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1. Kapitel (Jean)


Mir war durchaus bewusst, welche Konsequenzen meine Tat mit sich bringen würde.
Doch nicht für mich.
Die anderen würden damit umgehen müssen, sie waren diejenigen, die vor meinem Grab stehen würden und sich fragen, warum ich sie verlassen habe.
Der Grund war einfach. So einfach, dass keiner darauf kommen würde.
Ich denke, eine Gegenfrage würde das beantworten.
Wieso leben wir?
Menschen sind aus reinem Zufall erstanden. Unsere Existent ist nicht geplant worden. Leben tun wir nur, um uns fortzupflanzen. Wir sind ein Mittel zum Zweck.
Nicht mehr, nicht weniger.
Also hat das Leben so gesehen keinen Sinn. Und ich bin kein Mensch, der sinnlose Dinge tat, die dazu auch noch mehr Nach- als Vorteile hatten.
Und so kam es, dass ich auf dieser Brücke stand; nur einen Schritt vom Tod entfernt.
Der Wind peitschte mir meine schulterlangen, haselnussbraunen Locken ins Gesicht und beeinträchtigte meine Sicht auf das dunkle Wasser vor meinen Füßen.
Nur ein Schritt, schoss es mir durch den Kopf.
Ich fragte mich, was wohl auf meinen Grabstein stehen würde. Höchstwahrscheinlich etwas in der Art wie „Jean Felisitas Lopane; Ruhe in Frieden“
Ja, mein Name war in der Tat Jean. Was sich meine Eltern dabei gedacht haben, wusste ich nicht aber sicher war, der Name passte weder zu meinem Aussehen, noch zu meinem Charakter.
Fakt war, Jean Felisitas Lopane würde den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr miterleben. Ich würde nie wieder das Lachen kleiner Kinder hören; nie wieder das Lächeln meiner Eltern sehen und nie wieder Schmerz fühlen.
Und das war auch gut so.
An ein Leben nach dem Tod glaubte ich sowieso nicht.
Wie sollte ich auch an etwas glauben, wofür es keine Beweise gab?
Selbst wenn es ein Leben nach dem Tod gäbe, es würde nicht so sein, wie es dich die Menschen ausmalen. Wie denn auch? Woher sollten sie wissen, dass es einen Himmel und eine Hölle gab, wenn noch Niemand von dort zurückgekommen ist?
Das Unsinnigste daran war, wenn es nach dem Glauben einiger Leute so etwas wie Himmel und Hölle gab, müsste man die Menschen in Gut und Böse einteilen.
Dabei war gut und böse relativ. Genauso wie schön und hässlich, war gut und böse Sache des Blickwinkels. So etwas konnte man nicht definieren, weil jeder Mensch und jedes Wesen seine eigene Auffassung von all diesen Adjektiven hatte.
Zurück zum Geschehen, ich war kurz davor, Selbstmord zu begehen.
„Die war doch eh verrückt. Kein Wunder, dass sie sich das Leben genommen hat. nur noch Irre auf diesem Planeten“, würden sie sagen und seufzend die Köpfe schütteln.
„Verrückt“ war dann doch etwas übertrieben. Nur weil ich anders war.
Nur weil ich einen anderen Blickwinkel zum Geschehenen hatte.
Ich war anders als eine sechszehnjährige Durchschnittsbürgerin aus Hüttenfeld.
Und ich war stolz darauf.
„Wer mit dem Strom schwimmt, geht mit der Zeit unter“
Es war nie meine Absicht gewesen, aufzufallen und anders zu sein.
Aber wieso sollte ich mich anpassen, wenn ich von klein aus nicht so war, wie die meisten anderen? Ich habe meinen eigenen Kopf und genug Stolz, um anderen Leuten nicht hinterher zulaufen.
Wurde ich etwa dafür verachtet, dass ich mich nicht beeinflussen ließ?
Wie lächerlich. Dabei ist Anpassung doch das Problem der Menschen.
Wir waren nicht in der Lage, uns an die Natur anzupassen ohne sie zu zerstören.
Paradox; ein besser passendes Wort viel mir im Moment nicht ein.
Was vielleicht daran lag, dass ich kurz davor war, mit meinem Leben abzuschließen.
Da hatte ich über besseres nachzudenken, als über die Dummheit der Menschen.
Ich rede ja über sie, als wäre ich selbst keiner. Die Vorstellung, als ein wildes Tier frei durch die Wälder zu streifen, gefiel mir weitaus mehr als die Realität.
Aber ich hatte besseres zu tun, als in Träumereien zu versinken.
Es wunderte mich, dass kein einziges Auto zu hören war.
Ich schaute mich um und entdeckte…
Nichts!
Keine Menschenseele war zu sehen. Mir hätte eigentlich schon längst auffallen sollen, dass es zu ruhig war. Aber ich musste ja unbedingt in Gedanken versinken.
Irgendetwas stimmte hier nicht. Es war zwar Nacht, da war es verständlich, dass wenig los war, aber mein Gefühl sagte mir, dass etwas ganz und gar nicht stimmte und auf mein Gefühl war immer verlass; eines der wenigen Dinge, die ich auch ohne Erklärung hinnahm, wie unwirklich sie auch schienen.
Nachdem ich mich mehrmals umgesehen habe, beschloss ich, dass es Zeit war.
Der Mond leuchtete in seiner vollen Pracht und ließ das Wasser silbern glitzern.
Ein schöner Anblick, aber der Schein trügt.
Unter der Oberfläche stachen Spitze Felsen aus dem Boden und machten ein Bad im Fluss zu einem tödlichen Unterfangen. Durch den Regen in der letzten Nacht war das Wasser gestiegen und verdeckte den Stein, der lauernd darauf wartete jemanden aufzuspießen. Und ich hatte vor, den Felsen diesen Gefallen zu tun.
Viel Zeit hatte ich nicht mehr. Es war bereits nach Mitternacht und man würde mich suchen, wenn ich nicht auf der Klassenparty, die monatlich stattfand, erschien.
Das wolle ich auf jeden Fall vermeiden. Nicht, weil ich denke, dass sie mich aufhalten würden. Nein, sie würden mich eher auslachen.
Aber es zerstörte den letzten Augenblick meines Lebens.
Umgeben von betrunkenen Jugendlichen sterben? Es gab würdevollere Situationen und auch ich besaß meinen Stolz.
So dauert das noch Jahre! Seufzend fuhr ich mir mit der Hand durch die Haare und verbannte jeden Gedanken aus meinem Kopf; dachte nur noch an das kalte Wasser vor mir.
Ein Schritt; nur ein kleiner Schritt.
Der Schrei einer Eule zerriss die Stille und ließ mich erschrocken zusammenfahren.
Ich hörte Schritte die sich auf mich zu bewegten.
Jetzt! Schrie eine Stimme in mir.
Ich nahm all meinen Mut zusammen und spannte meine Muskeln an.
Und dann sprang ich.
Hinein in meinen Tod, in die Erlösung

2. Kapitel (Ayn)

 

