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Die Ankunft

 

Ich stehe, in einer mir unbekannten Stadt, in einer unterirdischen U-Bahn-Station auf dem Bahnsteig; wobei ich nicht weiß, wie ich hierher gelangt bin. Auch erinnere ich mich nicht, woher ich komme und was vorher gewesen war.

Ich schaue mich um.

Links und rechts des Bahnsteiges liegen die Gleise, der jeweils in die entgegengesetzte Richtung fahrenden Züge. Gleich hinter dem jeweiligen Schienenstrang beginnt die Stationswand. Ich sehe kein Stationsschild, kann somit nicht sagen, wo ich mich befinde; was mich aber irgendwie nicht irritiert, da ich mit dem Namen der Station wohl sowieso nichts anfangen könnte.

Die U-Bahn-Station liegt unter der Wasseroberfläche.

Alles, die ganze U-Bahn-Station, sowie der Tunnel durch den die Züge fahren, ist mit Wasser komplett geflutet. Somit bin auch ich voll und ganz von Wasser umgeben; aber ich habe trotzdem keine Probleme mit der Atmung. Vielleicht habe ich in diesem Traum auch keine Lunge. Ich weiß es nicht. Meine Klamotten, die ich anhabe, fühlen sich auch ganz normal an, so als ob sie trocken sind. Auch die Leuchtkörper, die an der Decke befestigt sind, befinden sich innerhalb des Wassers, leuchten aber völlig normal, als ob ihnen die Flüssigkeit nichts anhaben kann. Außerdem ist der Widerstand des Wassers, wenn ich mich bewege, zwar spürbar vorhanden, aber längst nicht so stark, wie ich es ansonsten von Wasser her kenne.

Das Wasser ist vollkommen klar. Ich kann an den Stationswänden die Reklametafeln deutlich sehen, sowie die kleinen, länglichen, hellbeigefarbenen Kacheln mit den grauen Fugen, mit denen die Wände ausgekleidet sind. Die U-Bahn-Station hat eine halbrunde Gewölbeform, sodass die Wände nahtlos in die Decke übergehen. Auf dem Bahnsteig stehen mittig ein paar Sitzbänke aus Holz mit Metallrahmen, in der Mitte jeweils die Rückenlehne, mit den Sitzgelegenheiten so in beide Richtungen gestellt, dass man, während des Sitzens auf ihnen, zu einem der beiden Gleise schauen kann. Ein paar runde Abfallkörbe aus Gitterdraht stehen auch mittig, nicht sauber in einer Reihe aufgestellt, sondern etwas querbeet, auf dem Bahnsteig verteilt.

Der Bahnsteig selbst besteht aus dunkelgrauen Granitplatten, die quadratisch sind, mit jeweils einer Seitenlänge von etwa fünfzig Zentimetern. Ungefähr einen Meter von der Abbruchkante zu den Gleisen entfernt zieht sich auf beiden Bahnsteigseiten eine Reihe weißer Steinfliesen die ganze Plattform längs. Wohl als Empfehlung, dass, sollte nicht gerade ein Zug in der Station gehalten haben, Abstand zu der dortigen Kante einzuhalten ist.

An den beiden Endseiten des Bahnsteigs führt jeweils eine Treppe, auch aus dunkelgrauen Steinplatten, nach oben, zu den dort befindlichen Ausgängen der Station. Die Wände der Treppenaufgänge, die auch als halbrundes Gewölbe nahtlos in die Decke übergehen, bestehen aus den gleichen länglichen, hellen Kacheln, wie die Wände der Station. An jeder Treppenwand führt ein Geländer, das aus Edelstahl zu bestehen scheint, nach oben. Dort, wo, links und rechts der Treppenaufgänge, der Bahnsteig endet, ist auch jeweils eine Reihe von weißen Platten auf dem Boden zu sehen, die wohl den Hinweis darstellen sollen, nicht weiter, in den Tunnel hinein, zu gehen, sondern auf der Stationsplattform zu bleiben.

Ich bin alleine in dieser U-Bahn-Station. Außer mir befindet sich kein anderer Mensch, genau genommen, zumindest soweit ich das überblicken kann, überhaupt kein anderes Lebewesen hier.

