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Prolog

 

Eli saß auf einer Mauer, am Vorhof des im Bau befindlichen Tempels. Er schaute gedankenverloren über die Baustelle und über den Markt auf dem Vorplatz. Händler standen hinter ihren aufgestellten Ständen, um ihre Ware lauthals anzupreisen. Er sah die Menschenmassen, die sich dicht gedrängt durch die schmalen Gänge schlängelten. Wie sie etwas kauften, oder auch nur den Marktschreiern zusahen.

Sechs Jahre wurden jetzt schon an dem Tempel gebaut. Bald würde der Bau fertiggestellt sein. Noch ein knappes Jahr, und König Salomo und die Priester konnten das Haus Jehovas einweihen. Eli bewunderte den Bau. Der Tempel bestand aus großen Sandsteinquadern, und aus Zedernholz für das Dach, das Portal und die Zwischendecken.

Der Tempel, ein Gebäude von sechzig Ellen Länge, zwanzig Ellen Breite und einer Höhe von dreißig Ellen, war eine technische Meisterleistung. Salomo hatte extra phönizische Baumeister aus Tyros kommen lassen, die die Leitung des Bauvorhabens übernommen haben.

Die Wände des Tempels ragten senkrecht in den Himmel. Es war das größte Bauwerk, das je in Israel geschaffen worden war. Ein rechteckiges Gebäude, mit einem zweiflügligen Eingangsportal, durch das drei Menschen übereinandergestellt hätten durchschreiten können. Vor dem Portal war ein, auf Säulen gestützter, überdachter Vorbau. Die Haupthalle des Tempels, die die gesamte Höhe des Gebäudes einnahm, war an drei Seiten mit dreigeschossigen Seitenflügeln umbaut. Dort sollten die Schätze des Tempels gelagert werden.

Die Innenwände des Tempels sollten mit edlen Stoffen, Farben und viel Gold verkleidet werden. Wenn erst einmal alles fertiggestellt sein wird, würde das Tempelinnere, im Schein der Öllampen, überirdisch leuchten und glänzen. Eli war sich sicher, dass man die Anwesenheit Gottes dann spüren wird.

»Die Einweihung wird ein großer Tag werden«, dachte Eli bei sich. Als Mitglied der Priesterschaft durfte er die Einweihung auch im Tempel miterleben. Nur das Allerheiligste, den Debir, ein, durch einen Vorhang abgetrennter Raum, am Ende der Haupthalle, wird er nicht betreten dürfen. Das war nur dem König, dem Hohepriester und den vier Trägern der Bundeslade vorbestimmt.

 

Die Bundeslade. Der größte Schatz der zwölf Stämme Israels. Eine mit Gold verkleidete Truhe aus Akazienholz, in der die Steintafeln mit den Zehn Geboten aufbewahrt wurden. Vor vielen Generationen hatte Moses diese Steintafeln, damals, als er das Volk Israel, aus der Sklavenherrschaft Ägyptens, in das Land Kanaan führte, auf dem Berg Sinai, direkt von Gott erhalten. Zwei auf dem Deckel thronende Cherubim bewachten den Schatz.

 

Der Einzug der Bundeslade in das Allerheiligste sollte der wichtigste Teil der Einweihungsfeier werden. Eli hatte gehofft, als Träger für die Bundeslade ausgesucht zu werden. Aber die vier ältesten Priester hatten das Recht für sich beansprucht, auch wenn sie schon in einem Alter waren, in dem es ihnen schwerfallen würde, die schwere Bundeslade zu tragen.

Eli freute sich schon auf die große Feier. Und doch zeigten seine Gesichtszüge tiefe Sorgenfalten. Gestern war er schon zur frühen Morgenstunde, zu einem Gespräch, zum König vorgeladen worden. Salomo hatte bei dieser Vorladung einen langen Gedankenaustausch mit ihm, über die Geschichte ihres Volkes geführt. Über die zwölf Stämme Israels. Von den Anfängen, der Entstehung der Welt, der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Garten von Eden, und dem ersten Mord durch Kain. Sie sprachen auch über Noah und die Sintflut, über die Verbannung nach Ägypten, und über Moses, der das Volk Israel dann zurück in die Heimat geführt, und damit den Grundstein für das jetzige Königreich gelegt hat. Alles wurde seit Jahrtausenden mündlich überliefert.

Und nun hatte also König Salomo ihm, Eli, Priester des Tempels, Gelehrter der Geschichte des Volkes Israels und Schriftgelehrter, eine unbeschreibliche Aufgabe erteilt. Er sollte all das, was mündlich überliefert worden war, von Beginn an bis heute, all das, was die Geschichtenerzähler auf den Märkten Jerusalems, in den Winkeln der Gassen und in den Tavernen den Zuhörern erzählten, niederschreiben.

Im Tempel wurde eigens für diese Rollen ein Raum geschaffen. Dort sollte die Geschichte der Stämme Israels, auf kostbarem Papyrus niedergeschrieben, das extra aus dem fernen Ägypten eingekauft worden war, für immer hinterlegt werden und nachzulesen sein.

Eli schaute wieder über die Baustelle. Das Haus Jehovas. Der Höhepunkt der Geschichte Israels. Und vor der Baustelle war der Marktplatz. Händler aus Ägypten, aus dem sagenhaften Königreich Saba, aus dem fruchtbaren Land im Nordosten zwischen dem Tigris und dem Euphrat, aus Persien, und aus vielen anderen Ländern waren nach Jerusalem gekommen, um hier Handel zu treiben. Es wurde gefeilscht, geflucht, gegessen und getrunken. Keine rechte Beschäftigung vor dem Hause des Herrn. Eli runzelte die Stirn. Auch im Hause Israel war nicht alles so, wie es sein sollte. Aber er wollte nicht jammern. Salomo war ein starker und weiser König, und Israel hatte wahrlich schon schlechtere Zeiten erlebt. Die Stadt Jerusalem hatte durch König David, dem Vater von König Salomo, der als junger Krieger große Heldentaten gegen die Philister vollbracht hatte, und daraufhin zum König von Israel erklärt worden war, sehr an Bedeutung gewonnen.

