sinn wirklich schön war. Aber sie hatte etwas an sich, dass mich schon sechs Jahre vorher fasziniert hatte und, trotz ihres komischen Verhaltens damals, gleich wieder dieselben Gefühle wie damals weckte, die ich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gespürt hatte.
Vielleicht wollte ich außerdem auch nicht, dass Carola sich bei einigen Leuten darüber beschweren würde, dass ich ein »Date«, ohne Begründung, einfach hatte platzen lassen, und ich in den folgenden Wochen im »Carrickfergus« Rede und Antwort hätte stehen müssen, warum ich mich nicht wie ein »Erwachsener« verhalten habe.
Aber im Grunde war es egal, warum ich hinging. Ich ging hin. Das war das Entscheidende.
Um vierzehn Uhr trudelte ich, zugegebener Maßen etwas nervös, im Sachers ein. Carola saß bereits mit einer weiteren, mir unbekannten Frau auf der Terrasse. Beide hatten ein großes Glas Dunkelbier vor sich auf dem Tisch stehen.
»Wow«, dachte ich still bei mir. Erst vierzehn Uhr, eine Geburtstagsfeier noch vor sich, subtropische Temperatur, die einem auf den Kopf drückte, und dann schon Starkbier. Keine Ahnung, ob Carola meinen kritischen Blick gemerkt hatte, aber als ich mich mit einem „Hallo“ gesetzt hatte, und die unbekannte Frau, nachdem sie ihr Glas mit einem Zug ausgetrunken hatte, gegangen war, kam von Carola gleich, mit einem Kopfnicken auf das Glas weisend: „Ich musste mir ein bisschen Mut antrinken.“
„Wieso denn das?“
„Nur so.“
Nur so – hmm. Ein komischer Grund, sich Mut an zu trinken, dachte ich mir im Stillen.
Später, viele Monate später, grübelte ich darüber nach, worüber wir uns in den zwei Stunden unterhalten haben, bis sie von Freunden dann abgeholt wurde, um zur Geburtstagsfeier zu fahren. Mir fiel es nicht mehr ein. Sicher, Carola versuchte mich noch einmal dazu zu überreden, doch noch zur Geburtstagsfeier mitzukommen. Schließlich waren Peter und ich lange Zeit dicke Freunde gewesen, und er hatte wohl auch am Abend zuvor gegenüber Carola so etwas angedeutet, dass er sich über meinen Besuch freuen würde. Mag sein, dass wir uns auch noch über das „Mutantrinken“ unterhielten. Carola hatte auch kurz erzählt, dass sie jetzt in Hannover wohnt, und nur wegen Peters Geburtstag über das Wochenende nach Lübeck gekommen sei. Aber diese Themen waren spätestens in fünfzehn Minuten abgehakt. Trotz alledem waren auf einmal zwei Stunden vorbei, und Carola wurde von den Freunden, unter anderem auch von Carmen und Hans, bei denen sie an diesem Wochenende übernachtete, zur Geburtstagsfeier abgeholt. Und ich hatte irgendwie, obwohl es ein harmonisches Treffen gewesen war, das Gefühl, dass Carola immer noch nicht das gesagt hatte, was sie mir eigentlich hätte sagen wollen, und warum sie sich mit mir hier im Sachers verabredet hatte. Was auch immer es gewesen sein mochte, es war etwas, wozu man bei brüllender Hitze, um sich Mut an zu trinken, schon um vierzehn Uhr, einen Halbenliter Starkbier braucht.
Manchmal ist man wirklich absolut blöde. Erst jetzt, wo ich das hier niederschreibe, fällt mir auf, dass Carolas Frage am Abend davor, ob ich denn auch zu Peters Geburtstagsfeier kommen würde, nur vorgetäuscht gewesen war. Sie hatte vorher eine ganze Zeit lang mit Peter zusammen an einem Tisch gesessen, und Carola hatte, neben dem Streit mit Horst, anscheinend auch genügend Zeit gehabt, sich mit Peter darüber zu unterhalten. Sie wusste also, dass ich schon viele Jahre nicht mehr zu Peters Geburtstagsfeiern gekommen bin, und dass es auch dieses Jahr nicht anders geplant war. Davon abgesehen, dass ich auch gar nicht eingeladen worden war, und daher gar nicht wusste, wann und wo eine Geburtstagsfeier stattfinden sollte. Trotzdem hatte sie gefragt, ob ich dorthin kommen würde.
„Darf ich dich morgen früh zum Frühstück einladen“, kam es noch, mit einem auffordernden und gleichzeitig zweifelnd fragenden Blick, als sie bereits vom Stuhl aufgestanden war, um zum Wagen ihrer wartenden Freunde zu gehen. „Zehn Uhr, wieder hier, gleicher Ort?“
Ich nickte. „Jo, das geht klar.“ Obwohl mir eigentlich nicht klar war, was eigentlich klar geht. Was wollte sie?
Sechs Jahre vorher waren wir, bevor wir uns überhaupt näher kennenlernen konnten, schon mit einem E-Mail-Streit auseinandergegangen. Die Beendigung einer Beziehung wurde damals sozusagen dem Beginn vorangestellt, was, so wie die Beendigung damals abgelaufen war, wohl auch viel Ärger erspart hat. Danach waren wir uns nie wieder begegnet. Jetzt kam sie, nur für ein kurzes Wochenende, wegen einer Geburtstagsfeier nach Lübeck, wollte die Gelegenheit gleich nutzen, um alte Bekannte zu treffen, und verabredete sich dann aber mit mir, zuerst für den Samstagnachmittag, und da das ihr anscheinend nicht genug war, gleich noch für den nächsten Morgen, statt, den doch nur sehr begrenzten Zeitraum, der ihr hier in Lübeck zur Verfügung stand, mit ihren Freunden, wozu ich nun einmal eindeutig nicht zählte, zu verbringen.
Egal. Ich hatte zugesagt, und ein Frühstück im Freien, von jemand anderem bezahlt, war nicht zu verachten. Und auch wenn ich Monate später nicht mehr wusste, was wir uns an dem Nachmittag alles erzählt haben, waren die zwei Stunden, ohne dass Langeweile aufgetaucht war, ja nun wirklich schnell vorbei gegangen. Ich ging nach Hause, nahm »Den vilden svensken«, einen Roman auf Schwedisch von Ernst Brunner, eine Flasche Multi-Vitamin-Saft, ich hatte bereits im Sachers nur ein Spezi getrunken, da ich irgendwie nicht das Gefühl gehabt hatte, mir Mut antrinken zu müssen, und setzte mich an den Kanal in den Schatten eines Baumes. Ernst Brunner, mit seinen verschachtelten Sätzen, machte mir das Lesen auf Schwedisch wirklich nicht leicht, sodass ich mir über Carola schon bald keine Gedanken mehr machte.
Am nächsten Morgen traf ich pünktlich mit leerem Magen, ausgenommen einem Becher Kaffee, wieder auf der Terrasse vom Sachers ein. Carola saß schon, allerdings dieses Mal ohne Starkbier, sondern der Tageszeit angepasst, mit einem Becher Kaffee, am gleichen Platz wie gestern.
Auch von diesem Gespräch weiß ich, viele Monate später, keine Einzelheiten mehr. Carola erzählte wohl, dass sie in Hannover dabei war, mit einer Freundin zusammen, eine Praxis für Physiotherapie aufzumachen. In den nächsten Tagen sollte sich klären, ob sie die entsprechenden Räume anmieten konnten. Ich erzählte wohl von meiner Firmenpleite und davon, dass nächste Woche ein großes Event von der ARGE stattfinden sollte, bei dem man sich mit vielen potenziellen Arbeitgebern treffen konnte, und man dort an einem Sonderstand auch die Möglichkeit hatte, sich über Bewerbungen ins Ausland zu informieren. Ich wollte versuchen, in Schweden, bei irgendeiner Firma, die für ihre deutschen Kunden einen Ansprechpartner mit Deutschkenntnissen suchte, einen Job zu bekommen. Angeblich sollten die Möglichkeiten für so einen Job in Schweden nicht schlecht sein; und da meine Deutschkenntnisse, was für Geschäftsverbindungen von Schweden nach Deutschland ja wichtig war, doch ganz ordentlich waren, sah ich da eine große Zukunftschance für mich. Mit meinem Schwedisch war es zwar nicht so toll, aber da ich regelmäßig schwedische Bücher las und Lern-CDs mir anhörte, entwickelte sich auch das so langsam. Und ich war davon überzeugt, dass, sollte ich erst einmal in Schweden arbeiten und wohnen, die Routine in die schwedische Sprache schnell kommen würde.
