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PROLOG



In den Bergen, hoch oben, von eisigen Winden, vom Schnee und gefrorenem Regenwasser zerfressenen, schroffen Felsen der Berner Alpen, soll Ruitli gelebt haben, ein Gnom, ein Erdgeist, oder doch nur ein Mensch? Ein Eremit war er, meinten andere, der in den von Bergkiefern und Lärchenwäldern und seinen von Latschen bedeckten Steinhängen, mit abschüssigen Felsschluchten, an steil herab fallenden Bächen vorbei, einst sein karges Leben gefristet haben soll. Schon seit alters soll ihn niemand zu Gesicht bekommen haben, den bartlosen Mann, mit blinden Augen und tauben Ohren, wie man sich erzählte, der nur in kurzen Reimen seine Weltanschauung kundtat. Gar mancher der schwyzerdeutschen Highlander Eidgenossen glaubten daran, dass Ruitli wirklich existiert hatte und als Geist weiter ihre Gebirgsluft atmete. Ein Mönch soll er gewesen sein, der Ruitli, der sich dem klerikalen Glauben der überwiegend protestantischen Bevölkerung rebellisch entgegensetzte. Ein Prediger, jenseits des christlichen Glaubens. Der Mensch sei vergänglich, lebenslänglich

, war nur einer der Weisheiten die man ihm in den längst verwesten Mund legte, indem man den Spruch auf eine hölzerne, blank gehobelte Lärchentafel am Steig neben der Klamm anbrachte, wo zwei Waldarbeiter unter mysteriösen Umständen zu Tode kamen. Ruitli soll ihnen Einhalt geboten haben, den Wald abzuholzen. Viele Touristen haben seither den Berg in der Hoffnung erklommen, Ruitli nahe zu sein. Gespürt und gefühlt hätten sie ihn, den Ruitli, hatten sie berichtet. Wer den Berg erklimmt und von hoch oben auf das Berner Voralpenland hinab sieht, in dessen Seele würde er schlüpfen und ihn nie mehr loslassen, erzählte man sich.
Auch Joseph Staudinger glaubte an Ruitli, der ihm mehr bedeutete als Kirchenmänner, die ihm allesamt die Abkehr von seinen heidnischen Ansichten und Hirngespinsten nahe legten, weil er ein Sonderling sei, ein einfältiger Mensch, den es im Sinne der kirchentreuen Gescheitheit zu bekehren galt.

Als er sich in die Araberin verliebte, die seine ganze Weltanschauung über den Haufen warf, war Joseph Staudinger gerade fünfzig Jahre alt geworden.
Der Briefträger hatte ihm an diesem Morgen keine Glückwunschkarten gebracht. Nicht, dass er darüber sonderlich traurig gewesen wäre - er hatte auch in den Jahren davor nie Glückwunschkarten zu seinem Geburtstag erhalten - aber er bekam an diesem Tag einen unansehnlichen grauen Brief, geschrieben auf Umweltschutzpapier. Auf dem Umschlag, gleich neben dem Poststempel, prangte die rote Schrift eines Werbeaufdrucks. Wir sind immer für Sie da, wenn sie uns brauchen. Ihre Schweizerische Bundesbahn AG, SBB

.
Sein Arbeitgeber teilte ihm seine vorzeitige Pensionierung mit. Aus Rationalitätsgründen, hieß es.
Und genau das war es, was ihn so irritierte. Seit er denken konnte, hatte er seine ganze Arbeitskraft dem Tunnel gewidmet, für den er als Streckenposten die Verantwortung trug.
Dreißig Sommer lang. Dreißig Winter lang. Jeden Tag war er mit seinem langstieligen Hammer unaufgefordert den Gleisen im Tunnel gefolgt. In den Vormittagsstunden prüfte er die rechte Seite und nachmittags die linke Seite. Sein ganzer Lebensinhalt bestand darin, in kurzen Abständen mit dem Hammer gegen den Schienenstrang zu schlagen. Wenn alles in Ordnung war, gab es einen hellen, langen Ton. War etwas fehlerhaft, dann klang es dumpf und kurz. Es gab im Tunnel ein Nottelefon, von dem aus er dann die nächste Dienststelle benachrichtigen konnte. Die SBB