Es war eng, das konnte ich nicht ausstehen, ganz und gar nicht.
Die Stimmen wirbelten nur so um mich herum, am liebsten wäre ich so schnell wie möglich aus der so genannten Mensa verschwunden, doch ich tat es nicht. Noch nicht. Ein klirren tränkte sich an die Oberfläche meines Bewusstseins und ich war fast schon erleichtert als ich die harte kühle Oberfläche meines Stuhls fühlte, auf dem ich saß.
Meine Hände glitten über das Metal, erst über den Stuhl und dann über den Tisch. In der Halle hier waren überall Tische aufgestellt, aufgereiht, geometrisch.
Die Wände waren Weiß gestrichen, insgesamt wirkte es einfach nur kalt und gefühllos. Ich hasste die Farbe weiß.
Weiß, die Farbe der Unschuld, der Reinheit und doch war es hier zu Rein für meinen Geschmack.
"Ayn?"
Innerlich zuckte ich zusammen, doch von außen hin blieb ich ruhig.
Ich blickte in ein Blasses Gesicht, der Jungen der dort stand sah ich gerade zum ersten mal.
Woher kannte er meinen Namen?
Ich starrte in an, merkte kaum wie eine Blonde Strähne sich von meinem Zopf löste, denn ich morgens schnell zusammen gebunden hatte und nun in meiner Tagessuppe hing.
Jetzt war es wieder da, dieses Gefühl der Enge. Das Gefühl vor dem ich immer Geflohen bin. Der Junge hatte sich wieder weg gedreht, verwirrt starrte ich auf seinen Hinterkopf.
Hatte er wirklich mich gemeint? Und wenn, woher hatte er meinen Namen?
Ich konnte es nicht leiden wenn jemand Fremdes mehr über mich wusste als ich über ihn.
Flieh! Flüsterte es in meinen Kopf. Ich wusste das sie mich angelogen hatten, die Stimmen würden nicht weg gehen, sie bleiben, für immer. Ich biss mir auf die Lippe und verbannte das Geflüster in meinem Hirn für einen kurzen Augenblick. Der Arzt hatte nichts gefunden, mein Gehirn war völlig in Ordnung, also wieso schickten sie mich hier her? An diesen Ort, diese Klinik im Odenwald, sie ist gefährlich.
Instinktiv musste ich an Caro denken, sie war die einzige gewesen der ich mich anvertraut hab, sie hatte eine starke Persönlichkeit. Doch nun war sie weg, so wie die andern. Sie hatte es von uns am längsten ausgehalten, fast zwei Jahre. Noch immer hatte ich das Bild vor Augen, die erschrockenen Gesichter als wir gemerkt hatten, das sie weg war. Fort - für immer. Ich seufzte und nun war der Moment in dem ich aufstand und aus dem Raum stürzen sollte.
Noch einmal blickte ich zu dem Jungen, er unterhielt sich leise mit seinem Nachbarn, ich würde gerne hören was sie redeten.
Flieh…
Ja verdammt Fliehen, das sollte ich tun, doch wohin und wie?
Mein Gehirn arbeitete, der erste Schritt den ich machen musste war erstmal aus der Cafeteria zu verschwinden. Mein Stuhl quwitschte unangenehm, als ich aufstand. Ein paar blicke fielen auf mich.
Schaut mich nicht so an. Meine Hände ballten sich zu Fäusten.
Mit schnellen Schritten wand ich mich durch das Gewirr von Tischen und Menschen, ich erblickte die Tür. Die Farbe war nicht weiß, so wie das meiste hier. Nein, sie war Hellblau, mit einer milchigen Glasscheibe. Sie erinnerte mich immer daran, das es noch andere Farben gab.
Der Flur draußen war Leer, hier war es still, kurz blieb ich stehen und Atmete ein und wieder aus. Ich löste den Gummi von meinem Zopf und mir vielen lange blonde Haare ins Gesicht. Dann hörte ich Schritte hinter mir und ich schaute mich um. Eine Frau stand dort, sie schaute mich an als wäre ich ein Alien.
Es war Marie, die Betreuerin, die Aufpasserin, ich konnte sie nicht leiden und ich war mit dieser Meinung nicht allein. Sie hatte eine Spitze Nase, auf der eine Eckige Brille Thronte und ihre Haare waren zu einem strengen Dutt zusammen gebunden, aus dem eine einzelne graue Strähne hing.
"Ayn Frost! Was machen sie hier draußen?"
Mist, ich schaute Marie ins Gesicht, sie hatte ihre Stirn in Falten gelegt und sah nun aus wie ein schrumpliger Elefant.
"Ich würde gerne in mein Zimmer." antwortete ich wahrheitsgemäß. Die Frau machte ein seltsames Geräusch und ich wurde langsam ungeduldig.
Ayn, flieh. Dieser Ort ist böse.
Das sagten sie mir immer wieder, die Stimmen, aber nie wieso. Was stimmte hier nicht?
Mal davon abgesehen, das hier immer Leute einfach so verschwanden und nie wieder gesehen werden.
Fast hätte ich gelacht, das klang so absurd, aber wer weis, hier gab es Räume in der Klink, Ecken und Winkel in denen noch nie jemand von uns gewesen war.
"Gut, aber nur in ihr Zimmer Miss Frost." klang die Stimme von Marie an meine Ohren. Leicht abwesend nickte ich und lief los, ich merkte nicht mal wie ich schneller wurde bis ich um die Ecke ging und los rannte.
Flieh. Ich werde es versuchen, doch ich brauchte einen Plan. Ich musste an Marie vorbei, sie war klug und streng, wer weis was passieren würde wenn sie mich erwischte

3. Kapitel (Jean)


Es war dunkel. Eigentlich mochte ich Dunkelheit, aber das war Etwas anderes.
So erdrückend. Schwer.
Wie ein Blitz durchfuhr mich die Erinnerung.

Ein Schritt; nur ein kleiner Schritt.
Der Schrei einer Eule zerriss die Stille und ließ mich erschrocken zusammenfahren.
Ich hörte Schritte die sich auf mich zu bewegten.
Jetzt! Schrie eine Stimme in mir.
Ich nahm all meinen Mut zusammen und spannte meine Muskeln an.
Und dann sprang ich.
Hinein in meinen Tod, in die Erlösung