Ich selbst trage schwere Wanderstiefel, eine Trekkinghose, ein Funktions-T-Shirt, einen leichten Fleecepullover und eine Regenjacke. Ausgerüstet bin ich, kleidungsmäßig, als ob ich auf eine Wanderung gehen will. Nur einen Rucksack und weitere entsprechende Utensilien habe ich nicht dabei.

Ein U-Bahn-Zug kommt in die Station eingefahren, und ich spüre den Wasserdruck, wenn auch wesentlich schwächer als ich ihn mir vorgestellt habe, der von dem vordersten Waggon vor sich hergeschoben und zur Seite gedrückt wird. Durch diese Wellenbewegung, die sich durch die ganze Station im Wasser fortsetzt, wird die Sicht, durch das Wasser hindurch, für einen kurzen Moment etwas verschwommener. Die Werbeplakate, Sitzbänke, Abfallkörbe, Wände, Decken, der Bahnsteig und die U-Bahn-Waggons nehmen alle kurz eine sich bewegende, wellenförmige Erscheinungsform an. Sobald der Zug zum Stehen gekommen ist, beruhigt sich das Wasser aber schnell wieder, sodass ich erneut alles klar erkennen kann.

Ich kann durch die Fenster der einzelnen Waggons in deren beleuchtete Innenräume sehen. Der Zug ist leer, kein einziger Fahrgast fährt mit dieser U-Bahn. Die Tür des vor mir haltenden Waggons öffnet sich automatisch, und ich steige ein.

Der Waggon, der auch komplett mit Wasser gefüllt ist, wird durch Neonröhren, die an der Decke befestigt sind, beleuchtet. Über den Fenstern sind kleine längliche Reklameschilder an die Wände geklebt. Gegenüber der Eingangstür gibt es keine Sitzplätze. Ein Schild dort, oberhalb des dortigen Fensters, weist darauf hin, dass dieser Platz für Kinderwagen reserviert ist. Ansonsten gibt es Sitzbänke, ausgestattet mit einem billigen braunroten Kunststoffbezug, für jeweils zwei Personen, links und rechts des in der Mitte liegenden Ganges. Über einem der Fenster klebt, statt eines Reklameschildes, ein Streckenverzeichnis der U-Bahn, das mich aber nicht weiter interessiert. Ich kenne mich in dieser Stadt sowieso nicht aus, obwohl ich, nachdem die Waggontür sich wieder geschlossen hat und die U-Bahn losfährt, auf einmal ganz genau weiß, dass ich in die falsche Richtung fahre. Ich weiß es, obwohl mir völlig schleierhaft ist, woher und wieso, und, wohin ich überhaupt fahren möchte. Völlig erstaunt stelle ich fest, dass ich mein Ziel gar nicht kenne.

Ich steige, da ich in die falsche Richtung fahre, auch wenn ich nicht weiß, woher ich das weiß und wohin ich eigentlich möchte, als die U-Bahn an der nächsten Station hält, die selbstverständlich auch total unter Wasser steht, aus dem Zug, gehe auf die gegenüberliegende Seite des Bahnsteiges und warte dort auf die Bahn, die in die entgegengesetzte Richtung fahren würde.

Auch an dieser Station ist, wenn man einmal davon absieht, dass ich auch hier komplett von Wasser umgeben bin, und auch hier, außer mir, kein weiterer Mensch zu sehen ist, alles völlig normal, so wie ich es aus meiner Heimatstadt her, wo diese auch immer liegen mag, kenne.

Es gibt, wie schon in der anderen Station, Sitzbänke und Abfallkörbe. Die Leuchtröhren an der Decke brennen, an den hell gekachelten Wänden hängen große Reklametafeln. Der Boden besteht aus quadratischen, dunkelgrauen Steinplatten, die jeweiligen weißen Begrenzungsreihen sind auch auf dem Bahnsteig vorhanden. An den beiden Enden der Station geht auch jeweils eine Treppe, aus dunkelgrauen Steinplatten, nach oben, zum Ausgang. Die Wände der Treppen bestehen auch aus den gleichen länglichen, hellbeigefarbenen Kacheln, wie die Station selbst, und es führt auch an jeder Seite der Treppen ein Geländer aus Metall nach oben.