Jetzt, stark befestigt, war Jerusalem, an der Kreuzung von zwei Karawanenstraßen, ein beliebter Treffpunkt für fremde Händler. Das brachte Geld in die Stadt, womit man wiederum die Stadt besser und stärker befestigen konnte, was die Stadt für Händler und Handwerker wiederum interessanter machte. Wer führte schon gerne Handel, ohne von sicheren Mauern, besetzt von disziplinierten Soldaten, umgeben zu sein. Und ohne diese Händler, ohne das Geld, was diese in die Stadt brachten, hätte auch der Tempel, das Haus Jehovas, nicht gebaut werden können. Auch Gott musste abwägen. Keine Händler, keinen Tempel. Wenn aber einen Tempel, dann auch die Händler.

Es war ein dichtes Gedränge in den Straßen und Gassen Jerusalems. Die Herbergen und Tavernen waren voller Fremder. Viel Geld brachten sie mit in die Stadt. Geld, das erst einmal bei den Geldwechslern, die gleich an den Stadttoren ihre Stände hatten, in israelische Münzen eingetauscht werden musste. Ein einträgliches Geschäft für die Geldwechsler. Es war nicht leicht, sich mit den verschiedenen Zahlungsmitteln auszukennen. So mancher Händler wurde schon dort übers Ohr gehauen, kaum dass er die Stadt betreten hatte.

Es herrschte Frieden im Land. Frieden war für den Handel immer gut. Die Händler würden schon auf dem Markt ihren Profit machen. Trotz ihres Verlustes bei den Geldwechslern.

Und die Soldaten Salomos sorgten auch dafür, dass sich die Räuberbanden von den Handelsstraßen fernhielten. Nicht nur der Handelsplatz war so gesichert, sondern auch die Wege dorthin. Denn kein Händler würde gerne in Jerusalem große Geschäfte machen, wenn er, sobald er sich außerhalb der schützenden Stadtmauern befinden sollte, alles, und vielleicht sogar sein Leben, verlieren würde.

Elis Augen wanderten weiter über den Markt, zu einer der Tavernen, wo einige Händler ein gerade abgeschlossenes Geschäft begossen. Streunende Hunde schlichen an der Küchenwand längs. Sie rochen wohl das Fleisch auf dem Feuer. Rechts in der Ecke vom Markt, im Schatten eines Hauses, saß ein Geschichtenerzähler, um den sich ein Kreis neugieriger Zuhörer gebildet hatte. Eli konnte nicht hören, was der Mann der Menge erzählte. Vielleicht ein Märchen. Vielleicht eine Geschichte aus dem reichen Ägypten. Vielleicht auch von dem sagenhaften Land Saba und seiner wunderschönen Königin. Vielleicht erzählte er aber auch eine Geschichte aus der Vergangenheit der Stämme Israels. Vielleicht eine der Geschichten, die er, Eli, Priester und Gelehrter, im Auftrag des Königs niederschreiben sollte.

Dieser Gedanke brachte ihn wieder zurück zu der Aufgabe, die ihm vom König übertragen worden war. Konnte überhaupt ein einzelner Mann dies alles niederschreiben? Wie lange würde es dauern, bis so eine Aufgabe bewältigt war? Nur noch ein paar Monde, und er würde vierzig Jahre alt werden. Wer weiß, wie lange er noch zu leben hatte. Gleich morgen musste er mit dem Hohepriester sprechen. Einer der jungen Priesteranwärter, der sich auch in der Kunst des Schreibens versuchte, sollte ihn unterstützen. Er sollte ihm beim Schreiben helfen, und nach seinem Tod das Werk fortführen.

»Als Erstes muss ich eine Gliederung erstellen«, überlegte Eli. »Die einzelnen Kapitel festlegen, damit nichts ausgelassen, nichts vergessen wird. Aber damit beginne ich erst morgen«, beschloss er.

»Heute habe ich einfach nur Lust zu schreiben. Einfach meine Gedanken in die Vergangenheit wandern zu lassen, und aufzuschreiben, was mir so einfällt. Hier in der Sonne zu sitzen, ab und zu den Fortgang der Handwerker am Tempel zu beobachten, dem Lärm des Marktes zu lauschen, und die ersten Sätze in das Wachs zu ritzen.«

Er nahm seinen Schreibstab und beugte sich über die Wachstafel.

»Am besten fange ich damit an, wie alles begann«, dachte sich Eli und fing an zu schreiben.

 

Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer. Und es war finster auf der Tiefe, und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.

 

Und Gott sprach: „… …

 

Der Sündenfall

 

Adam war müde. Müde, kaputt und zerschlagen. Er hatte zwölf Stunden, nur durch eine kleine Mittagspause unterbrochen, an den Befestigungsanlagen seiner Heimatstadt Kisch gearbeitet. Sein Rücken schmerzte, seine Knie und Knöchel waren geschwollen. Die Hände waren, durch das Bearbeiten der groben Ziegel aus Lehm und Stroh, rau und aufgeplatzt. Seine grobe, ärmellose, einfache Kleidung aus Leinen war nass von Schweiß. Der Staub hatte sich auf dem Stoff zu einer dicken klebrigen Schicht aufgetragen, sodass das Gewand, durch den Schmutz, so steif geworden war, dass es fast senkrecht und unbeweglich an seinem mageren Körper herunter hing, ohne die Bewegungen des Körpers mitzumachen. Seine nackten Füße waren in einer dicken, trockenen und aufgeplatzten Lehmschicht verschwunden. Bei jedem Schritt platzte ein Stück des getrockneten Lehms von seinen Füßen. Sein braunes Haar, das immer leicht zerzaust war, hatte fast die weiße Farbe des Staubes angenommen. Und obwohl die Sonne am westlichen Horizont bereits hinter den Hügeln verschwand, stand die Luft stickig in den engen Gassen der Stadt, angeheizt noch zusätzlich durch die Feuer der Schmieden, Tavernen und den kleinen Feuern vor den Häusern, an denen die Frauen das Essen für ihre Familien kochten.

Das Leben fand hier hauptsächlich auf der Straße statt. Nicht in den Häusern, in denen es dunkel war, und ein häusliches Feuer die Räume, die sowieso schon durch die Sonne, die auf die Dächer brannte, in einen Backofen verwandelt waren, noch mehr aufheizen würde.

Adam war nicht nur Müde, er hatte auch Durst. Neben dem Durst hatte er außerdem auch noch Hunger. Aber der Durst war schlimmer. Selbst wenn er Gerstenbrei bei sich gehabt hätte, wäre es für ihn unmöglich gewesen, diesen jetzt zu essen. Solange er nichts zu trinken bekam, brauchte er es gar nicht erst zu versuchen, so einen klebrigen Brei herunter zu würgen. Der würde ihm nur Halse stecken bleiben.