So hatte ich mir den Tod nicht vorgestellt. Natürlich nicht, ich war nämlich gar nicht tot. Wie Ich darauf komme?
Funktioniert das Gehirn, wenn man tot ist?
Kann man denken, wenn man tot ist?
Nein. Dementsprechend war ich noch nicht tot. Außerdem war das in wirklich allen Geschichten so, dass nach einem Selbstmordversuch als Erstes der Satz „So habe ich mir den Tod nicht vorgestellt“ folgt und danach stellt sich raus, dass man gar nicht tot ist. Ich habe anscheinend zu viele solcher Geschichten gelesen, wenn das das Einzige war, worüber ich nach einem gescheiterten Selbstmordversuch nachdachte.
Und wie üblich in solchen Erzählungen kam jetzt der Part, wo man anfing die Umgebung wahrzunehmen und zu bemerken, dass man in einem Krankenhaus lag.
Tatsächlich; ein nerviges Piepen drang in mein Unterbewusstsein.
Und erst jetzt kam der Schock.
Ich war nicht tot…
Ausgerechnet Ich wurde vom Tod verschont. Es sind schon mehr als nur ein paar Leute in dem Fluss ertrunken. Und Ich? Ich konnte mich einfach auf die Felsen stürzen und überlebte es.
Ironie des Schicksals. Anstatt tot im Fluss zu liegen, musste ich mir piepende Geräte anhören und darauf warten, die Kontrolle über meinen Körper zurückzubekommen.
Ich hatte keinen Plan B. Wieso sollte ich bedenken, was zu tun war, falls ich bei einer 90prozentigen Sterbechance überlebe?
Wenigstens war ich ein Mensch, der nicht schnell in Panik geriet und einen kühlen Kopf bewahren konnte. Gerade wollte ich anfangen zu überlegen, wie ich das meinen Eltern erklären sollte aber dazu sollte es anscheinend nicht kommen.
Schlagartig und scheinbar aus dem Nichts stürzten alle meine Sinne auf mich ein.
Der Geruch von Krankenhaus, verzehrtes Stimmengewirr, mein Körper, der sich anfühlte, wie Tonnen Stahl.
Erschrocken musste ich erstmal nach Luft schnappen und verzerrte mein Gesicht, als ich bei dieser Bewegung den Schmerz spürte, der sich durch meinen Brustkorb zog. Die Geräte, an die ich angeschlossen war, registrierten dies und fingen an, noch lauter und energischer zu Piepen.
Das Stimmengewirr verschwand, nur um nach einer kleinen Sekunde der Stille wieder zurückzukehren. Ich konnte weder verstehen, was gesagt wurde, noch war ich in der Lage, die Stimmen mir bekannten Personen zuzuordnen. Die Geräte verstummten und ich war froh darüber. Hätte ich mir das noch länger anhören müssen, wäre ich ausgerastet. Innerlich versteht sich.
Ich konnte zwar Nichts sehen, aber ich spürte, dass alle oder zumindest viele der Anwesenden um mich herumstanden und mich beobachteten.
Und das war ganz und gar nicht angenehm. Als würde man mit Blicken durchlöchert werden. Waren wir hier in einem Museum? Gut, ich reagierte über. Langsam aber sicher machte sich meine Panik doch bemerkbar.
Ich atmete tief durch. Doch leider vergaß ich dabei meine Verletzungen und spürte wieder den Schmerz.
„Nicht tief einatmen“ notierte ich mir in Gedanken.
Jetzt musste schnell eine Ausrede her. Lügen war zwar nicht meine Stärke und ich verabscheute es, aber eine Notlüge war noch gestattet.
Vorsichtig versuchte ich, meine Hand zu bewegen, darauf achtend, dass es den anderen nicht auffiel. Sonst hätte ich noch weniger Zeit mich auf die Fragen vorzubereiten. Mit einiger Mühe konnte ich wenigstens meinen kleinen Finger in die Luft strecken. So kam ich nicht weiter. Bis ich mich hier bewegen konnte, würden Jahre vergehen, und desto schneller ich das Verhör hinter mir hatte, desto besser.
Aber immer noch besser, als wenn ich jetzt alles überstürzte und mich dann vor Schmerzen krümmen würde. Wie hieß es doch so schön?
„Vorsicht ist besser als Nachsicht“
Erstmal alle Gedanken sammeln und dann Augen zu und durch.
Das Sprichwort war jetzt definitiv fehl am Platz, wenn man es wörtlich nehmen würde.
Genau aus diesem Grund verabscheute ich sie. Ich wollte gar nicht wissen, was man mir hier gespritzt hatte, wenn ich genau das tat, was ich bei anderen Personen abgrundtief hasste. Und schon wieder versank ich in Gedanken.
Das sollte ich mir abgewöhnen. Ich kam so oder so immer nur zu demselben Schluss. Die Menschheit war dumm und schlau zugleich und ich wäre am liebsten ein wildes Tier.
Der leichte Druck auf meiner Hand hielt mich davon ab, wieder in Gedanken zu versinken. Die Wörter wurden verständlicher und ich konnte verstehen, über was geredet wurde. Nun ja, es war mir vorher schon bewusst.
„Sie wacht wieder auf“, wahrscheinlich ein Arzt.
„Oh Gott sei dank“, meine Mutter. Sie klang erleichtert. Konnte ich ihr auch nicht übel nehmen, ich war schließlich ihre Tochter. Aber es wäre mir dennoch lieber gewesen, es wäre ihr egal. „Mach die Augen auf, Schatz. Bitte!“
Würde ich ja zu gerne, aber leider wollte ich ihr Gesicht nicht sehen. Das klang hart, war aber Nichts außer der Wahrheit.
Mittlerweile hatte ich mich wieder vollkommen unter Kontrolle.
Ich könnte jetzt meine Augen aufmachen, wenn ich wollte. Genau das sollte ich vielleicht auch tun.
Langsam hoben sich meine Lieder und ich blickte in das besorgte Gesicht meiner Mutter. Außer ihr waren keine anderen Personen im Raum. Wahrscheinlich war der Arzt wieder gegangen. Ihre Augen weiteten sich und sie flüsterte kaum hörbar:“ Bist du wach?“
Nein, wie kommt sie denn darauf? Geister haben mein Gehirn übernommen.
Auf dumme Fragen gab es eben dumme Antworten. Das konnte ich ihr aber schlecht sagen, also nickte ich einfach nur leicht. Kaum hatte ich mich im Raum umgesehen, da wurde ich auch schon umarmt. Erschrocken quietschte ich auf. Ich hasse
körperliche Nähe. Es sprach gegen meinen Instinkt, mich nicht zu wehren aber ich wollte mir die Schmerzen, die höchstwahrscheinlich darauf folgen würden, ersparen.
„Wieso tust du so was? Weist du, was du uns allen für einen Schrecken eingejagt hast?“ Und schon schaltete ich auf Durchzug. Vielleicht musste ich ja Nichts erklären. Nicht verraten, was mich solch einer Tat getrieben hat.
Meine Hoffnungen wurden zerstört, als sie mich wütend anschaute und darauf wartete, dass ich ihr antworte. ‚Auf dumm stellen’ kam mir die spontane Idee.
Also fragte ich:“ Wieso habe ich was getan? Ich verstehe nicht, was du meinst.“
Meine Stimme klang zwar etwas trocken, aber aus meiner Sicht relativ glaubwürdig.
Jetzt musste ich nur noch hoffen, dass meine Mutter es mir glaubte. Wenn sie es glaubte, glaubte es jeder.
„Na, warum hast du versucht, dich umzubringen?“, fragte sie verwirrt.
Gespielt entsetzt starrte ich sie an. „Ich wollte mich doch nicht umbringen! Wo denkst du hin? Ich wollte nur kurz meine Ruhe haben und bin dann ausgerutscht.“
Jetzt war es an meiner Mutter, mich anzustarren.
Dann würde ihr Gesichtsausdruck wütend. Oh Nein…
„Wie kannst du es wagen, mich zu belügen? Für wie bescheuert hältst du mich eigentlich?“, fuhr sie mich an. Mein Plan viel ins Wasser. Dafür kannte mich meine Mutter einfach zu gut. Beschämt senkte ich meinen Kopf. Tolle Sache, verwundet im Krankenhaus zu liegen und angeschrieen zu werden.
Es lebe der Sarkasmus.
Seufzend fuhr sie sich durch die Haare. „So wie es aussieht bekomme ich Nichts aus dir heraus.“ Jetzt war ich verwirrt. Warum löcherte sie mich nicht mit Fragen?
Die Alarmglocken in meinem Kopf fingen an, zu schrillen, als meine Mutter den Mund öffnete. „Du wirst es mir nicht erzählen müssen.“, zischte sie, “ Du wirst mich überhaupt nicht mehr sehen müssen!“
Wie meinte sie das? Was sollte das heißen? Langsam bekam ich Angst und mein alarmierendes Gefühl machte es nur schlimmer. Zuerst umarmte sie mich und dann verkündete sie mir, dass ich sie nie wieder sehen müsste? Was stimmte nicht mit dieser Frau? Belustigt sah sie mir dabei zu, wie ich den Mund öffnete und ihn gleich darauf wieder schloss. „Du erwartest eine Erklärung, nicht wahr?“ Natürlich was denn sonst. „Nachdem du aus dem Krankenhaus entlassen wirst, kommst du in die Klapse.“, verriet sie es mir letztendlich mit einem diabolischem Grinsen im Gesicht.
„WAAAAS?“