Ansonsten? Keine Ahnung mehr worüber wir redeten, aber es war auf jeden Fall nicht langweilig. Kein Herumgestotter, kein verzweifelter Blick auf die Uhr, wann denn die Anstandszeit vorbei wäre, und man sich, ohne einen schlechten Eindruck zu hinterlassen, verabschieden konnte.
Als das Frühstück verputzt war, schaute Carola mich herausfordernd an: „Hast du Lust an den Strand zu fahren, dort spazieren zu gehen?“
„Klar, warum nicht.“
So klar war das alles eigentlich gar nicht, aber bei dem Wetter sich einmal wieder eine frische Meeresbrise durch die Haare wehen zu lassen, das klang nicht schlecht. Auch hatte ich die Ostsee, obwohl Lübeck nur ein paar Kilometer von ihr entfernt lag, lange nicht mehr gesehen. Und bis zu diesem Zeitpunkt war das Frühstück ja nun wirklich sehr harmonisch gelaufen.
Wobei in mir abermals die Frage auftauchte, warum Carola, nachdem sie in Lübeck eingetroffen war, am Freitagabend nur kurz in der Kneipe mit Peter zusammen gesessen hat, nur kurz den Samstagmorgen bei Carmen und Hans, viel mehr als gemütlich gemeinsam frühstücken konnte es eigentlich nicht gewesen sein, verbracht hatte, bevor sie sich mit mir am Nachmittag, vor der Geburtstagsfeier, getroffen hat, nun den Sonntagnachmittag, nachdem sie ja schon den Vormittag mit mir verbracht hat, auch noch mit mir verbringen wollte. Und sie somit ihre ganzen, seit Monaten nicht gesehenen Bekannten und Freunde, regelrecht versetzte.
Und auch wenn Carola bei unserem gemeinsamen Frühstück kein Starkbier getrunken hatte, um nicht nervös zu sein, hatte ich immer noch das Gefühl, dass sie mir nicht alles gesagt hatte, was sie eigentlich hätte sagen wollen.
Auf der Fahrt zum Strand dachte ich wieder über das Geschehnis von vor sechs Jahren nach. Damals hatte sie etwas von mir gewollt. Anstatt aber in der Kneipe, in der sie damals bediente, und ich regelmäßig Gast gewesen war, mich einfach anzusprechen, oder, sollte ihr die Kneipe zu öffentlich gewesen sein, mich zu Hause per Telefon anzurufen, hatte sie eine E-Mail an meine Firma geschickt. Ohne zu wissen, ob ich alleine im Büro sitze und die E-Mails selbst öffnen würde, oder, wie es ja dann auch geschehen ist, meine Sekretärin die Mails sortierte. Carola hatte eine angedeutete Liebeserklärung an eine E-Mail-Adresse geschickt, ohne zu wissen, welche Person diese lesen würde.
Ein paar Wochen später, als wir ein Paar waren und über das Thema redeten, beichtete sie mir, dass sie damals sogar die Hilfe eines Freundes benötigt hatte, damit sie überhaupt die E-Mail-Adresse meiner Firma herausbekommen konnte. Sie hatte sich damals richtig Mühe gegeben, um mir, oder genauer gesagt meiner Firma, etwas per E-Mail zu schicken, was man viel einfacher per Telefon, ich stand immerhin im Telefonbuch, oder wenn es romantischer sein sollte, als Brief, in dem Telefonbuch stand auch meine Wohnadresse, in den Briefkasten hätte werfen können.
Das war vor sechs Jahren gewesen. Was wollte sie jetzt, ging es mir durch den Kopf, während wir, nachdem wir in verschiedenen Nebenstraßen, Carola wusste nicht mehr, in welcher sie ihren Wagen geparkt hatte, ihr Auto gesucht hatten, Richtung Strand fuhren.
Carola hatte was, keine Frage. Sie hatte etwas, was sie wahnsinnig anziehend machte. Obwohl ich nicht einmal genau sagen konnte, was es war. Aber da war auch etwas, was sie mir jetzt verheimlichte. Ich war nie ihr Freund gewesen, zählte in ihrem Bekanntenkreis, wenn überhaupt, nur unter »ferner liefen«, und das, seit dem Intermezzo von vor sechs Jahren, auch eher als »Persona non grata«; und nun verbrachte sie den größten Teil ihres Wochenendes in Lübeck, dem Ersten seit mehreren Wochen, wenn man einmal von ihrem Pflichtprogramm der Geburtstagsfeier und dem Samstagvormittag bei ihren Übernachtungswirten absieht, mit mir. Was war mit den ganzen anderen Leuten, die sie auch schon seit Wochen nicht mehr gesehen hatte, und die, entgegen meiner Wenigkeit, zu ihrem Freundeskreis zählten?
Später, als wir dann zusammen waren, erzählte sie mir, wie nervös sie wirklich bei unserem Treffen im Sachers, an diesem Samstagnachmittag, gewesen war, und dass das Starkbier kein bisschen genutzt hatte, um die Nervosität etwas einzudämmen. Während der Geburtstagsfeier, die in einer Kleingartenanlage stattgefunden hatte, war sie die meiste Zeit, während die anderen saßen und quatschten, mit Peters Gießkanne verträumt durch die Beete gegangen, um diese in Ruhe zu gießen – und an mich denken. Und das auch mit einem nervösen Beigeschmack, wegen des Frühstückstreffens, das sie mit mir für den folgenden Tag vereinbart hatte.
Und nun war genau dieses Frühstück vorbei, wir fuhren an den Strand, und ich grübelte darüber, was das alles hier sollte.
Eine Bemerkung über das heiße Wetter, damit ich nicht den Anschein erwecken würde, dass ich grüble, dann wieder irgendein Gespräch, an das ich mich heute nicht mehr erinnere, und schon waren wir am Strand.
Eine Ecke der Lübecker Bucht auf der Seite von Meck-Pomm, die ich nicht kannte, da sie früher mit Stacheldraht vom Westen abgeschnitten gewesen war.
Wir bekamen, auch wenn in dem Ort alle Bauern gegen Entgelt ihre Höfe als Parkplatz umfunktioniert hatten, nur mit Müh und Not einen Stellplatz für den Wagen, gingen das kurze Stück zum Strand, und dort barfuß durch den Sand und durch das Wasser. Irgendwann setzten wir uns irgendwo in die Dünen. Carola rauchte eine Zigarette und erzählte, dass sie die frische Meeresluft in Hannover vermisst. Gerade während dieses heißen Sommers stand die Luft dort in den Straßen. Hier am Meer wehte wenigstens eine leichte Brise, die selbst dieses Mittelmeerklima erträglich machte. Ich weiß noch, dass aus der Travemündung eine Fähre Richtung Schweden herausfuhr, und ich Carola erzählte, dass ich diesen Sommer mit meinem letzten Geld nach Schweden reisen wollte. Mit dem Zug hoch bis Abisko, und von dort mit Zelt und Rucksack ins schwedische Fjäll. Ich erzählte, dass ich das dringend brauchte. Wandern ist wie »Gehirn aufräumen«. Man wandert mit dem ganzen Müll, der sich mit der Zeit, eigentlich seit der letzten Wanderung vor mehreren Jahren, im Kopf angesammelt hat und dort durcheinander herumliegt, und lässt beim Wandern die Gedanken einfach schweifen. Es ist immer wieder faszinierend, auf welche Wege sich die Gedanken machen, wenn man sie einfach treiben lässt. Ist die Wanderung beendet, ist der ganze Müll sauber in Schubladen eingeräumt. Carola musste lachen. Wir schauten beide, jeder in seinen eigenen Gedanken vertieft, der Fähre nach.
Irgendwann stand Carola auf, zog sich aus und ging baden. Ich blieb am Strand bei den Sachen sitzen und schaute ihr gedankenverloren nach, bis sie wieder aus dem Wasser kam. Ein Handtuch brauchte sie nicht. Bei der Sommerhitze war sie schon fast wieder trocken, als sie bei mir ankam.
Worüber redeten wir sonst noch dort am Strand? Ich weiß es heute nicht mehr. Aber es war, ohne irgendwelche Einschränkung, ein toller Tag gewesen.
Dann wurde es Zeit, dass wir wieder nach Lübeck fuhren. Carola hatte Peter versprochen gehabt, Stühle, die er sich für seine Geburtstagsfeier bei irgendjemandem aus Bad Schwartau, einem Ort nördlich von Lübeck, ausgeliehen hatte, wieder dorthin zurückzubringen. Wir bummelten also zurück zum Auto und fuhren wieder nach Lübeck.