Die Sonne hatte den ganzen Tag, ohne Gnade, vom blauen Himmel herunter geschienen. Es was Hochsommer und die Hitze war kaum zu ertragen. Soviel konnte man gar nicht trinken, wie man bei der schweren Arbeit an den Befestigungsanlagen wieder heraus schwitzte. Und es gab auf der Baustelle nur Wasser. Kein Bier. Und so wie das Wasser schmeckte, wenn erst einmal ein paar Stunden die Sonne auf die Krüge geschienen hat, wusste man nicht, ob es einem nach dem Trunk auch weiterhin gut gehen würde, oder man kurz danach, die Hände krampfhaft auf den Bauch gedrückt, mit Durchfall, hinter einem der wenigen Büsche hockte, die in der Nähe der Baustelle wuchsen. Die Krüge wurden morgens mit frischem Wasser gefüllt, aber ab mittags war das Wasser alles andere als frisch. Die Sonne brannte so heiß vom Himmel, dass selbst die Fliegen nicht durch die Luft schwirrten, sondern sich irgendwo in kleinen Erdspalten oder unter Steinen vor der Sonne versteckten. Der einzige Vorteil der trockenen Hitze.

Die neuen Befestigungsanlagen der Stadt waren fast fertig. Der neue Grundriss der Stadt war vom König viereckig geplant worden. Die alte Stadt war nur ein Haufen einstöckiger Lehmhäuser, mit krummen Straßen dazwischen, gewesen. Ungeplant am Ufer des Flusses gewachsen. Aber die neue Stadtmauer, um diesen Haufen Straßen und Häuser, war in einem gleichmäßigen Viereck angelegt worden, dessen Fläche ungefähr doppelt so groß war, wie der ungeplante Haufen Häuser. Die dadurch neu entstehenden, unbebauten Flächen, innerhalb der neuen Mauer, würden bald auch mit Häusern bedeckt sein. Einige neue, gerade angelegte Straßen, gab es dort schon, begrenzt mit oft zweistöckigen Lehmhäusern, einige sogar aus behauenem Felsgestein, die sich die wohlhabenden Händler und die mächtigen Beamten dieser Stadt dort bauen ließen. Auch Adam hatte sich dort, damals waren die neuen Stadtmauern erst in Planung gewesen, ein Haus bauen lassen. Damals, als er noch ein angesehener Steuerbeamter gewesen war. Aber das schien jetzt schon fast in einem vorherigen Leben gewesen zu sein. Zumindest kam es Adam so vor.

 

Mit der wachsenden Macht des Königs wuchs auch die Bedeutung und Größe seiner Hauptstadt. Viele alte Häuser wurden abgerissen, und den betroffenen Bewohnern, auf den freien Flächen, einen neuen Platz für ein Haus zugewiesen, da, in dem alten Haufen Häuser, Platz für die Vergrößerung des Königspalastes geschaffen werden musste. Mit der größeren Macht des Königs wurde nicht nur ein repräsentativerer Königspalast benötigt, sondern auch die königliche Verwaltung, mit ihren Beamten, vergrößerte sich.

Auch sollten die vier Stadttore, die jeweils an einer Seite der neuen Stadtmauer eingelassen waren, innerhalb der Stadt durch breite Straßen verbunden werden, die sich in der Stadtmitte, an einem neu geschaffenen Marktplatz, treffen sollten. Viele Häuser mussten dieser Maßnahme noch weichen. Reiche Bewohner wurden, für den Verlust ihrer luxuriösen Wohnstätte, vom König entschädigt. Arme Bewohner durften sich, für ihre neue Heimstätte, den benötigten Lehm vom Flussufer holen, bzw. das Material ihrer alten Häuser wieder verwenden. Widerspruch wurde nicht geduldet. Gerade jetzt, nach dem der König alle anderen Kleinkönige besiegt und ein mächtiges Königreich geschaffen hatte, wurde er von den Priestern bereits fast wie ein Gott verehrt. Aufmucken gegen einen König, wurde schon schwer bestraft; aber gegen einen Gott, wäre so eine Blasphemie tödlich.

Aber vielleicht war der König ja sogar wirklich ein Gott, oder zumindest von den Göttern gesandt, um Frieden und Wohlstand zu bringen. Seitdem das fruchtbare Gebiet, an den Flüssen Pischon, Gihon, Tigris und Euphrat, durch den König geeint worden war, herrschte Frieden im Land. Keine Dörfer und Felder gingen mehr in Flammen auf, nur weil ein Kleinkönig das Land eines anderen Kleinkönigs überfiel und brandschatzte. Im Westen war die große Wüste eine natürliche Grenze, im Norden und Osten die kargen Ausläufer des großen Weltengebirges, und im Süden das Salzmeer, in das die vier Flüsse mündeten. Sicher, es gab immer noch Überfälle durch Stämme aus der großen Wüste und dem kargen Gebirge, aber der König verstärkte die Befestigungsanlagen der Städte und Dörfer an den Grenzen.

Und seit dem die Soldaten sich nicht mehr, durch Kleinkönige befehligt, gegenseitig abschlachteten, sondern auf den Befestigungsanlagen Wache schoben und in kleinen Einheiten die Grenzgebiete und die Straßen kontrollierten, waren diese Überfälle stark zurückgegangen. Einige der wilden Wüstenstämme hatten sogar den Vorteil des Handels erkannt. Selbst arm und keine Ware habend, mit denen man Handel treiben konnte, nutzten sie doch die Möglichkeit, fremde Ware westlich der großen Wüste einzukaufen, und diese dann, für viel Geld, hier auf den Marktplätzen wieder zu verkaufen.

So sah man täglich Karawanen mit dem wertvollen Zedernholz, das in den Ländern westlich der großen Wüste wuchs, durch das neu geschaffene Westtor in die Stadt ziehen. Der König zahlte gut für die langen geraden Stämme, die er für seinen Palastbau und dem Wehrgang an der Stadtmauer benötigte.

Eine gut befestigte Stadt und sichere Handelswege waren auch für die reisenden Händler wichtig, da der Handel nur in sicheren Städten florierte. Die Soldaten des Königs Etana waren gut ausgebildet und ausgerüstet. Im Verteidigungsfall musste zusätzlich aber auch noch die Bevölkerung Kriegsdienst auf dem Wehrgang leisten.