4. Kapitel (Ayn)


Es surrte leise und die grellen Lichter blendeten mich, schnell kniff ich die Augen zusammen. Das Licht hier war so unnatürlich.
Nicht etwa so wie die sanfte helle der Sonne oder des eines knisternden Feuers. Blinzelnd öffnete ich die Augen und merke, dass ich auf der harten Matratze lag, die mein Bett darstellen sollte. Mühsam setze ich mich auf. Jeder hier hatte einen kleinen Raum. Weiß, steril, kalt - Gefühllos.
Von irgendwoher hörte ich leises Geflüster, zu erst vermutete ich das es wieder die Stimmen aus meinen Kopf waren, aber dieses Geflüster war anders. Deutlicher. Die Tür zum Flur war offen. Wieso das? Eigentlich waren sie zu der Zeit fest verschlossen. Neugierig schaute ich hinaus auf den Flur.
Ein Schauder lief über meinen Rücken, dort stand der Junge aus der Mensa, blas mit rötlichen Haaren und spitzem Gesicht und…
Er redete mit Marie.
Angestrengt versuchte ich das Gespräch zu verstehen, doch ich konnte nur Bruchstücke herausfiltern. Komisch das sie sich so leise unterhielten, eigentlich sollten man davon ausgehen das sie hier kein Mensch hören konnte, schließlich sollten die Türen ja verschlossen sein.
"Es ist wohl ein ziemlich schwerer fall." hörte ich Marie sagen.
Schwer? Was verstand sie darunter?
Mann musste sich nur hier umschauen, jeder einzelne hier hat seine eigene Geschichte und unter dem begriff schwer, konnte man sich hier nichts vorstellen. Was auch immer.
Die Stimme in meinen Kopf hielt sich zurück und diesmal war ich ihr ziemlich dankbar dafür, ich hatte Angst sie zu hören.
"Wann hast du die Stimmen das erste mal gehört?" hatte mich der Arzt gefragt.
Wann? Schon immer. Wollte ich zu erst antworten, doch das war nicht wahr.
Ich konnte mich an fast gar nichts mehr erinnern, zwar wusste ich nicht genau was geschehen war, den mein Gehirn schützte mich vor der Erinnerung, wie mir der Arzt erklärte.
Komisch fand ich nur, das ich mich zwar an nichts erinnern kann, aber an die Tageszeit. Es war eine bewölkte Vollmond Nacht.
Ich fand es doch schon sehr seltsam, das ich mich so genau daran erinnern konnte… und das schreien, das schreien eines Kindes.
Nachdem Unfall in dieser Nacht kamen diese Stimmen, die mir nun schon so vertraut waren. Ich horchte in mich rein. Nichts.
Ein Auto das die schmale Landstraße entlang raste, um uns herum nur Bäume, die ihre Äste gierig nach dem Auto ausstreckten.
Ich merkte das ich keuchte und mich erfasste Übelkeit.
Warum erinnerte ich mich daran? Das war neu.
Flieh…!
Erleichtert stöhnte ich auf. Die Stimme holte mich immer aus meinen Gedanken.
Verschwommen nahm ich meine Umgebung war, mir war gar nicht bewusst gewesen das ich auf dem Boden saß. Benommen stand ich auf, fing mich aber gleich wieder als ich merkte das jemand im Raum war.
Ich konnte es nicht haben wenn jemand dachte das ich schwach sei. Ich schaute hoch um nach zu schauen wer herein gekommen war.
Ich biss mir auf die Lippe, es war Marie. Sie schaute mich misstrauisch an.
Warum bitte war sie misstrauisch? Eigentlich sollte ich doch diejenige sein die hier keinem traut… und was starrte sie mich so an? Das konnte ich gar nicht ab.
"Mir geht's gut." sagte ich fester als erwartet.
Die Betreuerin ging einen Schritt auf mich zu um mich genauer zu betrachten.
Ihr Parfüm stieg mir in die Nase. Unerträglich süß und meiner Meinung nach, etwas zu viel des guten. Der Junge der bei ihr stand funkelte mich böse an.
Was soll den das schon wieder? fragte ich mich und funkelte zurück.
"Sie sollte besser mal in Krankenzimmer vorbei schauen" kam es von Marie.
Ich wollte gerade etwas darauf antworten, als der Typ mich plötzlich am Arm zehrte.
Geht's eigentlich noch? Wütend rieß ich mich los.
Beherrsch dich Ayn.
"Ich sagte doch mir geht es gut." zischte ich.
"Na los gehen wir." brummte der Junge und verschwand, mit einem letzten Hasserfüllten blick, aus dem Zimmer.
Ich wusste nicht was das sollte. Wie konnte man jemanden so sehr hassen, den man nicht einmal kannte? Schließlich hatte ich ihn - außer heute in der Mensa, noch nie hier gesehen. Ich merkte wie die Verwirrung in mir aufstieg, als ich merkte das Marie immer noch vor mir stand.
Am liebsten hätte ich ihr ins Gesicht geschlagen, doch ich unterdrückte den drag und blickte sie einfach nur an.
Dan stolzierte sie aus dem Raum, ich wollte gerade erleichtert aufatmen, da macht sie auf dem Absatz kehrt.
"Da Caro weg ist…" Sie schwieg.
Unauffällig schnappte ich nach Luft. Caro? War das ihr ernst?
Ich wollte schon etwas erwidern, als sie fortfuhr.
"…wirst du eine neue Zimmernachbarin bekommen, schon morgen."
War es die, von dem sie geredet hatten?
Ich schluckte. Ich wollte keine neue Zimmernachbarin bekommen, ich wollte Caro. Doch sie war nicht da.
Ich hatte nicht bemerkt das Marie schon verschwunden war, so plötzlich wie sie verschwinden und auftauchen kann… das ist schon unheimlich. Ich blickte mich um. Mein Zimmer war genauso wie jedes andere hier auch. Leer & weiß.
Plötzlich flammte ein Stich von Heimweh in mir auf.
Reiß dich verdammt nochmals zusammen.
Ich würde von mir nicht behaupten das ich eine Einzelgängerin wäre, zum Beispiel jetzt fühlte ich mich verdammt einsam. Alle meine Sinne drangen mich dazu irgendetwas zu machen, ich kämpfte gegen den Impuls an zu schreien und schluckte den Kloß in meinem Hals kurzerhand runter.
Okay Ayn, denken wir mal prositiv, vielleicht ist die Neue gar nicht mal so schlimm. Vielleicht kann sie mir sogar helfen.
Nun, das wäre schon zu viel des guten, soviel Glück hatte ich nicht.
Glück hatte ich eigentlich so gesehen noch nie, wenn ich darüber nachdachte.
Seufzend schmiss ich mich auf mein Bett und versuchte, mit dem Gedanken im Hinterkopf, eine Neue in der Klink zu haben, einzuschlafen.

5.Kapitel (Jean)


Nervös trommelte ich mit meinen Fingern auf meinen Oberschenkeln rum, versuchte, mich auf das mir Bevorstehende vorzubereiten, soweit man sich darauf vorbereiten konnte.
Das Einzige, was ich wusste, war die Tatsache, dass das „Loch“, auf welches wir uns im Moment zubewegten, den Namen „Institut für seelische Gesundheit; Fürden“ trug. Nette Umschreibung für ein Irrenhaus.
Ungeduldig, wie meine Mutter war, fuhr sie viel zu schnell. Mehrmals schwankte das Auto gefährlich und näherte sich der massiven Wand aus Stämmen und dichtem Geäst, die drohte, jeden zu zerfetzen, der es wagte, vom Weg abzukommen. Allein schon dadurch, dass meine Mutter am Steuer saß, setze sich bei mir der Gedanke fest, sie wolle mich nicht nur loswerden, sondern tot sehen, ganz gleich, welchen Preis sie dafür zahlen musste, Hauptsache, ich würde sie nicht weiterhin mit meiner Existenz belästigen. Na toll; jetzt wurde ich auch noch paranoid. Und desto länger ich darüber nachdachte, desto deutlicher wurde mir bewusst, dass meine Mutter, mit der Entscheidung mich in die Irrenanstalt zu schicken, Recht hatte. Das erklärte jedoch nicht, warum sie so am Rad drehte. Nach meinem unfreiwilligen, drei Monate anhaltenden Krankenhausaufenthalt bekam ich nicht einmal die Gelegenheit, mich über das Institut zu informieren, geschweige denn, einen Fuß in mein Zimmer zu setzen. Als ich die Haustür aufschlug, standen meine Koffer bereits gepackt im Flur. Kaum hatte ich das Gebäude betreten, da schnappte sie sich die Gepäckstücke, schmiss sie in den Kofferraum und zerrte mich zurück ins Auto. Und nun saß ich hier, in einem Auto neben meiner verrückten Mutter, auf den Weg in mein neues „Zuhause“. Jedoch störte es mich nur, dass ich ohne jegliche Informationen da reingeschickt wurde.
Als ich meinen Blick wieder auf den trostlosen Asphaltstreifen vor mir gewand hatte, erblickte ich einen Betonklotz, welcher sich am Horizont erstreckte und größer wurde, desto näher wir kamen. „Wir sind gleich da.“, war der äußerst informative Kommentar meiner Mutter. Mir war durchaus bewusst, dass sie Fahrt nicht mehr lange dauern konnte. Ich besaß Augen und ich besaß ein Gehirn und stellt euch vor, ich war sogar in der Lage, beides zu benutzen.
Mich schauderte bei dem Gedanken, in dem Gebäude eingesperrt zu sein. Ich nahm einfach mal an, das Innere sah genauso grau, eintönig und langweilig aus, wie das Äußere.
Nach einigen Minuten waren wir weit genug gekommen, um Details erkennen zu können. Ein dicker Stacheldrahtzaun, der höher war, als die Klinik selbst, umgab das Haus und die Kameras, welche in gleichmäßigem Abstand darauf postiert waren, machten einen unbemerkten Fluchtversuch nahezu unmöglich. Die wenigen kleinen Fenster verliehen dem ganzem das Aussehen eines Gefängnisses. Da es auch noch so abgelegen lag, verstärkte dies, fehlten nur noch die Gitterstäbe.
Gerade wurde im Radio ein träges Lied angestimmt und als hätte das Schicksal auf diesen Moment gewartet, fing es an zu regnen, was die Situation schon beinahe in Melancholie tauchte und alles irreal schien. Aber da ich kein Mensch war, der leicht in Depressionen fiel, machte sich dies nur bei meiner emotional leicht manipulierbaren Mutter bemerkbar. Ohne jegliche mir bemerkbare Warnung fing sie an zu erzählen:“ Ich habe ihn geliebt. Hättest du ihn gekannt, ginge es dir nicht anders. Er war charmant, gutaussehend, hatte einen Sinn für Humor. Der typische Mädchenschwarm eben.
Das Leuchten in seinen Augen, wenn er sich freute. Die Grübchen in seinem
Gesicht, wenn er lachte.
Wir haben uns auf der Hochzeit meiner Schwester kennen gelernt.
Ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen. Der Duft von Rosen schlug mir entgegen, als ich die Halle betrat. Ich hatte ein schlichtes creme-farbenes Kleid an, ich wollte so wenig wie möglich auffallen. Im Mittelpunkt zu stehen machte mich unheimlich nervös und ich wollte mich vor den ganzen Leuten ja nicht zum Affen machen. Also hatte ich für den Tag geplant, meiner Schwester zu gratulieren und dann abzuhauen. Natürlich kam es anders. Wann läuft etwas denn schon wie geplant? Ich hatte dem Paar gratuliert und war dabei zu gehen. Und was dann kam, veränderte alles.“ Sie seufzte tief und ihr liefen Tränen über das Gesicht, die sie vergeblich versuchte zu unterdrücken. „ es war ein Fehler, deinem Vater nichts von dem Vorfall zu erzählen. Vielleicht würde er dann noch leben. Es ist schließlich kein Unfall gewesen. Vielleicht würden beide sogar noch Leben, hätte ich mich doch bloß…“ Jetzt wurde es mir zu viel. „Ich kenne die Geschichte schon. Reiß dich zusammen und hör auf rumzuheulen, wie eine Zwölfjährige.“, unterbrach ich sie letztendlich. Entgeistert starrte sie mich an. Noch nie hatte ich es gewagt, sie mit so einem Ton zu unterbrechen, aber die Anschuldigungen, die folgen würden, brachten mich immer wieder an den Rand des Wahnsinns.