Dort eingetroffen setzte Carola mich in der Nähe meiner Wohnung ab. Ich wollte gerade die Beifahrertür zuschlagen und lauerte nur noch auf ein »tschüss, dann mach es mal gut, viel Spaß in Schweden, ich kann mich ja mal melden, wenn ich wieder in Lübeck bin«, da kam: „Wollen wir uns nachher noch treffen, wenn ich die Stühle für Peter wegtransportiert habe?“
Wow – Carola hatte auf der Rückfahrt vom Strand erzählt, dass sie morgen ganz früh, fast noch in der Nacht, wieder nach Hannover fahren musste. Und nachdem sie nun bereits die meiste Zeit ihres Lübeckaufenthaltes nur mit mir verbracht hatte, wollte sie sogar noch, nachdem ihr Versprechen an Peter eingelöst war, den Abend mit mir verbringen.
Ich sagte zu und zeigte kurz auf das Haus, in dem ich wohnte. Sie wollte gegen 20:00 Uhr bei mir klingeln.
Ich ging nach Hause und schaute dort übers Internet schwedische Nachrichten, da ich mit der Sprache vertraut werden wollte. Wie ich in den Nachrichten erfuhr, stöhnten auch die Schweden über die Hitze.
Um 21:00 Uhr, im Stillen hatte ich nicht mehr damit gerechnet, klingelte es an der Tür. Ich öffnete durch den Summer, hörte durch das Treppenhaus, wie die Haustür unten aufgeschlagen wurde, und lehnte mich gegen den Wohnungstürrahmen, während ich hörte, wie jemand die Treppenstufen hochstieg.
Es war, wie erwartet, Carola, die leicht pustend die Treppe hochkam. Nach dem Strandspaziergang und dem Stühletragen schien sie etwas geschafft zu sein.
Ich sagte irgendwas wie „Hallo“ und trat beiseite, sodass sie in die Wohnung konnte.
„Hast du was zu trinken“, kam es zurück. Ich hob ein Paket Multivitaminsaft Flaschen hoch. Carola nickte zustimmend.
„Was nun“, fragte ich, immer noch verwundert, dass sie auch den Abend mit mir verbringen wollte.
„Wollen wir uns auf einen der Schiffsanleger am Kanal setzen?“
Ich hatte nichts dagegen. Bei mir in der Wohnung war es nur wenig unter 30 °C, und auch wenn alle Fenster aufgerissen waren, stand die Luft. Da war es schön, noch einmal nach draußen zu kommen.
Am Kanal angekommen setzten wir uns auf einen der Schiffsanleger, die auf das Wasser hinausragten, und an denen oft Binnenschiffe anlegten, um dort die Nacht zu verbringen. Unser Anleger war frei, ohne Schiff und ohne menschliche Konkurrenz, sodass wir uns auf ihm, am Kopfende, hinsetzen konnten.
Auch von diesem Gespräch weiß ich nur noch wenig. Ich weiß nur noch, dass es eine tolle Nacht gewesen war. Wir verstanden uns toll. Wir plauderten völlig locker, ohne dass irgendetwas Erzwungenes dabei war. Es waren immer noch gute 25 °C draußen, wenn nicht sogar noch mehr. Eine friedliche Sommernacht. Ich fühlte mich in der Gesellschaft von Carola sauwohl, und ehe ich mich versah, war es ein Uhr morgens, und es wurde für Carola Zeit zu gehen. Carmen und Hans waren sowieso schon stinkig auf sie, weil sie den Abend eigentlich mit Carola zusammen hatten verbringen wollen. Nun blieb denen am nächsten Morgen nur ein kurzer gemeinsamer Kaffee, an einem sehr frühen Frühstückstisch, bevor Carola wieder nach Hannover fahren würde.
Carola gab mir noch ihre E-Mail-Adresse. Ich sollte ihr etwas Nettes auf Schwedisch schreiben. Sie sagte, dass sie ein Wörterbuch Deutsch/Schwedisch zu Hause hätte, und sie sich freuen würde, es mal benutzten zu können.
Dann gaben wir uns zum Abschied die Hand. Kühl, fast als wären wir Geschäftspartner, die sich, nach einem Meeting mit erfolgreichem Geschäftsabschluss, verabschiedeten.
Auf dem kurzen Weg nach Hause fragte ich mich, ob ich hätte versuchen sollen, ihr einen Kuss aufzudrücken. Vielleicht nicht gleich auf den Mund, aber zumindest auf die Wange angedeutet. Der kühle Händedruck hatte so etwas Formelles gehabt, das hatte irgendwie den Schluss dieses tollen Abends, bzw. dieser Nacht, ziemlich blöd beendet.
Jetzt war es zu spät. Und was soll´s. Wenn sie wirklich in ein paar Wochen wieder nach Lübeck kommen würde, wohnte ich vielleicht schon in Schweden, oder bereitete gerade den Umzug vor. Und überhaupt, auch wenn wir uns toll unterhalten hatten, hatte Carola mir, da war ich mir sicher, irgendetwas verschwiegen. Es blieb etwas Unausgesprochenes zurück. Ihr Verhalten war zu verschieden gewesen, im Vergleich zu dem E-Mail-Intermezzo von vor sechs Jahre, über das wir uns weder auf dem Schiffsanleger noch am Strand oder beim Frühstück unterhalten hatten.
So gingen der Montag, der Dienstag, und auch der Mittwoch ins Land. Am Mittwochnachmittag war mein Widerstand dann endgültig gebrochen. Also schrieb ich ihr auf Schwedisch die zugesagte E-Mail.
„Ich hoffe, es hat alles geklappt und du konntest den Mietvertrag für deine Praxisräume unterschreiben. Liebe Grüße. Berthold.“
Absenden? Oder löschen? Ich zögerte, drückte dann aber doch auf Senden. Dann war es für einen Rückzieher zu spät. Die E-Mail war weg, unterwegs nach Hannover. Mal sehen, ob eine Antwort kommen würde.
An nächsten Tag war das geplante Event der ARGE, bei dem ich mich um Hilfe für eine Bewerbung in Schweden kümmern wollte. Ich führte dort, wie meine ARGE-Sachbearbeiterin es mir schon vorgeschlagen hatte, das Gespräch mit der Mitarbeiterin für das »Projekt Profil 300«. Da meine Sachbearbeiterin mich bereits dafür empfohlen hatte, das war eine Voraussetzung, um dort überhaupt teilnehmen zu können, und ich einen hoch motivierten Eindruck machte, wurde ich auch angenommen. Das Konzept des Projektes war ganz einfach. Fördere den Kandidaten, so wie er es möchte, solange seine Wünsche in irgendeiner Form machbar sind und nicht ausfallend, und dann mal sehen, was herauskommt. Das Projekt ging bis Ende des Jahres; losgehen sollte es in der zweiten Septemberhälfte. Somit konnte ich noch, bevor das Projekt praktisch begann, wie erhofft, meinen Schwedenurlaub planen und durchführen.
Was war aber mit Carola?
Nach dem ARGE-Event schaute ich abends in meinen E-Mail Posteingang. Es gab dort einiges. Von Viagra zum Schnäppchenpreis, über einen garantierten Gewinn eines Mittelklassenautos, bis kostenlose Reisegeschenke war alles vertreten. Aber keine E-Mail von Carola. Also war alles doch nicht so heiß, wie ich es eventuell gefühlt hatte. War sicher auch besser so, da immerhin Schweden wartete, und das nun sogar in doppelter Hinsicht. Und ihr mieses Verhalten, das sie vor sechs Jahren an den Tag gelegt hatte, erinnerte auch noch daran, dass es wohl besser war, die Finger von ihr zu lassen.
Von Freitag bis Montag hatte ich so viel Stress, dass ich gar nicht daran dachte, mein E-Mail-Konto durchzusehen. Ich hatte noch ausgeliehenes Geld zurückzubekommen, und da ich nun einmal selbst knapp bei Kasse war, musste ich schnell hinter dem Geld her drängeln, was, wie immer, auf wenig Gegenliebe stieß. Man sollte wirklich niemals Geld verleihen, erst recht nicht, wenn man eigentlich selbst gar nichts hat. Wer weiß, wann man es zurückbekommen würde. Und ich brauchte die Knete nun einmal für meine Schwedenreise.
Erst am Montagnachmittag schaffte ich es, glücklich mit ein paar Scheinen mehr in meinem Portemonnaie, mir mein E-Mail-Konto anzuschauen, und war überrascht, eine E-Mail von Carola, die sie bereits gestern geschrieben hatte, im Posteingang zu finden. Sie bedankte sich in der E-Mail für meine netten Zeilen und schrieb, dass sie am Montag um 22 Uhr vor meiner Tür stehen würde.