Und die Hauptstadt wurde besonders stark befestigt. An den vier Ecken der neuen Stadtmauer waren mächtige, leicht nach außen, vor die Mauer verschobene, viereckige Türme gebaut worden. Die vier Stadttore, jeweils in der Mitte einer Mauerseite, zeigten in die vier Himmelsrichtungen. Links und rechts war jedes Tor durch mächtige, auch leicht nach außen, vor die Mauer verschobene Türme eingefasst. Die Stadttore waren die schwächsten Stellen der Stadtbefestigung. Von den Türmen aus sollte der Feind bekämpft werden, sollte er versuchen, das Tor mit einem Rammbock aufzusprengen.

Die Stadt wurde, mit den fast fertigen Befestigungsanlagen, von einer 15000 Ellen langen, 20 Ellen hohen und 4 Ellen starker Lehmziegelmauer umschlossen. Die Türme sollten auch gleichzeitig als Unterkunft für die Soldaten dienen. Auf der Stadtinnenseite der Mauer ging, in 17 Ellen Höhe, ein Wehrgang aus Zedernholz um die ganze Stadt. Das Holz war extra aus dem Westen, durch die große Wüste, für den Wehrgang herangeschafft worden. So fruchtbar Etanas Königreich auch war, Zedern, mit ihren langen geraden Stämmen, wuchsen nicht in seinem Reich.

So mancher Karawanenbesitzer war durch den Transport des Holzes reich geworden. So mancher Karawanenbesitzer lag jetzt aber auch als bleiches Skelett in der Wüste. Es war gefährlich durch die Wüste zu reisen. Die Wüste gehörte nicht mehr zum Machtbereich des Königs Etana. Wilde Stämme hausten immer noch in der Wüste, in unbekannten Oasen. Und einige dieser Stämme hielten Raub immer noch für einträglicher als ehrlichen Handel. Wüstenstämme, die sich nicht scheuten, die Karawanen zu überfallen, und das kostbare Holz selbst in Kisch zu verkaufen, ohne dabei selbstverständlich zu verraten, wie sie an das Holz gekommen waren.

Im Vergleich zu dem Rest der Welt ließ es sich hier, in dem neu geschaffenem Königreich, trotz der Fronarbeiten für den König, gut leben. Es war regelrecht ein Paradies, im Vergleich zu den gefährlichen und unwirtlichen Gegenden, außerhalb des Reiches. Durch die Flüsse, aus denen man das Wasser für die Bewässerung der Felder schöpfte, herrschte zumindest kein Hunger. Das war mehr, als man woanders erwarten konnte.

 

Die Befestigungsanlagen waren fast fertig.

In drei Monaten, wenn König Etana sein fünftes Regierungsjahr feiern wollte, sollten die Befestigungsanlagen komplett sein.

Adam hatte Hunger und Durst. Er wollte etwas essen und vorher unbedingt einen großen Becher Bier trinken. Adam wusste, dass das Essen fertig sein würde, wenn er zu Hause angekommen war. Doch dorthin wollte er eigentlich noch gar nicht, da es ohnehin, wie so oft, sicher Streit zwischen seiner Frau Lilith und seiner Tochter Eva gegeben hat. Irgendetwas fand seine Frau immer, weswegen sie ihn oder ihre Tochter Eva beschimpfen konnte. Lilith war mit ihrem Leben nicht zufrieden. Sie war der Ansicht, sie hätte etwas Besseres verdient, und gab Adam die Schuld für ihr ärmliches Dasein.

 

Als Lilith und Adam heirateten, stand er am Anfang einer glänzende Karriere als Steuerbeamter. Auch wenn ein Steuerbeamter nicht gerade gerne bei der Ausübung seines Berufes gesehen wurde, war er gesellschaftlich doch hoch angesehen. Vom König gut bezahlt, konnte man als Steuerbeamter auch noch sehr gut nebenbei etwas dazuverdienen. Gerade mit Händlern, die von außerhalb des Reiches kamen, konnte man den einen oder anderen Deal aushandeln, wenn es um die Steuerschätzung ihrer Waren ging. Und Adam war, wenn er den Wert der Waren hatte taxieren müssen, sehr entgegenkommend gewesen. Man hatte sich immer geeinigt, was beiden Seiten zugutekam.

Nur die königliche Schatzkammer hatte dabei das Nachsehen gehabt. Und als Adam zu gierig wurde, er die zu versteuernde Ware immer niedriger schätzte, sein dafür, von ihm geforderter privater Obolus immer größer wurde, und sein Haus immer prächtiger ausgestattet, kam dem Obersteuerbeamten mit der Zeit ein Verdacht. Dieser verhörte einige der Händler und drohte mit Marktverbot für sie innerhalb der Stadtmauern, wenn sie schweigen sollten. Und als ein, von Adam ungerecht behandelter Händler auch noch Klage gegen diesen einreichte, konnte der Obersteuerbeamte Adam überführen.

So verlor Adam seine gute Stellung, er und seine Familie die Existenzgrundlage, damit auch das große, prachtvoll eingerichtete Haus, und sie mussten sich eine Hütte in einem der ärmlicheren Stadtvierteln suchen.

Adam war nun gezwungen, sein Geld als Ziegenhirte zu verdienen. Obwohl er schreiben und rechnen konnte, was nur wenige Einwohner der Stadt beherrschten, war es für ihn unmöglich gewesen, bei einem Händler eine Anstellung zu finden. Mit einem, des Unterschlagens von Steuern überführten Steuerbeamten, wollte niemand etwas zu tun haben.

Neben dem Ziegenhüten musste Adam jede zweite Woche, nur mit einer Mahlzeit entschädigt, an den Befestigungsanlagen der Stadt arbeiten. Dazu waren alle Einwohner von Kisch verpflichtet, die nicht Staatsdiener waren, oder das nötige Vermögen oder Einkommen hatten, um sich von diesem Frondienst freizukaufen. Als Steuerbeamter war Adam, auf dem Weg zu der Karawanserei vor der Stadt, wo die reisenden Händler warten mussten, bis er die Ware taxiert hatte, bevor diese in die Stadt transportiert werden durfte, oft an den Baustellen vorbeigekommen und hatte sich über das langsame Voranschreiten der Bauarbeiten geärgert, da, solange die neuen Befestigungsanlagen nicht fertig waren, sein neues Haus relativ ungeschützt, außerhalb der geschützten Stadt lag. Zwar schützte die königliche Elitetruppe, in Zeltlagern, die weitläufig um die Stadt herum hinter Erdwällen lagen, die Stadt, bis die neue Stadtmauer fertiggestellt war, gegen eventuelle Übergriffe aus der Wüste, aber man würde sich doch erst wirklich sicher fühlen, wenn die neuen Befestigungen abwehrbereit sein würden. Nun, seiner privilegierten Stellung beraubt, fluchte er ständig über die schlechten Arbeitsbedingungen, dort an den Befestigungsanlagen, und über die Schwere der Lehmziegel.