hatte das nicht von ihm gefordert, dazu gab es andere Gerätschaften. Vielmehr sollte er den Tunnel von Unrat befreien, Steinlösungen am Fels oder im Winter Schneewehen melden. Die gab es Zuhauf, und allesamt hatte er die Unzulänglichkeiten der Natur auf seiner Seite, hatte sie allesamt Ruitli

zu verdanken, wie er glaubte, der mit Felsstürzen, Muränen und Lawinen seinen Arbeitsplatz sicherte. Auf einmal sollte seine Arbeit nichts mehr wert sein? Sollte durch Elektronik ersetzt werden?
Er hatte sich in den vielen Jahren nicht an das eiserne Klirren der Hammerschläge gewöhnt. Er bekam diese metallenen Klänge nicht mehr aus dem Kopf. Einmal waren sie ganz nah und manchmal wieder unbegreiflich weit weg. Wie ein Echo, das sich in der Ferne verlor. Sogar nachts, wenn er träumte, hörte er es.
Joseph Staudinger hatte die Sonne nur selten gesehen. Er verbrachte seine Tage, einer Fledermaus gleich, in der Dunkelheit des Tunnels, in dem die Züge einfuhren und wieder hinausfuhren. Schnelle Züge, langsame Züge, moderne Züge, alte Züge. Die ganze Welt war für ihn ein Tunnel, ein großes, schwarzes, übelriechendes Maul, das ihn zu verschlingen drohte. Die Menschen in den Zügen rasten an ihm vorbei, ohne dass er je ihre Gesichter erkennen konnte. Die beleuchteten Waggons zuckten wie Lichtblitze durch den finsteren Schlund seiner Unterwelt.
Ihn kümmerte es nicht, woher die Reisenden kamen und wohin sie fuhren. Das ganze Leben, die Zeit, war für ihn ein vorbeirasender Zug, der es ihm nie ermöglichte, aufzuspringen. Das einzige, was die Menschen seiner Welt hinterließen, waren leere Cola-Dosen, Bierflaschen und andere Abfälle, die sie aus den Fenstern der Abteile warfen.
Manchmal machten sich die Lokomotivführer einen Spaß daraus, mit anhaltendem, schrillem Signalton durch den Tunnel zu fahren. Er hatte sich dann jedes Mal die schmerzenden Ohren zugehalten, war schreiend mit den Ratten und Mäusen um die Wette ins Freie gelaufen.
Die von den Dieselloks rußgeschwärzte Röhre hatte sein zerfurchtes Gesicht im Laufe der Jahre, der von Menschenhand entstellten, vor Dreck strotzenden, felsigen Grottenwand, gleich patiniert. Sein graublasser Teint ähnelte dem eines Leichenbestatters. Sein schmächtiger Oberkörper hatte sich in den Jahren der Rundung des Tunnelgewölbes angepasst. Der gebeugte Rücken ließ ihn klein und zwergenhaft erscheinen. Seine gekrümmte Wirbelsäule drückte den Kopf nicht nur weit nach vorne, sondern auch tief nach unten, was ihm ein vogelhaftes Aussehen verlieh.
An dem Tag, an dem er diesen hässlichen, grauen Brief erhalten hatte, traf er auf die Araberin. Schön war sie, schön und jung. In seiner Brust war es auf einmal still geworden. Er hörte nicht mehr das Tong Tong