Montagabend. – Das war heute.
Puh. Was war das jetzt? Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Ich hatte eine Antwort erwartet, nach dem Motto, »danke, dass du mir eine E-Mail geschickt hast, habe mich gefreut, vielleicht sehen wir uns ja irgendwann«.
Aber nun wollte sie heute Abend hier bei mir aufschlagen.
Eine ganz kleine, leise Alarmglocke fing in meinem Kopf an zu klingeln. Nur leise, aber ich hörte sie.
Carola wohnte in Hannover. Wieso wollte sie heute Abend bei mir aufschlagen? Wieso wollte sie, wenn sie zufällig doch so kurzfristig erneut in Lübeck ist, mich nicht mit den vielen anderen, die sie ja nun am vorletzten Wochenende kaum gesehen hatte, und bei denen sie ja doch wohl einiges gutzumachen hat, in einer Kneipe treffen?
Und wenn sie sich nur mit mir treffen wollte, wo gedachte sie zu übernachten? Wieder bei Carmen und Hans, wie bereits vorletztes Wochenende, und die sie, durch ihre Treffen mit mir, sicher ziemlich verprellt hatte? Wollte sie sich abermals bei denen einquartieren, wenn sie ihre Zeit in Lübeck dann mit mir verbringen würde? Wenn sie aber nicht nur mich sehen würde, und dann auch entsprechend bei anderen übernachtete, warum sollten wir beide uns bei mir treffen, und nicht »Im alten Zolln«, im »Carrickfergus «, oder sonst wo?
Und wieso hatte sie nicht angerufen, um überhaupt zu fragen, ob ich Zeit habe, mich mit ihr zu treffen? Mich angerufen und nicht erreicht, hatte sie nicht, das hätte ich auf dem Telefondisplay gesehen.
Egal wie toll der Sonntag gewesen war, konnte die Frau doch nicht vergessen haben, was vor sechs Jahren passiert war. Und jetzt schickte sie wieder eine E-Mail, wo doch ein Anruf viel sinnvoller und kommunikativer gewesen wäre.
Nach dem Motto:
„Hallo Berthold, danke für deine E-Mail, ich bin am Wochenende wieder in Lübeck, wollen wir uns treffen?“
Oder:
„Hallo Berthold, danke für deine E-Mail, würde am Wochenende gerne zu dir kommen. Wollen wir was unternehmen? Müsste aber auch bei dir übernachten können.“
Aber anstatt zu telefonieren, einfach eine E-Mail, bei der man nicht einmal genug Zeit hat, zu reagieren. Auch wenn Carola die E-Mail schon am Sonntag geschrieben hat, wusste sie doch nicht, wie oft ich in mein E-Mail Postfach schaue. Hatte Carola aus dem Desaster von vor sechs Jahren, das damals so heftig gewesen war, dass sie es nicht vergessen haben konnte, denn nichts gelernt?
Ein bisschen dämmerte mir der E-Mail Streit, der sich vor sechs Jahren abgespielt hatte, durch mein Gedächtnis.
Damals hatte sie, obwohl ich persönlich und telefonisch erreichbar gewesen war, eine E-Mail an meine Firmenadresse geschrieben. Nun hatte sie, das war immerhin schon ein Fortschritt, an meine Privatadresse eine E-Mail geschickt. Aber sich per E-Mail selbst einzuladen, ohne zu wissen, ob man Zeit hat? Und wo will sie übernachten? Doch nicht etwa bei mir. Wir hatten uns, auch wenn der Sonntag wirklich toll gewesen war, nachts kühl mit einem Handschlag verabschiedet. Und überhaupt verabredet man sich doch nicht einfach so per E-Mail, sodass man nicht einmal rechtzeitig antworten kann, ob man überhaupt Zeit hat, und wie der Abend gestaltet werden soll. Zumindest tut man doch wohl so etwas nicht, wenn man sich im Grunde nicht einmal richtig kennt und keine Verbindung miteinander hat, wenn man einmal von dem E-Mail-Intermezzo von damals absieht.
Will sie wirklich hier übernachten, ohne zu fragen, ob es mir passt? Was sollte ich tun? Anrufen? Ich hatte keine Telefonnummer. E-Mail? Wer weiß, ob sie die noch liest, bevor sie los fährt. Vielleicht ist sie ja sogar schon auf der Autobahn. Und selbst wenn sie die E-Mail rechtzeitig lesen würde, wann sollte sie dann antworten, um auf meine Absage, oder auf meine Frage, wie sie sich das Treffen vorstellt, wiederum per E-Mail zu reagieren? Immerhin war tolles Wetter. Ich wollte eigentlich nicht den ganzen Tag in der Bude hocken und auf einen Anruf von ihr warten.
Wollte sie mir die Möglichkeit nehmen, die Sache zu stornieren? Nach dem Motto: »Hätte ich angerufen, hätte er vielleicht ›Nein‹ gesagt. Wenn ich erst einmal vor der Tür stehe, wird er mich schon nicht rausschmeißen.«
Ist das ihre Methode mit Situationen umzugehen, bei der man auf Zusagen von andern angewiesen ist? Einfach ein »Nein« zu umgehen, in dem man gar nicht erst fragt, sondern einfach vollendete Tatsachen schafft?
Und auch nach dem Sonntagabend, bzw. der halben Nacht auf dem Schiffsanlegesteg, war immer noch nicht klar, wieso Carola am Samstagnachmittag so nervös gewesen war, dass sie um 14:00 Uhr schon ein Starkbier hatte trinken müssen, und wieso sie fast das ganze Wochenende mit mir zusammen verbracht hat, ohne mir zu sagen, warum sie so nervös gewesen war. Wenn es wegen ihres Verhaltens von damals gewesen war, hätte sie es ja, bei unserem gemeinsamen Spaziergang oder abends auf dem Schiffsanleger, aus der Welt schaffen können. Oder war da noch etwas anderes gewesen, weswegen sie an der alten Sache nicht rühren wollte?
Egal ob am Strand oder abends auf dem Schiffsanleger, wir hatten wunderbar miteinander geplaudert. Sie hatte von Peters Geburtstagsfeier gesprochen und von ihren Plänen in Hannover; ich von meinen Plänen in Schweden. Und da wir alleine schon fast vier Stunden auf dem Steg gesessen hatten, mussten wir auch noch über andere Dinge gequatscht haben. Über was, weiß ich nicht mehr. Aber es war nicht, nicht einmal andeutungsweise, zu einem Gespräch über eine nähere engere Beziehung zwischen uns beiden gekommen. Und Hände halten, gegenseitiges Anlehnen oder sonstige Annäherungsversuche, hatten wir auf dem Schiffsanleger auch nicht, nicht einmal andeutungsweise, durchgeführt. Und nun heißt es plötzlich, »bin gleich da«.
Ich hatte keine Ahnung, was das sollte. Und ich hatte keine Ahnung, was ich wollte, und wie ich damit umgehen sollte.
Das, was da als Antwort auf meine E-Mail gekommen war, wollte ich auf jeden Fall nicht. Zumindest nicht so. Hätte sie angerufen, hätte ich eine Wahl gehabt. Das wäre fair gewesen, und man hätte sich absprechen können. Immerhin darf man dabei auch nicht unsere, nicht gerade harmonische Vorgeschichte vergessen. Oder gehörte das auch dazu? Alte Differenzen werden einfach unter den Tisch gekehrt. Man tat einfach so, als ob nie etwas geschehen war.
Aber ich konnte es nicht leugnen; trotz der Fragezeichen, trotz der nicht geraden positiven Erfahrung in der Vergangenheit, hatte ich Herzklopfen. Also konnte ich mir auch das Grübeln sparen. Irgendwann würde heute, spät abends, Carola bei mir aufschlagen. Dann würden wir weiter sehen. Ändern konnte ich daran sowieso jetzt nichts mehr. Es sei denn, ich lösche alle Lichter, tue so, als ob ich ihre E-Mail noch nicht gelesen habe, und ich, da der Abend anders verplant, nicht zu Hause bin. Aber das wäre albern gewesen.
Ich räumte also notdürftig die Wohnung auf und setzte mich dann an meinen Computer, um mein Schwedisch weiter zu verbessern. Zuerst mit Kopfhörer, da damit die Sprache unverfälschter ins Ohr dringen konnte, ab 21:30 Uhr in natura, damit ich nicht aus Versehen die Wohnungstürklingel überhören würde.
Äußerlich völlig locker, schaute ich doch mindestens alle fünf Minuten auf die Uhr, und als 22:00 Uhr vorbeiging, wohl sogar noch öfters.
Gegen 22:30 bimmelte die Wohnungsklingel.