Auch ohne die Fronarbeit hätte das Geld, das Adam durch das Ziegenhüten verdiente, nicht ausgereicht. Da er, wegen der Fronarbeit, nur jede zweite Woche dieser Verdienstmöglichkeit nachgehen konnte, reichte es nicht einmal für die einfachsten Nahrungsmittel. Adams Frau Lilith musste irgendwie mit den kärglichen Einnahmen die Familie durchbekommen. Sie musste auf dem Markt feilschen und schauen, ob eine Frucht vielleicht schon etwas angefault war, um diese dann billiger zu erwerben. Außerdem wusch Lilith, mit ihrer Tochter Eva zusammen, für die reichen Stadtbewohner die Wäsche, um auch etwas für den Familienunterhalt beitragen zu können. Eine besonders demütigende Arbeit für Lilith, da sie bei denen um Arbeit betteln musste, mit denen sie noch vor ein paar Jahren ausgelassen gefeiert und dabei, auf das arme Pack der ärmlichen Gassen, Schimpflieder gesungen hatte.

 

So ging Adam auch heute, über sein Schicksal nachsinnend, auf den, von der Sonne ausgetrockneten Lehmstraßen und Gassen, langsam in Richtung seines Hauses. Durch den letzten Regen, der wohl schon vor Monaten niedergegangen war, hatten sich die Spuren von Reifen, Fußabdrücken und Abdrücken von Schweinen und anderer Tiere so in die Straßen eingedrückt, dass diese jetzt, ausgetrocknet und hart, voller Löcher und Rillen waren, sodass Adam jeden Schritt, in seinen, durch die schwere Arbeit an der Stadtmauer geschwollenen und schmerzenden Gelenken, spürte.

Als Adam in die Gasse einbog, in der sein Haus stand, kam ihm einer seiner Nachbarn, der Schmied Ephraim, entgegen.

Dieser grüßte Adam.

„Na, auf dem Weg nach Hause?“

»Blöde Frage«, dachte Adam, antwortete aber doch höflich. Immerhin musste er sich mit dem Schmied gut stellen. Die bronzene Speerspitze, die der Schmied ihm gefertigt hatte, hatte er immer noch nicht bezahlt. Und ein beleidigter Schmied würde sein Geld ohne Verzug einfordern, oder aber die Speerspitze zurück. Die Speerspitze benötigte Adam aber unbedingt zum Ziegenhüten. Wie sollte er sonst die Herde und sich selbst gegen Raubtiere verteidigen.

Also hieß es, höflich zu sein.

„Ja, wurde auch Zeit. Den ganzen Tag bei der brennenden Sonne an den Befestigungsanlagen zu arbeiten, ist wirklich eine Schinderei.“

Adam machte eine Pause. Eigentlich war sein Mund viel zu trocken, um lange zu reden.

»Ich werde es kurz machen, um schnell nach Hause zu kommen«, dachte er bei sich.

„Der König sollte mal selbst einen ganzen Tag bei der Hitze Lehmziegel formen. Dann würde er das Arbeitssoll herunter schrauben und besseres Essen und auch Bier auf die Baustelle bringen lassen. Aber der König schaut ja immer nur einmal kurz vorbei, um aufzuzeigen, dass wir nicht genug geschafft haben. Und er kommt ja auch immer nur gleich morgens, wenn es noch schön kühl ist. In der Mittagshitze ist er noch nie erschienen.“

Er schüttelte müde mit dem Kopf.

„Oh man, es wird Zeit, dass ich nach Hause komme. Da kann ich mich endlich einmal hinsetzen und die Füße in ein frisches Wasserbad stellen, und endlich auch was zu essen und etwas Vernünftiges zu trinken bekommen.“

„Na ja, aber pass auf. Deine Frau hat eure Tochter gerade eben wieder angeschrien. Bei euch herrscht mal wieder dicke Luft. Nichts für ungut, aber es gibt sicher angenehmere Orte als dein Zuhause“, kam es vom Schmied, mit einem Gesichtsausdruck, von dem Adam nicht so richtig deuten konnte, ob es nur Mitleid oder auch etwas Hohn beinhaltete. Immerhin kannte der Schmied die Geschichte von Adam. Hochmut kommt nun einmal vor dem Fall, und es ist dann oft Spott, der dem Fall folgt.

»Ja«, dachte Adam, »da ist was Wahres dran. Eva hat es nicht leicht mit ihrer Mutter. Eva konnte noch so fleißig sein, wenn Lilith ihre Launen hatte, konnte man ihr nichts recht machen.«

„Wird schon nicht so schlimm werden“, erwiderte Adam. „Und um einfach in die Taverne zu gehen, fehlt mir nun einmal das Geld.“

Missmutig, mit einer kleinen Geste der rechten Hand als Abschiedsgruß, ging Adam weiter. Ihm war schon bewusst, dass es doch schlimm werden würde. Lilith hatte Adam weniger wegen ihm selbst geheiratet, sondern wegen der Stellung, die er damals innehatte. Lilith hatte davon geträumt, einem Mann treu zu gehorchen, der in der ganzen Stadt angesehen bzw. gefürchtet war, und ihr selbst ein hohes Ansehen und ein leichtes Leben ermöglichte. Ein Leben, in dem zwar der Mann das Sagen hatte, sie aber seine Anweisungen in aller Ruhe an die Bediensteten weiter leiten konnte. Und wenn sie, sicher gemäß den Vorstellungen ihres Mannes, dem Hause vorstand, konnte sicher auch ein junger ansehnlicher Hauskoch oder Diener, das nicht so ansprechende Äußere von Adam, in den vielen Stunden, die dieser dienstlich außer Haus war, ausgleichen.

Erst nach Adams gesellschaftlichem Sturz hatte Lilith ihm all das, was sie sich von einer Verbindung mit ihm erträumt hatte, an den Kopf geworfen. Ihn selbst hatte sie nie geliebt, sondern nur das, was er in der Stadt darstellte. Nun, nach dem Verlust seiner guten Stellung, verachtete sie ihn nur noch. Und er verachtete wiederum sie, wegen ihrer Haltung. Und oft fragte er sich, was Lilith wohl so alles trieb, während er auf der Weide oder an den Befestigungsanlagen arbeitete, und Lilith Eva mit Hausarbeit überschüttet hatte und selbst aus dem Haus gegangen war. Wäre Adam immer noch ein angesehener Staatsbeamter gewesen, hätte er Lilith schon längst in die Gosse geworfen. Aber so, wie es jetzt um ihn stand, war jemand wie Lilith vielleicht doch immer noch besser als gar nichts.