Und auch hier gibt es kein Schild mit dem Namen der Station.

Schon nach kurzer Zeit kommt der Gegenzug eingefahren, wobei wieder die gleichen Wellenbewegungen in dem Wasser entstehen, wie schon in der anderen Station, als dort der Zug eintraf.

Als die U-Bahn am Bahnsteig hält, öffnet sich die Tür des Waggons, der direkt vor mir zum Halten gekommen ist. Bevor ich in den Waggon einsteige, schaue ich noch einmal schnell nach links und rechts, am ganzen Zug entlang. Die Tür vor mir ist die einzige Tür, die sich geöffnet hat. Alle anderen Türen bleiben geschlossen. Kurz versuche ich mich daran zu erinnern, wie es an der ersten Station gewesen war, aber ich muss feststellen, dass ich darauf nicht geachtet habe. Der Waggon, der direkt vor mir steht, scheint zu erkennen, dass jemand, in diesem Fall ich, bei ihm einsteigen möchte.

Ich steige ein und fahre mit der Bahn, die selbstverständlich wieder, von mir einmal abgesehen, völlig menschenleer ist, an der Station, bei der ich zuerst in einen Zug eingestiegen bin, und an mehreren weiteren Stationen, vorbei, bis zu der Station, zu der ich hin möchte, auch wenn mir in keiner Art und Weise klar ist, wie diese Station heißt, wo sie liegt, was ich dort will, und warum gerade diese Station die Richtige ist.

Dort steige ich aus.

Die Station sieht genauso aus, wie die beiden Stationen aussahen, auf denen ich vorher gewesen bin. Auch die weiteren Haltestellen, an denen ich während meiner Fahrt vorbeigekommen bin, haben nicht anders ausgesehen, wenn man einmal davon absieht, dass die Reklametafeln teilweise andere Produkte beworben haben. Und auch diese Station liegt unter der Wasseroberfläche, und ist, wie auch alle anderen Stationen, an denen ich vorbeigefahren bin, menschenleer.

Ich schaue mich kurz um und gehe dann zu der Stationstreppe, die mir am nächsten liegt, und diese empor, zum Ausgang dieser U-Bahn-Station. Auf dem Weg nach oben, oberhalb der Decke der unterirdischen Station, durchstoße ich die Wasseroberfläche und komme trocken in der Oberwelt an, und kann dort selbstverständlich auch völlig normal atmen.

Auf der Treppe hat, solange ich unter der Wasseroberfläche gewesen bin, auch jede vorhandene Deckenleuchte gebrannt. Die ganze U-Bahn-Anlage machte, von dem Wasser einmal abgesehen, einen ganz normalen Eindruck. Sie ist sogar sauberer gewesen, als es mir von U-Bahn-Stationen meiner Heimatstadt, wo diese auch immer sein mag, bekannt ist.

Aber schon, als ich die Wasseroberfläche durchstoße, ist es damit vorbei. Von den Leuchten, die hier an der Decke befestigt sind, sind die meisten defekt, oft ohne das Schutzgehäuse aus Glas. Dort, wo die Glasgehäuse fehlen, sehe ich einen entsprechenden Scherbenhaufen auf den Treppenstufen, auf denen hier, oberhalb des Wasserspiegels, auch anderer Unrat, wie alte verrostete Dosen, alte Zeitungsseiten, Pappbecher, Zigarettenkippen usw., herumliegt. Außerdem hat sich hier bei der Treppe, an deren Kanten und in den Fugen zwischen den einzelnen Platten, Moos gebildet. Auch Grashalme und die ersten Triebe von Gebüsch haben sich dort an die Oberfläche gekämpft und teilweise die Granitplatten der Treppenstufen hoch gedrückt.

Es scheint gerade Nacht zu sein, und da oberhalb der Wasseroberfläche nur noch wenige Leuchten funktionieren, muss ich, da meine Augen noch an die helle Umgebung der U-Bahn-Station gewöhnt sind, auf einmal besonders darauf achten, wohin ich trete. Vorsichtigerweise fasse ich an das Metallgeländer, das hier, oberhalb der Wasseroberfläche, verrostet ist, was es unterhalb der Wasseroberfläche nicht gewesen war.