Ich drückte auf den Summer und lauschte durch das Treppenhaus, ob die Haustür unten aufgeht, und ging, als ich das Klacken der Haustür vernommen hatte, wieder ins Wohnzimmer an meinen Computer, während ich die Wohnungstür angelehnt geöffnet ließ. Carola wusste ja noch vom vorletzten Wochenende, in welcher Wohnung ich wohnte, und auch wenn ich mich freute, war ich mir nicht klar darüber, was ich von der ganzen Sache halten sollte, und wollte sie daher etwas distanziert und nicht gleich freudestrahlend an der Tür begrüßen.
Carola kam mit einem großen Wanderrucksack auf dem Rücken in die Wohnung. Der Rucksack schien ziemlich voll zu sein. Das sah zumindest schon einmal nicht danach aus, als ob sie nur hier wäre, um mich zu einem Kneipenbummel abzuholen.
„Guten Abend, Hallo da bin ich.“
„Das merk ich. Was machst du denn schon wieder in Lübeck?“
Eine blöde Begrüßung, aber auch ich hatte mal das Recht, nervös zu sein. Und dieses Gefühl hatte ich nicht, wie Carola vorletztes Wochenende am Samstag, mit Starkbier leicht betäubt. Zumindest grinste ich sie dabei, sodass es aussah, als ob ich mich über ihr Erscheinen freute, an.
„Ich wollte unbedingt hierherkommen. Im Moment kann ich sowieso in Hannover nichts machen.“
„Warum wolltest du denn unbedingt nach Lübeck?“
Carola zuckte mit ihren Schultern. „Nur so.“ Und lachte mich etwas verlegen an. Dabei stellte sie den Rucksack, der zwar voll, aber nicht unbedingt sehr schwer schien, ab.
Vielleicht hätte ich doch vorher zwei Flaschen Starkbier oder eine halbe Flasche Rotwein trinken sollen.
In irgendwelcher Weise, wie weiß ich heute gar nicht mehr, beschnupperten wir uns irgendwie. Carola war, wie ich, nervös, das merkte ich ihr an. Es schien ihr durchaus klar zu sein, dass ihre Selbsteinladung ohne Bestätigungsformular nicht ganz in Ordnung war. Und sie schien sich zu fragen, ob sie wirklich, immerhin sogar mit vollem Rucksack, willkommen war.
Bei allem Herzklopfen mischte sich doch auch ein bisschen Schadenfreude mit in meine Gefühlswelt hinein. Das hatte sie sich selbst eingebrockt. Das kommt davon, wenn man statt anzurufen, eine E-Mail schickt, um eine Absage zu verhindern.
Zumindest schien uns beiden klar zu sein, dass die Situation nicht ganz normal war, und keiner von uns beiden so richtig wusste, wie es jetzt weiter gehen sollte. Wobei ich eindeutig den moralischen Vorteil hatte, diese Situation so nicht heraufbeschworen zu haben. War auch irgendwie fair, immerhin hatte sie sich die Sache eingebrockt. Eigentlich hätte sie sich so etwas bereits denken können, als sie die E-Mail auf den Weg gebracht hatte.
Endlich machte Carola den Vorschlag, einen Spaziergang durch die nächtliche Altstadt zu machen, da sie mehrere Stunden in ihrem Auto gesessen hatte, und ihr nach etwas Bewegung war. Dagegen war nichts einzuwenden, da die Temperaturen sich in den letzten acht Tagen nicht verringert hatten, und im Freien wenigstens noch ein schwaches Lüftchen wehte.
Ich war erleichtert, dass eine Richtung vorgegeben worden war, und die Situation sich dadurch erst einmal entspannte.
Ich schaltete sofort meinen Computer aus, und wir gingen mit zwei Flaschen Multivitaminsaft nach draußen und schlenderten durch die Altstadt. Die Luft hatte noch immer, obwohl es schon fast 23 Uhr war, mindestens 25 °C. Am Mühlenteich setzten wir uns auf eine Bank und schauten über den Teich in Richtung der Mühlenstraße, auf der um diese Zeit nur noch schwacher Autoverkehr, den man zwar sehen, aber nicht hören konnte, herrschte. Der Dom von Lübeck, links von uns, durch starke Lichtstrahler angestrahlt, spiegelte sich vor uns im dunklen, spiegelglatten Mühlenteich. Ein paar Schritte von uns entfernt schliefen ein paar Enten auf dem Rasen am Ufer, und ließen sich von uns nicht stören. Die Stimmung war ruhig, still, romantisch, nervös, gespannt, und ??? Keine Ahnung, wie man sie sonst noch nennen könnte. Zumindest hatten wir auf dem Weg zum Mühlenteich kaum gesprochen. Und selbst wenn man mich unter Folter setzen würde, ich wüsste heute nicht mehr, über was wir dort auf der Bank geredet haben, und ob wir viel oder wenig miteinander geredet haben, während wir dort auf der Bank saßen. Aber, wenn man einmal davon absah, dass ich mich fragte, wie es weiter gehen sollte, immerhin stand bei mir zu Hause noch ein voller Rucksack herum, der nicht mir gehörte, war es ein toller Abend, bzw., da schon fast Mitternacht, eine tolle Nacht.
Nachdem wir am Mühlenteich eine ganze Weile auf der Bank gesessen hatten, gingen wir auf dem Mühlendamm, auf dem im Mittelalter einige der städtischen Mühlen gestanden hatten, in Richtung der Wallstraße. Von dort ging es durch das Kaisertor aus dem 13. Jahrhundert, das in die Wallanlagen aus dem 16. und 17. Jahrhundert eingebunden ist, hinab zum Elbe-Lübeck-Kanal, der hinter den Wallanlagen, ein paar Treppenstufen abwärts, liegt. Der Fußweg durch den Einschnitt der alten Wallanlagen war stockdunkel. Keine Laterne leuchtete den Weg aus, und auch der Mond wurde von den Bäumen verdeckt. Durch das Kaisertor ging es noch relativ gut, aber die grob behauenen Felssteine, die hinter dem Tor als Treppe zum Spazierweg am Kanal führten, waren nur zu erahnen und man konnte leicht stolpern. Und im Dunkeln sah man nicht, wohin man fallen würde.
Carola zögerte und wäre wohl am liebsten umgedreht, sagte aber nichts, während ich vorging und versuchte, sie so gut es ging zu führen. Ohne Unfall schafften wir es, durch diese hohle Gasse, zu dem Fußweg am Ufer des Kanals zu kommen, dessen Verlauf, vom Mond und dessen Spiegelung auf dem Wasser, so gut ausgeleuchtet war, dass wir ohne Gefahr zu meiner Wohnung zurückgehen konnten.
Bei mir zu Hause wartete immer noch der Rucksack, von dessen Anwesenheitsgrund Carola immer noch nichts erzählt hatte. Und es war auch inzwischen ca. ein Uhr morgens. Irgendwo am Kanal zelten wollte sie sicher nicht.
Empfand Carola es als selbstverständlich, dass sie bei mir übernachten konnte, oder scheute sie, wie schon vor sechs Jahren, eine direkte Konfrontation? Bei dem Gedanken, wie Carola vor sechs Jahren reagiert hatte, fing erneut die Alarmglocke in meinem Kopf leicht an zu bimmeln. Aber nur ganz leise, sodass ich sie schon nach kurzer Zeit nicht mehr hörte.
Ohne dass wir noch über irgendetwas gestolpert waren, schafften wir es heil wieder zu mir nach Hause.
„Wo kann ich denn schlafen? Ist noch Platz in deinem Bett?“
Und da war sie, die Frage aller Fragen. Wobei Carola nicht fragte, ob sie überhaupt bei mir schlafen konnte. Das hatte sie, ohne zu fragen, wie auch überhaupt ihre Einladung, schon für sich geklärt. Es drehte sich nur noch um die Frage, wo bei mir.
„Darüber hab ich noch gar nicht nachgedacht.“
Das war nicht ganz die Wahrheit, aber auch nicht so ganz gelogen. Eigentlich hatte ich mir ja eher die Frage gestellt, wo sie in Lübeck überhaupt übernachten wollte. Meine Wohnung vermutete ich dabei, wenn denn überhaupt, nur als eine Option von mehreren. Sie hatte doch wohl sicher einen Plan B. Aber sollte sie sich für meine Wohnung entscheiden, hatte ich mir über die Details noch keinen Kopf gemacht. Eigentlich war ich auch immer noch der Auffassung, dass man jemanden vorher fragt, ob man bei ihm übernachten darf. Zumindest, wenn man kein Partnerverhältnis hat und eine durch Missverständnisse geprägte, gemeinsame Vergangenheit. Auch wenn wir uns vorletztes Wochenende wirklich gut verstanden hatten, gehörte ich nun einmal nicht, auch nicht annähernd, zu ihrem Freundeskreis. Und das auch am vorletzten Wochenende nicht angesprochene Thema, »was war im Jahr 2000 los gewesen«, was mich damals immerhin bei Carola zu einer »Persona non grata« abgestempelt hat, hing, zumindest bei mir, wie vor langer Zeit ein Schwert über Damokles, über meiner Gefühlswelt. Carola konnte das doch nicht vergessen haben, was damals geschehen war.