Adam war immer noch der Mann im Haus, was gleichzeitig bedeutete, dass er zu bestimmen hatte, was passierte. Er war es, der den beiden Frauen in seinem Haus, seiner Ehefrau und seiner Tochter, zu sagen hatte, wann sie das Haus verlassen und wohin sie dann gehen durften, und auch wie züchtig sie sich dabei zu kleiden hatten.

Adam war der Mann im Haus. Der Blick des Schmieds dürfte wohl mehr Hohn als Mitleid gewesen sein. Vielleicht war sogar etwas Verachtung dabei gewesen. Adam hatte mehr als einmal beobachtet, wie seine Frau diesem stattlichen Mann heiße Blicke zugeworfen hat.

Sicher, wenn in der Abenddämmerung der muskulöse Körper des Schmieds sich, Hammer schwingend, vom Schmiedefeuer rot angestrahlt, vor der dunklen Gasse abzeichnete, sah er aus wie der Gott des Feuers. Und nicht nur Adams Frau hielt sich dann, auch wenn die Hausarbeit des Tages noch nicht völlig vollbracht worden war, all zu oft vor dem Haus auf, um sehnsuchtsvolle Blicke Richtung Schmiede zu werfen. Aber es schickte sich einfach nicht. Für keine Frau. Und immer wenn Adam selbst die Muskelspiele des Schmiedes sah und an den Blick seiner Frau dabei dachte, musste er immer neidisch auf seinen eigenen ausgemergelten Körper herabblicken.

Aber er war der Mann im Haus. Er hatte das Sagen. Auch wenn er nur noch ein magerer Ziegenhirte und Fronarbeiter war.

 

Die Gasse war schmal, der Abflussgraben, in deren Mitte, verstopft. Es roch nach Fäulnis und Kot. Die freilaufenden Hausschweine wühlten in Abfall und Dreck. Halbwilde Hunde streunten durch den Staub und knurrten jeden an, der ihnen bzw. dem Knochen, den sie im Maul hielten, zu nahe kam. Auch die Hitze der Schmiede strahlte über die ganze Gasse. Die schlechte Luft, von glühender Bronze und Holzkohle, vermischte sich mit dem Geruch von billigem Gerstenbrei und gebratenem Schweine- und Ziegenfleisch aus der schäbigen Taverne. In der ganzen Gasse stank es erbärmlich.

Die Häuser, hier im Armenviertel, waren nur eingeschossige, dünnwandige, oft aus nur einem Raum bestehende Lehmbauten. In der Mitte der Vorderseite gab es eine Türöffnung. Links und rechts der Tür jeweils eine kleine Fensteröffnung. Die Türöffnung konnte man durch eine Tür, aus einem Geflecht von dünnen Zweigen oder aus Holzlatten, verschließen. Aber das machte tagsüber niemand, damit die Luft in der Hütte wenigstens ein bisschen in Bewegung blieb. Ansonsten würde die Hitze von der Kochstelle sich überhaupt nicht nach draußen verflüchtigten. Das Gleiche galt auch für die Fensteröffnungen. Auch die wurden nur nachts verschlossen, damit man nicht, während man schlief, ungeladenen Besuch bekam.

 

Fünf Jahre waren nun vergangen, seit dem Etana, nach dem Tod seines Vaters, die Königswürde hier in Kisch erhalten hatte. Schon als Kronprinz war er ein erfolgreicher Feldherr gewesen und hatte viele Nachbarorte erobert. Dann hatte er aus seinen Soldaten und den Kriegern der eroberten Städte eine schlagkräftige Armee geformt. Mit dieser Armee hatte er dann den größten Teil des fruchtbaren Landes, zwischen der Wüste im Westen und dem Gebirge im Norden und Osten, erobert.

Mitten während eines dieser Feldzüge starb sein Vater. Etana ließ die Armee vor der Stadt Kalac, die er seit vier Wochen belagerte, unter dem Befehl eines vertrauten und erfahrenen Offiziers zurück, eilte auf dem schnellsten Weg nach Kisch, verbrannte dort, gemäß alter Tradition, seinen Vater auf dem Marktplatz vor Palast und Tempel, und ließ sich danach von den Priestern zum neuen König ausrufen. Nach seiner Krönung ernannte Etana sofort den Schatzmeister, für die Zeit, die er selbst noch auf dem Feldzug sein würde, zu seinem Regierungsvertreter, und eilte zurück zu seiner Armee.

Nach weiten zwei Monaten Belagerung kapitulierte Kalac, und die anderen Stadtstaaten im Norden ergaben sich nach dieser Kapitulation ohne weitere Kampfhandlungen. Etana ließ in jeder dieser Städte einen Offizier, mit einer kleinen Militäreinheit, als Statthalter zurück, zog mit seiner Armee in Eilschritten nach Süden, und eroberte die dortigen Städte, bis zur Mündung von Euphrat und Tigris.

Nach anderthalb Jahren und insgesamt sechs erfolgreichen Feldzügen zog Etana, als König des ganzen Zweistromlandes, wieder in Kisch ein.

Durch seine Eroberungen wurde Etana der Hochkönig des gesamten fruchtbaren Landes. Ein Hochkönig mit absoluter Macht, verehrt, angebetet und gefürchtet, fast schon wie die eigentlichen Götter. Kisch, noch vor fünfzehn Jahren ein unbedeutender Ort mit knapp tausend Einwohnern, war jetzt viermal mal so groß. Durch die erfolgreichen Kriegszüge hatte die Stadt an Bedeutung gewonnen. Bereits als Kronprinz hatte Etana begonnen, die Befestigungsmauern von Kisch ganz neu zu planen, sodass der Ort in Zukunft, bei einem Überfall feindlicher Armeen, besser geschützt sein würde. Kisch lag an der Westgrenze des Reiches. Die wilden Stämme der Wüste sollten nicht in Versuchung geraten, die Stadt, die durch die erfolgreichen Kriegszüge auch einen großen Staatsschatz in seinen Mauern beherbergte, anzugreifen. So mancher Wüstenfürst hatte, als die Armee des Königs, von ihren erfolgreichen Feldzügen zurückkommend, auf dem Weg in die Hauptstadt war, gierige Blicke auf die schwer bepackten Kamele geworfen. Und nur die kampferprobte, bis an die Zähne bewaffnete Begleitung dieser Schätze, hatte sie davon abgehalten, einen Überfall zu wagen.