des schlagenden Hammers, nicht mehr das Rattern und Pfeifen der Züge.
Joseph hatte noch nie eine Frau geliebt. Es war lange her, als er sich vorzustellen versuchte, wie es sein musste, mit einer weiblichen Person das Bett zu teilen. Irgendwann war dann diese Sehnsucht nach Liebe in ihm gestorben, und die plötzlich auftretenden Hitzewallungen waren erloschen. Aber als er das ockerfarbene Gesicht der Orientalin erblickte, war das Verlangen wieder da. Er hatte auf ihre erotisch gewölbten Lippen gestarrt, die ihm ein Versprechen zu geben schienen.
Nein, Joseph hatte in seinem tristen Leben nie eine Frau besessen. Er kannte die nackten Körper des anderen Geschlechts nur von den Fotos aus den Illustrierten. Bei ihrem Anblick überfiel ihn jedes Mal ein elektrisierendes Kribbeln im Bauch. Er streichelte mit seinen Augen ihre Brüste, ihre Schöße. Wie schön musste es sein, ihre Haut berühren zu dürfen, mit den Händen sanft darüber zu streichen...
Joseph wusste vom Hörensagen, was Frauen lieben. Wie man es anstellen musste, um sie glücklich zu machen. Am Stammtisch hatte er es erfahren, unten im Ort, im Hotel Wilder Mann

, in dem sich allabendlich die Einheimischen zum Kartenspiel trafen. Er hatte ihren Geschichten gelauscht, in denen ihnen die Frauen nur so nachzulaufen schienen, weil sie am Tage bis zu zehnmal könnten, wenn sie wollten, hatten sie geprahlt.
Auch wenn Joseph die Männer nie in Damenbegleitung gesehen hatte, war dies kein Grund für ihn, es nicht zu glauben.
Vielleicht wollten sie nicht, obwohl sie's könnten? Es musste ungeheuer lustig sein, mit einer Frau zu schlafen, hatte er immer gedacht, weil die Stammtischbrüder bei derlei Gesprächen immer so lachten. Aber genau wusste er es nicht. Sex war für ihn eine wilde Fabelwelt, fremd und rätselhaft.
Joseph war ein Außenseiter. Die Männer duldeten ihn nicht an ihren Stammtisch. Sie warfen ihm vor, zu aufdringlich zu sein. Er würde zu viel reden und die Gäste vergraulen. So begnügte sich Joseph damit, ihren Stimmen zu lauschen.
Manchmal, wenn die feuchtfröhliche Runde so richtig in Stimmung gekommen war, scherzten sie mit ihm. Die Männer fragten ihn dann immer nach seinem Liebesleben aus und machten dabei mit halbgeschlossenen Händen unmissverständliche, reibende Auf- und Abwärtsbewegungen.
Joseph schämte sich bis ins Mark, rannte aus dem Bierstübchen des Hotels, als ginge es um sein Leben. Er hatte sich dann immer in seinem Tunnel verkrochen und auf die Züge gewartet, die hinein- und wieder hinausfuhren.
Mit einem Mal war alles anders geworden. Joseph Staudinger liebte. Auch wenn er im Grunde seines Herzens keine Ausländer mochte, weil auch die Stammtischbrüder keine Ausländer mochten, bei der Araberin sah er großzügig darüber hinweg. Sie war eine Frau, seine große Liebe, keine Ausländerin.

Yussuf kam aus Tunesien. Yussuf war ein wohlhabender Mohammedaner, der zwei Frauen sein eigen nennen konnte. Und Yussuf liebte die Schweiz. Jeden Winter kam er für einige Wochen in den Nobelkurort, um Ski zu fahren. Seine beiden Frauen hatte man im Dorf nie gesehen. Yussuf mietete immer eine ganze Etage im Hotel Wilder Mann

. Das Personal hatte die vermummten Damen jedes Jahr nur zweimal zu Gesicht bekommen: einmal bei der Ankunft und dann bei der Abreise. Seine beiden Frauen mussten auf den Zimmern bleiben. In der Zwischenzeit vergnügte sich Yussuf auf den Skipisten. Auch in diesem Jahr war Yussuf durch die lange Tunnelröhre ins Tal gekommen. In einem für ihn reservierten Abteil erster Klasse im Suisse-Express.

Impressum

Texte: Erschienen im Mai 2008 im Lerato Verlag ISBN: 978-3-938882-72-6
Tag der Veröffentlichung: 23.05.2008

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