Ein paar Tage später gab Carola dann zu, dass sie für die Nacht keinen Plan B gehabt hatte. Wäre ich nicht zu Hause gewesen, hätte sie, gegen 22:30 Uhr bei mir vor verschlossener Tür stehend, herumtelefoniert, ob sie noch woanders hätte unterkommen können. Hätte sie keinen Schlafplatz gefunden, wäre sie wieder Richtung Hannover gefahren, oder hätte einfach in ihrem Wagen übernachtet.
Hannover-Lübeck-Hannover, das waren mehr als 400 km. Fast eine ganze Tankfüllung, nur auf Verdacht. Und ich wusste, dass Carola im Grunde pleite war, solange die Praxis nicht lief, sie jeden Cent dreimal umdrehen musste. Im Zeitalter der modernen Kommunikation, das soll heißen, im Zeitalter des Telefons, hätte mir, erst recht nach meinen bisherigen Erfahrungen mit Carola, das zu denken geben sollen. Tat es zwar auch etwas, aber leider nicht genug.
Mit meinem heutigen Wissen ist mir klar, dass Carola einfach in der stillen Erwartung losgefahren war, dass es zu keinen Problemen oder Konflikten, wegen ihres Aufschlagens in Lübeck, kommen würde. Es musste so kommen, wie sie es sich in ihrer Traumwelt, heute würde ich es Parallelwelt nennen, gewünscht hatte. Hätte sie nur andeutungsweise von meinen Zweifeln gewusst, wäre sie schon alleine deshalb nicht losgefahren, weil sie sich in Lübeck einem Problem hätte stellen müssen. Sie hätte aber auch nicht, wenn sie von meinen Zweifeln eine Ahnung gehabt hätte, angerufen, um zu klären, ob ich wirklich Zweifel habe, und sie diese eventuell durch den Anruf hätte ausräumen können. Das hätte nämlich bedeutet, sich mit einem persönlichen Konflikt zu beschäftigen; vielleicht sogar einem anderen gegenüber einen Wunsch, und damit eine Schwäche, zu zeigen. Und so etwas konnte Carola nicht, was ich damals aber nicht wusste. Obwohl, meine Erfahrungen aus dem Jahr 2000, wie Carola mit Konflikten umgeht, hätte mir zu denken geben sollen.
Hätte – eigentlich.
„Wenn du nicht möchtest, dass ich in deinem Bett liege, kann ich auch im Wohnzimmer auf dem Sofa oder dem Fußboden schlafen.“
Na, das wäre jetzt aber wirklich albern gewesen. Ich fand ihre »Selbsteinladung ohne Bestätigungsanforderung« zwar immer noch unmöglich, auch immer mit dem Hintergedanken über unsere nicht gerade harmonische Vergangenheit, aber wenn sie schon einmal da war …...
„Nein, nein, das muss nicht sein.“
Das klang lockerer, als mir zumute war. Irgendwo in meinem Kopf wanden sich die Gehirnschleifen immer noch um die Erinnerung, dass Carola mir vor sechs Jahren gezeigt hatte, dass sie völlig unberechenbar ist, und auch ihr Verhalten zu dieser Begegnung hin war nicht so, zumindest in meiner Vorstellung, wie man mit Menschen umgeht. Ich habe eigentlich immer die Vorstellung, dass man andere Menschen so behandeln soll, wie man selbst behandelt werden möchte. Hätte ich eine E-Mail nach Hannover geschickt, und wäre dann, ohne auf Antwort zu warten, einfach vor ihrer Wohnungstür aufgeschlagen? Mit Sicherheit nicht.
Hätte Carola so einen Überfall prickelnd gefunden? Weiß nicht.
Heutzutage würde ich behaupten, sie hätte es nicht prickelnd gefunden, da sie sich von mir hätte bedrängt gefühlt. Also hat sie schon damals etwas getan, was hier erst viel später zur Sprache kommen wird. Von anderen etwas erwarten, was sie im umgedrehten Fall niemals akzeptiert hätte.
Die Alarmglocke in meinem Schädel, die, wenn auch nur leise, aber doch nicht aufhören wollte zu läuten, machte mich nervös.
Ich nahm ein zweites Federbett und drückte es seitlich neben die Matratze auf den Lattenrost, um die Ritze zur Wand, meine Matratze war nur 90 cm breit, der Lattenrost aber 140 cm, zuzustopfen, damit ich nicht in die Ritze rutschen konnte. Eine zweite Decke, und das würde dann schon gehen. Wozu überhaupt eine Decke? Bei einer Raumtemperatur, die wohl nur knapp unter 30 °C lag, war deren Sinn allerdings wirklich fraglich.
Und somit kamen wir uns, obwohl Carola ihre Zukunft in Hannover plante, und ich in Schweden, näher.
Und dafür hatte sie bereits am vorletzten Wochenende ihre ganze freie Zeit eingesetzt, und war heute extra aus Hannover nach Lübeck gefahren, ohne zu wissen, ob sie hier willkommen sein würde. Das hätte sie doch in ihrem Bekanntenkreis, in dem es auch ausreichend Singles gab, sogar schon vorletztes Wochenende leichter haben können. Peter wäre doch sicher immer bereit gewesen, für eine Nacht das Bett mit ihr zu teilen.
Und wie lange dachte Carola eigentlich zu bleiben? Da sie an einem Montag gekommen war, war es, zudem unter Berücksichtigung des immerhin vollen Rucksacks, der ja auch kein kleiner Tagesrucksack war, sondern ein ausgewachsener Trekkingrucksack, anscheinend kein kurzer Wochenendbesuch.
Heutzutage weiß ich nicht einmal, ob ich mir diese Fragen damals wirklich so intensiv gestellt habe. Erst nach den Erfahrungen der folgenden Monate und Jahre stellen sich diese Fragen vielleicht so klar und deutlich da, bzw. habe ich heutzutage auf viele Fragen bereits die Antworten. Antworten auf Fragen, die mir damals wohl gar nicht so richtig bewusst gewesen waren. Ich bin mir nach so langer Zeit nicht sicher, was ich damals wirklich dachte. Aber damals ließ ich es einfach darauf ankommen. Die meiste Zeit meines Lebens war ich Single, und bereits sechs Jahre vorher war ich ja in Carola verknallt gewesen. Wäre damals ihre blöde E-Mail nicht gewesen, wären wir vielleicht schon im Jahre 2000 uns, wie weit auch immer, näher gekommen, und es hätte sich dann vielleicht nie die Frage nach Schweden gestellt.
Am nächsten Morgen standen wir erst spät auf. Es hatte schon angefangen zu dämmern, als wir überhaupt zum Schlafen gekommen waren. Ich war zwar schon früh wieder wach, lange schlafen war nie mein Ding gewesen, aber Carola war anscheinend eine Langschläferin. Als sie merkte, dass ich wach war, kuschelte sie sich im Halbschlaf an mich und schlief weiter, während ich sie dabei an- und ihr zusah. Es war ein schönes Gefühl, ihre Körperwärme zu spüren. Trotzdem fragte ich mich, wo das hinführen sollte. Für einen One-Night-Stand hatte Carola, selbst wenn es mehrere Nächte werden sollten, einen ganz schönen Aufwand betrieben. Und, wie schon erwähnt, hätte sie so etwas bereits vorletztes Wochenende, mit wesentlich weniger Konfliktpotenzial, einfacher haben können. Und für etwas Längeres? Etwas Ernstes?
Eine Fernbeziehung zwischen Lübeck und Hannover, sollte Carola überhaupt eine ernsthafte Beziehung haben wollen, war sicher noch hinzugekommen. Aber Hannover und irgendwo in Schweden, das konnte auch im sehr weit entfernten Norden liegen. Das musste ein tot geborenes Kind werden.
„Wann fährst du eigentlich wieder zurück nach Hannover“, fragte ich vorsichtig, als Carola den Übergang vom Halbschlaf zum Wachsein anscheinend durchbrochen hatte.
„Willst du mich schon wieder los werden?“
Ihre Stimme klang, obwohl Carola wach schien, doch noch verschlafen.