6. Kapitel (Ayn)


Gruppensitzungen waren nie mein Ding gewesen, diese lästige hohe Stimme des Doktors machte mich wahnsinnig. Obwohl, es kommt darauf an, wie man Wahnsinn definierte. Ich saß steif auf meinem Stuhl, die Patienten saßen alle in einem Kreis und in der Mitte: Dr. James Anton. Er erinnerte vom Aussehen stark an Einstein und auf irgendeine Art und Weiße war er ziemlich gruselig.
„Nun, jeder erzählt etwas von sich und keine Angst, wir sind ja unter uns." sagte er mit schleimigem Unterton. Fast hätte ich gewürgt, mir wurde schlecht von seiner ständigen 'Wir sind beste Freunde, man kann sich alles erzählen' Nummer. Um mich abzulenken spielte ich an meinem Namensschild herum, auf dem Patientin: Ayn Frost stand. Dr. Anton, auch der Doc genannt, drehte sich langsam im Kreis und grinste in die Runde. „Na, will niemand anfangen?"
So bestimmt nicht, dachte ich und versuchte, so unauffällig wie möglich zu wirken.
Neben mir hustete jemand und ich warf demjenigen einen warnenden Blick zu. Es war ein kleines, ziemlich dünnes und blasses Mädchen, dessen Haare strohblond waren. Sie hatte ich schon mal gesehen, aber das war kein Wunder, man kannte innerhalb von einer Woche jeden aus der Klinik. Zumindest vom Sehen her.
Nur nicht auffallen. Was auch heißt, keine Geräusche machen. Auch nicht Husten, eine der ersten Regeln, die man hier lernen musste. Der Doc schaute in meine Richtung und am liebsten wäre ich sofort auf das Mädchen neben mir losgegangen, doch ich riss mich zusammen.
Dr. Anton kam näher und nun konnte ich seinen widerlichen Gestank riechen. Eine Mischung aus Schweiß, Zigaretten und etwas Undefinierbarem.
„Ayn Frost…" las er auf meinem Schild und beugte sich etwas näher als es nötig wäre über meine Brust.
Ich schluckte ein weiteres Würgen herunter und klammerte die Hände um den Stuhl.
Die anderen Patienten starrten mich an, den Doc eingeschlossen.
„Gut. Und was wollen sie wissen?" fragte ich pampig.
„Erzähl mir etwas über dich." sagte er mit süßig sanfter Stimme und ich runzelte die Stirn. Er wollte etwas wissen? Alles, was er wissen musste, stand in diesen Papieren, die ihre Mutter ausfüllen musste. Also schwieg ich.
Er runzelte die Stirn und befeuchtete mit der Zunge seine rissigen Lippen.
„Du weist, wenn du nicht willst, musst du nichts erzählen."
Schweigen.
„Aber es würde mich sehr freuen."
Ich hob leicht den Kopf und sah in herausfordernd an, ich hatte keine Lust mehr auf dieses Theater. Meine Vergangenheit gehörte mir und niemand anderem, besonders weil ich mich selbst an fast nichts mehr erinnern konnte, wie sollte ich dann jemand anderem davon erzählen?
Er seufzte. Gab er auf? Es sah so aus, aber ich blieb noch immer auf der Hut. Vorsichtig lockerte ich meine Hände, die schon fast wehtaten.
Der Doc stand wieder in der Mitte des Stuhlkreises und die ganze Szenerie erinnerte mich an die Stuhlkreise in der Grundschule, immer montags, wo jeder erzählen sollte was sie am Wochenende gemacht hatten. Fast hätte ich hysterisch gelacht, aber nur fast.
Die Zeit ging schleppend langsam vorbei. Der Doc hatte aufgehört mich zu befragen, doch ein Junge, dessen Name glaube ich Mike war, hatte nicht so viel Glück.
Nach gefühlten 3 Stunden hatte plötzlich das Mädchen neben mir angefangen zu Zittern und der Doc musste wohl oder übel die Sitzung beenden - und wir durften wieder auf unsere Zimmer gehen, endlich. Ich war nicht lange in dem kahlen weißen Raum, da war es mir auch schon wieder zu viel. Die Einsamkeit veranlasste einen dazu nachzudenken. Zwar versuchte ich mich ein wenig zu entspannen, doch die Mühe war vergeblich, seufzend vergrub ich den Kopf in das harte weiße Kissen.

