Gegen den Wind gesprochen klingt alles, als ob die Stimme einen längst eingeholt hätte, hinter einem wäre. Als ob die Ohren viel zu weit vorne wären und man bloß dastehen und darauf warten würde, dass jemand vorbeikommt, der einem sagt „Geh doch weiter nach hinten, damit du auch hörst, was du sagst“.
Er stand oben auf einem Berg, links neben ihm ein Kreuz, das den Gipfel markierte. Es war nicht einfach, sich nicht von der Stelle zu bewegen, da der Wind drehte und ihn von allen Seiten hielt und andererseits in alle Richtungen drückte, sodass er den Halt, den er gerne gefunden hätte, einfach nicht fand, ähnlich einer Fliege, die sich in einem Spinnennetz verfing.
Er stand da und wartete – auf was, das wusste wohl niemand. Wahrscheinlich auf ein „Zeichen“, denn das wollen wohl alle finden oder sehen, wenn sie kurz ihren Weg verloren haben und in Routine stillstehen.
Es war nicht einfach, sich gegen den Wind zu sträuben. Rund um ihm zogen Krähen ihre Kreise, ebenso wie er, obwohl wahrscheinlich eher unabsichtlich dem Wind ausgesetzt. Ob sie wohl wussten, dass es nicht an ihnen lag, dass sie ihr fernes oder nahes Ziel nicht auf dem kürzesten Weg erreichten? – vielleicht wussten sie es, oder wussten zumindest die Kraft besser als die Menschen zu nutzen, die sie vielleicht sogar ohne Anstrengung dorthin bringen würde, wo ihr Schicksal sie haben wollte.
Lange Zeit über stand er stumm da, sein Körper war in den Wind gepresst, beide Hände tief in den Hosentaschen und er wollte eigentlich solange warten, bis er eines seiner Beine bewegen musste. Sein „Zeichen“ eben. Doch soweit kam es noch nicht – etwas anderes war stärker. Es war eine Hand, die sich auf seine linke Schulter legte und eine Stimme, die meinte, dass es wohl genug sei, stumm im Wind zu stehen. Er nahm die Hand beiseite – „lass mich noch kurz“.
Wie diese Worte wohl ankommen würden, dachte er sich. Vielleicht würden sie gar nicht ankommen, da der Wind sie einfach an allem vorbeitragen würde, weit nach hinten, weit nach dorthin, wo sie niemand mehr hören könnte, oder vielleicht doch, aber der- oder diejenige, der sie mit einem oder beiden Ohren auffing, den Sinn wohl nicht verstand.
Wie wäre es wohl, wenn Worte nicht vergänglich wären, dachte er sich - wenn seine Worte, wie ein Blatt im Fluss, ihren Weg aufnehmen würden und kilometerweit fortgetragen, irgendjemandem „lass mich noch kurz“ ins Ohr flüstern würden.
Andererseits wäre es verständlicher, als „Geld her, das ist ein Überfall!“. Das wären Worte, mit denen die Mehrheit der Menschen wohl eher wenig damit anfangen würden könne, wenn sie einem grad von irgendwo her ins Ohr geblasen werden würden.
Er schon.
Seit über 15 Jahren war er Bankangestellter; stets bemüht, seinen Weg zu machen, den Menschen freundlich gegenüber zu treten und immer wieder an dem Gedanken zehrend, mehr oder weniger bald die nächste Gehaltserhöhung zu erhalten, um eigentlich immer einen kleinen Schritt in der Vergangenheit zu leben – den kaum wurde sein Gehalt erhöht, dachte er schon wieder an seinen nächsten Sprung, die Karriereleiter ein Stück weiter empor zu klettern.
Eigentlich dachte er nie daran, ob das wohl alles sei.
Haus, Familie und ein gutes Einkommen – mehr wollte er nicht – dachte er. Außerdem fehlte noch immer das Haus, die Familie und ein gutes Einkommen.
Selbst wenn man genug verdient, würde es auch nicht schaden, noch - und wenn auch wirklich nur etwas mehr zu verdienen.
Sein „Haus“ war seine Eigentumswohnung, die zum Glück in wenigen Jahren abbezahlt wäre und „Familie“ war seine Freundin, obwohl er sie meist nur am Wochenende sah, da sie als Modedesignerin den Großteil ihrer Zeit auf Modeschauen verbrachte, um sich neue Inspirationen zu holen.
Das war es, sein Leben und ist es. Das einzige, was sich vor kurzem änderte, waren seine Gedanken.