Nein, loswerden wollte ich sie nicht unbedingt, darüber war ich mir schon im Klaren. Aber so ein bisschen »Butter bei die Fische«, wie wir Norddeutschen zu sagen pflegen, oder normal ausgedrückt, ein bisschen mehr Information, was Carola sich nun eigentlich mit ihrem Überfall gedacht hat, wäre schon ganz nett.
„Ohne dich loswerden zu wollen, wie lange hast du geplant, hierzubleiben?“
Immer noch an mich angeschmiegt kam: „Na ja, die Praxisräume sind gemietet, aber zurzeit können wir nichts machen. Erst in zwei Wochen können wir in die Räume und mit dem Einrichten beginnen. Das, was jetzt getan werden muss, kann Britta auch alleine in Hannover erledigen, bzw. ich hier vom Telefon aus.“
Britta, das hatte ich bereits am vorletzten Wochenende mitbekommen, war Carolas Kollegin, mit der sie in Hannover die Physiotherapiepraxis eröffnen wollte. Beide waren, vor nicht ganz einem Jahr, dafür von Lübeck nach Hannover gezogen, da nach irgendeiner Studie, die sie gelesen hatten, es in Hannover noch nicht so viele solcher Praxen, im Verhältnis zu der Einwohnerzahl, geben sollte, wie in Lübeck oder ähnlichen Städten.
„Und solange willst du hier bleiben?“
„Wenn ich darf.“
Es heißt ja, dass man hinterher immer schlauer ist. Jetzt ist es leicht, kluge Sprüche zu klopfen. Normalerweise hätten damals aber, an diesem Punkt, wirklich alle Alarmglocken schellen müssen. Im Nachhinein verstehe ich wirklich nicht, wieso das nicht passiert ist. Liebe macht ja bekannterweise blind, aber unsere gemeinsame Vorgeschichte war ja nun wirklich nicht ganz unbelastet. Carola wollte zwei Wochen bei mir wohnen, hatte es aber nicht einmal für nötig gehalten, oder sollte ich lieber schreiben, hatte nicht den Mut gehabt, vorher abzuklären, ob das überhaupt möglich ist und ob ich dieses überhaupt wollte. Ich war telefonisch erreichbar gewesen. Sicher, ich hatte ihr nicht meine Nummer gegeben, aber es gab die Auskunft. Und wie ich später noch erfuhr, hatte Carola in Hannover ein Lübecker Telefonbuch, in dem ich nun einmal eingetragen war. Und ich war der Einzige mit meinem Namen dort. Ich stand sogar mit Straße und Hausnummer, die Carola ja vom vorletzten Wochenende kannte, in dem Telefonbuch. Also wirklich superleicht zu finden. Aber anstatt anzurufen, hatte sie nur eine E-Mail geschickt, und das auch noch ziemlich spät, sodass ich kaum rechtzeitig darauf reagieren konnte.
Es war, wie auch bereits sechs Jahre davor, schon damals so, dass Carola nicht in der Lage war, über Probleme, zumindest wenn es sich um persönliche Probleme handelte, oder noch genauer, über Beziehungsprobleme in jeglicher Form, zu sprechen. Aber es schellte bei mir keine Alarmglocke laut genug. Ich war bereits zu sehr in dem herrlichen Gefühl eingenebelt, sie neben mir liegen zu haben. Und na ja, toll hatte ich sie ja schon sechs Jahre vorher gefunden, bevor damals die Seifenblase durch ihre E-Mail platzte.
Allerdings hätte mir zumindest der Streit zwischen Carola und Horst, dem Wirt vom »Carrickfergus«, zehn Tagen vorher, was ja nun wirklich nicht lange her gewesen war, wieder einfallen müssen. Aber nichts dergleichen passierte. Mein Kopf war auf Liebe, oder zumindest auf Zärtlichkeit eingestellt.
Und so begann etwas, was von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Ich konnte dieses aber nicht sehen, und Carola, der es im Grunde klar war, zumindest in ihrem Unterbewusstsein, dass es nicht funktionieren würde, wollte das sich selbst nicht eingestehen. Sie täuschte nicht nur mich, sondern auch sich selbst, da sie sich mit sich selbst nicht auseinandersetzen konnte, und das, auch wenn sie es aus ihrem Bewusstsein verdrängte, im Grunde auch wusste. Viel später, als alles zu spät war, gab sie, bei dem einzigen Telefongespräch, das wir nach der Trennung noch führten, selbst zu, dass sie von Anfang an gewusst hat, dass es mit uns falsch war. Sie gab aber auch dabei nicht den wahren Grund zu, warum sie es von Anfang an wusste, und warum sie es trotzdem so weit kommen ließ, wie es dann kam.
Nicht ganz drei Jahre später, nachdem ich ein längeres Telefongespräch mit der hiesigen Frauenhilfsorganisation geführt hatte, saß ich völlig verwundert, nachdem ich den Telefonhörer wieder aufgelegt hatte, an meinem Schreibtisch, und fragte mich, wieso hatte ich den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen. So vieles war in den drei Jahren passiert, waren die Zeichen zu sehen gewesen. Und doch benötigte ich ein Gespräch mit der hiesigen Frauenhilfsorganisation, damit ich den Wald, in dem ich doch selbst stand, endlich klar und deutlich sehen konnte. Und gleichzeitig fragte ich mich, was war mit den ganzen anderen blinden Vögeln?
Zum Beispiel Michael, der Lebenspartner meiner Schwester. Vor vielen Jahren, als er bei einem ganz normalen Stadtspaziergang mit Carola und ihrer Tochter in der Stadt unterwegs gewesen war, klatschte er, als Carolas damals noch kleine Tochter Zuneigung zu dem großen Onkel, der so toll lustig war, zeigte, voll gegen Carolas Fassade (Mauer). Als Carola merkte, wie ihre Tochter Michael anhimmelte, ging bei ihr auf einmal die Klappe herunter. Die gerade noch fröhliche junge Frau wurde von einer Sekunde auf die andere abweisend, geradezu aggressiv zu ihm, und war in keiner Art und Weise mehr für Michael ansprechbar. Das Erlebnis war für Michael so intensiv gewesen, dass er es niemals vergessen hat. Er hatte mit Carola, nach dem er ihr eine Praktikumsstelle bei seinem Arbeitgeber besorgt hatte, zusammen gearbeitet, war privat mit ihr befreundet gewesen. Aber dann ist er, wie beschrieben, wirklich voll mit dem Kopf gegen den Baum geknallt, sah aber weder den Baum, geschweige den ganzen Wald. Und sieht den Wald auch heute noch nicht.
Was war mit Britta, die mir, als alles zu spät war, erklärte, dass Carola sich immer, bei den von ihr provozierten Trennungen, so benimmt, wie sie es dann bei mir durchgezogen hat? Und dass Carola zwar ihre Freundin sei, sie aber die Abmachung haben, dass Britta aus den Männergeschichten Carolas heraus gehalten werden wollte. Sie fand das Spiel, das Carola mit den Männern trieb, nicht richtig, und wollte da nicht involviert werden. Wieso hat Britta nicht erkannt, dass Carola nicht spielte, sondern sich vor der Wahrheit und vor sich selbst versteckte?
Was war mit Susanne, die, nach dem Carola bereits ungefähr anderthalb Wochen bei mir als Gast gewohnt hatte, sich wunderte, dass Carola nicht, wie doch sonst immer, schon nach der zweiten oder dritten Nacht aus unserem gemeinsamen Bett geflohen ist?
Oder Horst, der zwar in seiner Kneipe mit Carola über ihre Männergeschichten gestritten hat, aber anscheinend den Grund ihres Verhaltens nie hinterfragte. Sie alle kannten Carola über Jahre. Was waren da die paar Wochen, die ich sie näher habe kennenlernen dürfen. Wobei, was heißt hier, näher kennenlernen dürfen.
Ich durfte in der kurzen Zeit, in der ich mit Carola zusammen gewesen war, nur das kennenlernen, was sie bereit war, von sich preiszugeben. Und das war, wie ich heute weiß, eben nicht gerade sehr viel.
Aber die, die Carola jahrelang gekannt und erlebt haben, und die die Symptome anscheinend über Jahre durchaus mitbekamen, – warum waren die so blind gewesen?
Wobei die Menetekel klar und deutlich an der Wand, für jeden weit leuchtend sichtbar, standen.