Am oberen Ende der Treppe angekommen befinde ich mich in einer dunklen, nächtlichen Stadtlandschaft, mit scheinbar verlassenen Hochhäusern links und rechts der Straße, deren Fensterscheiben teilweise zerborsten sind. Es brennen in den Häusern keine Lichter, alles ist dort stockdunkel.

Ich stehe auf einem Bürgersteig.

Die Straße vor mir, eine breite Straße mit drei Fahrspuren in jede Fahrtrichtung, deren Oberfläche nass vom letzten Regen glänzt und von Pfützen teilweise bedeckt ist, geht stur gerade aus. Etwas Müll, einzelne Seiten alter Zeitungen und altes Laub liegen auf dem Asphalt. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindet sich ebenfalls ein breiter Fußweg, mit einer Treppe zur U-Bahn-Station. Dort wäre ich wohl an die Oberfläche gekommen, wenn ich die Treppe am anderen Ende des Bahnsteigs genommen hätte.

In regelmäßigen Abständen stehen am Rande der beiden Bürgersteige, wie auch auf dem Mittelstreifen der sechsspurigen Straße, Straßenlaternen, von denen aber die meisten nicht leuchten. Oft sind die Schutzglaskuppeln der Leuchtkörper nicht mehr vorhanden. Diese liegen auf der Straße und den beiden Fußwegen, weit verstreut, in viele kleine Glasteile zersplittert, auf dem Boden. Die wenigen Laternen, die noch funktionieren, leuchten nur direkt in ihrer jeweiligen Nähe den Boden aus. Zwischen den noch funktionierenden Straßenlaternen ist es, wenn auch nicht stockdunkel, so doch nicht ausgeleuchtet.

Ich drehe mich kurz um meine eigene Achse, um einen Überblick zu bekommen. Ich sehe niemanden, weder einen Menschen auf den Bürgersteigen, noch ein Auto auf der Fahrbahn.

Ich trete zur Bordsteinkante, schaue kurz nach links und rechts, um zu sehen, ob ein Auto oder ein anderes Fahrzeug sich nähert, und gehe dann vom Fußweg auf die Straße, über die ersten drei Fahrspuren zum Mittelstreifen, und schaue mich von dort weiter um. Auch jetzt weiß ich, obwohl ich noch nie vorher hier gewesen bin und ich mein Ziel nicht kenne, genauso wie schon bei der Fahrt mit der U-Bahn, in welche Richtung ich gehen will. Ich zögere keinen Moment, als ich mich, vom Ausgang der U-Bahn-Station aus betrachtet durch den ich die Station verlassen habe, nach rechts wende und, am Mittelstreifen, die Straße längs gehe.

Ab und zu überquere ich eine Straßenkreuzung. Einige der abgehenden Straßen sind genauso breit wie die, auf der ich gehe, andere sind schmaler, alle auch mit Hochhäusern bestückt, links und rechts der Fahrbahnen, hinter den dortigen Fußwegen. Auch die Querstraßen, sie gehen jeweils genauso geradeaus wie die, auf der ich längs gehe, sind dunkel, nur ab und zu, punktweise, in unregelmäßigen Abständen, von einer noch funktionierenden Straßenlaterne beleuchtet. Auch dort sind die Hochhäuser, deren Fensterscheiben teilweise zerschlagen sind, ohne Licht und machen einen verlassenen Eindruck.

An den Kreuzungen befinden sich große Ampelanlagen, die teilweise, in Richtung der jeweiligen Fahrtrichtung, rechts vom Straßenrand, auf dem entsprechenden Fußweg stehen, teilweise aber auch an Stahlseilen über die Fahrbahnen gespannt sind. So wie die Ampeln angeordnet sind, muss hier Rechtsverkehr üblich sein. Die Signalgehäuse für die drei rechten Fahrspuren zeigen, vor der Kreuzung, in meine Richtung. Für die drei Fahrspuren links von mir hängen die Ampeln hinter der Kreuzung, mit den Gehäuserückseiten zu mir gerichtet. In den abgehenden Querstraßen haben die Ampeln die gleiche entsprechende Anordnung. Die Ampelgehäuse, die an den Stahlseilen hängen, schaukeln leicht im Wind. Die Lichtsignale funktionieren nicht, an einigen sind die Glasabdeckungen herausgefallen.