Knapp zwei Wochen war es nun her, als er kurz vor Dienstschluss, aushilfsweise am Schalter seiner Bank stand, nachdem eine Mitarbeiterin ausgefallen war. Für ihn war es schon immer „seine“ Bank, da sein Vater eine der leitenden Funktionen inne hatte und er schon als Kind nahezu jeden Tag kurz seinen Vater besuchte. Es faszinierte ihn, an Zahlen zu denken und mit ihnen zu denken, da es eine andere Art ist, seine Gedanken abzuschalten. Während andere seiner Jugendfreunde daran dachten, große Fussballspieler zu werden und somit einem Traum hinterherdachten, wusste er bereits damals, dass er seinen Traum erreichen würde. Nicht deshalb, weil es vermutlich einfacher war, in der Bank seines Vaters unterzukommen, sondern weil es für ihn genau das war, was er sich realistisch erträumen konnte.
So kam es dann letztendlich dazu, dass er in der Bank seines Vaters zu arbeiten begann. Er hatte ihm viel zu verdanken, dachte er sich und wusste insgeheim, dass er selbst einmal an der Stelle seines Vaters stehen würde.
Doch, dass dieser Tag sobald schon kommen würde, hatte er nicht geahnt – wie auch? Außerdem waren es die falschen Voraussetzungen.
Eigentlich kümmerte er sich um Großanleger, weit hinter dem Schalter, in einem kleinen, ihm mittlerweile angepasstem Büro. Doch genau an diesem Tag, stürmte ein, mit einer Pistole bewaffneter, unter einer Schimütze versteckter Mann, etwa seines Alters, die Bank und forderte ihn auf, das Geld aus den Kassen in einen Sack zu geben und ihm zu überreichen.
Rund um ihn standen Kunden und drei andere Angestellte, doch ihm war es, als es in diesem Moment bloß ihn selbst und den maskierten Bankräuber geben würde – als ob Zeit kein Teil des Lebens wäre. Er wusste nicht, ob er atmen sollte, weder wusste er, wie er seinem Herzen mitteilen könne, dass es mal eben weniger laut schlagen sollte.
Was er aber wusste, war, dass es wohl besser wäre, das Geld in den Sack zu geben, um es dem Bankräuber zu übergeben, und das tat er.
An diesem Tag war auch sein Vater noch in der Bank. Nichts ahnend kam er aus seinem Büro, das sich links vom Eingang befand, gerade in dem Moment, als der Bankräuber die Bank verlassen wollte.
Mit dieser Situation hatten beide nicht gerechnet, und aus einem Reflex heraus handelte der Räuber, der plötzlich stehen blieb, da ihm der Vater unwollend den Weg versperrte und schoss ihm zweimal mitten in die Brust.
Sein Vater brach zusammen. Der Räuber verließ nach einem kurzen, andererseits viel zu langen, stillen Moment die Bank.
Ihm selbst kam es vor, als ob er einen Schleier vor Augen hatte und inmitten eines Feldes aus Nebel stand, der ihm beide Beine umschlingend keine Chance zu irgendeiner Bewegung ließ.
Vieles wusste er damals nicht und heute, an diesem Sonntagvormittag, wusste er, dass er ein Leben lang wohl um vieles zu wenig dachte.
„Hinter mir die Flut“ hieß es wohl damals für den Bankräuber, „rund um ihn die Flut“ hieß es wohl heute für ihn, als er auf dem Berg stand und von allen Seiten die Nebelschwaden aufzogen, um sich um den Gipfel des Berges zu verteilen.
Wahrscheinlich würden sie den Bankräuber niemals fangen, und dieser würde ebenso wahrscheinlich niemals darüber nachdenken, auf welche legale Art und Weise er seinen Lebensunterhalt verdienen sollte, denn dieser hatte einige Zeit lang ausgesorgt, da knapp siebenundzwanzigtausend, steuerfreie Euro, die sich damals zu diesem Zeitpunkt in den Kassen befanden, wohl reichen würden, um vielleicht sogar zwei Jahre davon zu leben - einige andere, kleine Diebstähle vorausgesetzt. Und dann würde er wohl die nächste Bank aufsuchen, und sein Spiel würde siegen, solange er nicht dabei erwischt werden würde – und wenn auch, selbst dann hätte er wahrscheinlich und wenn auch nur für sich selbst gewonnen, denn eigentlich würde es ja reichen, ein Dach über den Kopf zu haben und zumindest so viel an Essen zur Verfügung, dass man nicht verhungert.