 

Königliche Beamte sorgten für Ordnung auf dem Markt und in den Herbergen. Der Markt war streng geregelt, was manchen Händler störte, aber den Handel gesamt gesehen sicherer machte. Dort, wo niemand betrügen durfte, wurde auch niemand betrogen, bzw. man konnte, sollte man doch betrogen worden sein, sein Recht bei den Beamten des Königs einklagen. Die eroberten Städte und Dörfer mussten jährlich Tribut entrichten. Dieser wurde, von den Orten weit im Norden und Osten des Reiches, die am Gebirge lagen, in Form von Kupfer oder Bronzebarren geleistet. Aus den anderen Teilen des Reiches wurde der Tribut hauptsächlich mit Getreide, Bohnen, Datteln, Leinen und Ziegen abgegolten. Dies wurde dann auf dem Markt, gegen ausländische Ware, wie Zinn, Schmuck, Zedernholz und vieles andere, eingetauscht. Aus der Bronze wurden Waffen gegossen, womit der König wieder seine Soldaten ausrüsten konnte. Außer dem Tribut mussten die eroberten Gebiete auch Soldaten für Etanas Heer stellen.

 

Die Hauptstadt Kisch bestand aus den ärmeren Nord- und Weststadtvierteln, mit einstöckigen Lehmhäusern, dicht an dicht gebaut und mit engen Gassen, und den vornehmeren Süd- und Ostvierteln, in denen die Bessergestellten wohnten. Dort gab es auch zweigeschossige Häuser. Die Straßen waren dort auch breiter als in den Nord- und Westvierteln. Aber nur etwas breiter. Die Straßen und Gassen in der Stadt waren ungepflastert. Bei trockenem Wetter waren sie staubig. Regnete es, bestanden sie aus knöcheltiefem Schlamm. Nur vor dem Palast und dem Tempel, an der östlichen Stadtmauer, in der Nähe des Osttores, gab es einen größeren Platz, der mit Steinplatten ausgelegt war. Dieser Platz war für Zeremonien des Königs und der Tempelpriester gedacht. Gab es keine Feierlichkeiten, konnten auch die fahrenden Händler den Platz als Markt benutzen.

Gerade in den Stadtvierteln der ärmeren Bevölkerung wusste man oft nicht, wo es schlimmer war. In den stickigen Häusern, oder in den stinkenden Gassen, wo mittags die Sonne gnadenlos bis zum Boden schien, während die Luft sich dort kaum bewegte. Im Sommer schliefen viele Einwohner auf dem Dach ihre Häuser. Dort hatte man dann, aus Leinentüchern, einen Sichtschutz an Pfählen aufgehängt, damit man von den Nachbarn, die auch auf ihren Dächern nächtigten, etwas abgeschirmt war.

 

Adam ging weiter durch die Gasse zu seinem Haus. Als er dort ankam und es betrat, hatte er das Gefühl, dass die Spannung, die von Lilith ausging, regelrecht zu spüren war. Noch war kein Ton geäußert worden, aber es knisterte regelrecht in der Luft. Eva, jetzt fünfzehn Jahre alt, stampfte, mit verbissenem Gesichtsausdruck, in der Ecke Gerste.

Das Abendessen, das doch eigentlich schon fertig sein sollte.

Eva war Adams Sonnenschein. Ihrem schlanken zierlichen Körper sah man die Schwere der Arbeit nicht an. Sie hatte eine schöne glatte braune Haut, ein schönes offenes Gesicht mit großen dunklen Augen und einen schönen vollen Mund mit strahlend weißen Zähnen. Ihr langes braunes Haar hatte sie bei der Küchenarbeit nach oben gesteckt.

»Wenn ich nicht Ziegenhirte wäre, könnte Eva jeden Mann in der Stadt heiraten, den sie wollte. So wie sie aussieht, würden selbst die Söhne reicher Händler sich die Finger nach ihr lecken. Aber welcher von den reichen Händlern würde es seinem Sohn erlauben, die Tochter eines Ziegenhirten zu heiraten«, dachte Adam missmutig.

 

Adams Haus bestand, wie fast alle Häuser in diesem Viertel, nur aus einem Raum. Links war die Kochstelle. Davor stand ein Tisch, grob aus Holzbalken zusammen gezimmert. An den beiden Längsseiten des Tisches stand jeweils eine Holzbank. Ein Regal, an der Rückwand des Hauses, trug die wenigen Gegenstände, die der Haushalt besaß. Becher, Teller und Löffel. Krüge und Töpfe standen darunter auf dem Fußboden. Rechts im Raum war eine kleine Ecke mit einem Tuch abgetrennt. Das Nachtlager von Adam und seiner Frau, wenn sie nicht wegen der Hitze auf dem Dach schliefen. Im Dach war eine kleine Klappe, die man öffnen konnte. Mit einer Holzleiter, die gerade unbenutzt an der Rückwand lehnte, konnte man auf das Dach klettern. Regnete es allerdings, lief an der Dachklappe das Wasser ins Haus und weichte den, aus festgestampftem Lehm bestehenden Fußboden auf. An der Vorderseite waren die Tür und zwei kleine Fensteröffnungen. Die anderen Wände hatten keine Öffnungen, da dort die Nachbarhäuser direkt anschlossen.

Kein tolles Heim, aber letztendlich war es besser als gar nichts.

 

„Wieso ist das Essen noch nicht fertig?“

Adam, der müde, durstig und hungrig war, spürte, dass er wütend wurde. Den ganzen Tag hatte er sich in der Hitze abgeschuftet und am Sonnenhöchststand nur eine karge Mahlzeit aus Gerstenbrei bekommen. Jetzt war es Abend.

„Wieso ist das Essen nicht fertig?“

„Wir mussten erst warten, bis die Wäsche für einen Kunden getrocknet war, damit wir sie ihm zurückbringen konnten“, antwortete Lilith wutschnaubend. „Zum Glück hat er gleich bezahlt. Sonst hätte es gar keine Gerste gegeben. Du weißt, auf dem Markt können wir nicht anschreiben lassen. Wärst du nicht so gierig gewesen, würden wir immer noch in einem schönen Haus leben und es wäre genug Geld vorhanden, um eine Dienerschaft und die Lebensmittel zu bezahlen“, kam es in einem wütenden und verachteten Tonfall von Lilith.