An den Kreuzungen führen, über die jeweiligen Straßen, breite Zebrastreifen, die aber nur noch fragmentweise schwach auf dem dunklen Asphalt zu erkennen sind. Am Straßenrand, bei den Zebrastreifen, gibt es Ampeln für die Fußgänger. Auch die sind außer Betrieb, teilweise schauen dort nur leere Leuchthöhlen aus den Metallkästen. Glassplitter in Rot und Grün liegen dort auf dem Bürgersteig.

Niemand ist auf der Straße, kein Laut ist zu hören, kein Licht scheint aus den Häusern. Nur ein heller Mond und die, in großen, unregelmäßigen Abständen stehenden, noch funktionierenden Straßenlaternen scheinen matt über die ganze Szene.

Langsam gehe ich die Straße, die alt und deren Asphalt aufgeplatzt ist, längs. Glassplitter, ab und zu eine verrostete Dose und anderer Müll befinden sich, neben kleinen Büschen und Grashalmen, die durch den Asphalt hindurch wachsen, auf der Fahrbahn.

Ich atme tief durch. Die Luft ist sauber und frisch. Es ist ein Genuss sie einzuatmen. Der Regen, der wohl vor Kurzem niedergegangen ist, muss sie regelrecht sauber gewaschen haben.

Es scheint Sommer zu sein, zumindest aber Spätfrühling, oder am Anfang des Herbstes, denn die Nacht hat eine angenehme Temperatur. Weder friere ich, noch ist mir zu warm. Es ist eine perfekte Nacht, um durch eine verlassene Stadt zu gehen, oder man könnte eher sagen, zu schlendern.

Ich kann nicht einmal sagen, wohin ich gehen möchte. Ich habe, zumindest bewusst, kein festes Ziel, weiß aber, dass ich in die richtige Richtung gehe. Woher ich das weiß, weiß ich nicht. Wie sollte ich auch, da die Stadt mir fremd ist. Ich kenne sie nicht, bin anscheinend vorher hier nie gewesen. Ich gehe langsam, ruhig, mit einer leichten Neugier durchdrungen, wo ich denn bin und wohin ich wohl kommen werde, mittig auf der Straße, durch diese fremde, dunkle, weiterhin verlassen wirkende Stadt.

Ich fürchte mich nicht; ich bin nicht in Eile. Ich habe weder Hunger noch Durst, und ich bin auch nicht müde oder sonst wie ausgepowert. Es ist einerseits im Grunde egal, wo ich ankommen werde, anderseits weiß ich aber, dass ich, warum auch immer, in eine ganz gewisse Richtung gehen muss, um ein ganz bestimmtes Ziel, wo das auch immer liegt und wie es auch immer aussehen wird, zu erreichen. Auch wenn ich nicht weiß, warum ich zu diesem Ziel gelangen muss.

Ich bin mir bewusst, dass ich wohl nicht auf Menschen treffen werde. Ich bin alleine, und das ist gut so.

Dieses Gefühl, alleine zu sein, ist eine sehr merkwürdige Empfindung. Es ist ein Gefühl von Freiheit. Aber nicht so ein Freiheitsgefühl, dass ich vor Freude hoch in die Luft springen möchte, um zu rufen, »endlich bin ich frei«, sondern es ist eher ein stilles Gefühl, ein Gefühl von Frieden.

Alleine zu sein, das heißt, dass ich mir keine Sorgen machen muss, jemanden zu treffen, der mich belügen würde; niemanden, der mich betrügen, verleumden und verleugnen kann, und niemanden, der mir Schmerzen bereiten wird und Freude daran hat, mich zu demütigen.

So gehe ich, die Straße längs, durch diese leere und völlig stille Stadt. Dabei überquere ich, nachdem ich jeweils immer zuerst nach links und dann nach rechts geschaut habe, mehrere Kreuzungen, mit Ampelanlagen, wie ich sie schon an der ersten Kreuzung gesehen habe. Die Straßen, die abgehen, sehen aus, wie die, auf der ich gehe. Meistens haben sie drei Fahrspuren in jede Fahrtrichtung, manchmal auch nur zwei. An den Straßenseiten und auf den Mittelstreifen stehen, in gleichmäßigen Abständen, Straßenlaternen, von denen aber die wenigsten noch leuchten. An jeder Seite der Fahrbahnen schließt ein breiter Fußweg an, hinter denen sich Hochhäuser befinden, aus denen nirgends Licht leuchtet.