Ich war nur ein paar Minuten wach und schon war mir langweilig, so langweilig, dass mir der Kopf davon brummte. Mit den Fingerspitzen trommelte ich auf das weiße Bettlaken und summte etwas vor mich hin, das sich anhörte wie "I need a hero." Allerdings fragte ich mich, ob sich die Melodie überbaut so anhörte, schließlich hatte ich schon seit Ewigkeiten keine Musik mehr gehört.
Wie lange ich so dalag wusste ich nicht, aber irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und erhob mich von der harten Matratze.
Eigentlich waren die Zimmer zu der Zeit immer abgeschlossen, aber mit einem kurzen Blick nach draußen, aus dem kleinem mit Gittern gesichertes Fenster öffnete ich die Tür und trat auf den Flur. Es war so einfach gewesen, zu einfach, Marie und ihre Leute auszutricksen. Ich hatte einfach ein Stück Pappe zwischen der Tür und dem Rahmen befestigt und die Tür hatte nur noch den Anschein verschlossen zu sein. Gegenüber von meinem Zimmer war eine Uhr befestigt und lies mich so immer wissen, wann die Betreuerin hier auftauchte. Es war drei Uhr am Nachmittag, ich hatte noch Zeit. Also eilte ich an den verschlossenen Türen vorbei, die Patienten darin seufzten, schrieen, stöhnten oder machten einfach gar nichts. Was auch immer sie machten, es war unerträglich. Plötzlich kam ich auf einen Gang, den ich nicht wieder erkannte, auch wenn diese fast alle gleich aussahen. Ich könnte schwören, hier noch nie gewesen zu sein.
Die orange Tür, die am Ende des Flures thronte, wirkte so deplatziert, dass ich kurz die Augen schließen musste und erst als ich sie wieder aufmachte, bemerkte ich, dass sie noch immer da war. Vorsichtig schaute ich mich um, doch niemand war zu sehen, also ging ich langsam auf diese Tür zu.
Was war schon dabei? Es gab schließlich nichts zu verlieren.
In der Mitte, der oberen Hälfte der Tür war ein Fenster, das stark an ein Bullauge erinnerte - vielleicht war es auch eines. Da schaute ich jetzt durch.
Der Junge aus der Mensa und bei ihm, das blonde blasse Mädchen aus der Gruppentherapie, wenn man das überhaupt eine Therapie nennen konnte.
Was hatten die beiden miteinander zu tun? Der Junge gehörte zu Marie, wie ich wusste. Aber das Mädchen?
Der Typ gab ihr etwas, das stark nach irgendwelchen Unterlagen aussah.
Was bitte sollte das denn?
Das Mädchen sah sehr mitgenommen aus und das sollte schon was heißen.
Da viel mir auf, dass die beiden sich nur umdrehen müssten und dann könnten sie mich sehen. Doch ich wagte nicht, mich zu bewegen, sondern versuchte zu verstehen was sie redeten. Ich schob die Tür einen Spalt breit auf und musste darauf vertrauen, dass jemand regelmäßig ölte.
Zu meiner Überraschung machte sie keinen Laut.
„…nicht reinschauen." konnte ich gerade so noch verstehen.
Ich war zu spät, das Gespräch war bereits beendet. Der Marie-Spion machte Anstalten, sich zur Tür zu bewegen und erst als ein Stechen durch mein Körper drang, merkte ich das ich nicht atmete.
Ich hatte das Atmen vergessen, also wirklich.
Schnell schaute ich mich um, aber verstecken konnte ich mich hier nirgendwo, was nicht sonderlich überraschend war. Also beschloss ich das einzig logische zu tun, ich rannte den Gang endlang und bog gerade um die Ecke. Eine Sekunde später, schwang die orange Tür auf und der Typ mit dem Mädchen traten heraus.

7. Kapitel (Jean)


Nach einigen Sekunden des Stillschweigens stieg ich aus dem Auto. Da meine Mutter immer noch keine Anstalten machte, sich zu bewegen, holte ich mein Gepäck selber aus dem Kofferraum. Während ich meine Koffer auf dem Boden abstellte, trat sie in die Bremse und raste weg, als hinge ihr Leben davon ab. Darüber konnte ich nur den Kopf schütteln. Dieses Verhalten wunderte mich jedoch nicht. Was war auch anderes von einer allein erziehenden Mutter im mittleren Alter, die sich wie eine fünfzehnjährige benahm, zu erwarten?
Mit jeweils einem Gepäckstück in der Hand wand ich mich dem Gebäude zu, welches aus dieser Nähe noch erdrückender schien.
Gerade, als ich mich fragen wollte, wie ich da reinkommen sollte, schwang die Tür mit einem grellen Quietschen auf und aus einem Mikrofon, welches direkt neben mir in der Erde steckte, vernahm ich die abgenutzte Stimme einer älteren Frau:“ Miss Lopane, bitte begeben sie sich mit ihrem Gepäck in den Innenhof und warten sie, bis jemand da ist, der sie zum Empfangstresen begleitet.“
Zögernd schritt ich durch das Tor. Fast schlagartig nahm ich die tiefe Aura wahr, welche das Gebäude umgab, es schütze wie eine Art Kokon, und mich von den Füßen zu reißen drohte.
Erschrocken zuckte ich zusammen, als das Tor mit einem ohrenbetäubenden Knall zuschlug; und das, ohne vorher zu quietschen, als wäre es extra dafür angefertigt, Besucher und Neuankömmlinge zu vergraulen. Einladend sah anders aus. Nicht ein Vogel war zu hören und genau das bereitete mir Sorgen. Eingeschüchtert drehte ich mich mehrmals im Kreis, um zu vergewissern, dass man mir kein Messer in den Rücken rammte. Jedoch zweifelte ich daran, dass ich mich gegen einen Unbewaffneten wehren könnte.
Während ich darauf wartete, dass mir jemand die Tür öffnete und mich durch einen Flur zu meinem Zimmer begleitete, kam ich mir unterschätzt vor.
Es war ja nicht so, dass ich laufen konnte, ohne gegen eine Wand zu rennen.
Nach einer gefüllten Ewigkeit, in der meine Stimmung auf den 0-Punkt gesunken ist, kamen zwei Frauen um die Ecke gebogen.
Die Vordere, wahrscheinlich jemand mit Führungsposition, hatte ihre Haare zu einem blonden Dutt zusammengesteckt und wenn man genau hinsah, konnte man darin eine einzelne graue Strähne erkennen; ein Zeichen ihres höheren Alters. Zusammen mit der langen, spitzen Nase und der Brille, die darauf saß, erinnerte sie mich an diese typischen Schulleiterinnen aus TV-Serien, die allesamt mit Krähen verwandt sein könnten. Ich konnte mir nur zu gut vorstellen, wie sie hinter einem Bürotisch saß, eine Hand in einem Buch blätternd, mit der anderen die Brille hochschiebend und die Stirn vorwurfsvoll in Falten gelegt. Die passenden Kleider hatte sie ja schon an: der übliche, lange Rock, wie ihn meine Oma trug, die weiße Bluse und die zu dem Rock passende Jacke. Hätte sie einen Aktenkoffer in der Hand, würde ich das alles für einen schlechten Scherz halten. Wenigstens würden sie beweisen, Humor zu besitzen. Leider war dies bei ihr nicht der Fall.
Anders als bei ihrer Begleiterin. Diese hatte schulterlange, haselnussbraune Haare, besagten Koffer in der rechten Hand und wirkte allgemein eher zurückhaltend und schüchtern. Falls mich mein Urteilsvermögen nicht täuschte, dann, und dessen war ich mir sicher, würde ich eine Menge Probleme mit der Blonden bekommen, wenn ich mich nicht an die Regeln hielt. Ihr vorwerfen konnte ich das aber nicht. Was für Chaos würde wohl herrschen, wenn es niemanden gab, der sich durchsetzen konnte?
Vor mir stehen geblieben, gaben mir die zwei Damen ein Zeichen, ihnen zu folgen, ohne auch nur ein einziges Wort mit mir zu wechseln. Nette Begrüßung. So ähnlich hatte ich es mir sogar vorgestellt, mit dem Unterschied, dass in meinen Gedanken eher die Patienten diejenigen ohne Manieren waren.
Schweigend lief ich hinterher und anders als erwartet gingen wir nicht zur Tür, welche definitiv als Eingang diente, sondern begaben uns zur Hintertür. Verwirrt zog ich eine Augenbraue hoch. Wofür gab es die Eingangtür, wenn sie nicht als solche benutzt wurde? Ich biss mir auf die Zunge, um meine Gedanken nicht auszusprechen. Mir gleich am ersten Tag Ärgern einzuhandeln wäre mehr als nur unpraktisch.
Die kleine Brünette holte, vor der Tür stehen geblieben, einen riesigen Schlüsselbund aus dem Aktenkoffer. Anders als bei diesen altmodischen Bünden mit abertausenden von großen, rostigen Schlüsseln hingen an diesem genau drei gleich aussehende, lange, dünne und glänzelnde Schlüssel, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Nachdem sie die Tür geöffnet hatte, kam ein langer, dunkler Gang ohne jegliche Nebenflure in Sicht.
Desto mehr ich von der Klinik zu Gesicht bekam, umso weniger erinnerte sie mich an ein Gefängnis. Das Gebäude schien eher wie ein Gruselkabinett. Wer weis, vielleicht war es ja genau das.
Die Schritte dreier Personen und das Rütteln eines Koffers hallten durch die Gänge und ich hatte Schwierigkeiten damit, nicht gegen eine Wand zu laufen, so dunkel wie es hier war. Also musste ich mich auf mein Gehör und meine Intuition vertrauen. So viel zum Thema Unterschätzung.
Am Ende des Ganges erwartete uns eine breite, weiße Tür über der eine UV-Lampe hing, die sonderbares, blaues Licht verströmte. Erstaunlicherweise war diese Tür nicht verriegelt und es bedarf keinen dieser sonderbaren Schlüssel. Falls dies die einzigen Sicherheitsmaßnahmen waren, die getroffen wurden, war das neben der öffentlichen Toilette die am wenigsten gesicherte Anstalt, die mir bekannt war. Ich machte mir gar nicht mehr die Mühe, etwas verstehen zu wollen.
Erschrocken kniff ich die Augen zusammen, geblendet von dem hellen Licht, welches aus dem Raum hinter der Tür strömte. „Nach ihnen, Miss Lopane“, sagte die Blondine in einem Ton, der keine Widerrede billigte. Mein Gepäck hinter mir herziehend tritt ich ein.
Stirnrunzelnd schaute ich mich um. Mir war mehr als deutlich geworden, dass hier was faul war. Das Zimmer war leer, ohne jegliche Möbel; vier einfache, weise Wände. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag ins Gesicht und ich drehte mit unschönen Vorahnungen zur Tür um, welche wie bereits vermutet, bereits geschlossen war. Ich stürzte nicht zur Tür. Welchen Sinn hatte es, wenn sie keinen Türknopf besaß?
Riiiieeetsch!
Erschrocken fuhr ich zusammen. Mein Puls beschleunigte sich. Was sollte das? Ich drückte mich mit dem Rücken an die Wand, kam mir vor, wie ein Raubtier, das in der Falle saß. Vor mir tat sich Nebel auf. Wie zum Teufel kam Nebel hier rein?
Einige Sekunden später begriff ich, dass es meine Augen waren, die mir einen Streich spielten. Unerwartet rollte eine Welle der Erschöpfung über mich, meine Knie gaben nach.
„Von wegen unsicher“, war mein letzter Gedanke, bevor alles schwarz wurde.