»Und sieh! Und sieh! An weißer Wand, da kam´s hervor wie Menschenhand, (… …), Buchstaben von Feuer, und schrieb und schwand. (… …). Die Magier kamen, doch keiner verstand zu deuten die Flammenschrift an der Wand.« (Heinrich Heine, aus Belsazar)
Man hätte sie nur deuten müssen. Wobei na klar überhaupt erst einmal die Bereitschaft da sein musste, die Zeichen zu beachten. Aber man hat ja manchmal regelrecht den Wunsch, blind zu sein.
Nach dem gemeinsamen Frühstück trennten wir uns erst einmal. Carola wollte Carmen, deren gemeinsame Gespräche vorletztes Wochenende, wegen mir, zu kurz gekommen waren, treffen. Irgendwo Kaffee trinken und klönen, und danach zusammen an die Ostsee fahren, um weiter zu klönen, um die in Hannover vermisste frische Meeresbrise zu spüren, und um bei ihrer Freundin etwas, wegen der versetzten Zeit vorletzten Wochenendes, wieder gut zu machen.
Ich war dabei, Männer stören nur bei Frauengesprächen, das wusste selbst ich, nicht nur überflüssig, sondern absolut fehl am Platze. Und daher beschloss ich in die Bücherei, dort lag das »Svenska Dagbladet« aus, was ich sowieso regelmäßig dort las, zu gehen.
Und erst jetzt, wo ich dieses hier niederschreibe, kommt diese Frage zum Vorschein. Carola wollte sich mit Carmen treffen, in einem Café Kaffee trinken gehen. Danach an die Ostsee. Wenn ich in meiner Erinnerung herumkrame, kann ich mich nicht erinnern, dass Carola an diesem Morgen Carmen angerufen hat. Mag sein, dass ich es einfach vergessen habe, aber eigentlich glaube ich es nicht. Schon vor dem Frühstück war klar gewesen, dass wir heute Vormittag erst einmal getrennte Wege gehen würden. Ich frage mich, hatte Carola bereits aus Hannover diese Freundin angerufen, und sich für das Treffen verabredet: »Hej, ich bin am Dienstag in Lübeck, hast du Zeit, wollen wir Kaffee trinken gehen, plaudern.« Sie muss angerufen haben. Woher wusste sie, dass Carmen an diesem Dienstag nicht arbeiten musste? Wenn das stimmt, dann hat sie, bevor sie aus Hannover losgefahren ist, nachgefragt, ob die Freundin Zeit für einen Plausch haben würde. Während sie mir nur per E-Mail mitgeteilt hatte, dass sie bei mir am Montagabend aufschlagen würde, ohne zu fragen, ob mir das passte, und ohne mir mitzuteilen, in welchem Umfang die Invasion, es hatte ja schon den Umfang einer solchen, sein würde. Und selbst wenn Carola von meiner Wohnung aus, ohne dass ich es mitbekommen habe, Carmen an diesem Morgen angerufen hat, ist es schon bemerkenswert. Carmen, die zu Fuß zehn Minuten von mir entfernt wohnte, wurde angerufen, um zu schauen, ob sie Zeit hat. Und zu mir fuhr sie 200 km, ohne zu wissen, ob ich da bin und Zeit habe, und sollte ich nicht da sein, sie eventuell 200 km wieder zurückfahren musste. Wobei das Risiko einer Rückfahrt bei Nacht nicht unbedingt wahr sein musste, da sie anscheinend doch einen Plan B, der wohl Carmen hieß, gehabt hatte.
Carola hatte keine Schlüssel für meine Wohnung. Sie sollte mich daher anrufen, wenn sie wusste, wann sie dort wieder eintreffen würde, oder sie sich mit mir irgendwo treffen wollte.
Nach meinem Studium des »Svenska Dagbladet«, unter Beihilfe eines Wörterbuches ging das schon ziemlich flüssig, bummelte ich durch die Lübecker Altstadt. Trotz der eher spanischen Sommertemperaturen war es in Lübeck eher wie ein Kurzurlaub in Stockholm oder Göteborg. Die Fußgängerzone war voll, und wenn man aus Versehen angerempelt wurde, bekam man meistens ein „förlåt“ oder „ursäkta“ zu hören, kaum ein „´tschuldigung“. Was teilweise aber sicher auch daran lag, dass Deutsche sich grundsätzlich nicht entschuldigen, während die Schweden dieses bei jeder Kleinigkeit tun. Die kühlen Elchköppe sind ein höfliches Völkchen. Nicht so etwas Stures wie wir.
Lübeck ähnelte damals also durchaus einer schwedischen Stadt mit spanischem Wetter, und ich war herrlichster Stimmung. Zum ersten Mal seit Langem fand ich das Leben mal wieder richtig toll, wobei das nicht an meinem Urlaubsfeeling lag. Ich hatte eindeutig Schmetterlinge im Bauch. Mir war in keiner Art und Weise klar, wie das weitergehen sollte. Ich war mir auch immer noch unsicher, was Carola nun wirklich wollte. Alle Initiative war von ihr ausgegangen. Sollte das nur ein zweiwöchiges Intermezzo sein, ein kleines Zwischenspiel, oder etwas Ernsthaftes? Keine Ahnung. Ich war verknallt. Und auch wenn ich mir bei Carola nicht klar war, was sie wollte, wurde meine eigene Wunschliste, was das betraf, doch langsam länger und klarer. Und das trotz meiner Pläne nach Schweden zu ziehen. Aber das stellte ich jetzt beiseite. Es war ja auch noch gar nicht raus, ob es mit Schweden so klappen würde, wie ich es mir erhoffte.
»Carpe diem – genieße den Tag.« Manche Dinge muss man einfach auch mal auf sich zukommen lassen. Es war ein verdammt schönes Gefühl, durch die sommerliche Stadt, von lauter Elch- und Faxeköppe (das soll keine Beleidigung an die Schweden und Dänen sein) umgeben, zu bummeln und an Carola zu denken.
Am Nachmittag schickte Carola eine SMS, dass es am Strand länger dauern würde. Ich schicke eine SMS zurück, dass ich zu Hause sein würde, wenn sie genug gequatscht, bzw. genug Seeluft getankt hatte.
Als Carola dann später bei mir eintrudelte, nahmen wir uns jeder eine Flasche Multivitaminsaft, und setzten uns wieder an den Kanal auf einen der Schiffsanleger. Es wurde wieder ein sehr harmonischer Abend und eine tolle Nacht. Obwohl ich eigentlich kein Freund von solch warmen Temperaturen bin, und ich es hasste, wie sich die Temperatur bei solchem Wetter in meiner Wohnung staute, waren solche Nächte auf einem Schiffsanlegersteg schon toll.
Wieder zu Hause angekommen, stellte sich nicht mehr die Frage, wo Carola schlafen würde. Ja, so konnte es weiter gehen.
Carola war eindeutig jemand die, solange kein Wecker klingelte, gern lange schlief, während ich meistens doch sehr früh wach wurde. Am nächsten Morgen lag ich so völlig entspannt neben ihr, während sie sich an mich anschmiegte. Ich genoss es, sie einfach nur anzuschauen, wie sie da friedlich, nur der Kopf schaute aus der Bettdecke hervor, neben mir schlief.
Es war spät, als Carola wach wurde, und wir uns aus dem Bett schälten. Nach dem Frühstück machten wir dann einen längeren Spaziergang am Kanal längs. Abends wollte Carola sich wieder mit Carmen treffen, und danach mit deren Lebenspartner Hans, bzw. Lebensabschnittsgefährten, wie es wohl heutzutage offiziell heißt. Die beiden waren immer noch etwas stinkig, da Carola sie vorletztes Wochenende so extrem vernachlässigt hatte. Da war noch einiges wieder gutzumachen. Ich sollte mich später dann zu ihnen gesellen, und ging daher erst einmal in eine irische Kneipe und lauschte irischer Livemusik, um dann später, nachdem ich per SMS erfahren hatte, dass das persönliche Gequatsche zu Ende war, im »If«, auch eine von uns bevorzugte Altstadtkneipe, zu ihnen zu stoßen. Carola saß mit dem Freund und anderen am Tresen. Auch ich kannte davon einige, die ich allerdings schon länger nicht mehr getroffen hatte, und es wurde ein gemütlicher Kneipenabend.
Damals ist es mir gar nicht aufgefallen. Erst mit den Ereignissen, die sich später einstellten, fiel mir eine Sache auf, die ich damals gar nicht registrierte. In der Kneipe, unter den Augen ihrer Freunde und Bekannten, war Carola sehr distanziert mir gegenüber, nicht so, wie eine frisch Verliebte, man sah so etwas ja
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG Texte: Berthold Kogge Alle Rechte vorbehaltenImpressum
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Cover: Berthold Kogge
Tag der Veröffentlichung: 27.11.2019
ISBN: 978-3-7487-2205-2