Nach einigen Hundert Metern, vielleicht sind es auch schon mehrere Kilometer, mir fehlt das Gefühl, Zeit und Entfernung zu beurteilen, taucht links von mir, hinter dem Fußweg, eine leere asphaltierte Fläche auf, deren Belag auch alt und aufgebrochen ist. Kleine Büsche haben sich durch den Asphalt gekämpft und bedecken die Oberfläche des Platzes in unregelmäßigen Abständen; zumindest so weit wie ich es, im Schein einer brennenden Straßenlaterne, die vor dem Platz am Straßenrand steht, sehen kann.

Weit entfernt, in der Mitte des Areals, steht eine weitere einzelne, funktionierende Straßenlaterne, deren Licht aber den größten Teil des Platzes nicht erreicht, sondern nur die direkte Umgebung unter ihr etwas erhellt. An der rechten vorderen Ecke des Platzes, gleich hinter dem Geländer, das den Platz vom Bürgersteig abtrennt, kann ich in der Dunkelheit alte verbeulte Mülltonnen aus Blech erkennen, die dort zusammengestellt stehen. Hinter dem gegenüberliegenden Ende des Platzes scheint, nach einem Geländer, eine tiefer gelegene Fläche zu liegen. Punktuell sieht man schwache Lichtscheine von dort hoch schimmern.

Das scheint hier ein Platz zu sein, auf dem in früheren Jahren, als hier noch Menschen gewohnt haben, ein Markt abgehalten worden ist, bei dem die Besucher, vielleicht an Buden und Bauernwagen, ihre Einkäufe erledigen konnten. Auch muss hier ab und zu ein Jahrmarkt aufgestellt gewesen sein, denn ich kann, in der linken hinteren Ecke des Platzes, ein verlassenes Kettenkarussell sehen, nur schwach von einer einzelnen Straßenlaterne angeleuchtet, die direkt in der Ecke, hinter dem Karussell, steht. Man muss das Karussell vergessen haben, als man das letzte Mal hier einen Jahrmarkt abgebaut hat. Oder es war kaputt und nicht transportierbar gewesen, sodass es nicht abgebaut werden konnte.

Ich bleibe stehen, drehe mich um 90° nach links, wende dann meinen Kopf noch weiter nach links, bis ich in die Richtung schaue, aus der ich gekommen bin, und drehe meinen Kopf anschließend ganz langsam nach rechts, bis mein Blick den Platz, der wohl einmal einen Wochen- oder Jahrmarkt beherbergt hat, erfasst. Kurz halte ich meinen Kopf dann, während meine Augen langsam über den Platz streifen, an, und drehe ihn darauf weiter nach rechts, bis ich wieder die Straße, nun in Richtung, in die ich gehen möchte, wenn ich auch nicht weiß, warum, in meinem Blick habe.

Es ist still. Genauso, wie ich kein anderes Lebewesen sehen kann, kann ich auch keines hören. Auch andere Geräusche, wie aus einer Fabrik oder von einem Auto, sind nicht wahrzunehmen. Es ist absolut still. Es ist so still, dass ich das Gefühl bekomme, diese Stille regelrecht hören zu können. Langsam wende ich meinen Kopf wieder in Richtung des Platzes, auf dem wohl mal, vor langer Zeit, Jahrmärkte und Wochenmärkte abgehalten wurden.

 

Der Wochenmarktplatz

 

Bedächtig gehe ich über die drei Fahrspuren der Straße zum Bürgersteig, wobei ich mich, bevor ich losgehe, nach rechts umschaue, um zu sehen, ob von dort ein Fahrzeug kommt. Ich überquere den Fußweg, schwinge mich über das verrostete Geländer, das den Platz vom Bürgersteig trennt, und gehe langsam über das Areal, in Richtung der Laterne, die in der Mitte des Platzes leuchtet. Wie ich schon von der Straße aus erkannt habe, ist der Asphalt an vielen Stellen aufgebrochen. Jetzt, wo ich über den Platz gehe, kann ich, in der Dunkelheit, richtige Baumsprösslinge erkennen, die sich durch den Belag durchgekämpft haben, und mir bereits teilweise bis zur Hüfte reichen. Ansonsten schauen viele Grashalme und einiges Gebüsch durch den aufgeplatzten Asphalt nach oben.