8. Kapitel (Ayn)

"Ayn?" Ich hörte eine harsche Stimme und öffnete die Augen. Wie gewohnt begrüßte mich helles blendendes Licht, es war immer das Gleiche. Der Tagesablauf änderte sich fast nie und doch… plötzlich erinnerte ich mich an den vergangenen Tag, oder war es Nacht gewesen? Hier drinnen verlor man schnell das Zeitgefühl, aber dass Marie vor meiner Tür stand, konnte eigentlich nur bedeuten, dass es morgens war. Langsam stand ich auf, aber trotzdem wurde mir schwindelig und ich brauchte einen Moment um mich zu fangen. "Ayn, das Frühstück wartet nicht auf Sie." "Habe keinen Hunger." murmelte ich, was stimmte. Dennoch wusste ich auch, dass es nichts brachte, ich musste aufstehen und ich musste wenigstens so tun, als würde ich etwas essen. Ich setzte mein künstliches Lächeln auf und schaute aus dem winzigen Fenster meiner Tür. "Es wäre nett, wenn Sie mir öffnen würden, oder bringen Sie mir neuerdings das Essen auf mein Zimmer?" fragte ich mit fröhlich aufgesetzter Stimme und kniff unschuldig die Augen zusammen. Marie hob die Augenbraue. Man konnte ihr deutlich ansehen, wie sie zögerte, dann öffnete sie die Tür. "Ich denke, Sie wissen wo es lang geht." sagte sie kurz angebunden und wandte sich der nächsten Tür zu. Gerade wollte ich mich auf den Weg zur Mensa machen, da drehte sich die Betreuerin noch einmal um. "Und ich warne Sie, keine unerlaubten Erkundungen mehr." ihre Stimme klang warnend, fast schon bedrohlich. Ich erstarrte. Wusste sie etwas? Unmöglich, sie hatte mich nicht gesehen… oder doch? Nein, das wäre mir aufgefallen. Dieser Junge hatte mich auch nicht gesehen, genauso wenig wie das Mädchen. Wobei diese so ausgesehen hatte, als würde sie bald gar nichts mehr wahrnehmen. "Natürlich." sagte ich eisig. Das Erste, was mir auffiel, als ich den großen Raum betrat, war die ungewöhnliche Stille. Normalerweise war dies der einzige Ort sich mit anderen auszutauschen, ohne einen Betreuer im Nacken zu haben. Es war also wieder so weit. Jemand war verschwunden. Mit einem flauen Gefühl im Magen setze ich mich soweit wie möglich von den anderen weg, ich wollte gar nicht hören was passiert war. Ich wusste es ja sowieso schon. Mein Blick wanderte durch den Raum, viele saßen einzeln, andere in Grüppchen, alles war wie immer. Nur irgendwer fehlte. Von fast jeder Person kannte ich den Namen, doch mir wollte einfach nicht auffallen, wer verschwunden war. Verärgert bis ich mir auf die Lippe und holte mir meine aufs Gramm vorbereitete Mahlzeit ab. Auf dem Teller lagen zwei Toasts, ein Glas Orangensaft, Butter und Marmelade nach Wahl. Wobei es sowieso nur zwei verschiedene gab. Wieder am Tisch knabberte ich lustlos an meinem Toastbrot herum, ich hatte auf Butter und Marmelade verzichtet, ich konnte es ohnehin nicht mehr sehen. In meinen Gedanken ging ich den gestrigen Tag noch einmal durch und plötzlich durchfuhr es mich wie ein Blitz. Das Mädchen! Das blonde Mädchen von Gestern. Genau, ich konnte sie nirgendwo sehen. Ich bekam eine Gänsehaut, was war mit ihr geschehen? Diese Frage hatte ich mir schon oft gestellt, sehr oft. Doch diesmal kam eine Vorstellung.Die Unterlagen! Vielleicht hatte es damit zu tun. Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Ich sollte besser aufhören darüber nachzudenken… sonst bin ich vielleicht die nächste. Es war nicht einfach die Tatsache zu ignorieren, dass schon wieder jemand verschwunden war, doch ich verdrängte es und wandte mich mit meinen Gedanken zu der Neuen. Müsste sie nicht auch hier irgendwo sein? Mein Blick ging wieder über die Tische. Wahrscheinlich kommt sie noch. Ich lies den Toast auf dem Teller liegen, er war kalt geworden.Planlos, das war das passende Wort für mich, das mir gerade einfiel. Ich hatte keine Ahnung was ich machen sollte.Ich lies den Teller mit dem angebissenem Toast zurück und wollte gerade auf die Toilette, als ich stehen blieb. Warum gehen Mädchen immer zu zweit aufs Klo? Weil ihnen dann nichts passieren kann. Denken sie zumindest. Ich blieb also stehen und wusste nicht was besser war. Auf das Klo zu gehen oder zurück. Beides war nicht besonders viel versprechend, doch seit dem Gespräch gestern hatte ich ein seltsames Gefühl.Ich hörte Schritte auf dem Gang und erkannte Schatten an der Ecke, die näher kamen. Wahrscheinlich irgendwer auf dem Weg zur Mensa. Unbeholfen versuchte ich unauffällig zu wirken und ging langsam weiter, um die Ecke bogen zwei Leute. Die eine erkannte ich sofort, irgendeine Mitarbeiterin von Institut, sie war noch jung und trug einen Aktenkoffer. Den Namen hatte sie mir mal gesagt, doch entweder hatte ich ihn vergessen oder verdrängt. Das andere Mädchen allerdings war fremd, sofort kam mir ein Verdacht. Die Mitarbeiterin ignorierte mich, doch das war ich gewohnt. Vielleicht geht es ja immer so zu in einer Psychiatrie, doch ich könnte wetten, dass es wo anders nicht so läuft. Was für ein Glück, dass ich hier gelandet bin. Ausgerechnet!Doch ich achtete auch nicht wirklich auf die Mitarbeiterin, die war mir egal, sondern mehr auf das Mädchen. Eine Patientin, wie man sehen konnte, das zeigte die typische Kleidung, die wie ein Müllsack aussah. Ich beobachtete sie und sie mich. Zwar dauerte es nur Sekunden, doch der Moment verharrte in meinem Kopf. Unsere Blicke kreuzten sich, ihre Augen waren nicht die einer psychisch Kranken, das erkannte ich gleich… sie waren, ja ganz normal und wenn mich nicht alles täuschte, schimmerte ein Stück Rebellion in ihrem Blick.