Zwar würde er kein eigenes Haus, weder Familie, sowie ein Einkommen haben, doch wen würde das schon auf Dauer stören? Irgendwann akzeptiert man doch alles. Er hätte das, was lebensnotwendig wäre und nebenbei viel Zeit zum Denken.
Kurz kam ihm, währenddessen er noch immer auf sein „Zeichen“ wartete, der Gedanke, dass der Sinn des Lebens vielleicht darin bestünde, einfach zu denken – einfach zu sein. Doch dieser Gedanke verflog, als er hinter sich (!) die genervten Worte seiner Freundin hörte – „wir brauchen 2 Stunden ins Tal, und am Nachmittag wollten wir doch in die Sauna!“
Er verstand ihre Worte, obwohl sie sie gegen den Wind sprach, auch verstand er, dass er zu seinem Wort stehen sollte, da es eigentlich seine Idee war, am Nachmittag in die Sauna zu gehen, doch andererseits war ihm noch nicht danach und ebenso könnte sie doch wohl nicht annehmen, dass er hörte, was sie, weit hinter ihm sagte.
Vielleicht blieb er auch einfach deswegen stehen, da auch ein Freund von ihm mit am Berg war. Der könne sie doch unterhalten, bis sein „Zeichen“ ihn erreichte.
Zeit hatte er, er bekam drei Wochen Urlaub, mit einer begleitenden Therapie, die ihm helfen sollte, das Ereignis zu verstehen, besser gesagt zu überdauern. Irgendwann würde er nicht mehr daran denken, und das tat er auch nicht mehr. Er dachte viel eher ans „Denken“ und daran, wie er es wohl schaffen könnte, diese Gedanken dorthin zu lenken, wo sie ebenso, wie ein gefangener Bankräuber auf wenigem Platz auskommen würden.
Es fiel ihm schwer, nicht zu denken, obwohl er im Jugendalter ein Buch las, wo es darum ging, Gedankenflüsse zu stoppen – sich einfach „STOP“ zu denken und mit gedachten Worten zu sagen.
Eigentlich wollte er gar nicht auf sein „Geheimnis“ zurückgreifen, es war ihm im Moment viel lieber, einfach zu denken.
„Wenn man das macht, was man immer gemacht hat, bekommt man das, was man schon immer bekommen hat?“
Viele Menschen denken viele Gedanken.
Wer weiß wohl, wer es erfunden hat, „einfach zu denken“ zu denken. Helfen Gedanken? Meist hilft wohl die eigene Reaktion, die einen davor bewahrt, in gefährlichen Situationen spontan das richtige zu tun, auch wenn diese Aktion bloß ein kurzer Schritt in irgendeine der 4 Richtungen sei.
Es ist wohl nicht immer so – sein Vater machte damals den Schritt in die falsche Richtung, und das kostete ihn sein Leben.
Doch wer entscheidet schon, was sich richtig oder falsch nennen darf?
Was für das eine falsch erscheint, muss wohl auch für ein irgendetwas anderes richtig erscheinen.
Doch hatte er bis jetzt noch nicht viel „richtiges“ an seines Vaters Tod erdenken können.
Klar hatte es Vorteile, dass er gestorben war – wahrscheinlich würde nun er seinen Posten bekommen, doch konnte er es sich nicht einreden, dass sein Schicksal solch hohe Verluste als Einsatz für etwas „richtiges“ – besser gesagt, für ihn vorteilhafteres duldete.
Das schwierigste im Denken und Leben war und ist wohl schon seit langem, einfach loszulassen.
Der Nebel zog immer weiter rings um ihn auf und umschlang seine Beine, an denen sich mittlerweile schon kleine Dunstperlen sammelten, da er bloß eine kurze Wanderhose trug.
Und dann war es plötzlich da, sein „Zeichen“. Denn als er nichts anderes mehr sah, als diese grauen Schwaden fand er seine helfenden Gedanken, als ob der Nebel durch seine Kopfhaut dringen und sie ihm zublasen würde.
Er kam sich vor wie ein Säugling im Bauch seiner Mutter, blind und eigentlich hilflos, aber voller Wärme, die er rund um sich fühlte. Seinen Vater konnte ihm wohl niemand mehr zurückgeben, doch alleine würde er immer sein, unter vielen Menschen. Alleine und doch viel „zu gemeinsam“.
Plötzlich „vergaß“ er zu denken und akzeptierte es einfach, das „ist“ – denn eigentlich war es nicht mehr oder weniger, als einfach auf diesem Berg zu stehen.
Langsam zog der Nebel ab.
Texte: Copyrigth @ me
Tag der Veröffentlichung: 05.01.2011
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