Einige runde Abfallkörbe aus verrostetem Gittergeflecht, umgestoßen, teilweise still auf dem Boden liegend, teilweise in einem leichten Wind etwas hin und her rollend, sind in der Dunkelheit zu sehen. Die Abfallkörbe, die im Wind sich bewegen, machen sogar ein leises, raschelndes Geräusch, das in der ansonsten absoluten Stille lauter klingt, als es wohl in Wirklichkeit ist. Der erste Laut, einmal von den Geräuschen meiner eigenen Schritte und dem Knacken, wenn ich auf eine Glasscherbe trete, abgesehen, den ich in dieser Stadt höre.

Ich gehe weiter über den Platz, aufpassend, dass ich nicht gegen die Kanten des aufgebrochenen Asphalts, wo er von Wurzeln und Büschen hochgedrückt worden ist, stoße, und nähere mich der Mitte des Platzes. Dort steht, schwach durch den funktionierenden Leuchtkörper der dortigen Laterne teilweise erhellt, eine Tisch-Bank-Kombination aus Holz. Trotz des geringen Lichts kann ich erkennen, dass diese Sitzgelegenheit dabei ist, sich aufzulösen. Viele Jahre haben das Holz angegriffen, einige Sitzbretter, so wie Latten von dem Tisch, sind durchgebrochen. Vielleicht hat hier mal eine Würstchenbude gestanden, damals, als es hier noch einen Jahrmarkt oder Wochenmarkt gegeben hat. Eine Würstchenbude, und die hungrigen Besucher des Marktes haben sich an diesen Tisch gesetzt, um sich kurz zu stärken. Dass der Tisch noch aufrecht steht, liegt wohl nur daran, dass er um den Mast der Laterne herum gebaut ist, die, durch ein Loch in dem Tisch, aufrecht über mir, gen Himmel ragt.

Ich schaue hoch zu der Laterne. Vier Arme gehen von ihr, am oberen Ende des Mastes, in alle vier Richtungen ab, zu den Leuchtvorrichtungen. Drei der vier Leuchten sind dunkel. Eine der Leuchtkörper, die, die noch brennt, hat noch die Glaskuppel, die das Innenleben der Leuchte schützt; die anderen drei haben ihre Kuppeln bereits verloren. Keine der Leuchten, die ihre Glaskuppel verloren haben, hat noch ihre Leuchtbirne im Gehäuse. In zwei der defekten Leuchten sind die Gewindefassungen für den jeweiligen Leuchtkörper, bestehend aus weißem Porzellan, noch an dem Gehäuse befestigt, zu sehen; bei der vierten Leuchte, der Dritten ohne Glaskuppel, hängt sie, an einem Kabel befestigt, nach unten, und bewegt sich sanft im Wind.

Ich schaue mich um. Die Straße, von der ich gekommen bin, liegt, nur spärlich von den wenigen Straßenlaternen erhellt, die an deren Seiten an den Fußwegen sowie auf dem Mittelstreifen stehen und noch funktionieren, einsam hinter mir. Rechts, mittig am rechten Rand des Platzes, steht, etwas schief, eine riesige Plakatwand. Die Plakatwand ist nicht komplett mit Bekanntmachungen zu gekleistert. Man kann die dunkle aufgeweichte Holz- oder Spanplatte erkennen, auf denen die Plakate aufgeklebt sind. Teilweise hängen die Aushänge nur noch in Fetzen an der Platte. Die losgelösten Teile der Plakate wehen leicht im Wind. Hinter der Plakatwand befindet sich ein hohes Gitter, als Abgrenzung zum nächsten Grundstück, auf dem eines der Hochhäuser steht, wie sie hier überall an der Straße stehen, ohne Licht in einem

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: © Berthold Kogge
Cover: © Berthold Kogge
Tag der Veröffentlichung: 09.05.2019
ISBN: 978-3-7487-0346-4

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