9. Kapitel (Jean)

Vielleicht lag es an der Paranoia der Menschheit, oder aber meine Naivität war der Grund für meine Lage.Langsam ließ ich meinen Blick durch das Zimmer schweifen. Die Wand mir gegenüber war weiß, so wie alles andere hier auch. Die Wände, der Boden, das Bett. Allein die Kleidung, in welche sie mich gezwängt haben, unterschied sich von der sterilen, kalten Umgebung. Wie ein Kartoffelsack hing das blaue Gewand an mir runter. Da hatte wohl jemand einen sehr außergewöhnlichen Geschmack. Mir gefiel der Müllbeutel jedenfalls nicht.Seufzend erhob ich mich von dem Bett und lief auf den Schrank in der Ecke zu. Mit der Hoffnung, meine Sachen darin zu finden, öffnete ich ihn. Und erstarrte.Das einzige, was in den Regalen zu finden war, waren meine Socken und meine Unterwäsche.Unmöglich, das konnte nicht ihr Ernst sein. Man konnte von mir doch nicht verlangen, Tag für Tag in…in diesem Ding rum zu laufen! Nicht, dass ich oberflächlich wäre, aber es war weder bequem noch praktisch. Verärgert knallte ich die Schranktür zu und tigerte nervös im Zimmer hin und her. Es war zwar nicht lange her, dass ich hier vollkommen orientierungslos und verwirrt aufgewacht bin, doch trotzdem überkam mich langsam Panik. Ich wusste nicht, was los war und Vermutungen aufzustellen genügte mir nicht. Ich konnte es nicht leiden, etwas aus meiner Umgebung nicht zu wissen, war gerade zu besessen darauf, alles zu verstehen. Soweit es mich interessierte.Ich war bereits stehen geblieben und schaute mich zum wiederholten Male im Raum um. Wie ich dieses Zimmer nicht leiden konnte. Allein die Farbe löste in mir das Bedürfnis aus, auf etwas einschlagen zu wollen. Genau das tat ich dann auch. Mit voller Kraft, mehr oder weniger zumindest, trat ich mit meinem Fuß gegen die Tür.Und bereute es sofort. Gellender Schmerz schoss durch meinen Körper und mir entfuhr ein leiser Schrei. Verdammt, wie dämlich konnte ein einzelner Mensch eigentlich sein? Ich war doch sonst nicht so spontan und unbedacht.Leise fluchend lehnte ich mich gegen die Tür, welche nebenbei bemerkt nicht einen Kratzer abbekommen hatte, und stieß mir auch noch meinen Kopf an. Oh, jetzt gesellte sich auch noch die Unfähigkeit dazu. Welch Überraschung.Meine Laune sank immer tiefer, während mein Fuß und mein Kopf fröhlich vor sich hin pochten. Tock tock tock… Moment, das kam nicht von mir. Das waren Schritte! Hastig richtete ich mich auf und schaute aus der kleinen Scheibe in der Tür. Ich hörte deutlich, wie sich jemand auf mich zu bewegte, doch sehen konnte ich nur einen, richtig geraten, weißen Flur. Die Schritte verstummten direkt vor meiner Tür. Verdammt noch mal, warum konnte ich niemanden sehen? Ich wollte endlich hier raus. Gerade, als ich vorhatte, mich abzuwenden, sah ich jemanden den Gang entlanglaufen. Ein dunkelhaariger Junge, der zielsicher auf mich zuging.Kurz vor dem Zimmer, indem ich mich befand, bog er in einen anderen Flur ein. Ich konnte Stimmen hören und konzentrierte mich auf das Gespräch. Wort für Wort drang an meine Ohren. Nur langsam begriff ich deren Bedeutung. Meine Augen weiteten sich und ich hielt mir mit der Hand meinen Mund zu, um nicht los zu schreien. Das konnte nicht sein, nein, unmöglich. Sie meinten das nicht ernst, das war nur ein Spaß! Und doch wusste ich, es war die Wahrheit. Die grausame Wahrheit. Ich fing an zu zittern, meine Beine gaben unter mir nach, ich sank auf die Knie. Mein Verstand schaltete sich ab, mein Herz hämmerte viel zu schnell gegen meine Brust. Entsetzten, Verwirrung, Angst. Ich war mir so sicher gewesen, dass hier etwas nicht so war, wie es sein sollte. Jetzt hatte ich die Bestätigung. Ein hysterisches Lachen entwich meiner Kehle. Ich war ganz versessen darauf, zu erfahren, was hier schief lief und jetzt, wo ich es wusste, wünschte ich, dieses Wissen nie besessen zu haben. Verzweifelt versuche ich, das Gespräch zu verdrängen, es hinter eine dicke Mauer zu sperren. Doch es kam immer wieder zurück, geisterte in meinem Kopf umher, ließ mir keine Ruhe.Wieso?Wieso sind Menschen so grausam? Ich wusste es nicht, hatte keine Antwort darauf.Erst einmal musste ich runterkommen und atmete tief ein und aus. Langsam beruhigte sich mein Herzschlag und ich richtete mich auf, so gut es mit steifen Gliedern eben ging.Ich durchquerte das Zimmer, ließ mich auf das Bett fallen und rollte mich zu einer Kugel zusammen. Der Schock saß noch immer tief in meinen Knochen und würde so schnell auch nicht wieder verschwinden, darüber nachdenken, was zu tun war, sollte ich trotzdem. „Das ist nicht sicher genug, du Trottel! Beseitige gefälligst alle Spuren, du machst das ja nicht zum ersten Mal.“Nicht zum ersten Mal… Der Gedanke an die Stimme, so kalt, so rücksichtslos, bereitete mir eine Gänsehaut und ließ mich schaudern. Das passierte nicht zum ersten Mal. Diese Erkenntnis traf mich wie kaltes Wasser. Sie war nicht die Erste. Also wahrscheinlich auch nicht die Letzte. Das Entsetzen machte Wut Platz. So war das also, ja? Sie dachten, sie könnten hier rumlaufen und tun was sie wollen. Ganz gleich, wer welchen Preis dafür zahlen musste. Von wegen! Nicht mit mir. Ich würde diesen Wahnsinn nicht zulassen. Mich interessieren meine Mitmenschen zwar nicht groß, aber so was…so was würde ich nicht einmal meinen größten Feinden wünschen. Nebenbei bemerkt bestand die Chance, dass ich selber Opfer dieser Schandtat werden könnte. Demnach würde es also keinen Unterschied machen, sollte ich mich einmischen. Zumindest hoffte ich das.Ein Geräusch ließ mich zusammenzucken und im nächsten Moment schwang die Tür auf. Zum Vorschein kam eine braunhaarige, kleine Frau. So sieht man sich wieder, Miss Aktenkoffer. „Guten Morgen, Jean“, begrüßte sie mich und lächelte unbeschwert. Ich erstarrte. Diese Stimme…Sie war es. Sie hat mit dem Jungen geredet. Sie hat all diese Dinge gesagt…Dieser Frau konnte ich nur ein Gefühl entgegenbringen. Verachtung. Abgrundtiefe Verachtung. „Alles in Ordnung?“, fragte sie mich. Ha, mit ihrer Freundlichkeit konnte sie mich nicht reinlegen. „Natürlich, Miss…eh?“ „Miss Fischer. Kommen Sie doch bitte mit, es müssen noch einige Sachen besprochen werden.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und verschwand im Flur. Widerwillig folgte ich ihr. Das Gespräch geisterte immer noch in meinem Kopf umher. Meine Entschlossenheit wuchs bei dem Anblick von Frau Fischers falschem Lächeln. Uns kam eine Person entgegen, ein Mädchen, etwa in meinem Alter, mit langen blonden Haaren und dem gleichen blauen Müllsack, wie ich ihn trug. Sie schien uninteressant, ich wollte mich wieder abwenden. Bis ich in ihre Augen blickte. Eisblaue Augen, so klar, wie ich es nicht erwartet hatte. Doch, das, was mich an ihnen fesselte, war der Ausdruck darin. Ihr Blick zeigte Widerstand. Wissen. Und in diesem Moment wurde mir bewusst, in ihr hatte ich eine Verbündete gefunden. Wir würden kämpfen. Für Gerechtigkeit.

Impressum

Texte: Text by Berrypaw & Lulustryde
Bildmaterialien: Cover by Nokil
Lektorat: Innocence
Tag der Veröffentlichung: 06.10.2012

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