»Immer die gleiche Leier«, dachte Adam.

Dabei war es doch Lilith damals gewesen, die den Mund nicht voll genug hat bekommen können. Sie war es doch gewesen, die nach immer mehr Geld geschrien hatte, damit sie für ihre Verwandten und Bekannten rauschende Feste ausrichten konnte, um entsprechend in der Gesellschaft dazustehen.

„Vielleicht hätte ich doch einige Münzen in der Taverne opfern sollen“, murmelte Adam leise vor sich hin.

Er nahm sich einen Becher Bier, ging vor die Tür und setzte sich in den Schatten. Dort nahm er erst einmal einen großen Schluck und dachte über sein bisheriges Leben nach. Wer hätte jemals gedacht, dass er so tief sinken würde. Geboren als Sohn eines Herbergsbesitzers, der am Südtor eine Herberge für die Karawanen betrieb, gehörte er zwar nicht zu der städtischen Oberschicht, aber sein Vater verdiente gut mit den fremden Händlern, die kostbare Gewürze, Stoffe, Schmuck und vieles mehr, aus der Fremde, in die Stadt brachten. Anstatt, wie die meisten Kinder, früh arbeiten zu müssen, ließ Adams Vater ihn, bei einem Gelehrten, der in der Nachbarschaft wohnte, das Lesen, Schreiben und Rechnen lernen.

„Wenn du meine Herberge einmal übernimmst, ist es wichtig, dass du lesen und schreiben kannst. Und erst recht das Rechnen ist wichtig. Du musst auch den Wert der verschiedenen Silber- und Kupfermünzen kennen, damit du nicht betrogen wirst. Viele Fremde kennen sich mit den verschiedenen Münzen nicht aus. Wenn du dich damit auskennst, kannst du deren fremdes Geld als Zahlung entgegen nehmen. Damit kannst du dir etwas zusätzlich verdienen, und die Fremden entgehen den Betrügereien der Geldwechsler. Merke dir, ein gutes Geschäft ist immer nur dann ein gutes Geschäft, wenn es für beide Seiten ein gutes Geschäft ist.“

Aber Adam wollte mehr. Schon als kleiner Junge hatte er die Beamten des Schatzamtes, die die eingehenden Waren der Karawanen auf ihren Wert schätzten und entsprechende Steuern erhoben, bewundert. Ohne dass Steuern auf die Ware festgelegt wurde, durfte die Ware gar nicht auf dem Markt angeboten werden. Die Steuerbeamten trugen immer saubere, gebleichte Gewänder und ihr glänzendes Amtsamulett. Sie traten meistens sehr herrisch auf. Wer ihnen widersprach, musste damit rechnen, benachteiligt zu werden. Auch bekam Adam schnell mit, dass der Wert der Ware, für die Steuer, oft zu niedrig geschätzt wurde, wenn der jeweilige Händler dafür dem Steuerbeamten ein kleines Bakschisch gab. Dadurch konnte ein Steuerbeamter sich ein ansehnliches Zubrot verdienen. Und der Händler sparte Steuern. Selbstverständlich auf Kosten der Staatskasse.

Aber was der König nicht weiß, macht ihn nicht …..

Als Adam einfache Rechenaufgaben, ohne Fehler lösen und die Zeichen, die die Steuerbeamten benutzten, lesen konnte, bot er einem der alten und angesehensten Steuerbeamten seine Dienste an. Auch wenn sein Vater damit nicht so recht einverstanden gewesen war, konnte der doch wenig dagegen sagen. Wer verärgerte schon gerne einen Beamten des Königs, in dem man sich weigerte, seinen Sohn bei ihm in die Lehre zu schicken.

So fing die Karriere von Adam beim Steueramt an. Der Steuerbeamte Daniel, der für das Nordviertel zuständig war, nahm ihn in seine Lehre. Nachdem Adam sechs Jahre lang Daniel treu gedient hatte, ernannte der damalige König, als Daniel in den Ruhestand ging, ihn selbst zum Steuerbeamten. Da Adam nun nicht mehr bei seinem Vater wohnen wollte, erwarb er im Ostviertel ein eigenes Haus. Auch heiratete er schon bald die schöne Lilith. Die Tochter eines alten Nachbarn aus dem Südviertel hatte Adam, seit dieser angefangen hatte bei Daniel in die Lehre zu gehen, schöne Augen gemacht. Ein Jahr nach der Hochzeit kam Eva zur Welt. Adams Sonnenschein. Adam war damals mit der Welt rundherum zufrieden gewesen und kaufte, als die neue Stadtmauer geplant wurde, die das Stadtgebiet wesentlich vergrößerte, auf der freien Fläche, innerhalb der geplanten Stadtmauer, ein Grundstück und ließ sich dort ein stattliches Haus errichten.

Neben dem Schätzen der eingehenden Waren in den Herbergen gehörte es auch zu seinen Aufgaben, die Steuern für die verkaufte Ware, von den Karawanen zu kassieren, bevor diese wieder die Stadt verließen. Auch hatte er von den einheimischen Händlern, Handwerkern, Wirten, Schmieden, und allen, die etwas in seinem Viertel anboten und verkauften, die Steuern einzufordern.

Aber eines Tages war Adam zu gierig geworden. Einer der auswärtigen Händler, der sich von Adam ungerecht behandelt fühlte, zeigte ihn an. Adam wurde der Bestechlichkeit überführt und verlor Amt und Ansehen. Zu seinem Vater, in die Herberge, konnte er auch nicht mehr zurück. Sein Vater war inzwischen verstorben, und Adam hatte die Herberge, nach dem Ableben seines Vaters, verkauft, um sein schönes Haus finanzieren zu können.

So landeten Adam und seine Familie hier in dieser Gasse, im Nordviertel. Adam verdiente sich sein Geld nun als Ziegenhirte und musste jede zweite Woche an den Befestigungsbauwerken arbeiten. Seine Frau, Tochter eines Händlers, hatte sich von ihrer Verbindung mit ihm etwas anderes erträumt. Seit seiner Entlassung aus dem Steueramt war es nun vorbei mit der guten Partie. Seit dem war sie launisch und zänkisch, ließ ihren Frust an ihrer Tochter

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Berthold Kogge
Cover: Berthold Kogge
Tag der Veröffentlichung: 23.06.2019
ISBN: 978-3-7487-0795-0

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